43 Versiegelt

Egwene saß stumm in ihrem Zelt, die Hände im Schoß gefaltet. Und brachte ihre Bestürzung, ihren brennenden Zorn und ihre Fassungslosigkeit unter Kontrolle.

Die mollige und hübsche Chesa saß schweigend in der Ecke auf einem Kissen, bestickte den Saum eines von Egwenes Kleidern und sah so zufrieden aus, wie jemand nur aussehen konnte, jetzt, da ihre Herrin wieder da war. Das Zelt lag abgelegen in einem Hain innerhalb des Aes Sedai-Lagers. An diesem Morgen hatte Egwene außer Chesa keinen Dienern den Zutritt gestattet. Sie hatte sogar Siuan abgewiesen, die zweifellos gekommen war, um sich irgendwie zu entschuldigen. Egwene brauchte Zeit zum Nachdenken, um sich vorzubereiten, um ihr Versagen zu akzeptieren.

Und sie hatte versagt. Ja, andere hatten dazu beigetragen, aber diese anderen waren ihre Anhänger und Freunde gewesen. Sie würden genau wissen, wie zornig Egwene über ihren Anteil an diesem Fiasko sein würde. Aber zuerst musste sie den Blick nach innen wenden, herausfinden, was sie hätte besser machen können.

Sie saß auf ihrem Stuhl mit der hohen Lehne, dessen Armlehnen mit geschnitzten Schriftrollen verziert waren. Das Zelt war genauso, wie sie es verlassen hatte; der Schreibtisch war aufgeräumt, die Decken zusammengefaltet, die Kissen in der Ecke aufgestapelt. Offensichtlich hatte Chesa immer Staub gewischt. Es erinnerte an ein Museum, in dem man Kindern die Vergangenheit nahebrachte.

Während ihrer Gespräche im Tel’aran’rhiod war sie Siuan gegenüber so energisch aufgetreten, wie das nur möglich gewesen war, und trotzdem hatte man ihren ausdrücklichen Wunsch ignoriert und sie zurückgeholt. Vielleicht war sie zu geheimnisvoll gewesen. Geheimnisse - die waren gefährlich. Sie hatten Siuan gestürzt. Die Zeit der Frau als Anführerin der Augen und Ohren der Blauen Ajah hatte sie gelehrt, mit Informationen geizig umzugehen, sie wie ein knauseriger Arbeitgeber am Zahltag auszuteilen. Hätten die anderen die Bedeutung von Siuans Tätigkeit gekannt, hätten sie sich vielleicht nicht entschieden, gegen sie zu arbeiten.

Egwene fuhr mit den Fingern über die glatte, eng gewebte Tasche, die sie an den Gürtel gebunden trug. Sie enthielt einen langen, schmalen Gegenstand, den man am Morgen verstohlen aus der Weißen Burg geholt hatte.

War sie in die gleiche Falle wie Siuan getappt? Das war durchaus eine Gefahr. Schließlich hatte Siuan sie ausgebildet. Hätte Egwene genauer erklärt, welche Fortschritte ihre Arbeit in der Weißen Burg machte, hätten die anderen dann nichts unternommen?

Das war schwer zu sagen. Eine Amyrlin musste viele Geheimnisse bewahren. Transparenz würde den Vorteil ihrer Autorität zunichtemachen. Aber Egwene hätte Siuan gegenüber mitteilsamer sein müssen. Die Frau war einfach zu sehr daran gewöhnt, selbstständig zu handeln. Ein deutliches Anzeichen dafür war die Art und Weise, wie sie ihr Traum-Ter’’angreal entgegen der Wünsche des Saals und ohne sein Wissen behalten hatte. Aber Egwene hatte das geduldet, hatte Siuan unbewusst ermuntert, sich der Autorität zu widersetzen.

fa, sie hatte Fehler gemacht. Sie konnte Siuan, Gawyn und Bryne nicht die ganze Schuld zuweisen. Garantiert hatte sie noch andere Fehler gemacht; sie würde ihre Schritte später genauer ergründen müssen.

Im Augenblick musste sie ihre Aufmerksamkeit einem größeren Problem zuwenden. Eine Katastrophe war geschehen. Man hatte sie kurz vor dem Erfolg aus der Weißen Burg herausgeholt. Wie sollte es nun weitergehen?

Egwene stand nicht auf, um nachdenklich auf und ab zu gehen. Das hätte nur Nervosität oder nagende Zweifel verraten, und sie hatte gelernt, zu allen Zeiten reserviert zu sein, damit sie nicht unabsichtlich wieder in schlechte Angewohnheiten verfiel. Also blieb sie sitzen, die Hände auf den Armlehnen, gekleidet in ein kostbares grünes Seidenkleid mit gelben Stickereien auf dem Oberteil.

Wie seltsam sich dieses Gewand doch anfühlte. Wie falsch. Zwar hatte man ihr die weißen Kleider aufgezwungen, aber sie waren gewissermaßen ein Symbol des Widerstands geworden. Der jetzige Kleiderwechsel bedeutete ein Ende ihrer Verweigerung. Sie war erschöpft von der Schlacht in der Nacht, sowohl körperlich wie auch emotional. Aber sie konnte dem jetzt nicht nachgeben. Es würde nicht ihre erste schlaflose Nacht vor einem wichtigen Tag voller Entscheidungen und Probleme sein.

Sie ertappte sich dabei, wie sie mit den Fingern auf der Lehne herumklopfte, und zwang sich dazu, damit aufzuhören.

Eine Rückkehr in die Weiße Burg als Novizin war nun unmöglich. Ihr Widerstand hatte nur funktioniert, weil sie eine gefangen genommene Amyrlin gewesen war. Eine freiwillige Rückkehr würde man als unterwürfig oder arrogant betrachten. Davon abgesehen würde Elaida sie dieses Mal mit Sicherheit hinrichten lassen.

Und so saß sie wieder fest, genau wie nach der Gefangennahme durch die Agenten der Weißen Burg. Sie biss die Zähne zusammen. Einst hatte sie irrtümlicherweise geglaubt, dass die Amyrlin nicht so ohne Weiteres von zufälligen Schleifen im Muster herumgeschubst werden würde. Eigentlich hätte sie alles im Griff haben müssen. Alle anderen verbrachten ihre Tage immer nur damit zu reagieren, aber die Amyrlin war eine Frau der Tat!

Ihr wurde immer deutlicher bewusst, dass es keinen Unterschied machte, wenn man die Amyrlin war. Das Leben war wie ein Orkan, ob man nun Milchmagd war oder Königin. Die Königinnen waren einfach nur besser darin, mitten im Sturm so zu tun, als hätten sie die Kontrolle. Wenn Egwene wie eine vom Wind unbehelligte Statue aussah, dann lag das nur daran, weil sie erkannte, wie sie sich mit den Böen bewegen musste. Das erschuf die Illusion der Kontrolle.

Nein. Es war nicht nur eine Illusion. Die Amyrlin hatte eine größere Kontrolle, selbst wenn sie nur darauf beruhte, dass sie sich selbst unter Kontrolle hatte und den Orkan draußen hielt. Die Anforderungen des Augenblicks ließen sie schwanken, aber ihre Handlungen waren wohldurchdacht. Sie musste so logisch sein wie eine Weiße, so nachdenklich wie eine Braune, so leidenschaftlich wie eine Blaue, so entschieden wie eine Grüne, so gnädig wie eine Gelbe und so diplomatisch wie eine Graue. Und ja, so rachsüchtig wie eine Rote, falls das nötig war.

Es würde keine Rückkehr in die Weiße Burg als Novizin geben, und sie konnte nicht warten, bis die Verhandlungen weitergingen. Nicht, wo die Seanchaner mutig genug waren, die Weiße Burg anzugreifen, wo Rand völlig ohne Aufsicht umherstreifte, wo die Welt voller Chaos war und der Schatten seine Streitkräfte zur Letzten Schlacht sammelte. Das stellte sie vor eine schwierige Entscheidung. Ihr stand ein Heer von fünfzigtausend Soldaten zur Verfügung, und die Weiße Burg hatte einen unfassbaren Schlag hinnehmen müssen. Die Aes Sedai würden erschöpft sein, die Burgwache angeschlagen und entmutigt.

In wenigen Tagen würden alle Geheilt und die Frauen ausgeruht sein. Egwene wusste nicht, ob Elaida den Angriff überlebt hatte oder nicht, aber sie musste von der Annahme ausgehen, dass sie noch immer den Befehl hatte. Das ließ ihr nur einen geringen Handlungsspielraum.

Egwene wusste, was die einzig richtige Entscheidung war. Sie konnte nicht darauf warten, dass die Schwestern in der Weißen Burg die richtige Entscheidung trafen, dazu fehlte ihr einfach die nötige Zeit, sie würde sie zwingen müssen, sie zu akzeptieren.

Egwene hoffte, dass ihr die Geschichte das am Ende verzieh. Sie stand auf, schlug den Zelteingang zur Seite und erstarrte. Direkt vor ihr saß ein Mann auf dem Boden.

Gawyn sprang auf; er war in jeder Hinsicht noch genauso attraktiv, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Er war kein schöner Mann wie sein Halbbruder. Gawyn war solider, echter. Das ließ ihn für Egwene nun viel attraktiver als Galad erscheinen. Galad war wie ein Wesen jenseits der Realität, eine Gestalt aus den Legenden und Geschichten. Er war wie eine Figurine aus Glas, die man auf den Tisch stellte und bewunderte, aber niemals berührte.

Gawyn war anders. Ansehnlich mit diesem rötlichblonden Haar und diesen sanften Augen. Wo sich Galad niemals um etwas sorgte, machte Gawyns Anteilnahme ihn echt. Genau wie seine Fähigkeit, Fehler zu begehen. Unglücklicherweise.

»Egwene«, sagte er, schob das Schwert zurecht und klopfte sich die Hose ab. Beim Licht! Hatte er vor ihrem Zelt geschlafen? Die Sonne hatte bereits den halben Weg zu ihrem Zenit zurückgelegt. Er hätte sich ausruhen sollen!

Egwene unterdrückte ihre Sorge um ihn. Jetzt war nicht der Augenblick, ein liebeskrankes Mädchen zu sein. Es war der Augenblick, die Amyrlin zu sein. »Gawyn«, sagte sie und hob abwehrend die Hand, als er einen Schritt auf sie zu machte. »Ich habe nicht einmal angefangen, darüber nachzudenken, was ich mit dir machen soll. Andere Angelegenheiten verlangen meine Aufmerksamkeit. Hat sich der Saal versammelt, wie ich es befohlen habe?«

»Ich glaube schon«, sagte er und warf einen Blick in Richtung Lagermitte. Sie konnte das große Versammlungszelt des Saals kaum zwischen den Bäumen ausmachen.

»Dann muss ich vor ihn treten«, sagte sie und holte tief Luft. Sie setzte sich in Bewegung.

»Nein«, sagte Gawyn und vertrat ihr den Weg. »Egwene, wir müssen reden.«

»Später.«

»Nein, nicht später, verdammt! Ich habe Monate gewartet. Ich muss wissen, wo wir stehen. Ich muss wissen, ob du …«

»Halt!«, sagte sie.

Er verstummte. Sie würde sich nicht von diesen Augen erweichen lassen, sollte man ihn doch zu Asche verbrennen! Nicht in diesem Augenblick. »Ich sagte, ich habe meine Gefühle noch nicht ergründet«, sagte sie kühl, »und das war mein Ernst.«

Er schob den Unterkiefer vor. »Ich glaube dir diese Aes Sedai-Ruhe nicht, Egwene. Nicht, wenn der Ausdruck in deinen Augen so viel ehrlicher ist. Ich brachte große Opfer, um …«

»Du brachtest Opfer?«, unterbrach ihn Egwene und ließ etwas von ihrer Wut durchschimmern. »Was ist denn mit den Opfern, die ich gebracht habe, um die Weiße Burg wieder zu vereinen? Opfer, die du unterminiert hast, indem du gegen meine ausdrücklichen Wünsche handeltest? Hat dir Siuan nicht gesagt, dass ich eine Rettungsmission ausdrücklich verboten hatte?«

»Das hat sie«, erwiderte er steif. »Aber wir haben uns Sorgen um dich gemacht!«

»Nun, diese Sorge war das Opfer, das ich verlangte, Gawyn«, sagte sie verärgert. »Verstehst du nicht, wie sehr ihr mir misstraut habt? Wie soll ich dir vertrauen, wenn du meine Befehle missachtest, nur damit du dich besser fühlst?«

Gawyn sah kein bisschen beschämt aus; lediglich verstört. Tatsächlich war das ein gutes Zeichen - als Amyrlin brauchte sie einen Mann, der seine Meinung sagte. Privat. Aber in der Öffentlichkeit brauchte sie jemanden, der sie unterstützte. Konnte er das nicht verstehen?

»Du liebst mich, Egwene«, sagte er stur. »Das sehe ich doch.«

»Egwene die Frau liebt dich«, antwortete sie. »Aber Egwene die Amyrlin ist wütend auf dich. Gawyn, wenn du bei mir bleiben willst, musst du bei der Frau und der Amyrlin bleiben. Eigentlich hätte ich von dir erwartet, dass du diesen Unterschied begreifst, ein Mann, den man dazu ausgebildet hat, der Erste Prinz der Schwerter zu sein.«

Gawyn sah zur Seite.

»Du glaubst es nicht, oder?«, fragte sie.

»Was?«

»Dass ich die Amyrlin bin«, sagte sie. »Du akzeptierst meine Position nicht.«

»Ich versuche es«, erwiderte er und sah sie wieder an. » Aber verdammte Asche, Egwene. Als wir uns trennten, warst du gerade mal eine Aufgenommene, und das ist nicht so lange her. Jetzt haben sie dich zur Amyrlin ernannt? Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

»Und du verstehst nicht, wie deine Unsicherheit alles untergräbt, was wir zusammen haben könnten?«

»Ich kann mich ändern. Aber du musst mir dabei helfen.«

»Was der Grund dafür war, dass ich später reden wollte«, sagte sie. » Lässt du mich jetzt vorbei?«

Mit offensichtlichem Zögern trat er zur Seite. »Wir sind mit diesem Gespräch noch nicht fertig«, warnte er. »Ich bin endlich zu einer Entscheidung gekommen, und ich habe nicht vor, sie jetzt zu verwerfen.«

»Schön«, sagte Egwene und ging an ihm vorbei. »Darüber kann ich jetzt nicht nachdenken. Ich muss gehen und Menschen, die mir viel bedeuten, den Befehl geben, eine andere Gruppe von Menschen, die mir viel bedeuten, niederzumetzeln. «

»Dann wirst du es also tun?«, fragte er hinter ihr. »Im Lager wird darüber spekuliert. Ich habe davon gehört, obwohl ich mich heute Morgen kaum von der Stelle bewegt habe. Viele glauben, du wirst Bryne den Angriff auf die Stadt befehlen.«

Sie zögerte.

»Es wäre eine Schande, sollte es dazu kommen«, fuhr er fort. »Tar Valon ist mir völlig egal, aber ich glaube zu wissen, welche Auswirkungen ein Angriff auf dich hätte.«

Sie drehte sich zu ihm um. »Ich werde tun, was getan werden muss, Gawyn«, sagte sie und erwiderte seinen Blick. »Zum Besten der Aes Sedai und der Weißen Burg. Selbst wenn es schmerzhaft ist. Selbst wenn es mich innerlich zerreißt. Ich werde es tun, wenn es getan werden muss. Immer.«

Er nickte langsam. Sie ging auf den Pavillon in der Mitte des Lagers zu.

»Das war Euer Fehler, Jesse«, sagte Adelorna. Ihre Augen waren noch immer gerötet; in der vergangenen Nacht hatte sie einen Behüter verloren. Da war sie eine von vielen. Aber sie war auch so zäh wie ein Jagdhund, und sie war offensichtlich entschlossen, sich ihren Schmerz nicht anmerken zu lassen.

Jesse Bilal wärmte die Hände an einer Tasse Stachelbeertee und dachte nicht daran, sich ködern zu lassen. Adelornas Bemerkung war unausweichlich gewesen. Und vielleicht verdiente sie die Rüge ja sogar. Natürlich verdienten sie sie alle, auf die eine oder andere Weise. Vielleicht mit Ausnahme von Tsutama, die zu der Zeit keine Ajah angeführt hatte. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte man die Frau nicht zu diesem besonderen Treffen eingeladen. Das und die Tatsache, dass die Rote Ajah im Moment bei den anderen nicht gut gelitten war.

Der enge Raum war kaum groß genug für fünf Stühle und den kleinen Ofen an der Wand, der eine wohlige Wärme verströmte. Es war nicht genug Platz für einen Tisch, geschweige denn einen Kamin. Nur genug Platz für fünf Frauen. Die fünf mächtigsten Frauen der Welt. Und die fünf dümmsten, wie es den Anschein hatte.

An diesem Morgen waren sie eine traurige Schwesternschaft, am Morgen nach der größten Katastrophe in der Geschichte der Weißen Burg, fesse sah die Frau neben sich an. Ferane Neheran - die Erste Denkerin der Weißen - war eine kleine stämmige Frau, die oft mehr Temperament als Logik zu haben schien, was für eine Weiße seltsam war. Heute war einer dieser Gelegenheiten: Sie saß mit finsterem Blick und verschränkten Armen da. Eine Tasse Tee hatte sie abgelehnt.

Neben ihr saß Suana Dragand, die Erste Weberin der Gelben Ajah. Sie bestand nur aus Haut und Knochen, war aber unbeugsam. Dann kam Adelorna, die eben Jesse beschuldigt hatte. Wer konnte dem Generalhauptmann der Grünen wegen ihrer Gehässigkeit einen Vorwurf machen? Sie, die Elaida hatte prügeln lassen und die vergangene Nacht beinahe durch die Hand der Seanchaner den Tod gefunden hatte? Die schlanke Frau sah seltsam ungepflegt aus. Ihr Haar war zu einem einfachen Knoten zurückgebunden, ihr helles Kleid zerknittert.

Die letzte Frau im Raum war Serancha Colvine, die Erste Schreiberin der Grauen Ajah. Sie hatte hellbraune Haare und ein spitzes Gesicht; sie erweckte immer den Eindruck, als hätte sie gerade in etwas Saures gebissen. Heute erschien dieser Charakterzug noch ausgeprägter als sonst zu sein.

»Sie hat da nicht unrecht, jesse«, sagte Ferane. Ihr logischer Ton stand in direktem Gegensatz zu ihrem offensichtlichen Groll. »Ihr wart diejenige, die diese Handlungsweise vorgeschlagen hat.«

»›Vorgeschlagen‹ trifft es nicht genau.« jesse trank einen Schluck. »Ich habe lediglich erwähnt, dass in einigen der … privateren Burgaufzeichnungen Berichte von Zeiten stehen, in denen die Anführerinnen der Ajahs anstelle der Amyrlin herrschten.« Das Dreizehnte Depositorium war den Anführerinnen der Ajahs bekannt, aber sie durften es nicht besuchen, solange sie nicht gleichzeitig Sitzende waren. Das hielt aber nur die wenigsten von ihnen davon ab, Sitzende zu schicken, um für sie Informationen zu holen. »Ich mag ja vielleicht die Botin gewesen sein, aber das ist oft die Rolle der Braunen. Keine von Euch hat gezögert, und man musste Euch nicht zu dieser Handlungsweise zwingen.«

Das rief ein paar schiefe Blicke hervor, und die Frauen fanden Gelegenheit, ihren Tee zu studieren, ja, sie waren alle darin verwickelt, und das wussten sie auch. Jesse würde nicht die Verantwortung für dieses Fiasko auf sich nehmen.

»Es bringt nichts, jemanden verantwortlich zu machen.« Suana versuchte ausgleichend zu wirken, auch wenn ihre Stimme voller Bitterkeit war.

» So leicht gebe ich mich nicht zufrieden «, knurrte Adelorna. Manche reagierten auf den Verlust eines Behüters mit Trauer, andere mit Wut. Es bestand kein Zweifel daran, wie Adelorna es machte. »Ein schwerer, sehr schwerer Fehler wurde begangen. Die Weiße Burg brannte, die Amyrlin wurde von Angreifern verschleppt, und der Wiedergeborene Drache streift noch immer ungehindert umher. Bald wird die ganze Welt über unsere Schande Bescheid wissen!«

»Und was bringt es, wenn wir uns gegenseitig Vorwürfe machen?«, erwiderte Suana. »Sind wir denn so kindisch, dass wir dieses Treffen damit verbringen, uns darüber zu streiten, wer hängen wird, in dem sinnlosen Versuch, uns unserer Verantwortung zu entziehen?«

Im Stillen dankte fesse der knochigen Gelben für ihre Worte. Natürlich war Suana die erste Anführerin einer Ajah gewesen, die jesses Plan zugestimmt hatte. Also war sie die nächste in der Reihenfolge des metaphorischen Hängens.

»Sie hat nicht unrecht.« Serancha nahm einen Schluck Tee. »Wir müssen miteinander Frieden schließen. Die Burg braucht Führung, und die werden wir nicht vom Saal bekommen. «

»Was teilweise ebenfalls unsere Schuld ist«, gab Ferane zu und sah aus, als sei ihr übel.

Das stimmte. Dabei war es als ein solch brillanter Plan erschienen. Sie waren nicht für die Spaltung der Burg verantwortlich gewesen oder für den aufgebrachten, rebellischen Auszug so vieler Frauen und die Erhebung einer neuen Amyrlin. Aber es hatten sich dadurch mehrere Gelegenheiten geboten. Die erste war am leichtesten zu ergreifen gewesen: Sitzende zu den Rebellen zu schicken, um sie in die richtige Richtung zu lenken und die Versöhnung zu beschleunigen. Man hatte die jüngsten unter den Sitzenden ausgewählt, ihr Ersatz in der Burg war nur für kurze Zeit gedacht gewesen. Die Anführerinnen der Ajahs waren davon überzeugt gewesen, diese lächerliche Rebellion mühelos wieder aus der Welt schaffen zu können.

Sie hatten sie nicht ernst genug genommen. Das war ihr erster Fehler gewesen. Der zweite war schlimmer. In der Vergangenheit hatte es in der Tat Phasen gegeben, in denen die Anführerinnen der Ajahs die Aes Sedai angeführt hatten und nicht der Amyrlin-Sitz oder der Saal der Burg. Natürlich hatte sich das hinter den Kulissen abgespielt, aber es war sehr erfolgreich gewesen. Allein die Amtszeit von Cemaile Sorenthaine wäre ein völliges Desaster gewesen, hätten sich die Anführerinnen der Ajahs nicht eingemischt.

Die derzeitige Situation war ähnlich erschienen. Die Tage vor der Letzten Schlacht waren eine ganz besondere Zeit, die eine ganz besondere Aufmerksamkeit erforderte. Aufmerksamkeit von Frauen mit unerschütterlichem rationalem Verstand und großer Erfahrung. Frauen, die selbstbewusst mit einer Stimme sprechen und den besten Kurs entscheiden konnten, ohne sich dabei in die Debatten zu verstricken, die es im Saal gab.

»An welchem Punkt haben wir uns geirrt, was meint ihr?«, fragte Serancha leise.

Die Frauen schwiegen. Keine von ihnen wollte offen zugeben, dass der Plan nach hinten losgegangen war. Adelorna lehnte sich mit verschränkten Armen zurück; in ihr brodelte es noch immer, aber wenigstens gab sie keine Beschuldigungen mehr von sich.

»Es war Elaida«, sagte Ferane. »Sie hat nie besonders … logisch gehandelt.«

»Sie war eine verfluchte Katastrophe, das war sie«, murmelte Adelorna finster.

»Es war mehr als das«, gab jesse zu. »Einfach Sitzende zu bestimmen, die wir kontrollieren konnten, um die zu ersetzen, die zu den Rebellen geschickt wurden, war eine gute Entscheidung, aber vielleicht war das zu offensichtlich. Die Frauen unserer eigenen Ajahs wurden misstrauisch; mir sind mehrere Kommentare von Frauen der Braunen bekannt. Wir sind keineswegs so unauffällig, wie es manche gern hätten.«

Serancha nickte. »Es roch nach Verschwörung«, sagte sie. »Das untergrub das Vertrauen der Frauen. Und dann waren da die Rebellen. Viel schwerer zu kontrollieren als gedacht.«

Die Frauen nickten. Wie auch jesse waren sie alle von der Annahme ausgegangen, dass die Rebellen mit der richtigen Anleitung den Rückweg zur Burg finden und um Vergebung bitten würden. Diese Spaltung hätte mit keinem größeren Schaden als dem einen oder anderen gekränkten Ehrgefühl enden sollen.

Aber sie hatten nicht damit gerechnet, wie zäh oder effektiv die Rebellen sein würden. Ein richtiges Heer, das mitten in einem Schneesturm am Ufer von Tar Valon auftauchte? Angeführt von einem der größten militärischen Genies dieses Zeitalters? Mit einer neuen Amyrlin und einer bestürzend effektiven Belagerung? Wer hätte mit so etwas rechnen sollen? Und einige der von ihnen ausgeschickten Sitzenden hatten angefangen, die Rebellen mehr zu unterstützen als die Weiße Burg!

Wir hätten niemals zulassen dürfen, dass Elaida die Blaue Ajah auflöst, dachte Jesse. Wäre das nicht geschehen, wären die Blauen vielleicht zur Rückkehr bereit gewesen. Aber das war eine solche Demütigung, dass sie sich stur stellten. Allein das Licht wusste, wie gefährlich das war; die historischen Aufzeichnungen waren voller Berichte, wie hartnäckig die Blauen sein konnten, um ihren Willen durchzusetzen, vor allem, wenn man sie in eine Ecke gedrängt hatte.

»Ich glaube, es ist Zeit zuzugeben, dass keine Hoffnung mehr besteht, unsere Pläne zu retten«, sagte Suana. »Stimmen mir da alle zu?«

»Ich stimme zu«, sagte Adelorna.

Eine Schwester nach der anderen nickte, Jesse eingeschlossen. Selbst in diesem Zimmer fiel es schwer, die Schuld einzugestehen. Aber es war Zeit loszulassen und mit dem Wiederaufbau zu beginnen.

»Das bringt aber seine eigenen Probleme mit sich«, sagte Serancha, deren Stimme nun ruhiger klang. Auch die anderen Frauen sahen nun etwa selbstsicherer aus. Sie vertrauten einander nicht, das tat keine der fünf, aber sie standen näher davor als jede andere Gruppierung im Saal, die über etwas Autorität verfügte.

»Man muss mit Sorgfalt handeln«, fügte Ferane hinzu. »Die Spaltung muss beendet werden.«

»Die Rebellion richtete sich gegen Elaida«, sagte Adelorna.

»Wenn sie nicht länger die Amyrlin ist, gegen wen soll man da noch rebellieren?«

»Also geben wir sie auf?«, fragte Jesse.

»Sie verdient es«, sagte Adelorna. »Sie hat stur darauf beharrt, dass die Seanchaner keine Bedrohung darstellen. Nun, jetzt zahlt sie selbst für ihre Dummheit.«

»Elaida ist nicht mehr zu retten«, fügte Ferane hinzu. »Der Saal hat das bereits besprochen. Die Amyrlin ist irgendwo in einer Horde seanchanischer Gefangener verschwunden, und wir haben weder die Möglichkeiten noch die Informationen für eine Rettungsaktion.«

Ganz zu schweigen davon, dass wir nicht das geringste Verlangen danach verspüren, fügte Jesse in Gedanken hinzu. Viele der Sitzenden, die diese Argumente vor dem Saal zur Sprache gebracht hatten, waren diejenigen gewesen, die Elaida zur Buße geschickt hatte. Jesse gehörte nicht dazu, aber sie vertrat ebenfalls die Ansicht, dass Elaida es nicht anders verdient hatte, und sei es auch nur für die Weise, wie sie die Ajahs aufeinander gehetzt hatte.

»Dann brauchen wir einen Ersatz«, sagte Serancha. »Aber wen?«

»Es muss eine starke Person sein«, meinte Suana. »Aber sie muss vorsichtig sein, nicht so wie Elaida. Jemand, um den sich die Schwestern scharen können.«

»Wie wäre es mit Saerin Asnobar?«, fragte Jesse. »In letzter Zeit hat sie ungewöhnliche Weisheit bewiesen, und sie ist allgemein beliebt.«

» Natürlich müsst Ihr eine Braune wählen «, sagte Adelorna.

»Und warum nicht?« Jesse war sprachlos. »Ich glaube, ihr alle habt gehört, wie erfolgreich sie vergangene Nacht während des Angriffs das Kommando übernommen hat?«

»Seaine Herimon hat ihren eigenen Widerstand angeführt«, sagte Ferane. »Ich bin der Meinung, es ist die Zeit für eine Frau als Anführerin gekommen, die sich nicht von ihren Gefühlen und ihrem Temperament leiten lässt. Jemand, der für eine rationale Führung sorgen kann.«

»Unfug«, sagte Suana. »Die Weißen sind zu gefühllos; wir wollen die Schwestern nicht entfremden, wir wollen sie zusammenbringen. Sie heilen! Eine Gelbe wäre da …«

»Ihr alle vergesst da etwas«, warf Serancha ein. »Was wird im Augenblick gebraucht? Eine Aussöhnung. Die Graue Ajah hat Jahrhunderte mit der Kunst der Verhandlung zugebracht. Wer könnte besser mit einer gespaltenen Burg und dem Wiedergeborenen Drachen umgehen?«

Adelorna umfasste die Armlehnen ihres Stuhls. Auch bei den anderen wuchs die Anspannung. Als Adelorna den Mund öffnete, um etwas zu sagen, kam Jesse ihr zuvor.

»Es reicht!«, rief sie aus. »Wollen wir uns bloß streiten, so wie es der Saal den ganzen Morgen lang getan hat? Jede Ajah preist ihre eigenen Mitglieder an, und die anderen stimmen gemeinsam dagegen?«

Wieder kehrte Schweigen in den Raum ein. Es stimmte; der Saal hatte stundenlang getagt und nur eine kurze Pause gemacht. Nicht eine Ajah war auch nur nahe dran, genug Unterstützung für eine ihrer Kandidatinnen zu bekommen. Die Sitzenden würden niemanden akzeptieren, der nicht aus ihrer eigenen Ajah kam; dazu gab es zu viele Animositäten zwischen ihnen. Beim Licht, was für ein Durcheinander!

»Idealerweise sollte es eine von uns fünf sein«, meinte Ferane. »Das würde Sinn machen.«

Die fünf Frauen sahen einander an, und Jesse konnte den anderen die Antwort darauf von den Augen ablesen. Sie waren die Anführerinnen der Ajahs, die mächtigsten Frauen auf der Welt. Im Augenblick war ihre Macht ausgeglichen, und auch wenn sie einander mehr vertrauten als anderen, würde keine von ihnen jemals zulassen, dass man die Anführerin einer anderen Ajah auf den Amyrlin-Sitz erhob. Es würde dieser Frau viel zu viel Macht in die Hand geben. Nach dem Scheitern ihres Plans bröckelte das Vertrauen.

»Wenn wir uns nicht bald entscheiden«, bemerkte Suana, »dann wird uns der Saal die Entscheidung abnehmen.«

»Pah«, winkte Adelorna ab. »Die sind so entzweit, dass sie sich nicht einmal darauf einigen könnten, welche Farbe der Himmel hat. Die Sitzenden haben doch keine Ahnung, was sie da tun.«

»Einige von uns haben wenigstens keine Sitzenden ausgesucht, die Jahre zu jung waren, um in den Saal zu gehören«, sagte Ferane.

»Ach ja?«, erwiderte Adelorna. »Und wie seid Ihr darum herumgekommen, Ferane? Indem Ihr Euch selbst zur Sitzenden erwählt habt?«

Ferane riss vor Wut die Augen weit auf. Es war keine gute Idee, diese Frau herauszufordern.

»Wir haben alle Fehler gemacht«, sagte jesse schnell. »Viele der Schwestern, die wir ausgesucht haben, waren eine unglückliche Wahl. Wir wollten Frauen, die genau das taten, was wir sagten, aber stattdessen bekamen wir einen Haufen sich zankender Kinder, die sich viel zu wichtig nahmen und viel zu unreif waren, um sich von ausgeglicheneren Stimmen beeinflussen zu lassen.«

Adelorna und Ferane starrten bewusst zur Seite.

»Und noch immer haben wir ein Problem«, sagte Suana. »Wir brauchen eine Amyrlin. Der Heilungsprozess muss schnell beginnen, ganz egal, was es kostet.«

Serancha schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt fällt mir keine Frau ein, die genügend Sitzende unterstützen würden.«

»Mir schon«, sagte Adelorna leise. »Sie wurde heute mehrmals im Saal erwähnt. Ihr wisst, wen ich meine. Sie ist jung, und ihre Umstände sind ungewöhnlich, aber im Augenblick ist alles ungewöhnlich.«

Suana runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht recht. Sie wurde erwähnt, das ist richtig, aber nur von denen, deren Motiven ich nicht traue.«

»Saerin scheint recht von ihr eingenommen zu sein«, gestand jesse ein.

»Sie ist zu jung«, sagte Serancha. »Haben wir uns nicht gerade erst noch Vorwürfe gemacht, weil wir Sitzende ausgesucht haben, denen die nötige Erfahrung fehlte?«

»Sie ist jung, ja«, meinte Ferane, »aber Ihr müsst zugeben, sie verfügt über eine gewisse … Ausstrahlung. Meiner Meinung nach hat sich niemand in der Burg Elaida so effektiv entgegengestellt wie sie. Und das, obwohl sie in dieser misslichen Position war!«

»Ihr kennt die Berichte über ihre Taten während des Angriffs«, sagte Adelorna. »Ich kann bestätigen, dass sie stimmen. Ich war die meiste Zeit davon bei ihr.«

Das ließ Jesse zusammenzucken. Ihr war nicht klar gewesen, dass Adelorna während des Kampfes auf der zweiundzwanzigsten Ebene gewesen war. » Sicherlich ist da etwas übertrieben worden.«

Adelorna schüttelte grimmig den Kopf. »Nein, das wurde es nicht. Es klingt unglaublich … aber … nun, es hat sich so abgespielt. Alles.«

»Die Novizinnen vergöttern sie beinahe«, sagte Ferane. »Wenn die Sitzenden niemanden akzeptieren werden, der aus einer anderen Ajah kommt, was ist mit einer Frau, die nie einer Ajah beigetreten ist? Eine Frau, die eine gewisse Erfahrung darin hat - ganz gleich, wie ungerechtfertigt auch immer -, die Position zu bekleiden, über die wir sprechen?«

lesse ertappte sich dabei, dass sie nickte. Aber wie hatte die junge Rebellin von Ferane und Adelorna solchen Respekt erwerben können?

»Ich weiß nicht«, sagte Suana. »Irgendwie erscheint das wie eine weitere übereilte Entscheidung.«

»Habt Ihr nicht selbst gesagt, dass wir die Burg heilen müssen, um welchen Preis auch immer?«, fragte Adelorna. »Fällt Euch eine bessere Methode ein, die Rebellen wieder zu uns zu holen?« Sie wandte sich Serancha zu. »Wie beschwichtigt man eine beleidigte Partei am besten? Überlässt man ihr nicht ein Stück Boden, erkennt an, was sie richtig gemacht hat?«

»Das ist wohl wahr«, gab Suana zu. Sie verzog das Gesicht, dann trank sie den Rest von ihrem Tee mit einem Schluck. » Beim Licht, aber sie hat recht, Serancha. Wir müssen es tun.«

Die Graue sah nacheinander jede von ihnen an. »Aber ihr seid hoffentlich nicht so dumm zu glauben, dass man diese Frau an der Nase herumführen kann, oder? Ich mache da nicht mit, wenn das nur wieder ein Versuch ist, eine weitere Marionette zu erschaffen. Dieser Plan ist gescheitert. Erbärmlich gescheitert.«

»Ich bezweifle, dass wir diese Situation noch einmal erleben«, sagte Ferane mit einem schmalen Lächeln. »Diese Person … ist nicht der Typ, der sich herumschubsen lässt. Seht euch doch nur an, wie sie mit Elaidas Einschränkungen umgegangen ist.«

»Ja«, gab Jesse zu ihrem eigenen Erstaunen zu. »Schwestern, wenn wir uns darauf einigen, dann wird das unserem Traum, aus den Schatten zu herrschen, ein Ende bereiten. Wir erheben eine starke Amyrlin, ob zum Guten oder Schlechten.«

»Ich persönlich halte das für eine ausgezeichnete Idee«, sagte Adelorna. » Es ist viel zu lange her.«

Und eine nach der anderen stimmte zu.


Siuan stand reglos unter den Ästen einer kleinen Eiche. Der Baum war vom Lager verschlungen worden, und sein Schatten war für Aufgenommene und Novizinnen der bevorzugte Ort fürs Mittagessen geworden. Im Augenblick war keine von ihnen anwesend; dieses eine Mal hatten die Schwestern erstaunlich gutes Urteilsvermögen bewiesen und ihnen Arbeiten zugewiesen, damit sie sich nicht um das Zelt versammelten, in dem der Saal tagte.

Und so stand Siuan allein da und sah zu, wie Sheriam den Eingang des großen Pavillons schloss. Seit Egwenes Rückkehr dufte sie wieder an den Sitzungen teilnehmen. Man konnte mühelos spüren, dass das Schutzgewebe gegen Lauscher gewebt wurde, dass die Zusammenkunft Versiegelt und neugierige Ohren ausgesperrt wurden.

Eine Hand fiel auf Siuans Schulter. Sie zuckte nicht zusammen; sie hatte Bryne näher kommen gefühlt. Der General schritt lautlos daher, obwohl dazu keine Notwendigkeit bestand. Er würde einen ausgezeichneten Behüter abgeben.

Er trat an ihre Seite, die Hand noch immer angenehm auf ihrer Schulter, und sie gestattete sich den Luxus, einen kleinen Schritt näher an ihn heranzurücken. Seine Größe und seine Verlässlichkeit fühlten sich gut neben ihr an. Wie das Wissen, dass, wie sehr der Himmel auch stürmte und das Meer wütete, der Rumpf abgedichtet und das Segel aus dem stärksten aller Tücher genäht war.

»Was wird sie ihnen sagen, was glaubt Ihr?«, fragte Bryne in gedämpftem Tonfall.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Möglicherweise verlangt sie ja meine Dämpfung.«

»Das bezweifle ich. Sie ist nicht der rachsüchtige Typ. Davon abgesehen weiß sie, dass Ihr das getan habt, was Ihr für richtig hieltet. Zu ihrem eigenen Besten.«

Siuan verzog das Gesicht. »Ungehorsam gefällt niemandem, am wenigsten der Amyrlin. Ich werde für vergangene Nacht bezahlen, Bryne. Ihr habt recht, dass es vermutlich nicht auf öffentliche Weise geschehen wird, aber ich fürchte, ich habe das Vertrauen des Mädchens verloren.«

»Und war es das wert?«

»Ja«, sagte Siuan. »Ihr war nicht bewusst, wie kurz diese Bande hier davor stand, ihr zu entgleiten. Und wir konnten nicht wissen, dass sie während des Angriffs in der Burg nicht ernsthaft in Gefahr war. Wenn mich meine Zeit in der Weißen Burg eines gelehrt hat, dann, dass es eine Zeit gibt, sich zu sammeln und zu planen, aber auch eine, in der man handeln muss. Man kann nicht immer abwarten, bis man Sicherheit hat.«

Sie konnte Brynes Lächeln durch den Bund fühlen. Beim Licht, es tat wirklich gut, wieder einen Behüter zu haben. Sie war sich gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie dieses tröstende Bündel an Gefühlen im Hinterkopf vermisst hatte. Die Stabilität. Männer dachten anders als Frauen, und Bryne betrachtete Dinge, die sie kompliziert und verblüffend fand, als unkompliziert und einfach. Triff deine Entscheidung und handle. Seine Art der Vernunft hatte eine hilfreiche Klarheit.

Nicht, dass er einfältig gewesen wäre - nur weniger dazu geneigt, bereits getroffene Entscheidungen zu hinterfragen.

»Und was ist mit dem anderen Preis?«, fügte er hinzu.

Sie konnte sein Zögern spüren, seine Sorge. Sie wandte sich ihm zu und lächelte ihn amüsiert an. »Gareth Bryne, Ihr seid ein Narr.«

Er runzelte die Stirn.

»Mit Euch den Bund einzugehen war nie ein Preis«, sagte sie. »Was auch immer diese Katastrophe sonst für Folgen haben wird, dieser Aspekt der nächtlichen Geschehnisse ist der reine Profit, soweit es mich angeht.«

Er kicherte. »Nun, dann muss ich mir besonders viel Mühe geben, dass meine zweite Forderung unvernünftig ist.«

Fischscheiße, dachte Siuan. Das hätte sie beinahe vergessen. Und es war völlig unwahrscheinlich, dass er das am Ende tat. »Und wann genau werdet Ihr mir diese unvernünftige Forderung abverlangen?«

Er antwortete nicht sofort, sondern schaute auf sie herunter und rieb sich das Kinn. »Wisst Ihr, ich glaube, ich verstehe Euch jetzt endlich, Siuan Sanche. Ihr seid eine Frau von Ehre. Es ist nur so, dass keine Anforderungen Euch jemals so viel abverlangen könnten, wie Ihr von Euch selbst verlangt. Ihr schuldet Eurem Pflichtgefühl eine so große selbst auferlegte Schuld, dass ich bezweifle, dass ein Sterblicher sie je begleichen könnte.«

»Das hört sich so an, als würdet Ihr mich als egozentrisch bezeichnen.«

»Immerhin vergleiche ich Euch nicht wieder mit einem Keiler.«

»Also haltet Ihr mich für egozentrisch!«, sagte sie. Verflucht! Vermutlich konnte er fühlen, dass ihr seine Behauptung tatsächlich zu schaffen machte, statt einfach nur als Argument im Raum zu stehen. Verflucht!

»Siuan Sanche, Ihr seid eine getriebene Frau«, sagte er. »Davon besessen, die Welt vor sich selbst zu retten. Darum könnt Ihr auch so mühelos einen Eid oder Befehl ignorieren.«

Siuan holte tief Luft. »Diese Unterhaltung wird ausgesprochen ermüdend, Gareth Bryne. Verratet Ihr mir nun diese andere Forderung, oder wollt Ihr mich zappeln lassen?«

Nachdenklich musterte er ihre versteinerte Miene. »Nun, ehrlich gesagt habe ich vor, von Euch zu verlangen, dass Ihr mich heiratet.«

Sie blinzelte überrascht. Beim Licht! Der Bund verriet ihr, dass das sein Ernst war.

»Aber erst, wenn Ihr das Gefühl habt, dass die Welt allein zurechtkommt. Vorher bin ich nicht damit einverstanden, Siuan. Ihr habt Euer Leben einer Sache gewidmet. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr das überlebt; wenn Ihr das dann hinter Euch habt, hoffe ich, dass Ihr bereit seid, Euer Leben etwas anderem zu widmen.«

Sie brachte ihre Fassungslosigkeit unter Kontrolle. Sie würde nicht zulassen, dass ein dummer Mann sie sprachlos machte. »Nun«, zwang sie sich zu sagen. »Wie ich sehe, habt Ihr ja doch ein gewisses Maß an Verstand. Wir werden sehen, ob ich dieser ›Forderung‹ zustimme oder nicht. Ich denke darüber nach.«

Bryne kicherte, als sie sich umdrehte, um den Pavillon zu beobachten und auf Egwene zu warten. Er konnte in ihrem Inneren die Wahrheit fühlen, genau wie sie bei ihm. Beim Licht! Jetzt wusste sie, warum die Grünen sooft ihre Behüter heirateten. Seine Zuneigung für sie zu fühlen, während sie das Gleiche für ihn fühlte, machte sie ganz schwindlig.

Er war ein Narr von Mann. Und sie war eine Närrin von Frau. Reumütig schüttelte sie den Kopf, aber sie erlaubte sich, sich leicht an ihn zu lehnen, während sie warteten, und er legte ihr wieder die Hand auf die Schulter. Zärtlich, nicht kräftig. Bereit zu warten. Er verstand sie tatsächlich.


Egwene stand vor einer Gruppe faltenloser Gesichter, die viel zu gut darin waren, ihre Nervosität zu verbergen. Dem Brauchtum zufolge hatte sie Kwamesa angewiesen, das Schutzgewebe gegen Lauscher zu weben, da die Graue mit der scharf geschnittenen Nase die Jüngste unter den Sitzenden in dem großen Zelt war. Da so wenig Plätze besetzt waren, sah es beinahe leer aus. Ein Dutzend Frauen, zwei von jeder Ajah - eigentlich hätten es drei von jeder Ajah sein müssen, aber sie alle hatten eine Sitzende mit der Abordnung zur Schwarzen Burg geschickt. Die Grauen hatten Delana bereits durch Naorisa Cambral ersetzt.

Zwölf Sitzende, Egwene und eine weitere Frau. Egwene sah Sheriam nicht an, die auf ihrem Platz an der Seite saß. Sie hatte bei ihrem Eintreten besorgt gewirkt. War sie darüber informiert, was Egwene wusste? Aber das war unmöglich. Wäre das der Fall gewesen, wäre sie nie zu der Zusammenkunft erschienen.

Dennoch machte das Wissen, dass sie da war - und das Wissen, was sie war -, Egwene nervös. Im Chaos des seanchanischen Angriffs hatte Siuan Sheriam nicht im Auge behalten können. Warum trug die Behüterin der Chroniken einen Verband an der linken Hand? Egwene glaubte ihr die Entschuldigung mit dem Reitunfall nicht, dass sich ihr kleiner Finger im Zaumzeug verheddert hatte. Warum hatte sie das Heilen abgelehnt? Verfluchte Siuan! Statt Sheriam im Auge zu behalten, war diese Frau losgezogen, um sie zu entführen!

Der Saal schwieg, die Frauen warteten auf Egwenes Reaktion auf ihre »Freiheit«. Romanda hatte das mit Grau durchzogene Haar zum Knoten gebunden und saß in ihrem gelben Kleid steif da. Sie troff förmlich vor Zufriedenheit, während Lelaine auf der anderen Seite des Raumes schmollte, während sie versuchte, Freude über Egwenes Rückkehr zu heucheln. Nach allem, was Egwene in der Weißen Burg durchgemacht hatte, erschien dieser Zank geradezu lächerlich kleinlich.

Egwene holte tief Luft, dann umarmte sie die Quelle. Es fühlte sich so gut an! Keine bittere Spaltwurzel, die ihre Macht zum Rinnsal verebben ließ, keine Notwendigkeit, durch andere Frauen zu greifen, um Stärke zu erhalten. Keine Notwendigkeit für ein Sa’angreal. So süß die Macht des Zepters auch gewesen war, aus sich selbst heraus stark zu sein war viel befriedigender.

Mehrere der Frauen bedachten ihre Handlung mit einem Stirnrunzeln, und nicht wenige von ihnen griffen beinahe reflexartig selbst nach der Quelle und sahen sich um, als würden sie nach einer Gefahr Ausschau halten.

»Dafür besteht keine Notwendigkeit«, wandte sich Egwene an die Frauen. »Noch nicht. Bitte lasst die Quelle los.«

Sie zögerten, akzeptierten sie aber augenscheinlich als Amyrlin. Bei einer nach der anderen erlosch die Macht. Egwene selbst ließ sie nicht los.

»Ich bin sehr froh, dass Ihr sicher zurückgekehrt seid, Mutter«, sagte Lelaine. Sie umging die Drei Eide, indem sie das Wort »sicher« hinzugefügt hatte.

»Danke«, erwiderte Egwene.

»Ihr sagtet, es gäbe wichtige Enthüllungen«, fügte Varilin hinzu. »Geht es um den Angriff der Seanchaner?«

Egwene griff in die Tasche an ihrem Gürtel und holte einen Gegenstand hervor. Ein glatter weißer Stab, an dessen Ende die Zahl Drei in der Schrift des Zeitalters der Legenden eingraviert war. Einige der Frauen keuchten auf.

Egwene webte Geist in den Stab, dann sprach sie mit klarer Stimme. »Ich schwöre, kein Wort zu äußern, das nicht der Wahrheit entspricht.« Sie fühlte, wie sich der Eid wie etwas Körperliches auf sie legte, wie ihre Haut förmlich enger wurde und kribbelte. Es fiel ihr leicht, es zu ignorieren; verglichen mit dem, was sie durchgemacht hatte, war der Schmerz bedeutungslos. »Ich schwöre, dass ich keine Waffe gestalte, mit der man jemand anderen töten kann. Ich schwöre, die Eine Macht niemals als Waffe zu benutzen, außer gegen Schattenfreunde und Schattengezücht, oder in Notwehr zur Verteidigung meines eigenen Lebens oder das meines Behüters oder einer anderen Schwester.«

Der Saal schwieg. Egwene löste ihr Gewebe auf. Ihre Haut fühlte sich so seltsam an! Als hätte sie jemand an Nacken und Rückgrat gepackt, sie zusammengerafft und an Ort und Stelle verschnürt.

»Niemand soll länger glauben können, dass ich vermeiden kann, mich an die Drei Eide zu halten«, verkündete sie. »Niemand soll länger sagen dürfen, ich sei keine richtige Aes Sedai. « Keine der Anwesenden erwähnte, dass sie die Prüfung zur Stola nicht abgelegt hatte. Darum würde sie sich an einem anderen Tag kümmern. »Und da ihr jetzt gesehen habt, wie ich den Eidstab benutzt habe und wisst, dass ich nicht lügen kann, werde ich euch etwas sagen. Während meines Aufenthalts in der Weißen Burg stattete mir eine Schwester einen Besuch ab und gestand mir, dass sie eine Schwarze Ajah war.«

Den Frauen quollen beinahe die Augen hervor, und einige keuchten leise auf.

»Ja«, sagte Egwene. »Ich weiß, dass wir nicht gern über sie sprechen, aber kann eine von uns ehrlich behaupten, dass die Schwarze Ajah nicht existiert? Könnt Ihr die Eide befolgen und sagen, dass Ihr nie die Möglichkeit - ja selbst die Wahrscheinlichkeit - in Betracht gezogen habt, dass Schattenfreunde unter uns weilen?«

Niemand wagte es. Trotz der frühen Stunde fühlte sich das Zelt heiß an. Stickig. Natürlich schwitzte keine von ihnen - sie kannten alle den uralten Trick, wie man das umging.

»Ja«, sagte Egwene. »Es ist beschämend, aber es ist eine Wahrheit, die wir als die Anführer unserer Schwesternschaft zugeben müssen. Nicht in der Öffentlichkeit, aber unter uns selbst lässt sich das nicht vermeiden. Ich habe erlebt, was Misstrauen und politisches Taktieren unter Menschen anrichten können. Ich werde nicht zulassen, dass uns dieselbe Krankheit ansteckt. Wir gehören verschiedenen Ajahs an, aber wir sind vereint in unserem Ziel. Wir müssen wissen, dass wir einander bedingungslos vertrauen können, weil es auf dieser Welt nur wenig gibt, dem man vertrauen kann.«

Egwene schaute auf den Eidstab in ihrer Hand, den sie sich in aller Frühe von Saerin geholt hatte. Sie strich mit dem Daumen darüber. Ich wünschte, du hättest ihn bei deinem Besuch finden können, Verin, dachte sie. Vielleicht hätte er dich nicht gerettet, aber ich hätte gern den Versuch unternommen. Ich könnte deine Hilfe brauchen.

Sie sah wieder auf. »Ich bin keine Schattenfreundin«, verkündete sie dem Raum. »Und ihr wisst, dass das keine Lüge sein kann.«

Die Sitzenden sahen verwirrt aus. Nun, sie würden es bald verstehen.

»Der Zeitpunkt ist gekommen, dass wir uns selbst beweisen«, fuhr Egwene fort. »Kluge Frauen in der Weißen Burg sind auf diese Idee gekommen, und ich beabsichtige, das auszudehnen. Jede von uns wird nacheinander den Eidstab dazu benutzen, sich von den Drei Eiden zu befreien, dann wird sie sie erneut leisten. Sobald wir alle gebunden sind, werden wir versprechen können, dass wir keine Diener des …«

Sheriam umarmte die Quelle. Damit hatte Egwene gerechnet. Sie rammte eine Abschirmung zwischen Sheriam und die Quelle und ließ die Frau aufkeuchen. Berana schrie entsetzt auf, und mehrere der Frauen umarmten die Quelle und schauten sich hektisch um.

Egwene erwiderte Sheriams Blick. Das Gesicht der Frau war beinahe so rot wie ihr Haar, und ihre Atmung hatte sich beschleunigt. Wie ein in die Falle gegangenes Kaninchen, dessen Bein in der Schlinge steckte und dessen Augen vor Furcht weit aufgerissen waren. Sie hielt ihre verbundene Hand umklammert.

Oh, Sheriam, dachte Egwene. Ich hatte so gehofft, dass sich Verin mit dir irrt.

»Egwene?«, fragte Sheriam voller Unbehagen. »Ich wollte bloß…«

Egwene trat vor. »Sheriam, seid Ihr eine Schwarze Ajah?«

»Was? Natürlich nicht!«

» Habt Ihr Umgang mit den Verlorenen?«

»Nein!«, sagte Sheriam und sah sich hektisch nach allen Seiten um.

»Dient Ihr dem Dunklen König?«

» Nein!«

»Hat man Euch von Euren Eiden entbunden?«

» Nein!«

»Habt Ihr rotes Haar?«

»Nein, natürlich nicht, wie kommt Ihr …« Sie erstarrte. Und vielen Dank für diesen Trick, Verin, dachte Egwene und seufzte in Gedanken.

Im Zelt wurde es sehr, sehr still.

»Ich habe mich natürlich versprochen«, sagte Sheriam und schwitzte nervös. »Ich wusste nicht, welche Frage ich da beantworte. Natürlich kann ich nicht lügen. Keine von uns kann …«

Sie verstummte, als Egwene den Eidstab hob. »Beweist es, Sheriam. Die Frau, die mich in der Burg besuchte, hat mir Euren Namen als Anführerin bei der Schwarzen Ajah genannt.«

Sheriam erwiderte Egwenes Blick. »Nun, dann«, sagte sie leise mit traurigem Blick. »Wer hat Euch denn besucht?«

»Verin Mathwin.«

»Sieh an, sieh an«, sagte Sheriam und setzte sich wieder. »Ich muss sagen, das hätte ich nie von ihr erwartet. Wie ist sie an den Eiden an den Großen Herrn vorbeigekommen?«

»Sie trank Gift«, erwiderte Egwene, und etwas verkrampfte sich in ihrem Herzen.

»Sehr schlau.« Die Frau mit den feuerroten Haaren nickte. »Ich könnte mich nie dazu überwinden, so etwas zu tun. Niemals …«

Egwene webte Fesseln aus Luft und hüllte Sheriam damit ein, dann verknüpfte sie die Gewebe. Sie wandte sich wieder den ungläubigen Frauen zu, die alle totenbleich waren. »Die Welt marschiert zur Letzten Schlacht«, sagte Egwene streng. »Erwartet Ihr, dass unsere Feinde uns in Ruhe gewähren lassen?«

»Wer noch?«, flüsterte Lelaine. »Wer wurde noch erwähnt?«

»Viele andere«, sagte Egwene. »Darunter auch Sitzende.«

Moria sprang auf und rannte zum Ausgang. Sie schaffte keine zwei Schritte. Ein Dutzend verschiedene Schwestern umgaben die ehemalige Blaue mit Abschirmungen und fesselten sie mit Geweben aus Luft. In Sekunden hing sie geknebelt da, und Tränen strömten ihr ovales Gesicht herunter.

Romanda schnalzte mit der Zunge und ging um die Frau herum. »Beide von den Blauen«, bemerkte sie. »Das war eine dramatische Weise, um Enthüllungen zu machen, Egwene.«

»Ihr werdet mich als ›Mutter‹ ansprechen, Romanda«, sagte Egwene und verließ das Podest. »Und es ist keineswegs seltsam, dass unter den Blauen hier eine größere Anzahl betroffen ist, da die ganze Ajah aus der Weißen Burg geflohen ist.« Sie hielt den Eidstab hoch. »Es gibt einen einfachen Grund, warum ich diese Enthüllung auf diese Weise machen musste. Wie hättet Ihr reagiert, hätte ich sie ohne jeden Beweis als Schwarze bezeichnet?«

Romanda nickte. »Ihr habt in beidem recht, Mutter«, gestand sie ein.

»Dann nehme ich an, dass Ihr nichts dagegen habt, die Eide als Erste erneut abzulegen?«

Romanda zögerte nur kurz, warf einen Blick auf die beiden mit Luft gefesselten Frauen. Beinahe jeder im Raum hielt die Quelle fest und betrachtete die anderen, als würden ihnen jeden Augenblick Schlangen statt Haaren wachsen.

Romanda nahm den Eidstab und tat, was man ihr befohlen hatte, entband sich von den Drei Eiden. Offensichtlich war der Prozess schmerzhaft, aber sie beschränkte sich auf einen kontrollierten zischenden Atemzug. Die anderen hielten sorgfältig nach einem Trick Ausschau, aber Romanda begab sich sofort daran, die Eide erneut abzulegen. Sie hielt Egwene den Eidstab hin. »Ich bin keine Schattenfreundin«, sagte sie. »Und ich war es auch nie.«

Egwene nahm den Eidstab entgegen. »Danke, Romanda. Lelaine, möchtet Ihr die Nächste sein?«

»Gern«, sagte die Blaue. Vermutlich verspürte sie das Bedürfnis, ihre Ajah zu verteidigen. Eine Frau nach der anderen entband sich von den Eiden - zischte oder keuchte dabei schmerzerfüllt auf -, schwor erneut und versicherte, keine Schattenfreundin zu sein. Bei jeder stieß Egwene einen stummen Seufzer der Erleichterung aus. Verin hatte zugegeben, dass es Schwestern gab, die sie nicht entlarvt hatte und dass Egwene möglicherweise unter den Sitzenden noch andere Schwarze entdeckte.

Als Kwamesa als Letzte den Eidstab an Egwene zurückgab und versicherte, keine Schattenfreundin zu sein, wich die Anspannung im Raum sichtlich.

»Sehr gut«, sagte Egwene und kehrte wieder ans Ende des Raumes zurück. »Von jetzt an machen wir weiter, als wären wir eine Person. Keinen Zank mehr. Keinen Streit mehr, jede von uns hat nur die besten Interessen der Weißen Burg und der Welt im Sinn. Zumindest wir zwölf haben Vertrauen zueinander.

Eine Säuberung ist nie leicht. Sie ist oft schmerzhaft. Heute haben wir uns gereinigt, aber was wir als Nächstes tun müssen, wird beinahe genauso schmerzhaft.«

»Ihr kennt … die Namen von vielen anderen?«, fragteTakima und sah dieses eine Mal kein bisschen gedankenverloren aus.

»Ja«, sagte Egwene. »Insgesamt über zweihundert, aus jeder Ajah. In diesem Lager sind ungefähr siebzig von ihnen. Ich habe die Namen.« Noch in der Nacht hatte sie Verins Bücher aus ihrem Zimmer geholt. Jetzt lagen sie unsichtbar in ihrem Zelt. »Ich schlage vor, dass wir sie gefangen nehmen, auch wenn das schwierig werden wird, weil wir sie alle möglichst gleichzeitig ergreifen müssen.« Abgesehen von dem Überraschungsmoment würde ihr größter Vorteil die grundsätzlich misstrauische Natur der Schwarzen Ajah sein. Verin und andere Quellen waren davon ausgegangen, dass nur wenige Schwestern der Schwarzen mehr als eine Handvoll anderer Namen kannte. In dem Buch stand eine ganze Abhandlung über die Organisationsstruktur der Schwarzen Ajah und ihrem als »Herzen« bekannten System, die nur wenig miteinander zu tun hatten, um die Tarnung zu wahren. Mit etwas Glück würde dieses System dafür sorgen, dass sie nur langsam begriffen, was mit ihnen geschah.

Die Sitzenden sahen entmutigt aus. »Als Erstes behaupten wir, jeder Schwester wichtige Neuigkeiten mitteilen zu müssen, die die Soldaten im Lager aber auf keinen Fall mitbekommen dürfen. Wir rufen die Schwestern den Ajahs nach in diesen Pavillon - er ist groß genug für zweihundert Personen. Ich werde jeder von Euch die Namen der Schwarzen mitteilen. Wenn jede Ajah eintritt, wiederhole ich vor ihnen, was ich Euch gesagt habe, und befehle ihnen, einen neuen Eid auf den Eidstab abzulegen. Wir werden bereit sein, die Schwarzen Schwestern zu ergreifen, die zu fliehen versuchen. Wir fesseln sie und bringen sie im Audienzzelt unter.« Das kleinere Zelt war mit dem Saal verbunden, und der Eingang konnte versperrt werden, sodass die eintretenden Schwestern die Gefangenen nicht sehen würden.

»Wir müssen etwas wegen den Behütern unternehmen«, sagte Lelaine grimmig. »Am besten begleiten sie ihre Schwestern, und wir bereiten uns darauf vor, sie zu ergreifen.«

»Einige von ihnen werden Schattenfreunde sein«, sagte Egwene. »Aber nicht alle. Und ich weiß nicht, wer einer ist.« Verin hatte dazu ein paar Notizen niedergeschrieben, aber unglücklicherweise waren sie nicht sehr ergiebig.

»Beim Licht, was für ein Schlamassel«, murmelte Romanda.

»Es muss getan werden«, sagte die hochmütige Berana mit einem Kopfschütteln.

»Und es muss schnell geschehen«, sagte Egwene. »Damit die Schwarzen Schwestern keine Gelegenheit zur Flucht haben. Ich werde Lord Bryne anweisen, für alle Fälle aus Bogenschützen und vertrauenswürdigen Schwestern einen Grenzstreifen um das Lager zu ziehen und jeden aufzuhalten, der fliehen will. Aber das wird nur bei denen funktionieren, die zu schwach für Wegetore sind.«

»So weit dürfen wir es nicht kommen lassen«, sagte Lelaine. »Ein Krieg im Lager …«

Egwene nickte.

»Und was ist mit der Weißen Burg?«, wollte Lelaine wissen.

»Sobald wir uns gereinigt haben«, sagte Egwene, »können wir tun, was getan werden muss, um die Aes Sedai wieder zu vereinigen.«

»Ihr meint…«

»Ja, Lelaine. Noch heute Abend will ich mit dem Angriff auf Tar Valon beginnen. Sagt es weiter und unterrichtet Lord Bryne, seine Männer vorzubereiten. Die Neuigkeit wird die Schwarzen unter uns ablenken, und sie werden nicht so schnell erkennen, was wir tun.«

Romanda sah Sheriam und Moria an, die an der Zeltwand in der Luft hingen und hemmungslos weinten, geknebelt mit Luft. »Es muss getan werden. Ich stelle vor dem Saal den Antrag, so zu handeln, wie die Amyrlin vorgeschlagen hat.«

Im Zelt wurde es still. Dann stand eine Frau nach der anderen langsam auf und gab ihre Stimme ab. Das Ergebnis war einstimmig.

»Das Licht bewahre uns«, flüsterte Lelaine. »Und es vergebe uns für das, was wir tun werden.«

Ganz meine Meinung, fügte Egwene in Gedanken hinzu.

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