XIII KIF

Gare St. Lazare. Ein Mann sitzt am Fenster eines Restaurants und isst Buchstabensuppe. Draußen in der Dämmerung, die rosa Sand über den grausteinernen Bahnhof streut, schaukeln grüne Autobusse, Taxis hupen hysterisch, junge Frauen und Männer kommen mit weißen Dämmergesichtern aus der Metro. Eine rotgesichtige Frau verkauft Rosen, ein Mann mit kantigem schwarzen Bart blättert im Paris-Soir. Vom algengarnierten Meeresfrüchtebuffet – Austern, Jakobsmuscheln, Seeigel, Miesmuscheln, Venusmuscheln, Hummer, Schnecken, Garnelen, Krabben – weht Gezeitengeruch heran. Der Mann am Fenster, der gegen seinen Willen Buchstabensuppe isst, rührt langsam mit dem Löffel. Sechs Buchstaben sind nach oben gekommen – GEH LOS. Entschlossen isst er sie. Rührt noch einmal, drei Buchstaben sind übrig – GEH.

Wie war die Geschichte des Iren mit dem künstlichen Gebiss, der für den britischen Geheimdienst arbeitete und in dem kleinen Lokal hinter der Nuriosmaniye-Moschee in Stambul Buchstabensuppe aß? Er wurde von einer Frau angeschossen, die angeblich Russin war, und es hieß, er habe sein Schicksal in der Buchstabensuppe gelesen. Warum sind immer so viele X in der Buchstabensuppe?

In der Menschenmenge, die den Bahnhof betritt und verlässt, bewegen sich lange, widerhallende Dämmerungsworte. Die asphaltschimmernde Stadt ist flach und winzig, eine Wüste unter der letzten sengenden Weite des Sommertags.

Der andere Bahnhof ist lichterfüllt, ein Refugium in der leeren Abenddämmerung. Der Zug ist vollgepackt mit Menschen und Koffern. Im letzten Moment erwische ich den achten Platz in einem Dritter-Klasse-Abteil. Im Abteil ist nicht genug Platz für sechzehn Beine diverser Geschlechter, für sechzehn perspirierende Arme. Im Gang kann man stehen und rauchen und die Vorstädte von Paris sehen, verwahrlost und qualmend in der Dämmerung, von der heranrückenden Nacht endlich anständig begraben. Der Zug braust wie eine kreischende Todesfee dahin, gräbt sich mit neugierigen Lichtfingern durch eine Bilderbuchlandschaft. Die rumpelnden Wagen singen: Mort aux vaches aux vaches aux vaches. Mort aux VACHES.

Der Zug fährt mit einem anderen Zug um die Wette, hängt ihn ab; Fenster, Gesichter, Augen verschwimmen zu Erinnerungen, die von der hohlen, donnernden Nacht verschluckt werden, verblassen zu anderen Zügen; der Congressional, der sich in den fiebrigen Frühling von Maryland bohrt und in Barackensiedlungen voller traurig wehendem Flieder die Gatter zuschlägt; der Black Diamond; der namenlose Zug von Nirgendwo nach Nirgendwo, die tanzenden Quasten der blauen Lampenschirme, das Hinausschauen aus schmerzhaft schlafschweren Augen auf die rotgelben verschwindenden Blumen mit zurückgebogenen Blütenblättern, dunkle flaschenförmige Gestalten und unerklärtes Wort, Hochöfen; der Zug, der sich auf der Eisenbahnfähre zusammenfaltet, um den hellschimmernden Gut of Canso[37] zu überqueren; der Zug der Transsibirischen nach Peking, der nie seinen Schuppen verließ. Zu viele Züge, zu viele Räder, die über Bahnübergänge rumpeln, ausgesprochene fremde Namen in der Nacht. Abschiede an Fahrkartenschaltern, letzte Mahlzeiten, eilig am Buffet verschlungen, Hände auf dem Koffergriff; den Kopf des Mädchens am Bahnübergang sieht man auf dem Körper eines Streckenläufers weiter hinten am Gleis, hungrige Augen, die durch schmutzige Fenster schauen, lächelnde Lippen, beim nächsten Halt ins Leere starrend, fragende Augen braunarmiger Banden ruhen auf ihren Opfern.

Ich sitze wieder auf meinem Platz zwischen der hochbusigen Dame in Serge, die sich zum Schlafen ein Taschentuch über das Gesicht gelegt hat, und dem steifen Annamiten, der kerzengerade dasitzt. Gegenüber schläft ein frischverheiratetes Paar, eingeschnürt in neue Sachen. Ihr Kopf ruht auf einem Kissen in die Ecke, der Mund steht offen. Er hat das rote Weintrinkergesicht an ihrer Schulter vergraben. Die Fenster sind geschlossen. Die Luft ist zum Schneiden.

Ich wache auf, die Sonne in den Augen, sehe die langen blauen Schatten schwarzer Zypressen. In einem blitzsauberen, cremefarbenen Bahnhof riecht es nach Rosen und Knoblauch und Staub: le Midi.

In Beni Ounif war die Luft reines weißes Feuer. Es war unheimlich, aus dem bierdunstigen Speisewagen in diese Weite zu treten. Ein schwarzer Boy mit rotem Fes trug meine Tasche zu Madame Mimosa’s. In einem abgedunkelten Zimmer streckte ich mich auf dem Bett aus. Pfeifend und fauchend setzte sich der Zug wieder in Bewegung, verschwand in der Felsenwüste. Von fern das leiser werdende Rumpeln von Rädern auf Schienen, dann Stille. Schlafschwere Stille.

Die Sonne war untergegangen. Der Himmel hatte sich in flammende Flächen verwandelt, Topas, Smaragd, Amethyst. Lehne draußen vor meiner Tür an einer noch sonnenwarmen Säule, schaue hinaus auf den Platz, ringsum niedrige Gebäude mit bröckelnden ockerrosa Veranden. Vor dem krenelierten Bahnhof drei Spielzeuglastwagen. Niemand zu sehen, nicht einmal ein Hund. Die Größenverhältnisse ändern sich mit dem Licht am Himmel. Verlasse den kleinen Platz, stolpere auf der unendlichen Straße über einen purpurroten Berg. Ich strecke die Hand aus, will die weiße Wand eines Hauses berühren, sie liegt jenseits der Bahnstrecke, eine Meile entfernt. Das stachelige, büschelartige Gras sind Palmen, die in Formation durch einen Einschnitt im karminroten Fels marschieren. Die tiefe Schlucht hinter den Häusern entpuppt sich als Bewässerungsrinne im Sand. Frage mich, ob ich noch schlafe, und stolpere einen Felspfad hinunter, bewundere das breite Flusstal, trete hinein. Es war ein kleiner, fußbreiter Bach, der durch eine Ritze in der Mauer eines Dattelgartens sickerte. Unterdessen schraubte die Nacht rasch einen funkelnden Deckel auf ein unermessliches Chaos. Ein kühler Wind wehte. In Richtung Stadt flackerten ein paar Lagerfeuer. Eine Reihe zuckender Erdhügel waren schlafende Kamele; vermummte Gestalten scharten sich um die Feuer. Lampen in Hauseingängen, Schatten werfend. An einer Ecke standen drei algerische Soldaten in einem kahlen weißen Raum an einem grünen Tresen und tranken. Sie erklärten mir, dass Madame Mimosas Hotel an der nächsten Ecke sei. Dort gelangte man durch einen kleinen Kramladen in einen leeren Speisesaal, beleuchtet von einer Hängelampe, die Fensterläden fest verschlossen, damit kein Licht nach draußen in die Nacht drang.

Nach dem Abendessen, Truthahn und Wüstentrüffel und Weißwein aus Philippeville, wieder hinaus auf die menschenleere Straße. Die niedrigen Häuser mit flachem Dach verschwinden unter den Sternen. Angespannte Stille erfüllt die Nacht. Ich gehe wie ein Riese über den flachen Häusern vorbei, schrumpfe plötzlich wie ein fallender Expresslift unter den hohen Sternen, ein Knirps, der auf winzigen Beinen daherwankt, das Herz pocht, schwach sprudelt das Blut durch ein Gewirr unendlich kleiner Röhrchen. Feine Flötenklänge tröpfeln durch die gespannte Nacht, leises Trommeln von zwei müden Händen. Der Mann, der gegen seinen Willen Buchstabensuppe aß, ist vergessen. Der Ire mit dem künstlichen Gebiss ist vergessen. Die kühlen hellen Flötenklänge kommen von überall her, das Trommeln wird lauter und tiefer, formt atemlose prächtige Landschaften aus dem Dunkel. Der Amerikaner, der nach Osten nach Süden reist und gegen seinen Willen Buchstabensuppe aß, sucht in seinem Zimmer, im Schutz der Rauchglaslampe neben dem breiten knarrenden Bett, Zuflucht vor diesen wandernden Klangdünen. Das ist die Einsamkeit, rufende Stimmen in der Wüste. Er zieht sich aus, putzt die Zähne, ordnet seine Sachen, liest ein wenig Lukrez, tut, als sei er in Buffalo, Savannah, Noisy le Sec, Canarsie. Das Plätschern der Flöte hat sich in den immer drängenderen Dünen der Trommelschläge verloren. Der heilige Antonius einsam in der Wüste dunklen Fleisches, der undurchschaubar pochenden Wüste.

Der Ire mit dem künstlichen Gebiss war in Stambul aber nicht erschossen worden. Da er sich nicht in ein Krankenhaus wagte, wurde er von der Russin und ihrem Mann in einem alten Schafstall am Rande von Tophane gepflegt. Die drei fertigten Hampelmänner an, die die junge Frau mit Namen Olga abends vor dem Tokatlian verkaufte. Sie verkaufte mehr als das, und ihr Mann, der russischer Marineoffizier gewesen war, ohne je zur See gefahren zu sein, saß die ganze Nacht da und polierte stöhnend seine Stiefel. Der Ire stöhnte, weil ihn die Schulter schmerzte und weil er sein Gebiss verloren hatte. Sie sprachen französisch miteinander und lagen auf ausgemusterten Armeetragbahren, die ihnen als Bett dienten. Der Ire, der Jefferson Higgins hieß, war ein gälischer Pantheist. Als Kind hatte er in einem heruntergekommenen Milchgeschäft im County Cork lange Gespräche mit den Zwergen geführt. Der russische Offizier glaubte an Keuschheit und daran, das Fleisch zwecks Teufelsaustreibung mit Alkohol aufzuweichen. Trotzdem trank er nie. Olga glaubte an Hunger, Furcht und die Jungfrau Maria. Sie hasste Männer, ausgenommen diejenigen, die sie liebte. Während der langen Augusttage lagen sie auf den Tragen und sprachen über diese Dinge, während die Zikaden zirpten und Drachen am wolkenlosen Himmel ihre Kreise zogen. Sie liebte beide Männer und kaufte ihnen Essen und wusch ihre Wäsche, die sie zum Trocknen auf dem Dach des Schuppens aufhängte. Sie liebte die beiden und verhätschelte sie und bezeichnete sie als ihre kleinen Kindchen.

Der Marineoffizier machte für ihre elende Lage die, wie er sagte, hilflose russische Seele verantwortlich. Der Ire schob es auf die britische Regierung, Olga schob es auf die Menschheit. Wenn nicht die Läuse gewesen wären und das Problem des Rasierens, wären die beiden Männer glücklich gewesen,

Eines Morgens kam Olga mit einem Exemplar des Kommunistischen Manifests nach Hause. Es war dreisprachig, russisch, armenisch und georgisch. Sie hatte es von einem Taxifahrer aus Odessa geschenkt bekommen, der Ornithologe gewesen war. Er hatte sie auf sein Zimmer mitgenommen und sie zum Essen eingeladen. Da er ihr aber kein Geld geben konnte, hatte er ihr am Morgen das Kommunistische Manifest geschenkt.

Am nächsten Tag übersetzten sie es für Higgins. Der Mann und die Frau weinten und küssten sich. Sie müssten an etwas glauben, versicherten sie einander. Von nun an würden sie für Russland arbeiten, für den kommunistischen Christus und Menschheitserlöser. Sie würden Geld für ihre Heimreise verdienen. Olga würde die Jungfrau Maria aufgeben müssen, sie ähnelte zu sehr der Zarin. Er würde keine Hampelmänner mehr machen. Sie würde nie mehr ihren Körper verkaufen. Notfalls würden sie hungern. Sofort begann er, aus ein paar alten Brettern eine Art Sofa zu bauen, um Übung zu bekommen. Sie sah ihm mit leuchtenden Augen zu.

Jefferson Higgins ging derweil auf und ab und nagte zahnlos an seinem struppigen sandfarbenen Schnauzbart. Die Wunde heilte nicht richtig. Er befürchtete, sich Syphilis geholt zu haben. Er sehnte sich nach einem neuen Gebiss, Sauberkeit und frischer Bettwäsche und Piccadilly und dem Offiziersclub. Das ewige Geplapper der beiden Russen ging ihm auf die Nerven. Wenn er eine Waffe gehabt hätte, hätte er die beiden erschossen.

Als er Olga für sich allein hatte, bat er sie mit Tränen in den blauen Augen, ihn zu einem kommunistischen Treffen mitzunehmen. Es müsse doch kommunistische Agitatoren unter all den Russen in Stambul geben. Sein Leben habe sich von Grund auf verändert, seit jener Nacht, als Olga ihm in die Schulter geschossen hatte. Gott sei Dank habe sie ihn nicht getötet, warf sie sein und küsste ihn auf die Stirn. Nie wieder würde er für die Briten arbeiten. Er würde heimkehren und für die Unabhängigkeit Irlands arbeiten. Er würde den Roten alle Geheimcodes des britischen Geheimdienstes verraten. Als der Marineoffizier nach Hause kam, lagen sich Olga und der Ire in den Armen. Er will in die Partei eintreten, erklärte Olga. Der Russe schnappte sich den Iren und küsste ihn mehrmals auf den Kopf.

Tags darauf saß Jefferson Higgins, eine Zigarre im Mund und einen Panamahut auf dem Hinterkopf, in einem kleinen Zimmer des Pera Palace und tippte mit einer Hand einen Bericht. Er war anständig rasiert, der Schnurrbart ordentlich gestutzt. Er trug einen guten grauen Flanellanzug, den Arm mit einer sauberen Bandage an der Brust. Er hatte ein neues Gebiss, das nicht besonders gut saß, aber es waren immerhin Zähne. Er schrieb einen Bericht über Pläne der Bolschewisten, die alliierten Hochkommissare zu ermorden, die alliierten Soldaten zu einer Meuterei anzustiften und mit Hilfe der frustrierten Türken Konstantinopel für die Sowjetregierung einzunehmen. Gelegentlich hielt er inne und blies Rauchringe in die Luft. Dreimal wurde leise an der Tür geklopft. «Kitchener», sagte Jefferson Higgins leise. Ein untersetzter ergrauter Mann in der Uniform eines britischen Obersten trat ein. «Heute nicht Kitchener», knurrte der Oberst, «sondern Baden-Powell.» – «Ihre Stimme habe ich aber erkannt.» Er nahm ein paar getippte Blätter vom Tisch und pfiff leise durch die Zähne. «Das wird eine ganz dolle Nummer, sag ich Ihnen ...» – «Wir werden mit dem Gesocks aufräumen. Der Hochkommissar wird sich ziemlich gemein vorkommen, wenn er das sieht. Sie wissen, wann Sie aussteigen?» – «Jawohl, Sir.» Wortlos legte der Oberst einen amerikanischen Pass auf den Tisch, voller hübscher Sichtvermerke und ausgestellt auf Fernald O’Rielly, Vertreter einer Chicagoer Landmaschinenfabrik, sowie einen Kreditbrief von Lloyd’s Bank. «Am 15. Dezember berichten Sie in Schanghai gemäß Anweisung 26b», sagte der Oberst und verließ das Zimmer.

Jefferson Higgins tippte und tippte. Als er die Zigarre fertiggeraucht hatte, klingelte er nach einem Whisky. Der Kellner war ein perfekt Englisch sprechender Bulgare. Während er Platz für den Whisky machte, warf er einen raschen Blick auf die getippten Seiten. Einige Namen kannte er. Sobald er wieder unten in der Bar war, beauftragte er einen Landsmann, der weiter hinten Gläser spülte, einem bärtigen Mann in einer kleinen Bar in Galata etwas auszurichten, der neben einem mechanischen Klavier saß und mit einem einarmigen griechischen Matrosen Tavli spielte. Als die britische Militärpolizei um Mitternacht erschien, um bestimmte Leute zu verhaften, waren die gewichtigeren Vögel bereits ausgeflogen.

Aber Jefferson Higgins war auf dem Lloyd-Triestino-Dampfer schon weit draußen im Marmara-Meer. Es war eine mondhelle Nacht. Er fühlte sich weich und zart wie damals, als er mit den Zwergen und den Königen von Irland gesprochen hatte. Sein Gälisch war eine Kelle, mit der er reiche Gedanken vom milchweißen Himmel schöpfte. Am Butterfass stand das Mädchen mit den weißen Armen. Manchmal blinzelte eine weiße Schulter aus ihrem Kleid hervor. Er summte «Kathleen Mavourneen», rief dem Barmann zu, ihm einen Ginfizz zu bringen, und summte wieder «Kathleen Mavourneen». Erst in Marseille würde er etwas Vernünftiges zu essen bekommen. Im Bristol. Er musste ein nettes, sympathisches Mädchen finden. Aus den wilden machte er sich nichts mehr, dafür war er zu alt. Eine Woche würde er wie ein Sultan leben. Dann würde er Makropoulos aufsuchen und einige Investitionen tätigen. Es wurde langsam Zeit, an die Zukunft zu denken, an das Alter. Er sah die großen trockenen Linien der Hügel, die im Mondschein leuchteten. Das Schiff fuhr durch die Dardanellen.

Die Briten durchkämmten Pera derweil nach Russen. Mehrere Leute erschossen sich. Olgas Mann streckte einen Sergeant durch einen Stoß in den Bauch nieder, woraufhin er von einem nervösen Rekruten prompt mit einem Kopfschuss erledigt wurde. Die russischen Emigranten, die man bolschewistischer Neigungen verdächtigte, wurden in einem Keller zusammengetrieben. Den meisten war egal, was mit ihnen passierte. Viele freuten sich über die Aussicht auf eine anständige Mahlzeit. Dann wurden diejenigen, die als besonders gefährlich galten, ausgesondert und in Gefangenenlager gebracht. Die Übrigen wurden auf einen Kahn verladen und auf das Schwarze Meer in Richtung Odessa abtransportiert. Olga war nicht dabei. In Gesellschaft eines französischen Dolmetschers konnte sie Konstantinopel verlassen, und am Ende tauchte sie in Algier im Etablissement einer gewissen Madame Renée auf, fünfzig Francs für das Mädchen und fünfzig für das Haus. Wo immer sie hinging, trug sie ihren zinkweißen, fest modellierten Körper so sorglos mit sich herum, wie man einen Stuhl durch ein Zimmer trägt.

Niemand weiß, wie Olga es nach New York schaffte – vielleicht als Ehefrau von irgendjemandem. Jedenfalls war sie glücklich in dem Lärm und dem Trubel in der East Side, wo sie wohnte, obwohl sie immer müde war. Besonders gefielen ihr die Five-and-Ten-Cent-Läden und die blauen Trolleybusse auf der Second Avenue. Nachts trat sie in einer Kaschemme am östlichen Ende der Seventh Street als Sängerin auf. Aber wenn sie sang, sah sie zu sehr wie eine Schülerin aus. Das andere Mädchen, eine dunkle Jüdin, die in Panama gewesen war, bekam den ganzen Applaus für

A thousand miles of hugs and kisses

O ... poppa ... here we are

O so far ... from Omaha.

Als wir in Findi auf dem Platz inmitten der verfallenen Häuser eintrafen, begrüßten uns der Caid und sein Bruder, der Tirailleur gewesen war. Ich überreichte meinen Brief, und der schwarze Mohammed hielt eine kleine Ansprache. Wir saßen im Gästezimmer, einem weißgetünchten Kämmerchen mit einer Bordüre von blauen Weinblättern und einer Hand, die das Muster regelmäßig unterbrach. Sie brachten Datteln und saure Milch. Es waren Angehörige der Beni Amer, reinblütige Araber, die die Franzosen in der Oase angesiedelt hatten, nach der Flucht der Haratin und Berber, die den Ort ursprünglich gebaut und die Dattelgärten angelegt hatten. Die Brunnen füllten sich wieder, und der Sand rückte den Palmen näher. Als wir unseren Teller leer gegessen hatten, gingen wir langsam und würdevoll umher, um die Sehenswürdigkeiten der Oase zu besichtigen, den Ort, wo die Schlacht zwischen den Joyeux und den Einwohnern stattgefunden hatte, die alten Brunnen, den Damm, der in alter Zeit errichtet worden war, die Gemüsegärten, die Stelle, wo eine ausländische Dame ihr Zelt aufgeschlagen hatte und fünf Tage geblieben war, das verfallene Denkmal für die französischen Soldaten, die in der Schlacht gefallen waren, die Reifenabdrücke des schweren Autobusses mit sechs Radpaaren, der hier vorbeigekommen war, um litzengeschmückte Offiziere nach Timimoum zu bringen. In dem Berg südlich der Oase wohnte ein Dämon namens Dariuss, der einen großen Goldschatz bewachte. Wenn jemand hinaufsteigen wollte, rollte er ihm Felsbrocken entgegen.

Nach dem Essen, Ta’am mit süßer Milch und Eier, tranken wir Tee und saßen noch lange im Licht der beiden Lampen und plauderten. Schließlich vergaßen sie mich, ich lehnte mich an die Wand und ließ die Wellen des Arabischen über mich hinweggleiten. In Gesprächspausen war kein Laut zu hören. Die sechs oder acht Männer, die in der Oase lebten, waren alle in dem Zimmer. Wahrscheinlich lauschten ihre Frauen durch Mauerritzen. Außer den paar bewohnbaren Häusern gab es die verfallenen Häuser des alten Ksar, die hohen Dattelpalmen und den mächtigen sonnengetränkten Felsen, wo nur der Dämon Dariuss Wacht hielt.

Eine große unaufgeregte Ruhe lag in den Gesichtern der Männer, die Energie ihrer Worte versetzte diese Ruhe nur in leise Wellen. In allem suchten sie die Ruhe, den Frieden Allahs, des Barmherzigen, des Allerbarmers. Das hatten Ahmed und sein Freund, der Schneider, in Marrakesch gesagt, während Ahmed den frischen Hanf für die Pfeife Kif schnitt. «In Amerika trinken wir Stimulantien, um uns anzuregen», hatte ich gesagt. «Ihr raucht Kif, um Frieden zu finden.» Er wusste nicht, was ich meinte. Aufgeregt war er gewesen, als das Maultier sich losgerissen hatte und er hinterhergelaufen war und dabei seine Pantoffeln verloren hatte, ein elendes Gefühl, schlimmer als Seekrankheit. Ich erzählte von Coney Island, wo Leute sich für Geld durchrütteln und anrempeln lassen, in die Tiefe stürzen, in Fässern rollen, über wackelnde Brücken schwanken. Ahmed fand, dass wir im Westen verrückt seien, aber da wir so reich seien, müsse in unserer Verrücktheit eine baraka sein. Er gab dem kleinen Schneider eine Pfeife, der sie würdevoll entgegennahm und rauchte, dazwischen immer wieder Tee trank und ruhig dasaß und durch die Tür in den hohen Himmel sah, ein schläfriges Lächeln in den Mundwinkeln. Dann inhalierte Ahmed tief und saß da und schaute mit blauglasigen Augen ins Nichts. Er gab mir die Pfeife. Der Westler, der Buchstabensuppenesser, zog mechanisch den beißenden Rauch ein. Gab es genug Kif auf der Welt, die atemlosen Begierden zu ertränken, den Gedanken an die nächste Sensation, die Feierabendhektik von Bahnhöfen, den Irrsinn der Städte in der Dämmerung, die Räder, die Maschinen, das endlos abrollende Druckpapier? Für Ahmed existierten all diese Dinge nicht. Das Leben war ruhige Hingabe, seine Erfüllung war der Bruder des Lebens, der Tod.

In dieser Nacht, im kleinen Gästezimmer im Haus des Kaids in Findi, dachte ich an diese Dinge, während ich dem langen ruhigen Gespräch zuhörte, und an Götzenbilder und Buchstabensuppe und die Qualen der vier Himmelsrichtungen und den Käfig der Meridiane und an den Zug der Transsibirischen, ewig abfahrtbereit, das Pfeifen der Lokomotive, ein nagelneuer Zug, der nach neuem Spielzeug und Gummibällen riecht, der seinen Schuppen auf der Exposition Universelle nie verlassen hat. Wer wird einen Namen für unsere Verrücktheit finden, die an die Stelle von Ruhm und Religion und Wissen und Liebe getreten ist, eine Krankheit, subtiler und dauerhafter und folgenreicher als die Pocken, die Kolumbus aus der Neuen Welt mitbrachte? Lohnt sie die Schläfrigkeit von Kif und einem Mann allein in der weiten Wüste, der in triumphierender Gewissheit ruft: «Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist sein Prophet?»

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