IM WILDEN OSTEN

Die Orientreise des

John Dos Passos

Es ist ein Jahr atemberaubender historischer Umwälzungen, in dem sich John Dos Passos zu seiner Reise in den Nahen Osten entschließt und einer langgehegten, unter abendländischen Literaten nicht gerade seltenen Sehnsucht nach dem Orient nachgibt. Bereits 1912 war er mit seiner Mutter den Nil hinab bis an die sudanesische Grenze gefahren und hatte auf der Rückreise nach Europa vier Tage in Istanbul verbracht. Als er im Juli 1921 erneut nach Istanbul aufbricht, ist der am 14. 1. 1896 unehelich in Chicago geborene Fünfundzwanzigjährige bereits Autor zweier Romane (One Man’s Initiation: 1917 und Three Soldiers), die von seinen Kriegserlebnissen inspiriert sind. Seit dem Tod seines Vaters, eines angesehenen New Yorker Anwalts, im Jahr 1917 verfügt er über ein kleines Erbe, mit dessen Hilfe er sein unstetes Leben zunächst finanzieren kann.

Nach dem Tod des Vaters – die Nachricht erreichte ihn während eines längeren Spanienaufenthalts – hatte sich der junge Intellektuelle freiwillig an die Front gemeldet, nicht als Soldat, sondern für eine Sanitätseinheit, die von einer wohltätigen Organisation finanziert wurde: Er war Fahrer eines Krankenwagens. Dennoch hätten die Kriegserlebnisse kaum unmittelbarer sein können. «Es ist bemerkenswert, wie viele Granaten um einen herum explodieren können, ohne dass man getroffen wird», schrieb er am 23. 8. 1917 an seinen Freund Rumsey Marvin. In dem fast fragmentarisch kurzen, nur gut hundert Seiten langen Erstling One Man’s Initiation werden die Verstümmelungen, die Todeskämpfe, die um sich greifende Verrohung mit äußerstem Realismus geschildert. Es handelt sich nicht um einen herkömmlichen Roman, sondern um eine Art literarischer Live-Reportage aus dem Krieg, um Schnappschüsse und Tonspuren unter dem offensichtlichen Einfluss der Schnitttechnik des Films. Ähnliche Techniken der literarischen Avantgarde finden wir in den hier vorliegenden Reiseberichten wieder, und in den großen Romanen, die seinen Ruhm begründeten, Manhattan Transfer (1925) und der Trilogie U.S.A. (1930–1936), treibt der Autor sie zur Meisterschaft.

Dos Passos hasste den Krieg und war in seiner ersten Lebenshälfte ein entschiedener Gegner der Gesellschaftsordnung, die ihn zu verursachen schien, des Kapitalismus. Gleichwohl konnte er am 29. 8. 1917 von der Front an Rumsey Marvin schreiben: «Ich bin viel glücklicher hier, so richtig drin, als ich es seit Ewigkeiten gewesen bin.» Das scheint auf den ersten Blick ein krasser Widerspruch. Der Krieg wird als üble Machenschaft entlarvt («Absolut verdammter Blödsinn, ein riesiges Krebsgeschwür, das von Lügen genährt wird», heißt es im Brief vom 23. 8. 1917), und doch behauptet der, der ihn aus erster Hand erlebt, glücklicher zu sein als sonst je? Man muss ein wenig rechnen, um auf den gemeinsamen Nenner dieser beiden Haltungen zu kommen, aber es gibt ihn: Es ist ein Unbehagen an der Moderne, eine Zivilisationsmüdigkeit, die uns in den vorliegenden, bald hundert Jahre alten Reiseberichten sehr nah gebracht wird. «Ich bin noch nie so glücklich gewesen», heißt mit einer fast gleichlautenden Formulierung wie im Brief von 1917 an einer Stelle der Karawanenreise von Bagdad nach Damaskus («Siebzehnter Tag»). Im Krieg behauptet, wundert uns dieser Satz; ausgesagt in der Wüste, glauben wir ihn sofort.

Mit Reisen hatte John Dos Passos Erfahrung von seiner Kindheit an, die er später einmal als «Hotelzimmerkindheit» beschrieb. Die Hotelzimmer dieser Kindheit lagen in Brüssel, in London, in Wiesbaden, in Paris, seine erste Sprache, mit der er aufwuchs, war Französisch. Finanziert wurde dieses Leben vom Vater, John Randolph Dos Passos, der Dos Passos’ Mutter wie eine Zweitfrau aushielt und sie vor allem auf seinen Geschäftsreisen nach Europa sah. Nach einem eher durchschnittlichen Abschluss in europäischen Sprachen und Literaturen in Harvard (er freundet sich dort unter anderem mit E. E. Cummings an) reist er 1916 vier Monate durch Spanien. Die damals entstandenen Essays und Reisebeschreibungen, zunächst für amerikanische Zeitungen verfasst, werden zu seinem ersten Reisebuch Rosinante to the Road Again (1922).

Die hier publizierten Texte über seine Orientreise ragen jedoch weit über das Spanienbuch hinaus: Neben ihrem rein literarischen Wert sind sie ein einzigartiges Zeugnis für die durch den Ersten Weltkrieg und den Bolschewismus verursachten Umwälzungen aller Lebensverhältnisse im Kaukasus und im östlichen Mittelmeer. Der «Orient», wie er bis heute durch unsere Nachrichtensendungen geistert, hat sich in dieser Zeit überhaupt erst herausgebildet. Nur wenige Jahre zuvor wäre diese Reise (eigentlich sind es zwei, 1921 in den Nahen Osten, 1926 nach Marokko) eine vollkommen andere gewesen, kaum der hier beschriebenen vergleichbar, mit anderen Gesprächen, anderen Szenen, anderen Empfindungen und Stimmungen.

Denn der Erste Weltkrieg war 1921 im Nahen Osten noch gar nicht richtig beendet. Auf der Agenda der europäischen Siegermächte, der Entente vor allem Frankreichs und Englands, stand die vollständige Neuaufteilung des Nahen Ostens. Das Osmanische Reich, als Verbündeter Deutschlands nach einigem Zögern Ende Oktober 1914 in den Krieg eingetreten, war 1918 zusammengebrochen. England hatte aus dem von ihm kontrollierten Ägypten die arabischen Unabhängigkeitsbewegungen gegen die osmanische Herrschaft unterstützt, welche damals ein Gebiet umfasste, das ungefähr den heutigen Staaten Saudi-Arabien, Golfemirate, Israel/Palästina, Irak, Jordanien, Syrien und Libanon entspricht. Oberst Thomas Edward Lawrence, der legendäre «Lawrence von Arabien», hatte König Hussain (1854–1931), dem Herrscher über den Hedjaz und damit über die heiligen Städte Mekka und Medina, als Gegenleistung für den gemeinsamen Kampf gegen die Osmanen (als deren Statthalter Hussain den Hedjaz bis dahin regiert hatte) einen unabhängigen arabischen Großstaat versprochen, dessen genaue Grenzen freilich noch auszuhandeln wären. Unterdessen planten Engländer und Franzosen im zunächst geheimen Sykes-Picot-Abkommen (1916) die Aufteilung des Nahen Ostens in zwei gleiche Interessensphären ohne Berücksichtigung der arabischen Wünsche. Woodrow Wilson, der amerikanische Präsident, mischte mit seinen «Fourteen Points at Baries» (wie es im Original, die arabische Aussprache von «Paris» persiflierend, heißt) ebenfalls mit und versprach den Völkern des Nahen Ostens nach dem Ende des Krieges die Selbstbestimmung – oder zumindest die «ungestörte Gelegenheit zur selbständigen Entwicklung», was immer dies heißen mochte.

Zusätzlich zu diesen Doppeldeutigkeiten unterstützten die Briten nicht bloß König Hussain, für den Lawrence als Verbindungsoffizier zuständig war, sondern ebenso seinen ärgsten Konkurrenten auf der arabischen Halbinsel, Abd al-Aziz Ibn Saud (1880–1953), dessen Verbindungsoffizier Hauptmann William Shakespear (sic!) war. Die Nachrichten über Ibn Sauds Sieg im zukünftigen, nach ihm benannten Saudi-Arabien, erreichen Dos Passos am sechzehnten Tag der Karawanenreise nach Damaskus. («Im Nedschd wird anscheinend nicht mehr gekämpft.») Die Söhne des von Lawrence unterstützten Emirs Hussain waren inzwischen mit dem Segen der Mandatsmächte zu Königen Syriens (Faisal, geb. 1885; von ihm ist auf der Karawanenreise öfter die Rede) und Transjordaniens (Abdallah, 1882–1951) ausgerufen worden. Aber Faisal, wiewohl selbst ein Fremder in Syrien, rebellierte gegen die französische Vorherrschaft im Land (vgl. den Eintrag am siebenunddreißigsten Tag der Karawanenreise: «Leute in geheimnisvollen Höfen, die Anhänger von Faisal waren und gegen die Franzosen konspirierten») und wurde vertrieben. Als «Ersatz» wurde er von den Briten zum König des Irak ernannt (von 1921 bis zu seinem Tod 1933), wo die Briten ebenfalls mit Aufständen zu kämpfen hatten.

Dabei muss man wissen, dass diese Länder zwar dem Namen nach, nie jedoch als klar voneinander abgegrenzte Staaten oder auch nur eindeutig definierte Verwaltungsbezirke existiert hatten. Die damals von England und Frankreich gezogenen, zum größten Teil bis heute bestehenden Grenzen waren künstlich und werden nach wie vor von den meisten Menschen der Region als künstlich empfunden. Willkürlich zerschnitten sie seit langem zusammengehörige, historisch gewachsene Landschaften, trennten Verwandtschafts- und Handelsbeziehungen und widersprachen eklatant der nomadisierenden Lebensweise vieler Menschen der Region. Der aufmerksame Leser dürfte es bemerkt haben: Dos Passos reist von Teheran bis Damaskus ohne jegliche Pass- oder Grenzkontrollen, und ohne Grenzkontrollen wäre er auch bis Gaza gekommen, wenn er gewollt hätte – eine heutzutage unvorstellbar traumwandlerische Art, den Nahen Osten zu bereisen!

Ähnlich wie in den arabischen Ländern, wenngleich mit einer anderen Vorgeschichte, sah die Lage in Iran aus, wo sich im 19. Jahrhundert Großbritannien, Russland und das Osmanische Reich um Einfluss stritten. Im Ersten Weltkrieg war das Land zwar neutral, aber die Großmächte trugen ihre Kämpfe auch auf iranischem Boden aus. Mit der Oktoberrevolution zogen die Russen ab, die Osmanen waren ein Jahr später besiegt, und 1921 riss der pro-britische, auf radikale Reformen nach dem Vorbild Atatürks setzende Kosaken-Oberst Reza Khan die Macht an sich. 1925 ließ er sich zum Schah krönen – sein Sohn, Mohammed Reza, wurde 1979 durch die islamische Revolution von Ayatollah Khomeini gestürzt. Die Vorbehalte des Sayyids gegen die Engländer dürften vor diesem historischen Hintergrund niemanden erstaunen. Erstaunlich, wenn nicht alarmierend ist jedoch, wie sehr in Ost und West die politischen Positionen von damals noch den heutigen ähneln.

Besonders reizvoll für den deutschsprachigen Leser dürften die Reminiszenzen an die im Ersten Weltkrieg zerschellten deutschen Kolonialambitionen sein. Tatsächlich kann Dos Passos auf der Stippvisite in Babylon seinen Durst mit echtem deutschen Bier löschen. Die Bahnlinie von Berlin nach Bagdad war das große Prestigeprojekt Kaiser Wilhelms, der Versuch, den britisch dominierten Nahen und Mittleren Osten für den deutschen Einfluss zu öffnen. Ironischerweise gelangte nur das Bier, nie aber eine deutsche Eisenbahn nach Bagdad!

Weitaus unmittelbarer als auf dem Weg von Teheran nach Damaskus wird die Zeitgeschichte jedoch auf der ersten Hälfte der Reise erfahrbar. Die meisten Istanbul-Touristen kennen den Taksim-Platz und die von dort nach Galata (heute Karaköy) hinabführende, nach wie vor von der pittoresken hölzernen Straßenbahn befahrene Istiqlal-Straße, die bei Dos Passos noch «Grand Rue de Pera» heißt. Aber welch wunderliches Personal bevölkert die Stadt im Sommer 1921, als der fünfundzwanzigjährige Dos Passos dort eintrifft! Alliierte Soldaten, russische Kriegsgefangene, italienische Gendarmen, Griechen, sei es in Gestalt von Offizieren oder hochnäsigen älteren Damen, aserbaidschanische Diplomaten und armenische Spione – die Türken selbst erscheinen geradezu in der Minderheit, und ganz offenbar hatten sie nichts zu sagen. Istanbul war 1920 von den Engländern unter Kriegsrecht gestellt worden, und es war keineswegs klar, welchem der nahöstlichen Akteure der Goldene Apfel zufallen sollte; der türkische Rumpfstaat, den Mustapha Kemal («Atatürk») und andere osmanische Offiziere in Anatolien mit Ankara als neuer Heimat der «Großen Nationalversammlung» unabhängig halten konnten, war der am wenigsten aussichtsreiche Kandidat. Doch was den europäischen Mächten im Fall des arabischen Nahen Ostens zunächst gelang, scheiterte im Fall der Türkei kläglich. Nur zwei Jahre nach dem Besuch von Dos Passos in Istanbul war es vorbei mit dem Gewimmel von Soldaten und Glücksrittern aus aller Herren Länder, denn 1923 wurden im Frieden von Lausanne die Grenzen der heutigen Türkei festgeschrieben. Die Istanbul-Passagen in diesem Buch sind wohl das einzige Zeugnis über diese (von türkischen Autoren häufig behandelte) Zeit aus der Feder eines abendländischen Schriftstellers von Weltrang.

Nicht weniger turbulent als am Bosporus geht es in den anderen Hauptstädten dieser Reise zu. Dos Passos fährt zunächst mit dem Schiff nach Batum am Ostufer des Schwarzen Meeres. Die Reise über Land durch Anatolien wäre wegen des Kriegs der türkischen Truppen gegen die Alliierten kaum möglich, in jedem Fall sehr gefährlich gewesen. In Armenien, Georgien und Aserbaidschan war der Krieg zwar schon vorüber, seine verheerenden Folgen waren dafür umso sichtbarer.

Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches hatte die kaukasischen Republiken, immer schon ein Zankapfel zwischen Osmanen, Russen, Briten und Iranern, wieder dem Einflussbereich der Russen zugespielt. Unmittelbar nach der Oktoberrevolution und dem Kriegsaustritt Russlands hatten sich die kaukasischen Republiken zunächst auf osmanischen Druck hin für unabhängig erklärt; nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches 1918 wurde der Kaukasus dann von den Alliierten besetzt. Die kriegsmüden Truppen wurden jedoch bald abgezogen, nur die Hafenstadt Batum, die gemäß dem (von Deutschland diktierten) Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit dem bolschewistischen Russland der Türkei zugeschlagen werden sollte, blieb bis März 1921, also nur wenige Monate, bevor Dos Passos dort eintraf, in britischer Hand. In Aserbaidschan und Armenien, die sich wie Georgien Hoffnung auf eine Unabhängigkeit gemacht hatten und wo die Bolschewiken nur über wenig Unterstützung in der Bevölkerung verfügten, marschierten die Sowjets hingegen bereits 1920 ein. Unter dem Deckmantel eines von den Bolschewiken angezettelten Aufstands wurde dann als letzte der Kaukasusrepubliken im März 1921, gleichsam unter den Augen der Briten, Georgien von der elften russischen Armee erobert.

War die Nahrungsmittelsituation nach dem Ersten Weltkrieg überall im Nahen Osten prekär, so wurde sie in den von der Sowjetunion neu eingegliederten Republiken durch die bereits bestehende Hungersnot in der Restsowjetunion katastrophal verschärft. Weit über fünf Millionen Menschen starben zwischen 1918 und 1922 in den von den Bolschewiken beherrschten Gebieten den Hungertod. Wie fatalistisch, um nicht zu sagen brutalisiert die Zeitstimmung war, bezeugt eine bekannte Aussage Gorkis aus dem Jahr 1921: «Ich nehme an, dass von den 35 Millionen Hungernden die Mehrheit sterben wird.» Dieser sich gegen jedes Mitleid abschottende Fatalismus klingt noch in der kühlen Beobachterhaltung von Dos Passos durch. Er registriert die Verwüstungen, die Zerstörung der traditionellen Lebensverhältnisse, das Elend, die Hungertoten. Aber er wertet nicht. Die Erkenntnis, die er aus dem Gesehenen zieht, sein Fazit, ist nicht moralisch oder politisch, sondern philosophisch und anthropologisch (tatsächlich war Dos Passos in Paris im Jahr 1922 an der Sorbonne kurzzeitig für das Fach Anthropologie eingeschrieben). In Batum sinniert er über die «Dämmerung der Dinge» («The Twilight of Things»). Die entwerteten, nunmehr bedeutungslosen, vormals aber das ganze Sein der Menschen ausmachenden Dinge (man denkt unwillkürlich an Heideggers «Zeug»), die er im Kramladen eines alten Mannes, «dem letzten Hüter der Dinge», in Hafennähe entdeckt, erscheinen als ein Vanitas-Gemälde, das zugleich die Verlorenheit des mit der neuen Zeit konfrontierten Menschen selbst spiegelt. Man könnte meinen, dass sich Dos Passos mit diesen philosophisch grundierten Reflexionen gegen die Schrecken des Gesehenen abschottet; indem sie ihn zu einem fast unterkühlten Betrachter machen, ermöglichen sie es ihm, unerschrocken hinzusehen.

In diesem distanzierten Blick liegt der Keim zu zwei grundverschiedenen Weltanschauungen: Sind wir Zeugen und Opfer eines zivilisatorischen Quantensprungs, mussten sich Dos Passos und seine Zeitgenossen fragen, also eines wie auch immer gearteten Fortschritts, oder werden wir von einer sich zyklisch im Kreis drehenden Geschichte sinnlos zermahlen? Es ist diese Frage, mit der der Bericht in Marokko schließt, bevor der Reisende ins Postflugzeug steigt: Sind all die Verrücktheiten der Moderne auch nur annähernd so viel wert wie die Schläfrigkeit des Haschischrauchers und das Lob Gottes in der Wüste? Es ist eine der Stärken des vorliegenden Textes, dass diese Frage nicht entschieden wird, sondern offen bleibt, gestellt uns Lesern der Jetztzeit.

Auch was die literarischen Mittel betrifft, wir hatten es angedeutet, ist dieser Reisebericht wegweisend und könnte es noch für heutige Reiseschriftsteller sein. Wenn von der Ermordung des aserbaidschanischen Gesandten in Istanbul erzählt wird, erfahren wir gleichsam nebenbei auch, wie nach der Eroberung des Kaukasus durch die Sowjets die Nationalisten der jeweiligen Länder bis ins Ausland verfolgt wurden. Die Hintergründe der Tat werden in dem offenbar wörtlich wiedergegebenen Brief erläutert, den die Witwe des Gesandten daraufhin in der Tribune Libre publizierte. Dieser Brief wirkt im ersten Moment wie ein Fremdkörper. Das Verfahren ähnelt jedoch der Art und Weise, wie auf dem Weg nach Teheran die politischen Gespräche mit dem Sayyid wiedergegeben werden. In beiden Fällen wird ohne Kommentar und Wertung eine Sichtweise auf das Weltgeschehen geboten, wie sie abendländische Leser selten zu hören bekommen. Es ist die Stimme der Betroffenen, die hier erklingt. Der Reisende ist nur noch ein Medium.

Zuweilen wirken diese kommentarlos in den Text eingestreuten O-Töne wie mit einer Firnis von Ironie versehen, ein Eindruck, der durch Verballhornung der Namen westlicher Politiker (Jurj Washiton, Mister Vilson) in der Rede eines jungen Mannes aus Bagdad noch gesteigert wird. Es ist aber ganz dasselbe Verfahren wie in den großen Romanen Manhattan Transfer und U.S.A., die als Collage aus Wahrnehmungsschnipseln, Szenen, O-Tönen, Berichten und Berichten von Berichten erscheinen, wobei der Erzähler ebenfalls weitgehend hinter seine Quellen zurücktritt, als wäre er nur ein Arrangeur vorgefundenen Materials. Zur selben literarischen Technik dürfen die vielen fremdsprachigen, vor allem arabischen Einsprengsel gezählt werden, die dem Text immer wieder eine Aura besonderer Authentizität verleihen: schwajja, inschallah, fluus, aber auch das im Original deutsche Bahnhof Bagdad; und im aserbeidschanischen Dschulfa heißt es am 21. August im Original «That evening politik, as the Sayyid calls it».

Gleichwohl verschwindet im Reisebericht das Subjekt des Erzählers nie zur Gänze, und im Lauf der Erzählung ist nach und nach immer mehr von den Stimmungen und Gefühlen des Reisenden die Rede. An keinem Punkt aber sind wir dem Erzähler – und er sich selbst! – so nah, wie während des siebenunddreißigtägigen Karawanenzugs von Bagdad nach Damaskus: «Es ist die feinste Sache auf der Welt, keine Uhr zu haben und kein Geld und für nichts Verantwortung zu empfinden» (Sechster Tag). «Ich bin nie so glücklich gewesen» (Siebzehnter Tag). Das Ideal des Reisens, das Dos Passos in diesen Tagen erfährt, ist jedoch bereits melancholisch angehaucht. Er ahnt, dass er eine im Untergang begriffene Welt bereist, und stellt die bange Frage: «Gab es genug Kif auf der Welt, die atemlosen Begierden zu ertränken, den Gedanken an die nächste Sensation, die Feierabendhektik von Bahnhöfen, den Irrsinn der Städte in der Dämmerung, die Räder, die Maschinen, das endlos abrollende Druckpapier?» Natürlich, wissen wir heute, gab es nicht genug. Wie auch? Denn «kein Gott ist stark genug, der Universal Suburb zu widerstehen», dem Evangelium Henry Fords «von Arbeitsteilung und Standardisierung».

Vom Orient, den Dos Passos schildert, dessen Ende er vorausahnte und dessen Anfang vom Ende er mit ansehen konnte, sind heute nur noch Inseln übrig geblieben. Die Kifraucher gibt es noch, aber auch sie sind längst nicht mehr so gelassen wie früher; die Kamelkarawanen ziehen noch, aber nur für Touristen. Der in den Reden des Sayyids anklingende, durchaus nachvollziehbare Hass auf die westliche Politik ist, wie bekannt, nicht kleiner geworden; aber auch nicht die schon damals beklagte westliche Durchdringung des Orients. Die Bagdadbahn, deren weitestes Teilstück übrigens nie nach Bagdad, sondern nur bis nach Medina führte, ist längst aufgegeben und zu einer Art Freilichtmuseum für Wüstenreisende geworden; und Eisenbahnabenteuer in der Art von Dos Passos’ Fahrt durch den Kaukasus kann man selbst in Pakistan, das in dieser Hinsicht immer noch einige Überraschungen bietet, nicht mehr in solcher Reinform genießen. Was aber Marokko betrifft, so ist dort das Postflugzeug längst von den Billigfliegern abgelöst worden; und Marrakesch und Essaouira (Mogador) gelten inzwischen als die Party-Location Nr. 1 für die Jeunesse dorée aus aller Herren Länder.

Dass wir dennoch nicht sehnsüchtig «gute, alte Zeit!» ausrufen sollten, lehrt uns dieser so klarsichtige und unverklärende Reisebericht eines der größten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts.

Stefan Weidner

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