Der Zug bestand aus einem kleinen Personenwagen, vollgestopft mit Soldaten, und vielen Güterwagen. Als er einfuhr, saß ich auf meinem Koffer auf dem Bahnsteig und starrte versonnen auf die pompöse Anweisung für ein Schlafwagenabteil, die ich im Kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten bekommen hatte. Das übliche zerlumpte Volk, dem man auf jedem Bahnhof im Kaukasus begegnet, lief hierhin und dorthin, Koffer und Säcke hinter sich herschleppend, ein schwitzendes, ärmliches Durcheinander von Bauern und Soldaten. Der Sajjid (also ein Nachfahre des Propheten Mohammed oder Alis, Sohn des Abu Talib) ging auf und ab und hielt allen, die es hören wollten, eine eindrucksvolle Rede auf Persisch und Türkisch über die besonderen Privilegien eines Diplomatenpasses. Endlich, nach wiederholten Vorstößen eines lustlosen Dolmetschers und Anfragen bei Amtspersonen an Schreibtischen, wurde beschlossen, dass der Güterwagen, in dem die Zeitungen befördert wurden, am ehesten einem Schlafwagen gleichkomme und dass die informative Gesellschaft von Iswestija- und Prawda-Bündeln sogar noch besser sei als ein Schlafwagenabteil, sofern der zuständige Kommissar einverstanden sei. Weitere Kommissare an Schreibtischen wurden konsultiert. Natürlich war der Kommissar sofort bereit ... Der Waggon wurde geöffnet und ein gewisser Samsun dort vorgefunden, ein Armenier, dem der Sajjid eine leidenschaftliche Predigt auf Türkisch über die Tugenden von Sauberkeit und Hygiene hielt, mit dem Ergebnis, dass Wasser herbeigeschafft und Lysol auf das Dach gesprüht wurde und frische Exemplare der berühmten Moskauer Zeitungen als Sitzunterlage für uns auf dem Boden ausgebreitet wurden. Im nächsten Moment zückte der Sajjid sein Messer und begann, eine Melone zu schlachten, während Samsun Effendi, besser gesagt Towarischtsch Samsun, gierig schmatzte und unverfroren um Kognak bat. Wir vertrösteten ihn mit der Aussicht auf Wein und mit einem Melonenschnitz. In diesem Moment kletterten die beiden dreckstarrenden Burschen, die Samsuns Diener waren, an Bord, und mit nur fünf Stunden Verspätung rumpelte der Zug aus dem Bahnhof.
Eine merkwürdige Existenz führen die Leute an den Bahnstrecken im Kaukasus und vermutlich in ganz Russland. Die heruntergekommenen Verkehrsadern üben eine eigentümliche Anziehungskraft aus. In jedem Bahnhof sind Menschenmengen, und selbst an einsamen Bahnübergängen, weit entfernt von irgendeinem Dorf, stehen Gruppen von Männern und Frauen und beobachten den vorbeifahrenden Zug. Vielleicht betrachten sie sich gewissermaßen als Eigentümer der endlosen schimmernden Schienen und der ölverschmierten Lokomotiven, fühlen, dass ihr entbehrungsreiches, armes Leben auf diese Weise mit fernen, bedeutsamen Ereignissen verbunden ist. So viele Leute scheinen ihr ganzes Leben am Bahndamm zuzubringen. Die Soldaten der Roten Armee sind oft in Personenwagen und umgebauten Güterwagen einquartiert, die auf Nebengleisen stehen, lange Züge mit Stabswagen und Salonwagen und Lazarettwagen und Wagen voll Schwarzbrot und Salzheringen, was der Grundproviant ist. Daneben gibt es die gepanzerten Züge, die an allen Schauplätzen im Bürgerkrieg eingesetzt wurden. Außerdem sieht man, besonders in der Nähe von Städten, Hunderte von Güterwaggons mit Fenstern und Ofenrohren, die allen möglichen Leuten als Unterkunft dienen – Flüchtlingen von Gott weiß woher, Gleisarbeitern, kleinen Beamten, Zigeunern, Vagabunden jedweder Art. Und während der Zug vorüberfährt, schauen alle aus den Schiebetüren und Luken der Begleitwagen und gaffen die Soldaten und Bauern und Zivilbediensteten an, die auf dem Dach oder in den geöffneten Türen der ratternden Güterwagen sitzen und mit den Beinen baumeln.
Mondlicht fällt durch die hohen Pappeln am Bahndamm und verbindet sich auf dem Boden des Güterwagens mit dem Schein der Kerzen in meiner Ecke. Der Sajjid hat aus seinem Koffer und der Vorratskiste so etwas wie ein Bett konstruiert und befindet sich in einem unruhigen Schlaf. Wahrscheinlich träumt er vom Panislam und vom Kampf gegen Hunderte kleiner britischer Teufel mit gespaltenen Hufen und hohen Helmen. Am anderen Ende des Wagens haben der Georgier und Samsun und seine Jungs sich inmitten der Zeitungsbündel ihre Betten eingerichtet. Der Bahnsteig draußen liegt menschenleer im Mondlicht. Das Geräusch eines Flusses ist zu hören. Überall am Lattenzaun schemenhafte Figuren von Schlafenden. Mit dem frischen Geruch des Flusses und der Berge, die im hellen Mondlicht hinter den Pappeln schroff aufragen, weht manchmal der elende Gestank von kaltem Schweiß und Lumpen und verdreckten, unterernährten Leuten heran, die in den Schuppen am Bahnhof beieinanderliegen.
Seit Sonnenuntergang sind wir in Armenien, nachdem wir die neutrale Zone passiert haben, in der Georgier und Armenier die Dörfer des jeweils anderen niedergebrannt haben, bis die Briten 1918 einschritten. Auf dem letzten georgischen Bahnhof, bevor wir das lange Tal in den Kleinen Kaukasus hinauffuhren, versorgte sich jedermann mit Wassermelonen, die dort noch zweitausend Rubel das Stück kosteten. Hier oben in den Bergen und in den Hungergebieten kosten sie zehntausend oder mehr.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit passierte etwas sehr Aufregendes. Schüsse fielen, Trillerpfeifen waren zu hören. Samsun Effendi zog einen riesengroßen Revolver, den er heldenhaft herumwirbelte, und schickte den jüngsten Burschen los herauszufinden, was los war. Zuerst hieß es, dass eine Frau vom Dach eines Güterwagens gefallen und dabei zu Tode gekommen sei, aber schließlich stellte sich heraus, dass bloß ein Sack Mehl aus dem Güterwagen der amerikanischen Helfer gefallen war. Das Mehl wurde wieder aufgelesen, und jeder kehrte an seinen Platz zurück, in den Waggons oder auf dem Dach oder auf den Pufferstangen, und dann keuchte der Zug wieder bergan. Samsun Effendi wurde durch den Zwischenfall in beste Laune versetzt. Er erzählte von früheren Heldentaten und zeigte dabei geistesabwesend mit dem Revolver auf jeden von uns. Damit der Revolver wieder in seinem Halfter verschwand, mussten der Sajjid und ich eine Flasche unseres besten Kakhetia öffnen, was eine geradezu magische Wirkung hatte. Der kleinste Junge, ein neugieriges Kerlchen mit einem Gesicht so verhärmt wie das eines Esels, sang mit überraschend tiefer Stimme Wolga-Lieder. Der Georgier schnallte den Gürtel enger und begann zu tanzen und sich dabei mit den Händen auf die Schenkel zu klatschen. Ein breites Grinsen ging über das zerfurchte Gesicht von Samsun Effendi, das halb an ein Kamel und halb an eine Karikatur des «Terrible Turk»[13] erinnerte.
Staubbedeckte Soldaten und Güterbahnhöfe voller Waggons, deren Farbe unter der heißen Sonne abgeblättert ist. Die kleine Armenierin hat ihren Korb geschnappt und ist verschwunden. Nachts war sie irgendwo im Schlepptau eines weißschnurrbärtigen Bahnhofsvorstehers erschienen. Hatte für einiges Aufsehen gesorgt. Der Sajjid richtete sich auf, und als er den Leberfleck auf ihrem Kinn bemerkte, den Orientalen so lieben, machte er ein herrlich affektiertes Gesicht und rief mit lauter Stimme: «Quel théâtre!» Samsun Effendi zündete eine Kerze an, strich sich das Haar glatt und betrachtete sich zufrieden in einem kleinen Taschenspiegel. Doch die Armenierin ließ sich von all diesem Getue nicht beeindrucken und schlief, den Kopf auf ihrem Korb, seelenruhig ein.
Bei Tagesanbruch überquerten wir die Wasserscheide des Kleinen Kaukasus. Die Dörfer auf der Nordseite, verstreute Ansammlungen von geduckten Häusern aus Vulkanstein, mit Gras gedeckt und oft noch mit hohen Heuschobern darauf, waren unbeschädigt. Wohlgenährte Bauern waren schon auf den Feldern bei der Arbeit. Aber kaum begann der Zug, sich den Südhang hinunterzuwinden, war alles die reinste Wüstenei. Der letzte türkische Angriff war 1920 über das Land hinweggefegt. In den Dörfern war kein Haus unversehrt, die Ernte, ja selbst die Bahnhöfe waren systematisch zerstört und alles, was nicht niet- und nagelfest war, weggeschafft worden. Dschingis Khan und seine Horden hätten nicht gründlicher vorgehen können. Alexandropol, obschon restlos heruntergekommen, war vom Krieg offenbar verschont worden. Die Stadt erstreckt sich über Bahnhofsanlagen in einer gelben versengten Ebene, in der der Wind den Sand von hier nach dort wirbelt. Die auffälligsten Gebäude sind die Reihen grauer Baracken, in denen der Near East Relief Waisenkinder untergebracht hat. Auf dem Bahnsteig die übliche Menschenmenge, zerlumpte Bauern und Soldaten, Russen und Armenier.
Als ich den Ararat zum ersten Mal sah, zeichnete er sich so hauchzart vor einem grauen Himmel ab wie der Fudschi in einigen von Hokusais Hundert Ansichten, ein hoch aufragender, weißgemaserter Kegel in perlfarbenem Dunst. Der Zug wand sich um eine Bergschulter, durch rötliches Ödland, das in den Ebenen alkalifarben glitzerte. Eine Weile zuvor hatte der Georgier über ausgedörrte Hügel gezeigt und «Ani» gesagt. Irgendwo in der steinigen Ödnis zu unserer Linken lag die Hauptstadt des alten Königreichs Armenien. Beim Anblick des Ararat war ich so aufgeregt, als sei die Arche auf dem Gipfel noch immer zu sehen, und ich versuchte, den Sajjid für diese Geschichte zu begeistern. Doch er ließ sich nicht ablenken von seiner aufwendigen Konstruktion aus Stöckchen und Bindfaden, die verhindern sollte, dass der kleine Teekessel von unserer noch kleineren Petroleumlampe fiel. Als er sich schließlich erhob, betrachtete er den Berg lange Zeit und aufmerksam, nippte aus einer Blechtasse Tee und sagte dann kopfschüttelnd: «Der Damavand ist höher und spitzer.» – «Aber die Arche mit Noah und dem Elefanten und dem Känguru und dem ganzen Rest des Zoos ist doch nicht auf dem Damavand gelandet!» – «Auf dem Damavand soll es Geister geben», sagte der Sajjid. Und da die Diskussion für ihn zu einem befriedigenden Abschluss gebracht war, setzte er sich wieder in seine Ecke und brühte eine neue Kanne Tee.
Wir kamen aus den Bergen hinunter in ein unregelmäßiges bassinartiges Tal, an dessen Ende der weißgemaserte Gipfel des Ararat sich in zwei großen starkgezeichneten Linien über der bläulichen Bergmasse erhob. Im Vordergrund waren für einen kurzen Moment die dachlosen Steinmauern eines Dorfs. Hinter einer Hütte stieg Rauch von einem offenen Feuer auf, aber sonst war in der ganzen Landschaft von zerklüfteten Bergen und aschgrau-weißen Alkaliebenen nirgendwo etwas Lebendiges zu sehen. Dann kam ein Gewitter, das sich seit längerem indigofarben über den Bergen im Westen aufgetürmt hatte, und hüllte alles in undurchdringliche Massen von Regen und Hagel.
Auf einem Bahnhof in der Ebene baten wir Samsun Effendi, Wasser für Tee zu besorgen, doch zur allergrößten Freude des Sajjid kehrte er mit einer Mademoiselle zurück, wie der immer sagt.
Wir saßen auf der mysteriösen Kiste und schauten über die Ebene hinweg auf den Ararat, der nun, viel näher, aufrecht und leuchtend über der Dämmerung stand, die sich bereits über die Ebene legte. Wir hatten der Mademoiselle eine Tasse Tee und Schwarzbrot und Kaviar aus unseren Vorräten angeboten, und sie schien irgendwie zufrieden und entspannt, wie eine Katze, die man hinter den Ohren krault. Offensichtlich war sie die ganze Zeit in Abwehrhaltung gewesen. Sie war in einem Waggon voller Soldaten aus Tiflis gekommen. Sie hatte ein sympathisches teutonisches Gesicht mit runden Wangen und stahlblauen Augen wie eine Vermeersche Frauengestalt und trug ein fleckiges weißes Kostüm, das einen Hauch von Stil hatte. Sie trug Strümpfe, eine Besonderheit in diesem Teil der Welt, und kleine Schnürsandalen. Allmählich taute sie auf, hatte aber Mühe, sich ihres Französisch zu erinnern. «Ja, ich reise nach Eriwan. Ich arbeite dort als Stenotypistin in einem Büro. Natürlich in einem staatlichen Büro, es gibt ja keine anderen ... Nein, es ist dort nicht so schlecht. Die Leute hungern ... Sicher, es ist schlimmer als in Tiflis, aber wissen Sie, wir haben uns inzwischen daran gewöhnt. Wir bemerken diese Dinge nicht mehr. Wir haben ein hübsches Haus und Rosen im Garten, ich habe Hunde ... Ich reite sogar. Trotzdem, es ist ein elendes Leben, und alles nur, weil meine Eltern beim Vormarsch der Deutschen auf Riga Angst bekamen. Wir sind nämlich Esten, keine Russen. Wir haben in Riga gelebt, und als damit zu rechnen war, dass die Deutschen Riga bombardieren würden, flohen wir nach Russland. Auch viele andere sind geflohen. Und dann fingen unsere Probleme an.» Sie lachte. «Was für eine Zeit!»
Der Zug hielt auf einem Bahnhof. Die Ebene war nun sumpfig. Vor uns, hinter einem Schilfdickicht, war der Ararat, unten indigo, darüber waagerechte Dunststreifen, der Gipfel leuchtend rosa. Dahinter, wie ein Schatten, der Kleine Ararat, ganz dunkel. Mückenschwärme sirrten uns um die Ohren.
«Aber ich wollte Ihnen erzählen», fuhr die Mademoiselle fort, «oh, diese Mücken! Spätestens nach einer Woche in Eriwan bekommt man Malaria. Es ist wirklich ein grauenhafter Ort ... Alle sterben dort ... Na jedenfalls, ich war damals noch ein Kind, ich bin ja noch nicht so schrecklich alt. Ich habe meine Eltern angefleht, nicht zu gehen. Wir hatten ein so schönes altes Haus mit Linden ringsherum und einen Garten voller Sträucher, dort habe ich gespielt. Sie waren noch nie in Riga? Die Ostsee ist im Sommer so schön, die vielen Inseln ... Meine Großmutter wollte nicht gehen. Ich glaube, sie ist noch immer am Leben, wohnt in unserem alten Haus. Ich werde zurückkehren, auch wenn ich dabei sterben sollte. Ich habe schon einen Pass beantragt und mit dem estnischen Konsul in Tiflis gesprochen. Deswegen bin ich dorthin gefahren. Aber es ist so schwer, dort etwas zu erreichen. Am liebsten würden sie alles verbieten.» Sie lachte wieder. «Ah, ich könnte mich furchtbar aufregen. Sie ziehen einfach ihre Politik durch, und wenn jemand etwas unternehmen will, heißt es: ‹Verboten, verboten.›»
Der Sajjid in seiner Ecke hatte wieder Wasser für Tee aufgesetzt. Ein Ruck, der durch den Zug ging, warf alles durcheinander, Kanne und Lampe und alles, so dass ich von der mysteriösen Kiste sprang und half, das Gerüst wieder aufzubauen, von dem es abhing, wie oft wir eine Tasse Tee trinken konnten. Wenig später sah ich, dass Samsun Effendi, der abermals mit seinem Taschenspiegel zugange gewesen war, sich auf meinen Platz gesetzt hatte und in ein Gespräch mit Mademoiselle vertieft war. Sie warf mir über seine Schulter einen Blick zu und sagte, die Nase gerümpft wie Karnickel: «Il me fait la cour. Pensez!»
Der Sajjid blickte zwischen den beiden hin und her und erklärte plötzlich mit Stentorstimme: «Quel théâtre!» Dann lachte er, griff nach der letzten Wassermelone, zerlegte sie geschickt mit seinem Taschenmesser und reichte mir eine Hälfte als Friedensgabe.
Durch das obere Fensterchen des Güterwagens sah ich zum letzten Mal an diesem Tag den Ararat. Ich saß auf meinem Koffer, die Zähne in die süße, tropfende Melone gegraben, drei Streifen Wassermelonenrot vor dem intensiven Indigo des Himmels.
Lange, schnurgerade, grasüberwucherte Straßen, erfüllt von einem widerlichen Gestank von Mist und Kloake. Halbnackte Kinder mit eingefallenen Wangen und aufgedunsenen Hungerbäuchen kauern wie verwundete Tiere in Eingängen und Mauernischen. Über grauen Mauern hier und da ein tragender Apfelbaum. Darüber der makellose Türkishimmel, in dem man von jeder kleinen Erhebung aus das ferne weiße Schimmern des Ararat sehen kann. Man sagt, obwohl ich es selbst nicht gesehen habe, dass jeden Tag ein Leichenkarren herumfährt, der die Toten von der Straße aufliest. Aus den Dörfern werden entsetzliche Geschichten berichtet, dass die Leute dort, weil sie nichts zu essen haben, frische Gräber plündern und die Toten verzehren. Doch auf dem Boulevard, dem schäbigen Mittelpunkt von Eriwan, schlendern die Leute umher, vergleichsweise gut genährt und gekleidet. In den Läden gibt es viel Obst, auf den Basaren gibt es Fleisch und Käse und unansehnliches grobes Schwarzbrot. Die Russen haben ein Kino eingerichtet und ein armenisches Theater gegenüber der orthodoxen Kirche, das mit grellen Plakaten auf sich aufmerksam macht.
Dort begegnete der Sajjid einem persischen Ladenbesitzer. Dieser Mann, ein Muslim, berichtete, dass die meisten mohammedanischen Einwohner von Eriwan von Armeniern massakriert und vertrieben worden seien. Wir kauften eine Wassermelone, die wir an Ort und Stelle aßen, während der Sajjid und der Perser auf Turki zwanglos miteinander plauderten. Ich schnappte das Wort Amerikai auf und mehrmals das Wort Ararat und fragte den Sajjid, worum es ging. «Der Mann hier sagt, dass ein Amerikaner, ein amerikanischer Journalist, im letzten Jahr auf den Ararat gestiegen und dort gestorben ist. Er wurde von einem Armenier vergiftet. Dieser Mann hier war sein Diener.»
Ich wollte noch nähere Einzelheiten erfahren, doch in dem Moment betraten mehrere Leute das Geschäft. «Er wird jetzt nichts mehr erzählen», sagte der Sajjid geheimnisvoll. Den Rest der Geschichte haben wir nicht erfahren.
Gegenüber vom Bahnhof ist eine verfallene braune Mauer, in ihrem Schatten liegen Männer, Kinder, eine Frau, Lumpenbündel, die sich wie im Fieber krümmen. Wir fragen jemanden, was mit ihnen los ist. «Nichts, sie sterben.» Ein halbnackter Junge, die schmutzige Haut graugrün, kommt mit einem Stück Brot in der Hand aus dem Bahnhof, wankt wie benommen in Richtung Mauer. Dort sinkt er nieder, zu schwach, um die Hand zum Mund zu führen. Ein alter Mann mit einem Stock in der Hand humpelt langsam herbei. Er hat blutunterlaufene Augen, die aus einer unbeschreiblichen Matte von Haar und Bart herausschauen. Er steht eine Weile über dem Jungen und greift dann, auf seinen Stock gestützt, nach dem Brot und verschwindet um die Ecke hinter den Bahnhof. Der Junge wimmert leise vor sich hin, liegt nur reglos da, den Kopf auf einen Stein gestützt. Über der Mauer, vor dem violetten Nachmittagshimmel, steht der Ararat weiß und kühl und glatt wie die Vision einer anderen Welt.
Gestern Abend verließen wir Eriwan in einem privaten und eigens gereinigten Güterwagen, der nach langen Verhandlungen mit dem Bahnhofsvorsteher und anderen Beamten und reichlich Bakschisch aufgetrieben worden war. Der Sajjid setzte sich als diplomatischer Kurier grandios und sehr wirkungsvoll in Szene. Nachdem wir schließlich eingestiegen waren und darauf warteten, dass der Zug sich vielleicht zur Abfahrt entschließen würde, erklärte mir der Sajjid, dass man in Russland und im Orient ganz allgemein durch mürrisches und grobes Auftreten am besten führe. Versprach ihm, die Perlen seiner Weisheit zu beherzigen. Außerdem versicherte er sich der Dienste eines Laternenschwenkers namens Ismail, eines Muslim, der eifrig Wasser und Melonen beschaffte und sogar ein paar schrumpelige Gurken auftrieb. Wir ließen dem Lokomotivführer zwei Dosen Sardinen bringen und dem Schaffner ein Päckchen Tee. Und nachdem wir unsere Position im Zug derart gesichert glaubten, schlossen wir unsere Türen, öffneten die kleinen Fenster und bereiteten unsere übliche Mahlzeit aus Tee, Käse, Brot und Kaviar, und ein paar Stunden später fuhr der Zug tatsächlich ab.
Am Morgen gab es einen Halt in einem fruchtbaren, aber schilfbestandenen Tal zwischen zwei kahlen rosafarbenen Bergzügen. Hinter uns erhoben sich die beiden Ararats im goldenen Licht der Morgendämmerung. Neben dem Bahndamm war ein schmales Melonenfeld, das ein hagerer brauner Mann in zerschlissener persischer Tracht verzweifelt vor dem Ansturm der Reisenden zu schützen versuchte. Wir wuschen uns in einem Bewässerungskanal und frühstückten zuversichtlich, aber es war Mittag und brüllend heiß, bevor der Zug weiterfuhr. Der Sajjid verbrachte die Zeit damit, grandiose panislamische Ansprachen vor kleinen Gruppen zu halten, die der getreue Ismael zusammengetrommelt hatte und die sich vor der Waggontür scharten und von den Greueltaten der Armenier und vom Leid der Muslime berichteten. Unterdessen sprach ich, in der anderen Tür sitzend, in mühseligem Französisch und noch mühseligerem Englisch, mit einem Armenier, der mir von den furchtbaren Dingen erzählte, die die Türken und Tataren verübt hatten. Schließlich setzte sich der Zug wieder in Bewegung, fuhr aber nur ein paar Kilometer weiter bis zu einer verlassenen Ortschaft an der armenisch-aserbeidschanischen Grenze. Und hier sind wir nun, in einem stinkenden überfüllten Güterbahnhof neben einem zerstörten Bahnhof. Wie üblich gibt es in der Stadt kein einziges unversehrtes Haus. Die Muslime sagen, sie sei von den Armeniern zerstört worden, und die Armenier sagen, dass es die Türken waren. Ab und zu kommt Ismail, um uns zu versichern, dass der Zug in zwei Stunden in Richtung Nachitschewan und Dschulfa weiterfahren wird, der persischen Grenzstadt, die unser Ziel ist.
Der Sajjid besucht eine kranke Frau im Nachbarwaggon. Er kommt zurück und sagt, sie hat Typhus in fortgeschrittenem Stadium, nichts mehr zu machen, in ein paar Stunden wird sie sterben. Wir sehen, wie sich die Leute in dem anderen Waggon einer nach dem anderen davonstehlen. Dann wird sie herausgebracht und neben das Gleis auf einen kleinen rotgelben Teppich gelegt. Sie ist eine Russin. Ihr Mann, ein schlanker Mohammedaner mit üppigem Bart, sitzt neben ihr und streicht ihr manchmal mit einer verstohlenen animalischen Geste über die Wange. Ihr Gesicht ist totenblass, grünlich, mit einem scheußlichen Zug um den Mund. Sie liegt reglos da, die nackten Beine schauen unter dem zu kurzen Kleid hervor. Nicht einmal das Rot der untergehenden Sonne verleiht ihrer Haut ein wenig Farbe. Und die Sonne versinkt in scharlachrotem Ungestüm hinter dem Ararat. Aus dem dreieckigen Raum zwischen den beiden Bergen schießt ein gelber Lichtstrahl in den Zenit. Ein Mann steht neben der Sterbenden, hält verlegen ein Glas Wasser in der Hand. Vom anderen Ende des Bahnhofs ertönt das Klagen eines georgischen Lieds, gespielt von Dudelsack und Trommel, zu dem Soldaten tanzen. Das Gesicht der Frau scheint immer weiter zu schrumpfen. Von der Sonne ist nur noch ein dreieckiges Leuchten hinter dem Ararat geblieben, das die beiden Gipfel von innen silbern säumt. Im Wind liegt ein säuerlicher Geruch von Dreck und Soldaten und Unrat. Der Sajjid sitzt deprimiert auf der mysteriösen Kiste in der Mitte des Güterwagens, schüttelt den Kopf und ruft mit kraftloser Stimme: «Avec quelle difficulté.»
Und dann steht er wortlos auf und schließt die Tür auf der Seite, wo die Tote auf dem rotgelben Teppich neben dem Gleis liegt.
Als ich spätabends mit einem Glas Wein im Mondschein herumstreifte – der getreue Ismail hatte Gott weiß woher eine Flasche für uns aufgetrieben – und den Mückenschwärmen auszuweichen versuchte, hörte ich die laute Stimme des Sajjids in erregter Diskussion, in der immer wieder das Wort Courrier diplomatique fiel. Da ich kein Freund von Diskussionen bin, ging ich den Bahndamm weiter entlang. Bei meiner Rückkehr war alles ruhig. Wie sich herausstellte, hatten bestimmte Leute versucht, in unseren privaten Waggon einzudringen, waren aber noch während der Diskussion verhaftet worden, weil sie ohne die vorgeschriebenen Pässe reisten, was für den Sajjid ein unmittelbarer Beweis göttlicher Vorsehung war.
Wieder ein Güterbahnhof, diesmal leer, bis auf einen langen Lazarettzug. Fliegen schwirren in der drückenden Hitze. Die Stadt selbst liegt mehrere Kilometer entfernt am Ende einer glühenden Sandpiste. Die Lokomotive ist verschwunden, und die wenigen verbliebenen Güterwagen des Zuges sind leer. Die Leute liegen ermattet im Schatten unter den Waggons. Ein gelegentlicher Windhauch bewegt die oberen Äste einer dürren Akazie auf dem Bahnsteig neben dem Schuppen, wo früher Tee serviert wurde, aber diese Brise erreicht nicht den Güterbahnhof. Der Sajjid, dem der Schweiß aus allen Poren rinnt, zerschneidet eine Wassermelone, die wir hastig unter einem Taschentuch verschlingen müssen, damit die Fliegen uns nicht zuvorkommen. Derweil hält der Sajjid einen Vortrag über die Tugend der Geduld, die unerlässlich ist, wenn man als Courrier diplomatique tätig sein will. Nachdem wir die Melone aufgegessen und herausgefunden haben, dass wir definitiv noch acht Stunden in Nachitschewan bleiben werden, steige ich in den Waggon, lege mir zum Schutz vor den Fliegen ein Tuch über den Kopf, in der vagen Hoffnung, dass die Hitze mich schläfrig machen wird. Begieß den Braten. Dieser Ausdruck geht mir auf einmal durch den Sinn und das Bild eines kleinen Jungen, der fasziniert zusieht, wie das Hähnchen mit Bratensauce übergossen und dann in einer emaillierten Kasserolle in den Ofen geschoben wird. Ich überlege, ob ich genauso knusprig braun werde wie das Hähnchen. Fliegen schwirren unaufhörlich vor dem Tuch. Ihr Brummen verwandelt sich in den Schlager, der in Paris in der Zeit, als der sogenannte Friedensvertrag unterzeichnet wurde, sehr populär war:
I’ fallait pas, i’ fallait pas, i’ fallait pa-as y aller.
Draußen ertönt die Stimme des Sajjid, der in grandioser Manier über den Panislamismus und die Wiedererweckung Persiens doziert. Er muss einen Muselmann gefunden haben. Mein Kopf ist wie ein Suppentopf, der köchelnd auf dem Herd steht. Meine Gedanken schwimmen in einer dicken Sauce von Ermattung. Armenien. Ein schneller Blick auf die Generalstabskarte mit russischen, türkischen, britischen Fähnchen. Was für ein tolles Spiel. Die Fähnchen bewegen sich hierhin und dorthin. Lebendiger als Schach. Dann die Karten der Geheimdienste. Ganz, ganz schlau. Wir werden die Religion von A ausnutzen, damit er gegen B kämpft, wir werden die Kommandeure von D kaufen, damit sie A von hinten angreifen, und wenn alle am Boden liegen, werden wir die Landkarte fein säuberlich aufteilen. Die Fliegen summen: Zerleg den Truthahn, zerleg ihn bis ins Mark. Die Stücke nennen wir Armenier, Georgier, Assyrer, Türken, Kurden. Wenn aber alle am Boden liegen, können sie das Tranchiermesser nicht finden. Also bleiben alle am Boden liegen, und wenn sie des gegenseitigen Massakrierens müde sind, stellen sie fest, dass sie Hunger leiden. Und der Tod und die Wüste rücken näher, rücken näher. Wo im letzten Jahr ein Weizenfeld war, sind jetzt Disteln, und im nächsten Jahr werden nicht einmal Disteln dort wachsen. Und die Bauern sind Bettler oder Banditen. Und damit hat sich das Landkartenspiel im Orient fürs Erste. Aber das Tuch hat sich verheddert, so dass die Fliegen reinkommen. Ich werde runtersteigen und schauen, was der Sajjid seinen Zuhörern erzählt.
Der Sajjid erklärt, dass der Orient seine Probleme selbst lösen müsse, dass die Mohammedaner überall auf der Welt aus ihrer Schicksalsergebenheit erwachen, die ausländischen Ausbeuter verjagen und das Schicksal ihrer Nationen in die eigenen Hände nehmen müssen. Er sagt viele schöne Dinge, aber nicht, wie die zerlumpten Kinder, kleine Skelette mit großen Augen und aufgedunsenen Bäuchen, ernährt oder das Saatgut für den Herbst gekauft werden soll.
Dutzende von diesen kleinen Kindern in allen Stadien der Verelendung suchen unter den Waggons nach Essensresten. Sie sind nicht wie Tiere, denn Tiere wären schon längst verendet. Der Sajjid hat mit einigen von ihnen auf Turki gesprochen. Manche sind von muslimischen Eltern aus Eriwan, andere sind Christen vom Van-See. Manche wissen nicht, ob ihre Eltern Christen oder Muslime waren, und erinnern sich vor lauter Hunger an überhaupt nichts mehr, nur dieser Güterbahnhof und die Essensreste, die ihnen die Soldaten hinwerfen. «Es ist der achte Monat», sagt der Sajjid. In drei Monaten, im Winter, werden sie alle sterben.
An diesem Abend spielte die Politik[14]verrückt, wie der Sajjid sagte. Es zeigte sich, dass die Lokomotive immer nur zwei Waggons von Nachitschewan nach Dschulfa bringen konnte. Konfliktparteien waren der Sajjid und eine Gruppe vage offiziell aussehender Armenier. Der Bahnhofsvorsteher ließ sich in unseren Wagen locken, wurde mit Tee und Zigaretten traktiert, und nachdem die Türen vor neugierigen Blicken verschlossen worden waren, steckten wir ihm ein paar türkische Pfund in Scheinen zu. Trotzdem war die Sache erst entschieden, als wir den brillanten Einfall hatten, den wichtigsten Mann der anderen Seite, einen Doktor, abspenstig zu machen und ihm einen Platz in unserem Wagen anzubieten. Der Gefoppte durchbohrte uns mit Blicken, während wir hinter einer zischenden kleinen Lokomotive aus dem Bahnhof rumpelten. Es war beinahe Vollmond. Das Gleis schlängelte sich in kühler und trockener Bergluft neben einem Fluss durch eine wilde Schlucht. Ich saß die meiste Zeit auf der mysteriösen Kiste neben der offenen Tür und atmete die Reinheit der nackten Felsen. Kein einziger Grashalm, kein Leben, kein Leiden, nur Felswände und schroffe Berge und das steinige Flussbett, und hinter jeder Biegung verbarg sich unvorstellbar Neues, Persien.
Und in dieser Nacht verschwand Aserbeidschan aus der rauhen Gegenwart in eine anmutig kolorierte Vergangenheit, wie Armenien in jener Nacht, als wir Basch-Nuraschin verließen, und auf einem anderen Bahnhof, ich weiß nicht wo, sah ich, in der Nase den Gestank schlafender Hungerleider und in den Ohren das aufdringliche Seufzen einer Flöte, im letzten Mondschein den hochmütigen Gipfel des Ararat.