XII DER HOMER DER

TRANSSIBIRISCHEN EISENBAHN

Bei der Pariser Weltausstellung von 1900 – aber vielleicht ist das alles ein Traum, vielleicht habe ich jemanden davon erzählen hören; nein, es muss passiert sein – gab es irgendwo zwischen Eiffelturm und Trocadéro einen langen Schuppen. In diesem Schuppen stand ein nagelneuer Zug der Transsibirischen Eisenbahn, Lokomotive, Tender, Gepäckwagen, Schlafwagen, Speisewagen. In dem Schuppen war es dunkel wie auf einem Bahnhof. Auf einem Holztreppchen stieg man in den großen, dunklen lackierten Waggon. Es war furchtbar. Der Zug würde bald abfahren. Man folgte den raschelnden Kleidern auf dem Gang, bekam Gänsehaut bei dem neuen Geruch. Der Zug roch nach frischem Gummi, gerade gekauftem Spielzeug, nach frischer Farbe und Surren und Öl. Die schmalen Betten waren gemacht, es gab Spiegel, blitzblanke Waschbecken, eine Badewanne. Die Lokomotive pfiff. Hab keine Angst, schau aus dem Fenster. Wir fuhren. Nein, draußen bewegte sich ein Bild, Häuser rasten vorbei, blaugrüne Berge. Der Ural. Jemand sagt mir Namen ins Ohr. Baikalsee. Irkutsk. Sibirien. Jangtse. Mongolei, Pagoden, Peking. Flüsse winden sich durch die blaugrünen Berge, und der starke elektrische Geruch von etwas Lackiertem und Surrendem und Geöltem, das sich mächtig bewegt. Leute auf Booten, Dschunken, das Gelbe Meer, Pagoden, Peking.

Und der Liftboy sagte, die Züge in der Metro halten nie an; man springt während der Fahrt auf und ab, und an der Grande Roue und auf dem Eiffelturm wurden Laterna-magica-Bilder und Kinofilme gezeigt ... aber das muss Jahre später gewesen sein, denn ich hatte Angst hinaufzusteigen.

Ich habe oft an die anderen gedacht, die in jenem ersten Jahr des Jahrhunderts eine Eintrittskarte für den unbeweglichen Zug der Transsibirischen bekamen, deren Kindheit erfüllt war von Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer und Jules Vernes Sportlern und Globetrottern (wenn das Eis auf dem Baikalsee nur hält) und China-Gordon, der in Khartum seine letzten Worte über den Telegraphen stottert, und Carlotta, die verrückt aus Mexiko zurückkehrt und in Tervuren[33] ein Schloss anzündet, in dem kongolesische Kuriositäten gezeigt werden, Fetische aus Menschenhaar, ithyphallische Idole mit Muscheln als Zähnen und die Arme in die Seite gestemmt, Rohkautschukproben in Gläsern; und diese Magnaten mit Panamahut, die, nach Pfefferminz und altem Bourbon riechend, langsam in privaten Waggons auf neuen Strecken jenseits des Rio Grande dahinschaukeln und von der hinteren Plattform Hasen, Präriehunde und gelegentlich einen Mexikaner schießen, und das zwanzigste Jahrhundert und Harvey Lunchrooms und Buffalo Bill und die Indianer, die die Bühne besetzen, und Schnelldampfer, die nach Bishop’s Rock rasen, und Zigarettenbildchen mit den berühmtesten Lokomotiven der Welt. O Thos. Cook & Son, das ist Wasser auf eure Mühlen. Uniformierte Angestellte nehmen alle wichtigen Züge in Empfang. Nachdem Peary und Amundsen die Welt oben und unten versiegelt haben und es in Bagdad eine American Bar gibt und der Großlama von Tibet Paul Whiteman mit dem Blue Danube Blues hört und Citroëns raupengleich auf den Sandpisten von Timbuktu entlangschlingern, gibt es keinen anderen Ort für die Rover Boys als die Statler Hotels und die weltweit verkehrenden Schiffe der Dollar Line (jede Nacht in ihrem eigenen Messingbett).

Dieser unbewegliche Zug der Transsibirischen, vor dem stündlich das asiatische Panorama vorbeizog, war das letzte Relikt des homerischen Zeitalters der Eisenbahn. Jetzt ist Zeit für die Gesänge und die Schiffskataloge. Das Fällen und das Hacken und Hauen, die großen Odysseen sind Vergangenheit. Die legendären Namen, die mit ihrem Schatten und Gerumpel unsere Kindheit bewegten, sind nur noch kleingedruckte Stationen im Kursbuch. Und doch ... Oder ist es bloß der Mythos, der in unseren nostalgischen Gedanken herumschwirrt?

Wozu soll dieses unablässige Schleppen eines ramponierten Koffers vom Kai zum Bahnhof und vom Bahnhof zum Kai gut sein? Alle Weisen sagen, es sei sinnlos. In den Ländern des Islam wissen die Leute, dass man verrückt ist.

In den Ländern des Islam wissen die Leute, dass man verrückt ist, aber sie begegnen dem Verrückten mit wehmütigem Respekt. Heute Mittag erst wurde ich zu Rindfleisch mit Oliven und sauren Orangen, Couscous, Gebäck, sieben Gläsern Tee und einer Pfeife Kif eingeladen von dem extrem hässlichen Mann mit einem Augenfehler und einem Gesicht wie eine Schnappschildkröte, der im Suk Fuchsfelle ankauft im Beisein seines Freundes, des Schneiders, eines fröhlichen und philosophischen Mannes wie ein Schneider aus Tausendundeiner Nacht, und zwar nur deswegen, weil ich in Bagdad gewesen war, wo unser hochverehrter Sidi Abdel Kader el-Dschilani[34] begraben ist (jetzt hebt man die Hand an die Lippen und murmelt etwas von Frieden und Gottes Segen), und weil in ihren Augen selbst ein Kafir, der an dem Grabmal vorbeigeht, einen Hauch von der Heiligkeit des Marabut mitbringt. Für sie hat ein Pilger also eine gewisse Bedeutung.

Vielleicht haben sie recht, aber diese Begeisterung für das Reisen, für Dampfer, Züge, Autobusse, Maultiere, Kamele ist höchstwahrscheinlich nur eine tückische und raffinierte Droge, eine in der Kindheit angenommene schlechte Gewohnheit, die höchstens einen Psychoanalytiker erfreut, der sich mit manischen Zuständen beschäftigt. Wie bei allen Drogen, muss die Dosis ständig gesteigert werden. Ein tröstlicher Gedanke: während unsere Körper wie Eichhörnchen im Käfig der Meridiane gequält werden, wie Blaise Cendrars es nennt, sitzen unsere Seelen vielleicht ruhig in jenem unbeweglichen Zug, in der dunkellackierten, neu riechenden Transsibirischen, und sehen das endlos abrollende Panorama von Flüssen und Seen und Bergen.

Jetzt ist es Zeit für die homerischen Eisenbahngesänge. Blaise Cendrars hat einige geschrieben in geistreichem Französisch, sonor und direkt wie das Rattern der großen Expresszüge. Carl Sandburg hat ein, zwei geschrieben. Ich werde im Folgenden einige Fragmente aus der Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France zusammenstellen. Das passt irgendwie in dieses Hotelzimmer mit den lackierten Kiefermöbeln und dem blauen Nachttopf und den ausgeblichenen, staubzerfressenen Gardinen. Unter dem Balkon sind Bäume, deren Namen ich nicht kenne, das leere Gleis der Schmalspurbahn, eine Straße, von Lastwagen zerwühlt. Es regnet. Eine Kröte lärmt im Gebüsch. Die alten erderschütternden Maschinen werden eine nach der anderen ausgemustert, und schon sind die Mythenproduzenten am Werk. Am Ende werden sie alle dastehen wie Homers[35] umherwandernde Götter im rosigen Licht eines ordentlichen Olymp. Hier ist der Gesang der Transsibirischen Eisenbahn:

Damals wuchs ich heran

War kaum sechzehn und hatte schon die Erinnerung an

meine Kindheit verloren

Ich war 16 000 Meilen weit weg vom Ort meiner Geburt

War in Moskau, in der Stadt der tausendunddrei Kirchtürme

und der sieben Bahnhöfe

Und ich konnte nicht genug bekommen von diesen

tausendunddrei Türmen und sieben Bahnhöfen

Denn meine Jugend war damals so leidenschaftlich und

so verrückt

Dass mein Herz abwechselnd brannte wie der Tempel von

Ephesus oder der Rote Platz von Moskau

Wenn die Sonne untergeht

Und meine Augen leuchteten alte Wege aus

Und ich war bereits ein so schlechter Dichter

Dass mir nicht gelang, etwas zur Vollendung zu bringen

............

Ich verbrachte meine Kindheit in den Hängenden Gärten

von Babylon

Und schwänzte die Schule auf den Bahnhöfen, wo die Züge

zur Abfahrt bereitstanden

Jetzt lasse ich all die Züge hinter mir herjagen

Basel–Timbuktu

Ich habe auch bei Pferderennen gewettet in Auteuil

und Longchamp

Paris–New York

Jetzt jage ich all die Züge durch mein Leben

Madrid–Stockholm

Und meine Wetten habe ich alle verloren.

Nichts bleibt mir mehr, nur noch Patagonien, Patagonien, das

meiner grenzenlosen Traurigkeit entspricht,

Patagonien, und eine Reise in die Südsee

Ich bin unterwegs

Ich bin immer unterwegs gewesen

Ich bin unterwegs mit der kleinen Jehanne von Frankreich

Der Zug macht einen Salto mortale und fällt auf die

Räder zurück

Der Zug fällt zurück auf seine Räder

Der Zug fällt immer auf all seine Räder zurück

«Blaise, sag, sind wir weit weg von Montmartre?»

Wir sind weit weg, Jehanne, seit sieben Tagen bist du unterwegs.

Weit weg bist du von Montmartre, von diesem Hügel, wo

du aufgewachsen bist, von Sacré-Cœur, in deren

Schatten du gelebt hast

Verschwunden ist Paris und sein gewaltiges, hell loderndes Feuer

Nur die immerwährende Asche ist geblieben

Der Regen, der fällt

Der Torf, der sich vollsaugt

Sibirien, das vorbeiwirbelt

Die schwere Schneedecke, die sich ausbreitet

Und das Glöckchen des Wahnsinns, das wie ein

letztes Verlangen in der blauen Luft zittert

Der Zug zuckt wie ein Herz inmitten bleigrauer Horizonte

Und dein Kummer grinst dich höhnisch an ...

«Sag, Blaise, sind wir weit weg von Montmartre?»

Die Sorgen

Vergiss die Sorgen

All die heruntergekommenen, schiefen Bahnhöfe entlang

der Strecke

Die Telefondrähte, an denen sie hängen

Die fratzenschneidenden Masten, die gestikulieren und

sie erdrosseln

Die Welt streckt sich, dehnt sich und zieht sich zusammen wie

eine Harmonika, gemartert von sadistischer Hand

In die Risse des Himmels fliehen die Lokomotiven

In rasendem Taumel

Und in die Gruben

Die schwindelerregenden Räder, die Münder, die Stimmen

Und bellend hetzten die Hunde des Unheils hinter uns her ...

Und immer weiter geht es mit seinen Erinnerungen an zerrissenes, wirbelndes Metall, an Züge aus sechzig Lokomotiven, die unter Volldampf in Richtung Port Arthur verschwinden, an Krankenhäuser und Freudenmädchen und Juwelenhändler, Erinnerungen an das erste grandiose Projekt des zwanzigsten Jahrhunderts, gesehen durch schmutzige Fensterscheiben, in seinen Kopf gebleut vom ungleichmäßigen Rattern der breitspurigen Transsibirischen. Krähen am Himmel, Leichenberge am Bahndamm, brennende Krankenhäuser, eine unvorhergesehene Ausschmückung in diesem majestätischen Panorama von Flüssen und Seen und Bergen, das im grünlichen Dämmerlicht des Schuppens auf der Exposition Universelle vorbeizieht.

Dann haben wir Le Panama ou Les Aventures de mes Septs Oncles, sieben verschwundene Onkel, gewidmet dem letzten Franzosen in Panama, dem Barkeeper in Matachine, wo Chinesen sterben, wo zwischen ausrangierten Lokomotiven Virginia-Eichen wachsen, wo, bis auf einen großen, mit dem Wappen Ludwigs XV. versehenen Anker mitten im Wald, die Überreste von Lesseps’[36] Unternehmung verrostet und lianenüberwuchert dahinrotten.

In jener Zeit etwa habe ich auch die Geschichte gelesen

vom großen Beben zu Lissabon

Doch ich denke

Entscheidender war der Panamaskandal

Hat er doch meine Kindheit erschüttert.

Ich hatte ein schönes Bilderbuch

Und sah zum ersten Mal

Den Wal

Die dicke Wolke

Die Sonne

Das große Walross

Den Bären den Löwen den Schimpansen die Klapperschlange

und die Fliege

Die Fliege

Die entsetzliche Fliege

«Mama, die Fliegen! Die Fliegen! Und die Baumstämme!»

«Schlaf, mein Kind, schlaf.»

Ahasver ist dumm.

................

Der Panamakrach war’s, der mich zum Dichter machte!

Es ist fabelhaft

Allen aus meiner Generation ging es so

Junge Leute

Die die seltsamsten Schicksalsschläge erlitten haben

Wir spielen nicht mehr mit Möbeln

Wir spielen nicht mehr mit altem Kram

Wir zerschlagen, wo immer wir sind, weiterhin Geschirr

Wir schiffen uns ein

Wir jagen Wale

Töten Walrosse

Wir leben dauernd in Angst vor der Tsetsefliege

Denn wir schlafen nicht gern ...

Phantastische Männer, diese Onkel. Einer war ein Metzger in Galveston, der bei dem Wirbelsturm von 1895 umkam, ein Zweiter war Goldwäscher in Klondike. Ein Dritter wandte sich dem Buddhismus zu und wurde beim Versuch gefasst, Engländer in Bombay in die Luft zu jagen; der Vierte war Kammerdiener eines Generals im Burenkrieg; der Fünfte war Küchenchef in Grand Hotels; der Sechste verschwand in Patagonien mit einem Haufen elektromagnetischer Präzisionsinstrumente; was aus dem Siebten wurde ist unbekannt.

Es war der zweite Onkel, der Gedichte im Stil von Musset schrieb und in San Francisco die Geschichte von General Suter las, dem Mann, der Kalifornien für die Vereinigten Staaten eroberte und den die Entdeckung von Gold auf seiner Plantage in den Ruin stürzte. Dieser Onkel heiratete die Frau, die das beste Brot im Umkreis von tausend Meilen machte, und wurde eines Tages mit einer Kugel im Kopf aufgefunden. Die Frau verschwand. Sie heiratete wieder und ist nun die Frau eines reichen Marmeladefabrikanten.

Blaise Cendrars schreibt inzwischen Gold, die Geschichte von General Johann August Suter, einen Roman, der die rasanteste, konziseste Geschichte nachzeichnet, die ich je gelesen habe, und wie ein Messer durch die Seichtheiten der zeitgenössischen französischen Literatur mit ihren zitronengelben Handschuhen und dem Parfüm und dem Weihwasser und ihrer Vorliebe für den Policier-Gentleman schneidet. Weil Cendrars, anders als die Vertreter der Quai-d’Orsay-Schule das für sich behaupten, tatsächlich ein internationaler Vagabund ist, hat er die grandiosen Rhythmen Amerikas von vor fünfundsiebzig Jahren einfangen können, deren Mythen unsere Generation gerade erst zu erschaffen beginnt. (Als ob irgendjemand wirklich etwas war; er ist ein guter Schriftsteller, belassen wir es dabei.) In Gold macht er aus der tragischen und turbulenten Absurdität von 1849 ein Feuerwerk. Alles ist so schnell vorbei, dass man es gleich noch einmal lesen muss, weil man befürchtet, etwas übersehen zu haben.

Aber die sieben Onkel. Hier ist noch ein weiterer Gesang über das Reisen, der sein gesamtes Werk charakterisiert, Ausdruck der Qualen und Freuden einer Generation von Eisenbahnnarren, Schiffsnarren, Flugzeugnarren.

Ich habe Durst

Verflucht

Verflucht noch mal

Verflucht noch mal

Ich möchte das Feuille d’Avis de Neuchâtel oder den

Correo de Pamplona lesen

Mitten auf dem Atlantik fühlt man sich nicht wohler als in

einem Redaktionsbüro

Wie ein eingesperrtes Eichhörnchen drehe ich meine Runden im

Käfig der Meridiane

Da, schau mal, ein Russe, der sympathisch wirkt

Wohin soll’s denn gehen

Auch er weiß nicht, wo er mit seinem Gepäck einmal landen wird

In Léopoldville, in der Sedjerah bei Nazareth, bei

Mr Junod oder bei meinem alten Freund Perl

Im Kongo in Bessarabien auf Samoa

Ich kenne alle Fahrpläne

Alle Züge und ihre Anschlüsse

Ankunfts- und Abfahrtszeiten

Alle Dampfer alle Tarife und alle Gebühren

Egal wohin

Ich habe Adressen

Lebe von meiner Schreibmaschine

An Bord der Volturno reise ich von Amerika zurück,

für 35 Francs von New York nach Rotterdam

Für Blaise Cendrars spielt Amerika anscheinend eine besondere Rolle, in den USA zog er den entspannteren Süden und Westen den bibelschweren Bergen von Neu-England vor. Hier ist ein Gedicht über den Mississippi, für das Old Kentucky die vielen Krokodile geliefert haben muss, immer noch eine gute Ergänzung der wunderbaren alten Ansichten von Raddampfern, mit einem Neger am Sicherheitsventil.

An dieser Stelle ist der Fluss fast so breit wie ein See

Zwischen zwei sumpfigen Böschungen wälzt er seine

gelblich schlammigen Wasser

Wasserpflanzen, die übergehen in Baumwollplantagen

Da und dort tauchen Städte auf oder Dörfer, die sich

mit ihren Fabriken in kleine Buchten verkrochen haben

Mit ihren hohen schwarzen Kaminen und langen Stegen

Mit ihren langen Stegen auf Pfählen

Die sich weit ins Wasser vorwagen

Drückende Hitze

Die Bordglocke läutet zum Lunch

Die Passagiere präsentieren sich in karierten Anzügen, mit

buntschreienden Krawatten und glitzernden Westen

Die zu den scharfen Cocktails und ätzenden Saucen passen

Es gibt viele Krokodile

Die jungen munter und quicklebendig

Die alten lassen sich mit ihren grünbemoosten Rücken treiben

Die üppige Vegetation verweist auf die Nähe der Tropen

Riesenbambus, Palmen, Tulpen- und Lorbeerbäume, Zedern

Der Fluss ist jetzt doppelt so breit

Gespickt mit schwimmenden Inseln, von denen, sobald sich das

Schiff ihnen nähert, ganze Schwärme von

Wasservögeln aufstieben

Dampfschiffe, Segelschiffe, Kähne, Wasserfahrzeuge aller

Art und riesige Floße

Gelber Dampf steigt aus den überhitzten Fluten des Stroms

Zu Hunderten tummeln sich nun die Krokodile um uns herum

Man hört das trockene Zuknallen ihres Gebisses und

erkennt ihr grimmiges Auge

Die Passagiere machen sich einen Spaß daraus,

mit Präzisionsgewehren auf sie zu schießen

Wenn einem erfahrenen Schützen das Kunststück gelingt,

ein Tier zu töten oder tödlich zu verwunden

Stürzen sich seine Artgenossen auf das Opfer und reißen es

Wild in Stücke

Mit leisen Schreien, die wie das Gewimmer eines

Neugeborenen klingen.

In Kodak (Dokumentarfilm) finden sich Gedichte über New York, Alaska, Florida, über die Jagd auf Wildenten und Auerhähne in Birkenwäldern bei Winnipeg, über eine neblige Nacht in Vancouver, über eine Dschunke in einem Pazifikhafen, die japanisches Porzellan und Schwalbennester, Bambussprossen und Ingwer geladen hat, über Sterne, die wie Zucker schmelzen am Himmel über einer Insel, an der Kapitän Cook vorbeikam, über Elefantenjagd in einem Dschungel, über den prasselnder Regen niedergeht, und am Ende eine Liste von Menüs, mit Leguan und grüner Schildkröte, Lachs und Haifischflossen, Spanferkel mit gebackenen Bananen, Flusskrebsen mit Chilipfeffer, Brotbaumfrüchten, gebratenen Austern und Guaven, datiert Auf Reisen 1887–1923. 1887 ist Cendrars’ Geburtsjahr.

Neunzehn elastische Gedichte. Paris ist, ob wir wollen oder nicht, bis heute ein Zentrum von Unruhe, hier wird unser Jahrhundert aufgebaut und eingerissen. Von hier hat sich das Esperanto einer sich als «modern» begreifenden Kunst in alle Himmelsrichtungen ausgebreitet. Blaise Cendrars ist ein wandernder Pariser, dem diese und viele andere Dialekte sehr vertraut sind. Er ist so etwas wie ein Medizinmann, der die Dinge heraufbeschwört, die unsere grausamen Rachegötter sind. Turbinen, Dreifach-Expansionsdampfmaschinen, Dynamit, Hochspannungsleitungen. Navigation, Tempo, Flucht, Vernichtung. Gegen sie kommt keine Medizin an. Die Kubisten haben Fetische und Amulette erfunden, die vielen nützlich erscheinen. Hier ist das Bekenntnis eines enfant du siècle, eines wandernden Parisers:

So durchquere ich, zu Fuß, jeden Abend Paris

Vom Batignolles zum Quartier Latin, als überquerte ich

die Anden

Unter dem Aufflammen neuer Sterne, immer größerer, die

mich immer mehr erschrecken.

Über seinem neuen Kontinent taucht das Kreuz des Südens

mit jedem Schritt, mit dem man sich ihm nähert, wenn

man die Alte Welt hinter sich lässt

Umso gewaltiger auf.

Ich bin der Mann, der keine Vergangenheit mehr hat. – Nur

mein Stumpf tut mir weh. –

Ich habe ein Zimmer gemietet, um mit mir ganz allein zu sein.

Ich habe einen funkelnagelneuen Weidenkorb, der sich mit

Manuskripten füllt.

Ich habe weder Bücher noch Bilder, keinerlei

nette Nippsachen.

Eine Zeitung liegt auf dem Tisch herum.

Ich arbeite in meinem nackten Zimmer, hinter

einer Milchglasscheibe

Barfuß auf roten Bodenfliesen, und spiele mit Ballonen

und einer kleinen Kindertrompete:

Ich arbeite am ENDE DER WELT.

Ich begann mit diesen Anmerkungen auf dem kleinen sonnigen Balkon in Marrakesch, vor mir der hohe kakaobraune Turm der Koutoubia mit dem pfauenfarbenen Fries, bekrönt von drei goldenen Kugeln, eine kleiner als die andere, und dahinter die schneebedeckten Berge des Hohen Atlas. Ich beende sie in Mogador in einer verschlossenen Straße, die Häuser weiß wie saure Milch, laute Schritte über dem unablässigen Meeresrauschen in der Ferne. Es ist die Zeit des Nachmittagsgebets, die Stimme des Muezzins erklingt metallisch vom Himmel und verkündet, dass es keinen Gott gibt außer Allah und Mohammed sein Prophet ist. Und ich reise ab um sechs Uhr morgens, vor mir nichts als Räder und hinter mir nichts als Räder. O Thos. Cook and Son, die ihr das Reisen mit langen Fahrscheinbündeln erfunden habt, welchen Zauber habt ihr über die Kinder dieses Jahrhunderts ausgesprochen? Wie verlockend all diese Namen – Bagdadbahn, Kap-Kairo, Transsibirische Eisenbahn, Compagnie des Wagons Lits et des Grands Express Européens, Grand Tronc, Christus der Anden; Panamakanal, technisches Spielzeug, das die Herren Roosevelt und Goethals zum Funktionieren brachten, während alle anderen daran gescheitert sind – für die Bewohner der beiden Amerika habt ihr viele Probleme in euren gigantischen Schleusen angehäuft. Die Fahnen, die Dollars und Cook’s Touristen jagen um die Welt, bis sie einander auf dem Rückweg wieder begegnen. Hier, in Marokko, kann man sie sehen, Stunde um Stunde, wie sie das Minarett begaffen, von dem der Muezzin fünfmal am Tag seinen erhabenen Widerstand gegen das multiple Universum verkündet.

Wenn es nicht so viele Götter gäbe, Konservendosengötter, Stahlgötter, Götter aus Uran und Mangan, lebendige Götter – Mrs. Besant beispielsweise, die, in Oxford gründlich dafür ausgebildet, in Bombay einen neuen Jesus ausruft –, rote Götter von Hungersnot und Revolution, alte Götter in Bibliotheken, korallenfarbene Gipsgottheiten in Miami, sprudelnde Ölgötter in Tulsa, Oklahoma, könnten auch wir auf unseren Gebetsteppichen sitzen im weißen unabänderlichen Sonnenschein des Islam, was Hingabe bedeutet. Die Sonne unserer Generation ist pickelig geworden, ihr brüchiges Licht flackert in Streifen von undefinierbarer Farbe. Nehmen wir den Zug, in Florida wird Glück grundstückweise verkauft. Also müssen wir die Kontinente durchqueren, immer mit dem Rattern von Rädern in den Ohren, mit dem Dröhnen von Flugzeugmotoren, durch alle Meere schlingern, mit dem Geruch von heißem Maschinenöl in der Nase und dem Stampfen der Maschinen in unserem Blut. Was entsteht aus dem Babel aufeinandergetürmter Städte und Kontinente, einer kleingepressten und langgezogenen Welt, die wie ein neuer Gummiball springt? Bestimmt nicht Frieden. Darum ist es gut, in diesem Zeitalter gigantischer Maschinen und flachköpfiger Menschen ein wenig Musik zu haben. Wir brauchen Söhne Homers, die das schrille Getöse der Welt in einen menschlichen Rhythmus bringen und uns die Angst nehmen.

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