Mit erhobenem Schwert stand Gawyn vor zwei Behütern. Die Spalten in den Scheunenwänden ließen schräge Lichtbahnen einfallen; in der Luft funkelten Staub und Stroh, das der Kampf aufgewirbelt hatte. Gawyn wich auf dem harten Erdboden langsam zurück, passierte die Lichtstrahlen. Die Luft fühlte sich warm auf seiner Haut an. Schweiß rann seine Schläfen hinunter, aber sein Griff war fest, als die beiden Behüter sich ihm näherten.
Der vordere war Sleete, ein gelenkiger Mann mit langen Armen und groben Zügen. Im unregelmäßigen Licht der Scheune sah sein Gesicht wie ein unvollendetes Werk in einem Bildhaueratelier aus, mit tiefen Schatten um die Augen, das Kinn von einem Grübchen geteilt, die Nase schief, weil sie gebrochen und nicht Geheilt worden war. Er trug das Haar lang und hatte schwarze Koteletten.
Hattori war sehr erfreut gewesen, als ihr Behüter endlich in Dorlan eintraf; in der Schlacht von Dumai hatte sie ihn aus den Augen verloren, und seine Geschichte war von der Art, über die Barden Lieder verfassten. Stundenlang hatte Sleete verletzt am Boden gelegen, bevor es ihm im Delirium gelungen war, das Zaumzeug seines Pferdes zu ergreifen und sich in den Sattel zu ziehen. Das Pferd hatte ihn loyal viele Stunden getragen, bevor er so gut wie bewusstlos in einem Dorf eintraf. Die Dorfbewohner waren versucht gewesen, Sleete an eine Bande in der Gegend zu verkaufen - der Anführer hatte sie kurz zuvor besucht und ihnen Sicherheit als Belohnung dafür versprochen, Flüchtlinge der in der Nähe stattgefundenen Schlacht auszuliefern. Aber die Tochter des Bürgermeisters hatte sich für Sleetes Leben eingesetzt und alle davon überzeugt, dass es sich bei den Banditen um Schattenfreunde handeln musste, wenn sie nach verwundeten Behütern suchten. Die Dorfbewohner hatten sich entschieden, Sleete zu verstecken, und das Mädchen hatte ihn gesund gepflegt.
Er war gezwungen gewesen, sich davonzustehlen, nachdem er sich genug erholt hatte, um wieder reisen zu können, da das Mädchen sich anscheinend in ihn verguckt hatte. Unter den Jünglingen kursierten Gerüchte, dass Sleete auch deshalb geflüchtet war, weil er ebenfalls angefangen hatte, etwas für das Mädchen zu empfinden. Die meisten Behüter wussten es besser, als Beziehungen zu knüpfen. Mitten in der Nacht war Sleete verschwunden, nachdem das Mädchen und seine Familie zu Bett gegangen waren - aber im Gegenzug für die Hilfe des Dorfes hatte er die Banditen gejagt und dafür gesorgt, dass sie dem Dorf nie wieder Schaden zufügen konnten.
Das war der Stoff, aus dem Geschichten und Legenden entstanden - zumindest bei normalen, geringeren Männern. Für einen Behüter war Sleetes Geschichte beinahe schon Alltag. Männer wie er zogen Legenden an wie gewöhnliche Männer Fliegen. Tatsächlich hatte Sleete seine Geschichte auch gar nicht erzählen wollen; es war nur den hartnäckigen Fragen der Jünglinge zu verdanken, dass sie überhaupt ans Licht des Tages gekommen war. Er benahm sich trotzdem, als gäbe es über sein Überleben nichts zu prahlen. Er war Behüter. Im Angesicht unüberwindlicher Hindernisse zu überleben, im Delirium meilenweit durch unwirtliches Gelände zu reiten, mit noch nicht völlig verheilten Wunden eine ganze Bande niederzumachen - solche Dinge tat man eben als Behüter.
Gawyn respektierte sie. Selbst die, die er getötet hatte. Vor allem die, die er getötet hatte. Nur ein außergewöhnlicher Mann zeigte diesen Einsatz, diese Umsicht. Diese Bescheidenheit. Während Aes Sedai die Welt manipulierten und Ungeheuer wie Rand al'Thor den Ruhm ernteten, verrichteten Männer wie Sleete das Werk von Helden, und zwar jeden Tag. Ohne dafür Ruhm oder Anerkennung zu bekommen. Wenn man sich an sie erinnerte, dann für gewöhnlich nur in Zusammenhang mit ihrer Aes Sedai. Oder andere Behüter taten es. Seinesgleichen vergaß man nicht.
Sleete griff an, das Schwert stach in einem geraden, mit maximaler Geschwindigkeit ausgeführten Stoß nach vorn. Die Natter züngelt, ein mutiger Stoß, dessen Effektivität noch durch die Tatsache erhöht wurde, dass Sleete mit dem schmalen kleinen Mann zusammen kämpfte, der Gawyn auf der linken Seite umging. Marlesh war der einzige andere Behüter in Dorlan - und seine Ankunft war viel undramatischer als Sleetes gewesen. Marlesh hatte die ursprüngliche Gruppe der elf Aes Sedai begleitet, die bei Dumai entkommen waren, und er war die ganze Zeit bei ihnen geblieben. Seine Aes Sedai, eine hübsche junge Grüne namens Vasha, eine Domani, sah träge von der Scheunenwand zu.
Gawyn begegnete Die Natter züngelt mit Katze tanzt an der Wand, schlug die Klinge zur Seite und hieb aus der gleichen Bewegung nach den Beinen. Allerdings sollte damit kein Treffer erzielt werden; es war ein defensives Manöver, das ihn in die Lage versetzen sollte, beide Gegner im Auge zu behalten. Marlesh versuchte es mit Den Leoparden liebkosen, aber Gawyn nahm Die Luft falten ein, wehrte den Schlag ab und wartete auf Sleetes nächsten Angriff, denn er war der gefährlichere der beiden. Sleete nahm mit geschmeidigen Schritten eine neue Haltung ein, die Klinge nach unten an der Seite gehalten, während er die großen Heuballen im hinteren Teil der stickigen Scheune hinter sich brachte.
Gawyn schritt in Katze auf heißem Sand, während Marlesh es mit Kolibri küsst die Honigrose versuchte. Kolibri war nicht die richtige Figur für so einen Angriff, sie nutzte nur selten etwas gegen einen defensiv kämpfenden Mann, aber Marlesh hatte es offensichtlich satt, immer nur abgewehrt zu werden. Er wurde ungeduldig. Gawyn konnte das benutzen. Und das würde er auch tun.
Sleete rückte wieder vor. Gawyn brachte das Schwert wieder in Abwehrstellung, als die beiden Behüter gemeinsam vorrückten. Er ging sofort zu Apfelblüten im Wind über. Seine Klinge blitzte dreimal auf, drängte den ungläubig schauenden Marlesh zurück. Marlesh fluchte, warf sich nach vorn, aber Gawyn führte das Schwert aus der vergangenen Figur und glitt anmutig in Tau vom Ast schütteln hinein. Er trat vor und führte eine Reihe von sechs kurzen Hieben aus, warf Marlesh zurück und zu Boden - der Mann war viel zu schnell wieder in den Kampf getreten -, und zwang Sleetes Schwert zwei Mal zur Seite und endete damit, dem Mann die Klinge an den Hals zu halten.
Die beiden Behüter blickten Gawyn fassungslos an. Als er sie das letzte Mal besiegt hatte, hatten sie ähnlich geblickt, und bei dem Mal davor auch. Sleete trug eine Klinge mit dem Reiherzeichen und war in der Weißen Burg beinahe eine Legende für sein Können. Es hieß, er hätte sogar Lan Mandragoran zweimal bei sieben Durchgängen besiegt, damals, als dieser noch mit den anderen Behütern Übungskämpfe absolviert hatte. Marlesh war nicht so angesehen wie sein Gefährte, aber er war trotzdem ein fähiger und gut ausgebildeter Behüter, kein leichter Gegner.
Aber Gawyn hatte gewonnen. Schon wieder. Wenn er übte, erschienen die Dinge so einfach. Die Welt zog sich zu etwas Kleinerem zusammen, das man leichter aus der Nähe betrachten konnte. Er hatte nie etwas anderes gewollt, als Elayne zu beschützen. Er wollte Andor verteidigen. Vielleicht lernen, etwas mehr wie Galad zu sein.
Warum konnte das Leben nicht so einfach wie ein Schwertkampf sein? Klare Gegner, die ordentlich aufgereiht vor einem standen. Der Gewinn offensichtlich: Überleben. Wenn Männer miteinander kämpften, erschufen sie auch eine Verbindung. Man wurde zu Brüdern, während man Hiebe austauschte.
Gawyn hob die Klinge und trat zurück, schob das Schwert in die Scheide. Er hielt Marlesh die Hand hin, der sie ergriff und kopfschüttelnd aufstand. »Ihr seid bemerkenswert, Gawyn Trakand. Wenn Ihr Euch bewegt, seid Ihr wie ein Geschöpf aus Licht, Farbe und Schatten. Wenn ich Euch gegenübertrete, komme ich mir vor wie ein Knabe mit einem Stock der Hand.«
Sleete steckte sein Schwert schweigend weg, aber er nickte Gawyn respektvoll zu - genau wie die letzten beiden Male, als sie miteinander gekämpft hatten. Er war ein Mann weniger Worte. Gawyn wusste das zu schätzen.
In der Scheunenecke stand ein zur Hälfte gefülltes Wasserfass, und die Männer gingen dorthin. Corbet, einer der Jünglinge, tauchte eilig eine Schöpfkelle hinein und reichte sie Gawyn. Gawyn gab sie an Sleete weiter. Der ältere Mann nickte wieder und trank, während Marlesh einen Becher von der staubigen Fensterbank nahm und sich selbst etwas zu trinken holte. »Trakand«, fuhr er fort, »wir müssen für Euch eine Reiherklinge finden. Niemand sollte Euch gegenübertreten müssen, ohne vorher zu wissen, worauf er sich einlässt!«
»Ich bin kein Schwertmeister«, entgegnete Gawyn leise, nahm von Sleete die Kelle entgegen und trank. Das Wasser war warm, was sich gut anfühlte. Natürlicher.
»Ihr habt Hammar getötet, richtig?«, fragte Marlesh.
Gawyn zögerte. Das Gefühl von Klarheit, das er während des Kampfes verspürt hatte, bröckelte bereits. »Ja.«
»Nun, dann seid Ihr ein Schwertmeister«, sagte Marlesh. »Ihr hättet sein Schwert nehmen sollen.«
»Das wäre nicht respektvoll gewesen«, erwiderte Gawyn. »Davon abgesehen hatte ich keine Zeit, Beute zu machen.«
Marlesh lachte, als wäre das ein Witz gewesen, aber Gawyn hatte es ernst gemeint. Er warf einen Blick zu Sleete hinüber, der ihn neugierig musterte.
Stoffgeraschel kündigte Vashas Näherkommen an. Die Grüne hatte langes schwarzes Haar und bemerkenswerte grüne Augen, die manchmal beinahe katzengleich zu funkeln schienen. »Hast du genug gespielt, Marlesh?«, fragte sie. Ihr Domani-Akzent war kaum hörbar.
Marlesh kicherte. »Du solltet glücklich sein, mir beim Spielen zusehen zu können, Vasha. Wenn ich mich richtig erinnere, hat dir mein Spiel auf dem Schlachtfeld einige Male den Hals gerettet.«
Sie schnaubte und hob eine Braue. Gawyn war nur wenigen Aes Sedai und Behütern begegnet, die eine so lässige Beziehung hatten wie diese beiden. »Komm«, sagte sie, drehte sich auf dem Absatz um und ging auf das offen stehende Scheunentor zu. »Ich will sehen, was Narenwin und die anderen so lange im Haus gehalten hat. Es riecht nach getroffenen Entscheidungen.«
Marlesh zuckte mit den Schultern und warf Corbet den Becher zu. »Was auch immer sie entscheiden, ich hoffe, es hat mit der Weiterreise zu tun. Es gefällt mir nicht, in dieser Stadt herumzusitzen, während sich diese Soldaten anschleichen. Wenn die Anspannung in diesem Lager noch größer wird, dann laufe ich vermutlich weg und schließe mich den Kesselflickern an.«
Die Bemerkung ließ Gawyn nicken. Es war Wochen her, dass er das letzte Mal gewagt hatte, die Jünglinge auf einen Stoßtrupp loszuschicken. Brynes Suchkommandos kamen der Stadt immer näher, und das gestattete immer weniger Ritte über das Land.
Vasha passierte das Tor, aber Gawyn konnte sie trotzdem sagen hören: »Manchmal klingst du wie ein Kind.« Marlesh zuckte bloß mit den Schultern, winkte Gawyn und Sleete zum Abschied zu und verließ ebenfalls die Scheune.
Gawyn schüttelte den Kopf, füllte die Kelle erneut und trank. »Manchmal erinnern mich die beiden an ein Geschwisterpaar.«
Sleete lächelte.
Gawyn hängte die Kelle an ihren Platz, nickte Corbet zu und setzte sich in Bewegung. Er wollte das Abendessen der Jünglinge überprüfen und sich vergewissern, dass es richtig ausgeteilt wurde. Ein paar der Jünglinge hatten sich angewöhnt, sich im Kampf zu üben, wenn sie hätten essen sollen.
Aber Sleete nahm ihn am Arm. Gawyn sah ihn überrascht an.
»Hattori hat nur einen Behüter«, sagte der Mann in seiner leisen, knurrigen Stimme.
Gawyn nickte. »Für eine Grüne ist das nicht ungewöhnlich.«
»Das liegt nicht daran, dass sie nicht mehr haben will«, erklärte Sleete. »Als sie vor Jahren mit mir den Bund einging, hat sie gesagt, dass sie nur dann einen weiteren nimmt, wenn ich ihn für Wert befinde. Sie hat mich gebeten, nach ihm zu suchen. Sie denkt nicht viel über solche Dinge nach. Zu beschäftigt mit anderen Sachen.«
Und weiter?, dachte Gawyn und fragte sich, warum er ihm das erzählte.
Sleete erwiderte seinen Blick. »Zehn Jahre hat es gedauert, aber ich habe jemanden gefunden, der würdig ist. Wenn Ihr wollt, wird sie noch in dieser Stunde mit Euch den Bund eingehen.«
Gawyn blinzelte überrascht. Der Behüter hatte wieder seinen farbenverändernden Umhang angelegt, unter dem er unauffällige braune und grüne Kleidung trug. Andere bemängelten, dass er wegen seiner langen Haare und den Koteletten schmuddeliger aussah, als es für einen Behüter angebracht war. Aber »schmuddelig« war die falsche Bezeichnung für diesen Mann. Rau vielleicht, aber natürlich. Wie ein unbearbeiteter Stein oder eine knorrige, aber robuste Eiche.
»Ich fühle mich geehrt, Sleete«, erwiderte Gawyn. »Aber ich bin aus andoranischer Tradition zur Weißen Burg gekommen, um dort zu lernen, und nicht, weil ich Behüter werden wollte. Mein Platz ist an der Seite meiner Schwester.« Und sollte jemals jemand den Bund mit mir eingehen, dann wird das Egwene sein.
»Ihr seid aus diesen Gründen gekommen«, sagt Sleete, »aber diese Gründe gibt es nicht mehr. Ihr habt in unserem Krieg gekämpft, Ihr habt Behüter getötet und die Burg verteidigt. Ihr seid einer von uns. Ihr gehört zu uns.«
Gawyn zögerte.
»Ihr seid auf der Suche«, sagte Sleete. »Wie ein Falke blickt Ihr in diese und jene Richtung, versucht Euch zu entscheiden, ob Ihr landen oder jagen wollt. Irgendwann werdet Ihr des Fliegens müde sein. Kommt zu uns und werdet einer von uns. Ihr werdet sehen, Hattori ist eine gute Aes Sedai. Weiser als die meisten, viel weniger anfällig für irgendwelche Torheiten als die meisten in der Burg.«
»Sleete, ich kann nicht«, sagte Gawyn und schüttelte den Kopf. »Andor ...«
»Hattori gilt in der Weißen Burg nicht als einflussreich. Die anderen interessiert kaum, was sie tut. Wenn sie Euch hat, wird sie sich als Andor zugeteilt betrachten. Ihr könnt beides haben, Gawyn Trakand. Denkt darüber nach.«
Gawyn zögerte wieder, dann nickte er. »Also gut. Ich denke darüber nach.«
Sleete ließ seinen Arm los. »Mehr kann ein Mann nicht verlangen.«
Gawyn ging los, blieb aber stehen und sah zu Sleete zurück. Dann gab er Corbet ein Zeichen und gestikulierte kurz. Geht und passt auf, bedeutete das. Der Jüngling nickte eifrig - er war einer der Jüngsten und hielt immer nach etwas Ausschau, mit dem er sich beweisen konnte. Er würde das Tor bewachen und warnen, sollte jemand kommen.
Sleete sah neugierig zu, wie Corbet mit der Hand am Schwert Aufstellung nahm. Gawyn trat zu ihm und sprach leise, so leise, dass Corbet es nicht mitbekommen konnte. »Was haltet Ihr davon, was in der Burg geschehen ist, Sleete?«
Der raue Mann runzelte die Stirn, dann lehnte er sich gegen die Scheunenwand. Während dieser unverfänglichen Bewegung überprüfte er das Fenster, um sicherzugehen, dass dort keiner lauschte.
»Es ist schlimm«, sagte er schließlich in gedämpftem Tonfall. »Behüter sollten nicht gegen Behüter kämpfen. Aes Sedai sollten nicht gegen Aes Sedai kämpfen. So etwas sollte nicht passieren. Nicht jetzt, und auch nicht in Zukunft.«
»Aber es ist passiert«, sagte Gawyn.
Sleete nickte.
»Und jetzt haben wir es mit zwei verschiedenen Gruppen von Aes Sedai zu tun«, fuhr Gawyn fort. »Mit zwei verschiedenen Armeen, die einander belagern.«
»Einfach den Kopf unten halten«, sagte Sleete. »In der Burg gibt es hitzige Temperamente, aber es gibt auch kluge Köpfe. Sie werden das Richtige tun.«
»Und das ist?«
»Es zu beenden«, sagte Sleete. »Falls nötig, durch Töten, falls möglich, auf andere Weise. Nichts ist diese Spaltung wert. Gar nichts.«
Gawyn nickte.
»Meine Aes Sedai«, fuhr Sleete kopfschüttelnd fort, »gefällt die Atmosphäre in der Burg nicht, wollte dort weg. Sie ist weise ... weise und gewitzt. Aber sie hat keinen Einfluss, also hören die anderen nicht auf sie. Aes Sedai. Manchmal scheinen sie sich allein dafür zu interessieren, wer den größten Stock trägt.«
Gawyn lehnte sich näher heran. Man hörte nur selten, dass über die Stellung und den Einfluss von Aes Sedai gesprochen wurde. Sie kannten keine Ränge wie das Militär, wussten aber alle instinktiv, wer von ihnen das Sagen hatte. Wie funktionierte das? Sleete schien eine Ahnung zu haben, aber er sagte nichts mehr dazu, also würde das für den Augenblick ein Geheimnis bleiben.
»Hattori ist rausgekommen«, fuhr Sleete leise fort. »Nahm an dieser Mission wegen al'Thor teil, wusste gar nicht genau, worum es dabei eigentlich ging. Sie wollte nur einfach nicht mehr in der Burg sein. Schlaue Frau.« Er seufzte und legte Gawyn die Hand auf die Schulter. »Hammar war ein guter Mann.«
»Das war er«, bestätigte Gawyn. Etwas verknotete sich in seinem Magen.
»Aber er hätte Euch getötet - sauber und schnell. Er war derjenige in der Offensive, nicht Ihr. Er begriff, warum Ihr das getan habt. An diesem Tag hat keiner eine gute Entscheidung getroffen. Es gab keine guten Entscheidungen.«
»Ich ...« Gawyn brachte bloß ein Nicken zustande. »Danke.«
Sleete nahm die Hand fort und ging auf den Ausgang zu. Aber er schaute noch einmal zurück. »Manche sagen, dass Hattori meinetwegen hätte umkehren sollen. Eure Jünglinge glauben, dass sie mich bei Dumai im Stich gelassen hat. Das hat sie nicht getan. Sie wusste, dass ich noch am Leben bin. Sie wusste, dass ich verletzt bin. Aber sie hat sich auch darauf verlassen, dass ich meine Pflicht tue, während sie die ihre tut. Sie musste die Grünen darüber informieren, was dort geschah, wie die wahren Befehle der Amyrlin wegen al'Thor lauteten. Ich musste überleben. Wir haben unsere Pflicht getan. Aber sobald diese Botschaft überbracht worden war, wäre sie zu mir gekommen, wenn sie mich dann nicht aus eigener Kraft hätte näher kommen gespürt. Ganz egal, was auch passiert wäre. Und das wissen wir beide.«
Dann ging er. Gawyn grübelte über seine Abschiedsworte nach. Sleete war oft ein seltsamer Gesprächspartner. So anmutig er auch als Schwertkämpfer war, eine Unterhaltung fiel ihm nie leicht.
Gawyn schüttelte den Kopf, verließ die Scheune und entließ Corbet von seinem Wächterposten. Für ihn war es undenkbar, Hattoris Behüter zu werden. Einen Herzschlag lang war es ein verlockendes Angebot gewesen, aber nur als Flucht vor seinen Problemen. Er wusste genau, dass er als ihr Behüter nicht glücklich werden würde, als niemandes Behüter außer Egwenes.
Er hatte Egwene alles versprochen. Alles, solange es weder Andor noch Elayne schadete. Beim Licht, er hatte ihr sogar versprochen, al'Thor nicht zu töten. Zumindest nicht, bis er mit Sicherheit beweisen konnte, dass der Drache seine Mutter getötet hatte. Warum konnte Egwene nicht erkennen, dass der Mann, mit dem sie aufgewachsen war, sich durch die Eine Macht in ein Ungeheuer verwandelt hatte? Al'Thor musste zur Strecke gebracht werden. Für das Allgemeinwohl.
Er ballte die Fäuste und entspannte sie wieder, durchquerte das Dorfzentrum und wünschte sich, er könnte den Frieden und die Stille des Wettkampfes auf den Rest seines Lebens ausdehnen. In der Luft lag der durchdringende Geruch von Kühen und Dung aus den Scheunen; er sehnte sich danach, wieder in einer richtigen Stadt zu sein. Dorlans Größe und Abgeschiedenheit machten es zu einem guten Versteck, aber er hätte sich sehr gewünscht, dass Elaida für die Jünglinge einen weniger stinkenden Ort ausgesucht hätte. Seine Kleidung würde vermutlich für den Rest seiner Tage nach Vieh riechen - vorausgesetzt, die Rebellenarmee spürte sie in den nächsten Wochen nicht auf und metzelte sie alle nieder.
Kopfschüttelnd näherte er sich dem Haus des Bürgermeisters. Das zweistöckige Gebäude hatte ein Spitzdach und befand sich in der Dorfmitte. Der größte Teil der Jünglinge kampierte auf dem kleinen Feld hinter dem Haus. Einst wucherten dort Brombeeren, aber der viel zu heiße Sommer und der darauf folgende Winter mit seinen Froststürmen hatte die Büsche vernichtet. Eines der vielen Opfer, das dieses Jahr zu einem noch viel strengeren Winter führen würde.
Das Feld war nicht der beste Lagerplatz - die Männer beschwerten sich ständig darüber, Dornen aus der Haut ziehen zu müssen -, aber es lag nahe an der Dorfmitte und zugleich etwas abgeschieden. Dieser Vorteil war ein paar Dornen wert.
Um zu dem Feld zu kommen, musste er quer über den ungepflasterten Dorfplatz und an dem Kanal vorbei, der vor dem Bürgermeisterhaus verlief. Er nickte einer Gruppe von Frauen zu, die dort Wäsche wuschen. Die Aes Sedai hatten sie rekrutiert, damit sie für die Schwestern und seine Offiziere wuschen. Die Bezahlung war schlecht, und er gab so viel dazu, wie er sich aus eigener Tasche leisten konnte, eine Geste, derentwegen ihn Narenwin Sedai ausgelacht hatte, die ihm aber den Dank der Frauen einbrachte. Seine Mutter hatte gelehrt, dass die Arbeiter das Rückgrat des Königreichs waren; brach man es, konnte man sich nicht mehr bewegen. Die Menschen dieser Stadt mochten ja nicht die Untertanen seiner Schwester sein, aber er würde nicht zulassen, dass seine Männer sie ausnutzten.
Er ging am Haus des Bürgermeisters vorbei und bemerkte die geschlossenen Fensterläden. Marlesh lungerte davor herum, seine zierliche Aes Sedai hatte die Hände in die Hüften gestemmt und starrte die Tür finster an. Anscheinend hatte man ihr den Zutritt verwehrt. Warum? Vasha nahm unter den Aes Sedai keinen hohen Rang ein, aber sie war auch nicht so unbedeutend wie Hattori. Wenn man ihr den Zugang verweigerte ... nun, vielleicht besprach man hier tatsächlich wichtige Dinge. Das machte Gawyn neugierig.
Seine Männer hätten es ignoriert - Rajar hätte ihm gesagt, dass man Aes Sedai am besten ihren Geschäften überließ, ohne dass sich unerwünschte Ohren einmischten. Das war einer der Gründe, warum er keinen guten Behüter abgeben würde. Er vertraute den Aes Sedai nicht. Seine Mutter hatte das getan, und man konnte ja genau sehen, was ihr das eingebracht hatte. Und wie die Weiße Burg Elayne und Egwene behandelt hatte ... nun, er mochte ja die Aes Sedai unterstützen, aber vertrauen tat er ihnen bestimmt nicht.
Er ging zur Rückseite des Gebäudes und kontrollierte die Wachen, was völlig legitim war. Die meisten Aes Sedai hatten keine Behüter - entweder sie waren Rote oder hatten ihre Behüter zurückgelassen.
Nur wenige waren alt genug, um Behüter an das Alter zu verlieren und nie neue zu erwählen. Zwei unglückselige Frauen hatten ihre Behüter bei Dumai verloren. Gawyn und die anderen taten ihr Bestes, so zu tun, als würden sie die rotgeweinten Augen oder das gelegentliche Schluchzen aus ihren Zimmern nicht bemerken.
Natürlich behaupteten die Aes Sedai, die Jünglinge nicht als Wächter zu brauchen. Vermutlich hatten sie sogar recht. Aber Gawyn hatte bei Dumai tote Aes Sedai gesehen; sie waren nicht unbesiegbar.
Hal Moir salutierte am Hintereingang und ließ ihn eintreten, um seine Inspektion fortzuführen. Er stieg eine kurze Treppe hinauf und betrat den oberen Korridor. Dort löste er Berden ab, den dunkelhäutigen Tairener, der zur Wache eingeteilt war. Berden war Offizier, und er befahl ihm, die Essensausgabe im Lager zu beaufsichtigen. Der Mann nickte und ging.
Vor Narenwin Sedais Zimmer zögerte Gawyn. Wenn er hören wollte, was bei den Aes Sedai vor sich ging, musste er lauschen, so einfach war das. Berden war im ersten Stock der einzige Wächter gewesen, und es gab keine Behüter, die gegen unerwünschte Ohren schützen konnten. Aber die Vorstellung, ein Lauscher zu sein, hinterließ einen sauren Geschmack in seinem Mund. Er sollte nicht lauschen müssen. Er war der Kommandant der Jünglinge, und die Aes Sedai nutzten seine Truppen weidlich aus. Sie schuldeten ihm Informationen. Also klopfte er energisch an der Tür, statt das Ohr dagegen zu legen.
Niemand rief herein. Dann öffnete sich die Tür einen Spaltbreit und enthüllte Covarlas Gesicht. Die hellhaarige Rote hatte die Schwestern in der Stadt angeführt, bevor man sie ersetzte, aber sie war noch immer eine der wichtigsten Frauen in Dorlan.
»Wir sollten nicht gestört werden«, fauchte sie durch den Spalt. »Eure Soldaten hatten den Befehl, alle draußen zu halten, selbst andere Schwestern.«
»Diese Regeln gelten nicht für mich«, sagte Gawyn und erwiderte ihren Blick. »Meine Männer schweben in dieser Stadt in ernster Gefahr. Wenn Ihr mich schon nicht an der Planung beteiligt, verlange ich zumindest, zuhören zu dürfen.«
Covarlas regloses Gesicht schien Verärgerung auszudrücken. »Eure Respektlosigkeit scheint jeden Tag schlimmer zu werden, Kind«, sagte sie. »Vielleicht sollte man Euch entfernen und einen brauchbaren Ersatz finden, der diese Gruppe anführt.«
Gawyn atmete tief durch.
»Glaubt Ihr, sie würden Euch nicht ablösen, wenn sie eine Schwester darum bittet?«, fragte Covarla und lächelte schmal. »Sie mögen ja nur ein trauriger Haufen sein, aber sie kennen ihren Platz. Schade, dass man das Gleiche nicht von ihrem Kommandanten sagen kann. Geht zu Euren Männern zurück, Gawyn Trakand.«
Und sie schloss die Tür vor seiner Nase.
Es juckte ihn in den Fingern, sich den Weg ins Zimmer zu erzwingen. Aber diese Befriedigung würde bestenfalls zwei Atemzüge lang dauern, denn genau so lange würden die Aes Sedai brauchen, um ihn mit der Macht zu verschnüren. Was würde das für die Moral der Jünglinge bedeuten? Zu sehen, wie ihr Kommandant, der tapfere Gawyn Trakand, mit einem Knebel aus Luft im Mund aus dem Haus geworfen wurde? Er schluckte seinen Ärger hinunter und begab sich wieder nach unten. Er ging in die Küche und lehnte sich gegen die Wand, starrte auf die Treppe zum ersten Stock. Jetzt, da er Berden abgelöst hatte, fühlte er sich verpflichtet, die Wache selbst zu übernehmen oder einen Läufer zu schicken, um einen anderen Mann zu holen. Aber zuerst wollte er ein paar Minuten nachdenken; falls die Konferenz oben noch lange dauerte, würde er einen Ersatzmann kommen lassen.
Aes Sedai. Vernünftige Männer gingen ihnen nach Möglichkeit aus dem Weg und gehorchten ihnen eifrig, wenn das nicht möglich war. Er hatte mit beidem Probleme; seine Blutlinie hinderte ihn daran, sich von ihnen fernzuhalten, sein Stolz kam ihm immer dazwischen, wenn er ihnen gehorchen sollte. Er hatte Elaida nicht bei der Rebellion unterstützt, weil er sie mochte - während ihrer Jahre als Beraterin seiner Mutter war sie ihm stets als eiskalt erschienen. Nein, er hatte sie unterstützt, weil ihm nicht gefallen hatte, wie Siuan seine Schwester und Egwene behandelte.
Aber hätte Elaida die Mädchen irgendwie besser behandelt? Hätte auch nur eine von ihnen das getan? Er hatte seine Entscheidung im Augenblick einer Gefühlsaufwallung getroffen; es war nicht der kühle Akt der Loyalität gewesen, an den seine Männer glaubten.
Und wo lag seine Loyalität nun?
Ein paar Augenblicke später verkündeten Schritte auf den Stufen und leise Stimmen aus dem Korridor, dass die Aes Sedai mit ihrer Geheimkonferenz fertig waren. Covarla kam in Rot und Gelb die Treppe herunter und sagte etwas zu der Schwester hinter ihr. »... kann nicht glauben, dass die Rebellen ihre eigene Amyrlin erhoben haben.«
Narenwin - dürr und mit kantigem Gesicht - kam direkt hinter ihr und nickte. Im Anschluss kam dann überraschenderweise Katerine Alruddin die Treppe herunter. Gawyn stieß sich verblüfft von der Wand ab. Katerine hatte das Lager vor Wochen verlassen, am Tag nach Narenwins Ankunft. Die schwarzhaarige Rote hatte nicht zu der ursprünglichen Gruppe gehört, die nach Dorlan abkommandiert worden war, und hatte das als Entschuldigung benutzt, um zur Weißen Burg zurückzukehren.
Wann war sie nach Dorlan zurückgekehrt? Wie war sie zurückgekehrt? Seine Männer hätten ihm berichtet, hätten sie sie gesehen. Er bezweifelte, dass die Wachtposten ihre Ankunft übersehen hätten.
Katerine betrachtete ihn, als sie mit den anderen beiden Aes Sedai die Küche durchquerte, und lächelte hinterhältig. Sie hatte seine Überraschung bemerkt.
»Ja«, sagte sie und wandte sich Covarla zu. »Stellt Euch nur vor - eine Amyrlin ohne einen Sitz, auf den sie sich setzen kann! Sie sind ein Haufen dummer Mädchen, die sich ein Puppentheater basteln mit Puppen, die wie ihre Höhergestellten angezogen sind. Natürlich mussten sie dafür eine Wilde aussuchen, und dann auch noch bloß eine Aufgenommene. Sie wussten, wie armselig ihre Entscheidung war.«
»Immerhin wurde sie gefangen genommen«, meinte Narenwin und blieb an der Tür stehen, während Covarla hinausging.
Katerine lachte schrill. »Gefangen genommen, um sie den halben Tag lang brüllen zu lassen. Im Augenblick möchte ich nicht diese al'Vere sein. Natürlich hat sie es auch nicht anders verdient, weil sie sich von ihnen die Stola der Amyrlin auf die Schultern legen ließ.«
Was? Gawyn glaubte, sich verhört zu haben.
Die drei verließen die Küche, und ihre Stimmen verblassten. Er nahm es kaum wahr. Er taumelte zurück, suchte an der Wand nach Halt. Das konnte nicht sein! Es klang, als hätte ... Egwene ... Er musste sich verhört haben!
Aber Aes Sedai konnten nicht lügen. Er hatte Gerüchte gehört, dass die Rebellen einen eigenen Saal und eine Amyrlin hatten ... aber Egwene? Das war völlig lächerlich! Sie war nur eine Aufgenommene!
Aber gab es jemanden, der besser geeignet war, um schließlich zu scheitern? Vielleicht hatte keine der Schwestern den Hals hinhalten wollen, indem sie den Titel annahmen. Eine junge Frau wie Egwene hätte das perfekte Bauernopfer abgegeben.
Gawyn riss sich zusammen und eilte hinter den Aes Sedai her. Vasha stand im späten Nachmittagslicht und starrte Katerine mit offen stehendem Mund an. Anscheinend war er hier nicht der Einzige, den die plötzliche Rückkehr der Roten überraschte.
Er ergriff Tando, einen der Jünglinge, die das Haus an der Vorderseite bewachten, am Arm. »Habt Ihr gesehen, wie sie das Haus betreten hat?«
Der junge Andoraner schüttelte den Kopf. »Nein, mein Lord. Einer der Männer drinnen berichtete, dass sie sich mit den anderen Aes Sedai trifft - anscheinend kam sie plötzlich vom Dachboden. Aber kein Wächter weiß, wie sie hereingekommen ist.«
Gawyn ließ den Soldaten los und rannte hinter Katerine her. In der Mitte des staubigen Dorfplatzes holte er die drei Frauen ein. Drei alterslose Gesichter wandten sich ihm zu, mit drei identischen strengen Mienen. Vor allem Covarla blickte richtig wütend, aber ihm war es egal, ob sie ihm die Jünglinge wegnahmen oder ihn in der Luft aufhängten. Demütigungen spielten keine Rolle. Nur eine Sache war wichtig.
»Ist das wahr?«, verlangte er zu wissen. Dann zwang er mühsam Respekt in seine Stimme. »Bitte, Katerine Sedai. Stimmt das, was ich da mithören konnte? Das mit den Rebellen und ihrer Amyrlin?«
Sie musterte ihn. »Ich schätze, es wäre gut, diese Neuigkeit unter Euren Soldaten zu verbreiten. Ja, die Rebellen-Amyrlin wurde gefangen genommen.«
»Und ihr Name?«
»Egwene al'Vere«, sagte Katerine. »Sollen die Gerüchte ausnahmsweise einmal die Wahrheit verbreiten.« Sie nickte ihm mit geringschätziger Knappheit zu, dann setzte sie sich wieder mit den anderen beiden in Bewegung. »Nutzt gut, was ich euch beigebracht habe. Die Amyrlin besteht darauf, dass die Überfälle ausgeweitet werden, und diese Gewebe sollten Euch eine ungeahnte Mobilität verleihen. Aber seid nicht überrascht, falls die Rebellen Eure Züge vorausahnen. Sie wissen, dass wir ihre sogenannte Amyrlin haben und ahnen vermutlich, dass wir die neuen Gewebe ebenfalls kennen. Es wird nicht lange dauern, bis alle das Schnelle Reisen beherrschen. Nutzt den Vorteil, den man euch gegeben hat, bevor er keiner mehr ist.«
Gawyn hörte kaum zu. Ein Teil seines Verstandes war wie betäubt. Schnelles Reisen? Versorgte Gareth Bryne seine Leute auf diese Weise?
Aber der größere Teil seines Verstandes war noch immer betäubt. Siuan Sanche war gedämpft worden und sollte hingerichtet werden, und sie war bloß eine abgesetzte Amyrlin gewesen. Was würde man mit einer falschen Amyrlin machen, der Anführerin einer Rebellenfraktion?
Den halben Tag lang brüllen zu lassen ...
Egwene wurde gefoltert. Man würde sie dämpfen! Vermutlich war das bereits geschehen. Danach würde man sie hinrichten. Gawyn sah den drei Aes Sedai nach. Dann drehte er sich von seltsamer Ruhe erfüllt um und legte die Hand auf den Schwertgriff.
Egwene war in Schwierigkeiten. Er blinzelte und stand weiter auf dem Platz, in der Ferne brüllte das Vieh, Wasser sprudelte durch den Kanal neben ihm.
Egwene würde hingerichtet werden.
Wo liegt deine Loyalität, Gawyn Trakand?
Er durchquerte das Dorf, ging mit seltsam sicherem Schritt. Die Jünglinge würden für einen Einsatz gegen die Weiße Burg nicht zu gebrauchen sein. Er konnte sie nicht benutzen, um eine Rettungsaktion durchzuführen. Aber allein würde er das mit ziemlicher Sicherheit auch nicht schaffen. Damit blieb ihm nur noch eine Möglichkeit.
Zehn Minuten später befand er sich in seinem Zelt und packte sorgfältig seine Satteltaschen. Die meisten seiner Besitztümer würden hier bleiben müssen. Es gab weit entfernte Späheraußenposten, und er hatte sie schon zuvor in Überraschungsinspektionen besucht. Eine gute Entschuldigung, um das Lager zu verlassen.
Er durfte keinen Verdacht erregen. Covarla hatte recht. Die Jünglinge folgten ihm. Aber sie gehörten ihm nicht - sie gehörten der Weißen Burg. Und wenn es der Wille der Amyrlin war, würden sie sich so schnell gegen ihn wenden, wie er sich gegen Hammar gewendet hatte. Wenn einer von ihnen auch nur ahnte, was er plante, würde er keine hundert Meter weit kommen.
Er schnallte die Satteltaschen zu. Das würde reichen müssen. Er stieß den Zelteingang zur Seite, warf sich die Satteltasche über die Schulter, dann ging er in Richtung Pferdeseile. Unterwegs gab er Rajar, der einer Abteilung Soldaten gerade Unterricht im fortgeschrittenen Schwertkampf gab, ein Zeichen. Rajar übergab die Leitung an einen anderen Mann, dann eilte er zu Gawyn. Stirnrunzelnd musterte er die Satteltaschen.
»Ich werde den vierten Außenposten inspizieren«, sagte Gawyn.
Rajar blickte zum Himmel; es wurde bereits dunkel. »So spät?«
»Das letzte Mal habe ich sie am Morgen kontrolliert«, sagte Gawyn. Seltsam, dass sein Herz nicht raste. Es schlug gleichmäßig und ruhig. »Davor war es am Nachmittag. Aber am gefährlichsten ist es, wenn man am Abend überrascht wird, wenn es noch hell genug für einen Angriff ist, aber spät genug, dass die Männer müde sind und den Bauch voll haben.«
Rajar nickte, schloss sich ihm an. »Das Licht weiß, dass wir jetzt aufmerksame Späher brauchen«, stimmte er zu. Brynes Kundschafter hatten keinen halben Tagesritt von Dorlan entfernt Dörfer durchsucht. »Ich besorge Euch einen Begleiter.«
»Das ist nicht nötig«, sagte Gawyn. »Das letzte Mal sah mich Außenposten Vier aus einer Entfernung von einer guten halben Meile. Eine Abteilung verursacht zu viel Staub. Ich will sehen, wie scharf ihre Augen sind, wenn es nur ein Reiter ist.«
Wieder runzelte Rajar die Stirn.
»Mir passiert schon nichts«, sagte Gawyn und zwang sich zu einem trockenen Lächeln. »Rajar, das wisst Ihr doch. Was? Habt Ihr Angst, dass ich von Banditen überfallen werde?«
Rajar entspannte sich und kicherte. »Ihr? Da erwischen sie eher Sleete. Also gut. Aber vergesst nicht, mir nach Eurer Rückkehr einen Boten zu schicken. Wenn Ihr nicht zurückkehrt, bleibe ich die halbe Nacht lang wach und mache mir Sorgen.«
Es tut mir leid, dass ich dich Schlaf kosten werde, mein Freund, dachte Gawyn und nickte. Rajar lief zurück, um die Schwertübungen zu überwachen, und Gawyn war kurz darauf ein Stück außerhalb des Lagers und löste die Fußfesseln von Herausforderer, während ein Dorfjunge, der als Stallbursche eingesprungen war, seinen Sattel holte.
»Ihr seht aus wie ein Mann, der sich entschieden hat«, sagte eine leise Stimme plötzlich.
Gawyn fuhr herum, griff nach dem Schwert. Einer der Schatten in der Nähe bewegte sich. Bei genauerem Hinsehen erkannte er die Umrisse eines schattenhaften Mannes mit schiefer Nase. Diese verfluchten Behüter-Umhänge!
Er bemühte sich, die gleiche Unbekümmertheit wie bei Rajar vorzutäuschen. »Ich bin wohl froh, etwas zu tun zu haben«, sagte er und wandte sich von Sleete ab, als der Stalljunge näher kam. Er warf ihm eine Kupfermünze zu und nahm ihm den Sattel ab, dann schickte er den Jungen weg.
Sleete sah aus dem Schatten einer gewaltigen Kiefer zu, wie er den Sattel auf Herausforderers Rücken richtete. Der Behüter wusste Bescheid. Gawyn hatte jeden täuschen können, aber er spürte, dass das bei diesem Mann nicht funktionieren würde. Beim Licht! Würde er noch einen Mann töten müssen, den er respektierte? Sei verflucht, Elaida! Sei verflucht, Siuan Sanche und deine ganze Weiße Burg. Hört auf, Menschen zu benutzen. Hört auf, mich zu benutzen!
»Wann soll ich Euren Männern sagen, dass Ihr nicht zurückkehrt?«
Gawyn zog den Sattelgurt fest und wartete, dass sein Pferd ausatmete. Er blickte stirnrunzelnd über Herausforderer hinweg. »Ihr wollt mich nicht daran hindern?«
Sleete kicherte. »Heute habe ich dreimal gegen Euch gekämpft und nicht einmal gewonnen, obwohl ich einen guten Mann an meiner Seite hatte. Ihr seht wie ein Mann aus, der falls nötig tötet, und ich dürste nicht so sehr nach dem Tod, wie manche annehmen.«
»Ihr würdet gegen mich kämpfen«, sagte Gawyn und war endlich mit dem Sattel zufrieden, legte die Satteltaschen auf und band sie fest. Herausforderer schnaubte. Zusätzliches Gepäck hatte diesem Pferd noch nie gefallen. »Ihr würdet sterben, hieltet Ihr es für nötig. Würdet Ihr angreifen, würde das Lärm machen, selbst wenn ich Euch töte. Ich könnte nie erklären, warum ich einen Behüter getötet habe. Ihr könntet mich aufhalten.«
»Das ist wahr.«
»Warum lasst Ihr mich dann gehen?«, fragte Gawyn, zog den Wallach herum und nahm die Zügel. Er erwiderte den Blick aus diesen im Schatten liegenden Augen und glaubte den leisesten Hauch eines Lächelns darin entdeckt zu haben.
»Vielleicht sehe ich einfach nur gern einen Mann, der sich kümmert«, sagte Sleete. »Vielleicht hoffe ich ja, dass Ihr eine Möglichkeit findet, um zu helfen, das hier zu beenden. Vielleicht bin ich auch einfach nur faul heute, und die vielen Niederlagen haben meinen Geist so zermürbt, dass er ganz wund ist. Möget Ihr finden, was Ihr sucht, junger Trakand.« Und Sleete zog sich mit raschelndem Umhang zurück und verschmolz mit der Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht.
Gawyn schwang sich in den Sattel. Ihm fiel nur ein Ort ein, wo er Hilfe finden konnte, um Egwene zu retten.
Mit einem Tritt seiner Fersen ließ er Dorlan hinter sich zurück.