Bei der Pariser Weltausstellung von 1900 – aber vielleicht ist das alles ein Traum, vielleicht habe ich jemanden davon erzählen hören; nein, es muss passiert sein – gab es irgendwo zwischen Eiffelturm und Trocadéro einen langen Schuppen. In diesem Schuppen stand ein nagelneuer Zug der Transsibirischen Eisenbahn, Lokomotive, Tender, Gepäckwagen, Schlafwagen, Speisewagen. In dem Schuppen war es dunkel wie auf einem Bahnhof. Auf einem Holztreppchen stieg man in den großen, dunklen lackierten Waggon. Es war furchtbar. Der Zug würde bald abfahren. Man folgte den raschelnden Kleidern auf dem Gang, bekam Gänsehaut bei dem neuen Geruch. Der Zug roch nach frischem Gummi, gerade gekauftem Spielzeug, nach frischer Farbe und Surren und Öl. Die schmalen Betten waren gemacht, es gab Spiegel, blitzblanke Waschbecken, eine Badewanne. Die Lokomotive pfiff. Hab keine Angst, schau aus dem Fenster. Wir fuhren. Nein, draußen bewegte sich ein Bild, Häuser rasten vorbei, blaugrüne Berge. Der Ural. Jemand sagt mir Namen ins Ohr. Baikalsee. Irkutsk. Sibirien. Jangtse. Mongolei, Pagoden, Peking. Flüsse winden sich durch die blaugrünen Berge, und der starke elektrische Geruch von etwas Lackiertem und Surrendem und Geöltem, das sich mächtig bewegt. Leute auf Booten, Dschunken, das Gelbe Meer, Pagoden, Peking.
Und der Liftboy sagte, die Züge in der Metro halten nie an; man springt während der Fahrt auf und ab, und an der Grande Roue und auf dem Eiffelturm wurden Laterna-magica-Bilder und Kinofilme gezeigt ... aber das muss Jahre später gewesen sein, denn ich hatte Angst hinaufzusteigen.
Ich habe oft an die anderen gedacht, die in jenem ersten Jahr des Jahrhunderts eine Eintrittskarte für den unbeweglichen Zug der Transsibirischen bekamen, deren Kindheit erfüllt war von Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer und Jules Vernes Sportlern und Globetrottern (wenn das Eis auf dem Baikalsee nur hält) und China-Gordon, der in Khartum seine letzten Worte über den Telegraphen stottert, und Carlotta, die verrückt aus Mexiko zurückkehrt und in Tervuren[33] ein Schloss anzündet, in dem kongolesische Kuriositäten gezeigt werden, Fetische aus Menschenhaar, ithyphallische Idole mit Muscheln als Zähnen und die Arme in die Seite gestemmt, Rohkautschukproben in Gläsern; und diese Magnaten mit Panamahut, die, nach Pfefferminz und altem Bourbon riechend, langsam in privaten Waggons auf neuen Strecken jenseits des Rio Grande dahinschaukeln und von der hinteren Plattform Hasen, Präriehunde und gelegentlich einen Mexikaner schießen, und das zwanzigste Jahrhundert und Harvey Lunchrooms und Buffalo Bill und die Indianer, die die Bühne besetzen, und Schnelldampfer, die nach Bishop’s Rock rasen, und Zigarettenbildchen mit den berühmtesten Lokomotiven der Welt. O Thos. Cook & Son, das ist Wasser auf eure Mühlen. Uniformierte Angestellte nehmen alle wichtigen Züge in Empfang. Nachdem Peary und Amundsen die Welt oben und unten versiegelt haben und es in Bagdad eine American Bar gibt und der Großlama von Tibet Paul Whiteman mit dem Blue Danube Blues hört und Citroëns raupengleich auf den Sandpisten von Timbuktu entlangschlingern, gibt es keinen anderen Ort für die Rover Boys als die Statler Hotels und die weltweit verkehrenden Schiffe der Dollar Line (jede Nacht in ihrem eigenen Messingbett).
Dieser unbewegliche Zug der Transsibirischen, vor dem stündlich das asiatische Panorama vorbeizog, war das letzte Relikt des homerischen Zeitalters der Eisenbahn. Jetzt ist Zeit für die Gesänge und die Schiffskataloge. Das Fällen und das Hacken und Hauen, die großen Odysseen sind Vergangenheit. Die legendären Namen, die mit ihrem Schatten und Gerumpel unsere Kindheit bewegten, sind nur noch kleingedruckte Stationen im Kursbuch. Und doch ... Oder ist es bloß der Mythos, der in unseren nostalgischen Gedanken herumschwirrt?
Wozu soll dieses unablässige Schleppen eines ramponierten Koffers vom Kai zum Bahnhof und vom Bahnhof zum Kai gut sein? Alle Weisen sagen, es sei sinnlos. In den Ländern des Islam wissen die Leute, dass man verrückt ist.
In den Ländern des Islam wissen die Leute, dass man verrückt ist, aber sie begegnen dem Verrückten mit wehmütigem Respekt. Heute Mittag erst wurde ich zu Rindfleisch mit Oliven und sauren Orangen, Couscous, Gebäck, sieben Gläsern Tee und einer Pfeife Kif eingeladen von dem extrem hässlichen Mann mit einem Augenfehler und einem Gesicht wie eine Schnappschildkröte, der im Suk Fuchsfelle ankauft im Beisein seines Freundes, des Schneiders, eines fröhlichen und philosophischen Mannes wie ein Schneider aus Tausendundeiner Nacht, und zwar nur deswegen, weil ich in Bagdad gewesen war, wo unser hochverehrter Sidi Abdel Kader el-Dschilani[34] begraben ist (jetzt hebt man die Hand an die Lippen und murmelt etwas von Frieden und Gottes Segen), und weil in ihren Augen selbst ein Kafir, der an dem Grabmal vorbeigeht, einen Hauch von der Heiligkeit des Marabut mitbringt. Für sie hat ein Pilger also eine gewisse Bedeutung.
Vielleicht haben sie recht, aber diese Begeisterung für das Reisen, für Dampfer, Züge, Autobusse, Maultiere, Kamele ist höchstwahrscheinlich nur eine tückische und raffinierte Droge, eine in der Kindheit angenommene schlechte Gewohnheit, die höchstens einen Psychoanalytiker erfreut, der sich mit manischen Zuständen beschäftigt. Wie bei allen Drogen, muss die Dosis ständig gesteigert werden. Ein tröstlicher Gedanke: während unsere Körper wie Eichhörnchen im Käfig der Meridiane gequält werden, wie Blaise Cendrars es nennt, sitzen unsere Seelen vielleicht ruhig in jenem unbeweglichen Zug, in der dunkellackierten, neu riechenden Transsibirischen, und sehen das endlos abrollende Panorama von Flüssen und Seen und Bergen.
Jetzt ist es Zeit für die homerischen Eisenbahngesänge. Blaise Cendrars hat einige geschrieben in geistreichem Französisch, sonor und direkt wie das Rattern der großen Expresszüge. Carl Sandburg hat ein, zwei geschrieben. Ich werde im Folgenden einige Fragmente aus der Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France zusammenstellen. Das passt irgendwie in dieses Hotelzimmer mit den lackierten Kiefermöbeln und dem blauen Nachttopf und den ausgeblichenen, staubzerfressenen Gardinen. Unter dem Balkon sind Bäume, deren Namen ich nicht kenne, das leere Gleis der Schmalspurbahn, eine Straße, von Lastwagen zerwühlt. Es regnet. Eine Kröte lärmt im Gebüsch. Die alten erderschütternden Maschinen werden eine nach der anderen ausgemustert, und schon sind die Mythenproduzenten am Werk. Am Ende werden sie alle dastehen wie Homers[35] umherwandernde Götter im rosigen Licht eines ordentlichen Olymp. Hier ist der Gesang der Transsibirischen Eisenbahn:
Damals wuchs ich heran
War kaum sechzehn und hatte schon die Erinnerung an
meine Kindheit verloren
Ich war 16 000 Meilen weit weg vom Ort meiner Geburt
War in Moskau, in der Stadt der tausendunddrei Kirchtürme
und der sieben Bahnhöfe
Und ich konnte nicht genug bekommen von diesen
tausendunddrei Türmen und sieben Bahnhöfen
Denn meine Jugend war damals so leidenschaftlich und
so verrückt
Dass mein Herz abwechselnd brannte wie der Tempel von
Ephesus oder der Rote Platz von Moskau
Wenn die Sonne untergeht
Und meine Augen leuchteten alte Wege aus
Und ich war bereits ein so schlechter Dichter
Dass mir nicht gelang, etwas zur Vollendung zu bringen
............
Ich verbrachte meine Kindheit in den Hängenden Gärten
von Babylon
Und schwänzte die Schule auf den Bahnhöfen, wo die Züge
zur Abfahrt bereitstanden
Jetzt lasse ich all die Züge hinter mir herjagen
Basel–Timbuktu
Ich habe auch bei Pferderennen gewettet in Auteuil
und Longchamp
Paris–New York
Jetzt jage ich all die Züge durch mein Leben
Madrid–Stockholm
Und meine Wetten habe ich alle verloren.
Nichts bleibt mir mehr, nur noch Patagonien, Patagonien, das
meiner grenzenlosen Traurigkeit entspricht,
Patagonien, und eine Reise in die Südsee
Ich bin unterwegs
Ich bin immer unterwegs gewesen
Ich bin unterwegs mit der kleinen Jehanne von Frankreich
Der Zug macht einen Salto mortale und fällt auf die
Räder zurück
Der Zug fällt zurück auf seine Räder
Der Zug fällt immer auf all seine Räder zurück
«Blaise, sag, sind wir weit weg von Montmartre?»
Wir sind weit weg, Jehanne, seit sieben Tagen bist du unterwegs.
Weit weg bist du von Montmartre, von diesem Hügel, wo
du aufgewachsen bist, von Sacré-Cœur, in deren
Schatten du gelebt hast
Verschwunden ist Paris und sein gewaltiges, hell loderndes Feuer
Nur die immerwährende Asche ist geblieben
Der Regen, der fällt
Der Torf, der sich vollsaugt
Sibirien, das vorbeiwirbelt
Die schwere Schneedecke, die sich ausbreitet
Und das Glöckchen des Wahnsinns, das wie ein
letztes Verlangen in der blauen Luft zittert
Der Zug zuckt wie ein Herz inmitten bleigrauer Horizonte
Und dein Kummer grinst dich höhnisch an ...
«Sag, Blaise, sind wir weit weg von Montmartre?»
Die Sorgen
Vergiss die Sorgen
All die heruntergekommenen, schiefen Bahnhöfe entlang
der Strecke
Die Telefondrähte, an denen sie hängen
Die fratzenschneidenden Masten, die gestikulieren und
sie erdrosseln
Die Welt streckt sich, dehnt sich und zieht sich zusammen wie
eine Harmonika, gemartert von sadistischer Hand
In die Risse des Himmels fliehen die Lokomotiven
In rasendem Taumel
Und in die Gruben
Die schwindelerregenden Räder, die Münder, die Stimmen
Und bellend hetzten die Hunde des Unheils hinter uns her ...
Und immer weiter geht es mit seinen Erinnerungen an zerrissenes, wirbelndes Metall, an Züge aus sechzig Lokomotiven, die unter Volldampf in Richtung Port Arthur verschwinden, an Krankenhäuser und Freudenmädchen und Juwelenhändler, Erinnerungen an das erste grandiose Projekt des zwanzigsten Jahrhunderts, gesehen durch schmutzige Fensterscheiben, in seinen Kopf gebleut vom ungleichmäßigen Rattern der breitspurigen Transsibirischen. Krähen am Himmel, Leichenberge am Bahndamm, brennende Krankenhäuser, eine unvorhergesehene Ausschmückung in diesem majestätischen Panorama von Flüssen und Seen und Bergen, das im grünlichen Dämmerlicht des Schuppens auf der Exposition Universelle vorbeizieht.
Dann haben wir Le Panama ou Les Aventures de mes Septs Oncles, sieben verschwundene Onkel, gewidmet dem letzten Franzosen in Panama, dem Barkeeper in Matachine, wo Chinesen sterben, wo zwischen ausrangierten Lokomotiven Virginia-Eichen wachsen, wo, bis auf einen großen, mit dem Wappen Ludwigs XV. versehenen Anker mitten im Wald, die Überreste von Lesseps’[36] Unternehmung verrostet und lianenüberwuchert dahinrotten.
In jener Zeit etwa habe ich auch die Geschichte gelesen
vom großen Beben zu Lissabon
Doch ich denke
Entscheidender war der Panamaskandal
Hat er doch meine Kindheit erschüttert.
Ich hatte ein schönes Bilderbuch
Und sah zum ersten Mal
Den Wal
Die dicke Wolke
Die Sonne
Das große Walross
Den Bären den Löwen den Schimpansen die Klapperschlange
und die Fliege
Die Fliege
Die entsetzliche Fliege
«Mama, die Fliegen! Die Fliegen! Und die Baumstämme!»
«Schlaf, mein Kind, schlaf.»
Ahasver ist dumm.
................
Der Panamakrach war’s, der mich zum Dichter machte!
Es ist fabelhaft
Allen aus meiner Generation ging es so
Junge Leute
Die die seltsamsten Schicksalsschläge erlitten haben
Wir spielen nicht mehr mit Möbeln
Wir spielen nicht mehr mit altem Kram
Wir zerschlagen, wo immer wir sind, weiterhin Geschirr
Wir schiffen uns ein
Wir jagen Wale
Töten Walrosse
Wir leben dauernd in Angst vor der Tsetsefliege
Denn wir schlafen nicht gern ...
Phantastische Männer, diese Onkel. Einer war ein Metzger in Galveston, der bei dem Wirbelsturm von 1895 umkam, ein Zweiter war Goldwäscher in Klondike. Ein Dritter wandte sich dem Buddhismus zu und wurde beim Versuch gefasst, Engländer in Bombay in die Luft zu jagen; der Vierte war Kammerdiener eines Generals im Burenkrieg; der Fünfte war Küchenchef in Grand Hotels; der Sechste verschwand in Patagonien mit einem Haufen elektromagnetischer Präzisionsinstrumente; was aus dem Siebten wurde ist unbekannt.
Es war der zweite Onkel, der Gedichte im Stil von Musset schrieb und in San Francisco die Geschichte von General Suter las, dem Mann, der Kalifornien für die Vereinigten Staaten eroberte und den die Entdeckung von Gold auf seiner Plantage in den Ruin stürzte. Dieser Onkel heiratete die Frau, die das beste Brot im Umkreis von tausend Meilen machte, und wurde eines Tages mit einer Kugel im Kopf aufgefunden. Die Frau verschwand. Sie heiratete wieder und ist nun die Frau eines reichen Marmeladefabrikanten.
Blaise Cendrars schreibt inzwischen Gold, die Geschichte von General Johann August Suter, einen Roman, der die rasanteste, konziseste Geschichte nachzeichnet, die ich je gelesen habe, und wie ein Messer durch die Seichtheiten der zeitgenössischen französischen Literatur mit ihren zitronengelben Handschuhen und dem Parfüm und dem Weihwasser und ihrer Vorliebe für den Policier-Gentleman schneidet. Weil Cendrars, anders als die Vertreter der Quai-d’Orsay-Schule das für sich behaupten, tatsächlich ein internationaler Vagabund ist, hat er die grandiosen Rhythmen Amerikas von vor fünfundsiebzig Jahren einfangen können, deren Mythen unsere Generation gerade erst zu erschaffen beginnt. (Als ob irgendjemand wirklich etwas war; er ist ein guter Schriftsteller, belassen wir es dabei.) In Gold macht er aus der tragischen und turbulenten Absurdität von 1849 ein Feuerwerk. Alles ist so schnell vorbei, dass man es gleich noch einmal lesen muss, weil man befürchtet, etwas übersehen zu haben.
Aber die sieben Onkel. Hier ist noch ein weiterer Gesang über das Reisen, der sein gesamtes Werk charakterisiert, Ausdruck der Qualen und Freuden einer Generation von Eisenbahnnarren, Schiffsnarren, Flugzeugnarren.
Ich habe Durst
Verflucht
Verflucht noch mal
Verflucht noch mal
Ich möchte das Feuille d’Avis de Neuchâtel oder den
Correo de Pamplona lesen
Mitten auf dem Atlantik fühlt man sich nicht wohler als in
einem Redaktionsbüro
Wie ein eingesperrtes Eichhörnchen drehe ich meine Runden im
Käfig der Meridiane
Da, schau mal, ein Russe, der sympathisch wirkt
Wohin soll’s denn gehen
Auch er weiß nicht, wo er mit seinem Gepäck einmal landen wird
In Léopoldville, in der Sedjerah bei Nazareth, bei
Mr Junod oder bei meinem alten Freund Perl
Im Kongo in Bessarabien auf Samoa
Ich kenne alle Fahrpläne
Alle Züge und ihre Anschlüsse
Ankunfts- und Abfahrtszeiten
Alle Dampfer alle Tarife und alle Gebühren
Egal wohin
Ich habe Adressen
Lebe von meiner Schreibmaschine
An Bord der Volturno reise ich von Amerika zurück,
für 35 Francs von New York nach Rotterdam
Für Blaise Cendrars spielt Amerika anscheinend eine besondere Rolle, in den USA zog er den entspannteren Süden und Westen den bibelschweren Bergen von Neu-England vor. Hier ist ein Gedicht über den Mississippi, für das Old Kentucky die vielen Krokodile geliefert haben muss, immer noch eine gute Ergänzung der wunderbaren alten Ansichten von Raddampfern, mit einem Neger am Sicherheitsventil.
An dieser Stelle ist der Fluss fast so breit wie ein See
Zwischen zwei sumpfigen Böschungen wälzt er seine
gelblich schlammigen Wasser
Wasserpflanzen, die übergehen in Baumwollplantagen
Da und dort tauchen Städte auf oder Dörfer, die sich
mit ihren Fabriken in kleine Buchten verkrochen haben
Mit ihren hohen schwarzen Kaminen und langen Stegen
Mit ihren langen Stegen auf Pfählen
Die sich weit ins Wasser vorwagen
Drückende Hitze
Die Bordglocke läutet zum Lunch
Die Passagiere präsentieren sich in karierten Anzügen, mit
buntschreienden Krawatten und glitzernden Westen
Die zu den scharfen Cocktails und ätzenden Saucen passen
Es gibt viele Krokodile
Die jungen munter und quicklebendig
Die alten lassen sich mit ihren grünbemoosten Rücken treiben
Die üppige Vegetation verweist auf die Nähe der Tropen
Riesenbambus, Palmen, Tulpen- und Lorbeerbäume, Zedern
Der Fluss ist jetzt doppelt so breit
Gespickt mit schwimmenden Inseln, von denen, sobald sich das
Schiff ihnen nähert, ganze Schwärme von
Wasservögeln aufstieben
Dampfschiffe, Segelschiffe, Kähne, Wasserfahrzeuge aller
Art und riesige Floße
Gelber Dampf steigt aus den überhitzten Fluten des Stroms
Zu Hunderten tummeln sich nun die Krokodile um uns herum
Man hört das trockene Zuknallen ihres Gebisses und
erkennt ihr grimmiges Auge
Die Passagiere machen sich einen Spaß daraus,
mit Präzisionsgewehren auf sie zu schießen
Wenn einem erfahrenen Schützen das Kunststück gelingt,
ein Tier zu töten oder tödlich zu verwunden
Stürzen sich seine Artgenossen auf das Opfer und reißen es
Wild in Stücke
Mit leisen Schreien, die wie das Gewimmer eines
Neugeborenen klingen.
In Kodak (Dokumentarfilm) finden sich Gedichte über New York, Alaska, Florida, über die Jagd auf Wildenten und Auerhähne in Birkenwäldern bei Winnipeg, über eine neblige Nacht in Vancouver, über eine Dschunke in einem Pazifikhafen, die japanisches Porzellan und Schwalbennester, Bambussprossen und Ingwer geladen hat, über Sterne, die wie Zucker schmelzen am Himmel über einer Insel, an der Kapitän Cook vorbeikam, über Elefantenjagd in einem Dschungel, über den prasselnder Regen niedergeht, und am Ende eine Liste von Menüs, mit Leguan und grüner Schildkröte, Lachs und Haifischflossen, Spanferkel mit gebackenen Bananen, Flusskrebsen mit Chilipfeffer, Brotbaumfrüchten, gebratenen Austern und Guaven, datiert Auf Reisen 1887–1923. 1887 ist Cendrars’ Geburtsjahr.
Neunzehn elastische Gedichte. Paris ist, ob wir wollen oder nicht, bis heute ein Zentrum von Unruhe, hier wird unser Jahrhundert aufgebaut und eingerissen. Von hier hat sich das Esperanto einer sich als «modern» begreifenden Kunst in alle Himmelsrichtungen ausgebreitet. Blaise Cendrars ist ein wandernder Pariser, dem diese und viele andere Dialekte sehr vertraut sind. Er ist so etwas wie ein Medizinmann, der die Dinge heraufbeschwört, die unsere grausamen Rachegötter sind. Turbinen, Dreifach-Expansionsdampfmaschinen, Dynamit, Hochspannungsleitungen. Navigation, Tempo, Flucht, Vernichtung. Gegen sie kommt keine Medizin an. Die Kubisten haben Fetische und Amulette erfunden, die vielen nützlich erscheinen. Hier ist das Bekenntnis eines enfant du siècle, eines wandernden Parisers:
So durchquere ich, zu Fuß, jeden Abend Paris
Vom Batignolles zum Quartier Latin, als überquerte ich
die Anden
Unter dem Aufflammen neuer Sterne, immer größerer, die
mich immer mehr erschrecken.
Über seinem neuen Kontinent taucht das Kreuz des Südens
mit jedem Schritt, mit dem man sich ihm nähert, wenn
man die Alte Welt hinter sich lässt
Umso gewaltiger auf.
Ich bin der Mann, der keine Vergangenheit mehr hat. – Nur
mein Stumpf tut mir weh. –
Ich habe ein Zimmer gemietet, um mit mir ganz allein zu sein.
Ich habe einen funkelnagelneuen Weidenkorb, der sich mit
Manuskripten füllt.
Ich habe weder Bücher noch Bilder, keinerlei
nette Nippsachen.
Eine Zeitung liegt auf dem Tisch herum.
Ich arbeite in meinem nackten Zimmer, hinter
einer Milchglasscheibe
Barfuß auf roten Bodenfliesen, und spiele mit Ballonen
und einer kleinen Kindertrompete:
Ich arbeite am ENDE DER WELT.
Ich begann mit diesen Anmerkungen auf dem kleinen sonnigen Balkon in Marrakesch, vor mir der hohe kakaobraune Turm der Koutoubia mit dem pfauenfarbenen Fries, bekrönt von drei goldenen Kugeln, eine kleiner als die andere, und dahinter die schneebedeckten Berge des Hohen Atlas. Ich beende sie in Mogador in einer verschlossenen Straße, die Häuser weiß wie saure Milch, laute Schritte über dem unablässigen Meeresrauschen in der Ferne. Es ist die Zeit des Nachmittagsgebets, die Stimme des Muezzins erklingt metallisch vom Himmel und verkündet, dass es keinen Gott gibt außer Allah und Mohammed sein Prophet ist. Und ich reise ab um sechs Uhr morgens, vor mir nichts als Räder und hinter mir nichts als Räder. O Thos. Cook and Son, die ihr das Reisen mit langen Fahrscheinbündeln erfunden habt, welchen Zauber habt ihr über die Kinder dieses Jahrhunderts ausgesprochen? Wie verlockend all diese Namen – Bagdadbahn, Kap-Kairo, Transsibirische Eisenbahn, Compagnie des Wagons Lits et des Grands Express Européens, Grand Tronc, Christus der Anden; Panamakanal, technisches Spielzeug, das die Herren Roosevelt und Goethals zum Funktionieren brachten, während alle anderen daran gescheitert sind – für die Bewohner der beiden Amerika habt ihr viele Probleme in euren gigantischen Schleusen angehäuft. Die Fahnen, die Dollars und Cook’s Touristen jagen um die Welt, bis sie einander auf dem Rückweg wieder begegnen. Hier, in Marokko, kann man sie sehen, Stunde um Stunde, wie sie das Minarett begaffen, von dem der Muezzin fünfmal am Tag seinen erhabenen Widerstand gegen das multiple Universum verkündet.
Wenn es nicht so viele Götter gäbe, Konservendosengötter, Stahlgötter, Götter aus Uran und Mangan, lebendige Götter – Mrs. Besant beispielsweise, die, in Oxford gründlich dafür ausgebildet, in Bombay einen neuen Jesus ausruft –, rote Götter von Hungersnot und Revolution, alte Götter in Bibliotheken, korallenfarbene Gipsgottheiten in Miami, sprudelnde Ölgötter in Tulsa, Oklahoma, könnten auch wir auf unseren Gebetsteppichen sitzen im weißen unabänderlichen Sonnenschein des Islam, was Hingabe bedeutet. Die Sonne unserer Generation ist pickelig geworden, ihr brüchiges Licht flackert in Streifen von undefinierbarer Farbe. Nehmen wir den Zug, in Florida wird Glück grundstückweise verkauft. Also müssen wir die Kontinente durchqueren, immer mit dem Rattern von Rädern in den Ohren, mit dem Dröhnen von Flugzeugmotoren, durch alle Meere schlingern, mit dem Geruch von heißem Maschinenöl in der Nase und dem Stampfen der Maschinen in unserem Blut. Was entsteht aus dem Babel aufeinandergetürmter Städte und Kontinente, einer kleingepressten und langgezogenen Welt, die wie ein neuer Gummiball springt? Bestimmt nicht Frieden. Darum ist es gut, in diesem Zeitalter gigantischer Maschinen und flachköpfiger Menschen ein wenig Musik zu haben. Wir brauchen Söhne Homers, die das schrille Getöse der Welt in einen menschlichen Rhythmus bringen und uns die Angst nehmen.