PROLOG Der Sturm und seine Bedeutung

Renald Fanwar saß auf der Veranda und wärmte den stabilen Stuhl aus Schwarzeiche, den sein Enkel für ihn vor zwei Jahren gezimmert hatte. Er starrte nach Norden.

Auf die schwarzen und silbernen Wolken.

So hatte er sie noch nie zuvor gesehen. Sie bedeckten den gesamten Horizont im Norden, hoch oben am Himmel. Sie waren nicht grau. Sie waren schwarz und silbern. Finstere, wogende Donnerwolken, so dunkel wie der Gemüsekeller um Mitternacht. Zwischen ihnen zuckte helles silbernes Licht, Blitze, die keinen Laut verursachten.

Die Luft war dick. Erfüllt von den Gerüchen nach Staub und Dreck, nach getrockneten Blättern und Regen, der nicht fallen wollte. Der Frühling war gekommen. Trotzdem wuchs Renalds Getreide nicht. Nicht ein Keimling hatte es gewagt, aus dem Erdboden zu sprießen.

Er stand langsam auf; ließ Holz ächzen und den Stuhl sanft hinter ihm schaukeln. Gemächlichen Schrittes trat er an den Verandarand. Er kaute auf seiner Pfeife herum, obwohl ihre Glut erloschen war. Er hatte keine Lust, sie wieder zu entzünden. Diese Wolken lähmten ihn. Diese Wolken waren so schwarz. Wie der Rauch eines Waldbrandes, aber kein Waldbrandrauch stieg je so hoch in den Himmel. Und was sollte man von silbernen Wolken halten? Sie quollen zwischen den schwarzen hervor, erinnerten an Stellen aus poliertem Stahl auf rußverschmiertem Metall.

Er rieb sich das Kinn, betrachtete seinen Vorgarten. Ein kleiner, weißgetünchter Zaun umgab ein Stück Land voller Gras und Büschen. Die Büsche waren abgestorben, jeder Einzelne von ihnen. Hatten den Winter nicht überstanden. Er musste sie bald herausziehen. Und das Gras ... nun, das Gras war noch immer Wintergras. Nicht einmal Unkraut war gesprossen.

Ein Donnerschlag erschütterte ihn. Rein und durchdringend, wie ein gewaltiger Aufprall von Metall auf Metall. Er erschütterte die Fenster des Hauses, ließ die Verandabohlen erbeben, schien selbst Renalds Knochen vibrieren zu lassen.

Er machte einen Satz zurück. Dieser Einschlag war nahe gewesen - vielleicht sogar auf seinem Besitz. Es juckte ihn in den Fingern, hinauszugehen und den Schaden zu inspizieren. Blitzfeuer konnte einen Mann vernichten, ihn von seinem Land brennen. Hier oben in den Grenzlanden dienten so viele Dinge unbeabsichtigterweise als Zündstoff - trockenes Gras, trockene Dachschindeln, trockenes Saatgut.

Aber noch waren die Wolken in der Ferne. Dieser Einschlag konnte nicht auf seinem Grund und Boden stattgefunden haben. Die silbernen und schwarzen Gewitterwolken rollten und brodelten, verschlangen einander.

Renald schloss die Augen, beruhigte sich, holte tief Luft. Hatte er sich den Donner nur eingebildet? Hatte er nicht mehr alle Becher im Schrank, wie Gaffin immer scherzte? Er öffnete die Augen.

Und die Wolken waren genau hier, direkt über seinem Haus.

Es war, als wären sie unversehens nach vorn gerollt, um zuzuschlagen, während sein Blick abgewandt gewesen war. Jetzt dominierten sie den Himmel, flogen in alle Richtungen, waren massiv und überwältigend. Er vermochte förmlich zu spüren, wie ihr Gewicht die Luft in die Tiefe drückte. Er nahm einen Atemzug, der sich mit einem Mal schwül und feucht anfühlte, Schweiß trat auf seine Stirn.

Die Wolken bewegten sich heftig, tiefschwarze und silberne Gewitterwolken schüttelten sich vor weißen Eruptionen. Plötzlich brodelten sie wie der Wolkenschlauch eines Wirbelwindes in die Tiefe, auf Renald zu. Er schrie auf, hob eine Hand, wie ein Mann vor einem grellen Lichtstrahl. Diese Finsternis. Diese endlose, erstickende Finsternis. Sie würden ihn verschlingen. Das wusste er.

Und dann waren die Wolken verschwunden.

Seine Pfeife landete leise auf der Veranda, sprühte in hohem Bogen brennenden Tabak auf die Stufen. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, dass er sie hatte fallen lassen. Er zögerte, schaute in den leeren blauen Himmel, erkannte, dass er wegen nichts zusammengezuckt war.

Die Wolken befanden sich wieder am Horizont, vierzig Meilen entfernt. Leises Grollen ertönte.

Mit zitternder, altersfleckiger und von Jahren in der Sonne braun gebrannter Hand hob er seine Pfeife auf. Nur eine Sinnestäuschung, Renald, sagte er sich. Du hast nicht mehr alle Becher im Schrank, so wahr Eier Eier sind.

Es war nur das Getreide. Darum war er nervös. Auch wenn er den Jungs mit seinen Worten Mut machte, es war einfach nicht natürlich. Mittlerweile hätte es sprießen müssen. Er bestellte dieses Land seit vierzig Jahren! Gerste brauchte nicht so lange, um zu sprießen. Sollte man ihn doch zu Asche verbrennen, aber das tat sie nicht. Was ging in diesen Tagen nur auf der Welt vor? Man konnte sich nicht mehr darauf verlassen, dass Pflanzen wuchsen, und Wolken blieben nicht dort, wo sie hingehörten.

Er zwang sich, wieder auf dem Stuhl Platz zu nehmen. Seine Beine zitterten. Ich werde alt, dachte er.

Sein ganzes Leben hatte er auf dem Hof gearbeitet. Es war nicht einfach, in den Grenzlanden einen Hof zu bewirtschaften, aber wenn man hart arbeitete, konnte man sich ein erfolgreiches Leben aufbauen, während man kräftiges Getreide wachsen ließ. »Ein Mann hat so viel Glück, wie er Saatgut auf dem Feld hat«, pflegte sein Vater immer zu sagen.

Nun, Renald war einer der erfolgreichsten Bauern in der Gegend. Er hatte genug erwirtschaftet, um die beiden Nachbarhöfe zu kaufen, und er konnte jeden Herbst dreißig Wagen zum Markt fahren. Für ihn arbeiteten jetzt sechs gute Männer, die die Felder pflügten und die Zäune abritten. Natürlich musste er jeden Tag selbst in den Mist steigen und ihnen zeigen, wie gute Bauernarbeit aussah. Man durfte nicht zulassen, dass einen ein kleiner Erfolg verdarb.

Ja, er hatte das Land bearbeitet, das Land gelebt, wie sein Vater immer zu sagen pflegte. Er verstand das Wetter so gut wie jeder andere Bauer. Diese Wolken waren nicht natürlich. Sie grollten leise, wie ein Tier in einer dunklen Nacht. Warteten. Lauerten im nahe gelegenen Wald.

Ein weiterer zu nah erscheinender Donnerschlag ließ ihn zusammenzucken. Waren diese Wolken vierzig Meilen weit weg? Hatte er das tatsächlich gedacht? Sah eher wie zehn Meilen aus, jetzt, wo er sie genauer betrachtete.

»Wird nicht so sein«, murmelte er. Seine eigene Stimme klang gut in seinen Ohren. Real. Es war schön, etwas anderes als das Grollen und das gelegentliche Quietschen von Fensterläden im Wind zu hören. Müsste er eigentlich nicht Auaine drinnen hören, die das Mittagessen auf den Tisch stellte?

»Du bist müde. Das ist es. Müde.« Er griff in die Westentasche und holte seinen Tabaksbeutel hervor.

Von rechts kam ein leises Rumpeln. Zuerst hielt er es für den Donner. Aber das Rumpeln war zu beständig, zu regelmäßig. Das war kein Donner. Das waren Räder, die sich drehten.

Und tatsächlich erklomm ein großer Ochsenwagen Mallards Hügel, direkt im Osten. Renald hatte den Hügel selbst benannt. Jeder gute Hügel brauchte einen Namen. Die Straße hieß Mallards Straße. Warum also den Hügel nicht auch so nennen?

Er beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn, ignorierte die Wolken, als er mit zusammengekniffenen Augen zu dem Wagen hinüberspähte, versuchte das Gesicht des Kutschers zu erkennen. Thulin? Der Schmied? Wieso fuhr er einen Wagen, der bis zum Rand beladen war? Er sollte doch an seinem neuen Pflug arbeiten!

Obwohl Thulin schmal für einen Vertreter seines Handwerks war, war er dennoch doppelt so muskulös wie die meisten Hofarbeiter. Er hatte das dunkle Haar und die braune Haut eines Schienarers und rasierte sich nach ihrer Tradition, aber er trug nicht den Haarknoten oben auf dem Kopf. Thulins Familie mochte ja ihre Wurzeln bis zu Kriegern aus den Grenzlanden zurückverfolgen, aber er selbst war ein einfacher Junge vom Land wie der Rest von ihnen. Er betrieb die Schmiede drüben in Eichenwasser, fünf Meilen im Osten. Während langer Winternächte hatte Renald viele Partien Steine mit dem Schmied gespielt.

Thulin kam in die Jahre - er war nicht so alt wie Renald, aber die letzten Winter hatten ihn veranlasst, vom Ruhestand zu sprechen. Das Schmiedehandwerk war kein Handwerk für einen alten Mann. Natürlich galt das Gleiche für die Landwirtschaft. Gab es wirklich ein Handwerk für alte Männer?

Thulins Wagen näherte sich auf der Straße, kam auf Renalds Garten mit dem weißen Zaun zu. Na, das ist ja merkwürdig, dachte Renald. Hinter dem Wagen kam eine ordentliche Reihe an Tieren: fünf Ziegen und zwei Milchkühe. An den Wagen waren Lattenkisten mit schwarzen Hühnern festgebunden, und auf der Ladefläche türmten sich Möbel, Säcke und Fässer. Thulins jugendliche Tochter Mirala saß neben ihm auf dem Kutschbock, daneben seine Ehefrau, eine blonde Frau aus dem Süden. Sie war seit fünfundzwanzig Jahren Thulins Frau, aber Renald bezeichnete Gallanha noch immer als »das Mädchen aus dem Süden«.

Die ganze Familie saß auf dem Wagen, führte ihr gesamtes Nutzvieh mit sich. Offensichtlich waren sie auf der Reise. Aber wohin? Vielleicht ein Besuch bei Verwandten? Er und Thulin hatten schon seit ... oh, drei Wochen keine Partie Steine gespielt. Nicht viel Zeit für Besuche, da der Frühling kam und die Saat bestellt werden musste. Jemand würde die Pflüge reparieren und die Sensen schärfen müssen. Wer würde das übernehmen, wenn Thulins Schmiedeofen erlosch?

Renald stopfte eine Prise Tabak in die Pfeife, als Thulin den Wagen neben seinem Zaun anhielt. Er wollte ihn begrüßen, aber Thulin sprach zuerst.

»Meinen besten Amboss habe ich in Gallanhas altem Erdbeerfeld vergraben, Renald«, sagte der große Schmied. »Du weißt doch noch, wo das ist, oder? Ich habe meine besten Werkzeuge dazugelegt. Sie sind gut eingefettet und liegen in meiner besten Truhe, aufgereiht, damit sie trocken bleiben. Das sollte den Rost fernhalten. Jedenfalls eine Weile.«

Renald hielt mit der Pfeife inne. Wenn Thulin seinen Amboss vergrub ... nun, dann bedeutete das, dass er für längere Zeit nicht zurückkehren würde. »Thulin, was ...?«

»Wenn ich nicht zurückkehre«, sagte Thulin und schaute nach Norden, »würdest du meine Sachen ausgraben und dich darum kümmern? Verkauf sie an jemanden, der sie zu schätzen weiß, Renald. Ich will nicht, dass jeder X-beliebige auf diesem Amboss herumhämmert. Du weißt, dass ich zwanzig Jahre gebraucht habe, bis ich dieses Werkzeug beisammen hatte.«

»Aber Thulin!«, stammelte Renald. »Wo willst du hin?«

Thulin wandte sich ihm wieder zu, legte einen Arm auf das Verandageländer. Der Ausdruck in seinen braunen Augen war ernst. »Da zieht ein Sturm herauf«, sagte er. »Also dachte ich mir, ich muss nach Norden ziehen.«

»Ein Sturm?«, fragte Renald. »Du meinst den am Horizont? Thulin, der sieht schlimm aus - verbrennt meine Knochen, aber das tut er, doch es ist sinnlos, davor weglaufen zu wollen. Wir haben schon früher schlimme Stürme überstanden.«

»So einen nicht, alter Freund«, sagte Thulin. »Das ist nicht die Art von Sturm, die man ignoriert.«

»Thulin?«, fragte Renald. »Wovon sprichst du?«

Bevor er antworten konnte, rief Gallanha vom Kutschbock. »Hast du ihm das mit den Töpfen gesagt?«

»Ach ja«, bemerkte Thulin. »Gallanha hat diesen Satz Töpfe mit den Kupferböden poliert, die deiner Frau immer so gefallen haben. Sie stehen auf dem Küchentisch und warten auf Auaine, falls sie sie haben möchte.« Und nach diesen Worten nickte Thulin seinem Freund zu und ging zu seinem Wagen zurück.

Renald saß wie erschlagen da. Thulin war immer unverblümt gewesen; er zog es vor, das zu sagen, was er zu sagen hatte, und dann zur Tagesordnung überzugehen. Das gehörte zu den Dingen, die Renald so an ihm gefielen. Aber der Schmied konnte auch wie ein Felsblock durch eine Horde Schafe durch eine Unterhaltung rollen und alle verblüffen.

Renald stemmte sich eilig in die Höhe, legte die Pfeife auf den Stuhl und folgte Thulin zum Wagen. Soll man mich doch zu Asche verbrennen, dachte er, als er wieder das braune Gras und die toten Büsche sah. Er hatte so viel Arbeit in diesen Garten gesteckt.

Der Schmied überprüfte die Hühnerkisten, die an seinem Wagen festgebunden waren. Renald holte ihn ein und streckte die Hand aus, aber Gallanha lenkte ihn ab.

»Hier, Renald«, sagte sie vom Kutschbock. »Nimm die.« Sie hielt ihm einen Korb mit Eiern entgegen; eine Strähne ihres blonden Haares hatte sich aus ihrem Haarknoten gelöst. Renald nahm den Korb entgegen. »Gib sie Auaine. Ich weiß, dass euch wegen der Füchse im Herbst ein paar Hühner fehlen.«

Renald nahm die Eier. Einige waren weiß, einige braun. »Ja, aber wo wollt ihr denn hin, Gallanha?«

»Nach Norden, mein Freund«, sagte Thulin. Er ging an Renald vorbei und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich schätze, dort wird sich ein Heer sammeln. Man wird Schmiede brauchen.«

»Bitte«, sagte Renald und fuchtelte mit dem Eierkorb herum. »Nehmt euch doch wenigstens ein paar Minuten. Auaine hat gerade Brot in den Ofen geschoben, einen dieser dicken Honiglaibe, die ihr so mögt. Wir können das bei einem Spiel Steine besprechen.«

Thulin zögerte.

»Wir sollten besser aufbrechen«, sagte Gallanha leise. »Der Sturm kommt näher.«

Thulin nickte. »Du solltest vielleicht auch nach Norden kommen, Renald. Falls du dich dazu entscheidest, bring alles mit, was du kannst.« Er hielt inne. »Du kannst gut genug mit deinen Werkzeugen umgehen, um kleinere Metallarbeiten auszuführen, also nimm deine besten Sensen und mach Stangenwaffen daraus. Deine besten beiden Sensen; nimm nicht die zweitbesten oder drittbesten. Nimm deine besten, denn das wird die Waffe sein, die du benutzen wirst.«

Renald runzelte die Stirn. »Woher willst du wissen, dass dort ein Heer ist? Thulin, soll man mich doch zu Asche verbrennen, ich bin kein Soldat!«

Thulin fuhr fort, als hätte er nicht zugehört. »Mit einer Stangenwaffe kannst du jemandem vom Pferd ziehen und erstechen. Und wenn ich so darüber nachdenke, vielleicht kannst du die drittbesten doch nehmen und dir ein paar Schwerter schmieden.«

»Was verstehe ich denn davon, Schwerter zu schmieden? Oder wie man mit ein Schwert handhabt, was das angeht?«

»Du kannst es lernen«, sagte Thulin und wandte sich dem Norden zu. »Jeder wird gebraucht, Renald. Jeder. Sie kommen, um uns zu holen.« Er schaute wieder Renald an. »Ein Schwert ist gar nicht so schwer herzustellen. Du nimmst die Sense und machst sie gerade, dann nimmst du ein Stück Holz als Parierstange, damit die feindliche Klinge nicht nach oben rutscht und in deine Hand schneidet. Du brauchst dafür größtenteils nur Dinge, die du bereits hast.«

Renald blinzelte. Er hörte auf, Fragen zu stellen, konnte aber nicht aufhören, sie zu denken. Sie drängten sich in seinen Verstand wie eine Viehherde, die versuchte, sich einen Weg durch ein einziges Gatter zu erzwingen.

»Bring dein Vieh mit, Renald«, sagte Thulin. »Du wirst es essen - oder deine Männer werden es essen -, und du wirst die Milch brauchen. Und wenn nicht, wird es dort Männer geben, denen du Rindfleisch oder Hammelfleisch verkaufen kannst. Lebensmittel werden knapp sein, wo doch so viel verdirbt und die Winterlager beinahe leer sind. Bring alles mit, was du hast. Bohnen, Trockenobst, alles.«

Renald stützte sich auf sein Gartentor. Er fühlte sich schwach. Schließlich rang er sich nur eine Frage ab. »Warum?«

Thulin zögerte, dann trat er vom Wagen weg und legte Renald wieder eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid, dass ich so kurz angebunden bin. Ich ... nun, du weißt, wie ich mit Worten bin. Ich weiß nicht, was das für ein Sturm ist. Aber ich weiß, was er bedeutet. Ich habe nie ein Schwert gehalten, aber mein Vater hat im Aiel-Krieg gekämpft. Ich bin ein Grenzländer. Und dieser Sturm kündigt das Ende an, Renald. Wir müssen dort sein, wenn er losbricht.« Er verstummte, dann schaute er wieder nach Norden, betrachtete die sich ballenden Wolken wie ein Feldarbeiter eine Giftschlange, die er auf dem Feld entdeckte. »Das Licht helfe uns, mein Freund. Wir müssen dort sein.«

Und er nahm die Hand weg und stieg auf seinen Wagen. Renald schaute zu, wie sie die Ochsen antrieben und nach Norden fuhren. Er sah ihnen lange Zeit nach und fühlte sich wie benommen.

In der Ferne grollte der Donner wie ein Peitschenschlag und krachte gegen die Berge.

Die Tür des Bauernhauses öffnete und schloss sich. Auaine trat zu ihm, das graue Haar zum Knoten gebunden. Es wies nun schon seit Jahren diese Farbe auf; sie war frühzeitig ergraut, und Renald hatte diese Farbe immer gefallen. Es war eher silbern als grau. Wie die Wolken.

»War das Thulin?«, fragte Auaine und sah dem fernen Wagen nach, der Staub aufwirbelte. Eine einzelne schwarze Hühnerfeder schwebte über die Straße.

»Ja.«

»Und er ist nicht geblieben, nicht einmal zu einem Plausch?«

Renald schüttelte den Kopf.

»Oh, aber Gallanha hat Eier gebracht!« Sie nahm den Korb und fing an, die Eier in ihre Schürze umzuladen, um sie ins Haus zu tragen. »Sie ist so ein Schatz. Lass den Korb auf dem Boden stehen. Sie schickt bestimmt jemanden, der ihn holt.«

Renald starrte bloß nach Norden.

»Renald?«, fragte Auaine. »Was ist los mit dir, du alter Baumstumpf?«

»Sie hat ihre Töpfe für dich aufpoliert«, sagte er. »Die mit dem Kupferboden. Sie stehen auf ihrem Küchentisch. Sie gehören dir, wenn du sie willst.«

Auaine verstummte. Dann hörte er ein scharfes Knacken, und er schaute über die Schulter. Sie hatte die Schürze losgelassen, und Eier fielen zu Boden und zerbrachen.

In sehr ruhigem Tonfall fragte Auaine: »Hat sie sonst noch etwas gesagt?«

Er kratzte sich auf dem Kopf, wo nicht mehr viel Haare wuchsen. »Sie sagte, dass der Sturm kommt und sie nach Norden müssen. Thulin sagte, wir sollten auch gehen.«

Sie standen noch einen Moment so da. Auaine zog den Schürzenzipfel hoch und rettete die überwiegende Mehrzahl der Eier. Sie hatte keinen Blick für die übrig, die zu Boden gefallen waren. Sie starrte einfach nach Norden.

Renald drehte sich um. Der Sturm war wieder nach vorn gesprungen. Und irgendwie schien er dunkler geworden zu sein.

»Ich glaube, wir sollten auf sie hören«, sagte Auaine. »Ich ... ich packe zusammen, was wir aus dem Haus brauchen. Du kannst nach hinten gehen und die Männer einsammeln. Haben sie gesagt, wie lange wir weg sein werden?«

»Nein«, sagte er. »Sie haben nicht einmal einen vernünftigen Grund genannt. Nur dass wir wegen des Sturms nach Norden müssen. Und ... dass es das Ende ist.«

Auaine atmete scharf aus. »Nun, du kümmerst dich um die Männer. Ich kümmere mich um das Haus.«

Sie eilte hinein, und Renald wandte sich mit einer Willensanstrengung von dem Sturm ab. Er ging um das Haus herum und betrat den Scheunenhof, rief die Arbeiter zusammen. Es war ein kräftiger Haufen, alles gute Männer. Seine eigenen Söhne hatten ihr Glück anderswo gesucht, aber seine sechs Arbeiter standen ihm fast so nahe wie seine Söhne. Merk, Favidan, Rinnin, Veshir und Adamad versammelten sich um ihn. Renald schüttelte seine Benommenheit ab und schickte zwei los, das Vieh zusammenzutreiben, zwei weitere sollten das Getreide und die Lebensmittel zusammenpacken, die noch vom Winter übrig waren, und der letzte Mann sollte Geleni holen, der im Dorf neues Saatgut besorgen sollte, nur für den Fall, dass die Aussaat während ihrer Lagerung verdorben war.

Die Männer zogen los. Renald blieb noch einen Moment auf dem Scheunenhof stehen, dann ging er in die Scheune zu seinem Schmiedezeug und zog es ins Sonnenlicht hinaus. Es war nicht nur ein Amboss, sondern eine komplette Schmiede, die man transportieren konnte. Sie stand auf Rädern, man konnte nicht in einer Scheune schmieden. Der ganze Staub konnte Feuer fangen. Er zog an den Griffen und rollte sie zu dem Alkoven an der Hofseite, der aus guten Ziegeln gemauert war, wo er bei Bedarf kleinere Reparaturen ausführen konnte.

Eine Stunde später hatte er das Feuer geschürt. Er war nicht so geschickt wie Thulin, aber er hatte von seinem Vater gelernt, dass es einen großen Unterschied machte, wenn man selbst etwas schmieden konnte. Manchmal konnte man einfach nicht die Stunden verschwenden, die es dauerte, um ins Dorf zu gehen und zurückzukehren, bloß um ein gebrochenes Scharnier zu richten.

Die Wolken waren immer noch da. Er versuchte sie zu ignorieren, als er den Schmiedeofen verließ und zur Scheune ging. Diese Wolken waren wie Augen, die ihm über die Schulter blickten.

In der Scheune drang Licht durch die Spalten in den Wänden, fiel auf Staub und Heu. Er hatte sie vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren selbst gebaut. Eigentlich hatte er schon länger die verzogenen Dachbohlen ersetzen wollen, aber jetzt würde dafür keine Zeit mehr sein.

An der Werkzeugwand griff er nach seiner drittbesten Sense, hielt dann aber inne. Er holte tief Luft und nahm stattdessen die beste Sense von der Wand. Er ging zurück zum Schmiedeofen und schlug den Stiel von der Sense.

Als er das Holz zur Seite warf, kam Veshir - der Älteste der Hofarbeiter - mit zwei Ziegen heran. Als Veshir das Sensenblatt auf dem Amboss sah, verfinsterte sich seine Miene. Er band die Ziegen an einem Pfosten an, dann ging er zu Renald, sagte aber kein Wort.

Wie stellte man eine Stangenwaffe her? Thulin hatte gesagt, dass man damit einen Mann gut vom Pferd reißen konnte. Nun, er würde den Sensenstiel durch einen längeren und geraden Eschenholzschaft ersetzen müssen. Das Schaftende würde über die Klinge hinausragen und zu einer primitiven Speerspitze geformt, die man mit einem Stück Zinnblech verstärkte. Und dann würde er das Sensenblatt erhitzen und ungefähr bis zur halben Höhe ein Stück aus der Oberseite herausschlagen, um einen Haken zu machen, mit dem man einen Mann vom Pferd ziehen und ihn vielleicht gleichzeitig schneiden konnte. Er schob das Sensenblatt in die glühenden Kohlen, um es zu erhitzen, dann band er sich die Schürze um.

Veshir sah ihm kurz zu. Dann trat er heran und nahm ihn beim Arm. »Renald, was machen wir hier überhaupt?«

Renald schüttelte den Arm frei. »Wir gehen nach Norden. Der Sturm kommt, und wir gehen nach Norden.«

»Wir gehen bloß wegen eines Sturms nach Norden? Das ist Wahnsinn!«

Fast das Gleiche hatte Renald zu Thulin gesagt. In der Ferne donnerte es.

Thulin hatte recht. Das Getreide ... der Himmel ... die Nahrung, die ohne Vorwarnung verdarb. Renald hatte es gewusst, schon vor dem Gespräch mit Thulin. Tief in seinem Inneren hatte er es gewusst. Dieser Sturm würde nicht über ihren Köpfen vorbeiziehen und dann wieder verschwinden. Man musste ihm ins Auge sehen.

»Veshir«, sagte er und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Du arbeitest hier jetzt schon seit ... wie lange? Fünfzehn Jahre? Du bist der erste Mann, den ich eingestellt habe. Wie gut habe ich dich und deinesgleichen behandelt?«

»Du warst gut zu mir«, erwiderte Veshir. »Aber Renald, du hast noch nie zuvor entschieden, den Hof zu verlassen! Diese Feldfrüchte, sie werden zu Staub, wenn wir sie zurücklassen. Das ist kein südlicher Feuchthof. Wie können wir da einfach gehen?«

»Weil«, sagte Renald, »wenn wir bleiben, wird es keine Rolle spielen, ob wir ausgesät haben oder nicht.«

Veshir runzelte die Stirn.

»Sohn«, sagte Renald, »du wirst tun, was ich sage, und damit ist diese Diskussion beendet. Hol das Vieh.«

Veshir ging langsam los, aber er tat, was man ihm befohlen hatte. Er war ein guter Mann, vielleicht etwas heißblütig.

Renald zog das Sensenblatt aus der Hitze; das Eisen glühte weiß. Er legte es auf den kleinen Amboss und fing an, auf den knubbeligen Teil einzuhämmern, wo sich Rücken und Hamme trafen. Der Klang seines Hammers auf dem Eisen erschien lauter, als er hätte sein sollen. Als wäre jeder Schlag selbst ein Teil des Sturms.

Während er arbeitete, schienen die Donnerschläge Wörter zu formen. Als würde jemand in seinem Hinterkopf murmeln. Den gleichen Satz, immer wieder.

Der Sturm kommt. Der Sturm kommt ...

Er hämmerte weiter, bewahrte die Schneide, aber begradigte das Blatt und machte einen Haken am Ende. Er wusste noch immer nicht, warum er das eigentlich tat. Aber das spielte keine Rolle.

Der Sturm kam, und er musste bereit sein.

Falendre sah zu, wie die Soldaten mit den krummen Beinen Taneras in eine Decke gehüllte Leiche auf einem Sattel festbanden, und sie kämpfte das Verlangen nach neuen Tränen nieder. Sie war die Dienstälteste, und sie musste die Fassung bewahren, wenn sie von den vier anderen überlebenden Sul'dam das Gleiche erwarten wollte. Sie versuchte sich einzureden, dass sie Schlimmeres gesehen hatte, Schlachten, in denen mehr als eine Sul'dam gestorben war, mehr als eine Damane. Dieser Gedanke brachte sie zu nahe an die Erinnerung, wie Tanera und ihre Miri zu Tode gekommen waren, und ihr Verstand schreckte davor zurück.

Nenci kauerte an ihrer Seite und wimmerte, als Falendre den Kopf der Damane streichelte und sich bemühte, beruhigende Gefühle durch das A'dam zu schicken. Das schien oft zu funktionieren, heute aber nicht so gut. Ihre eigenen Gefühle waren viel zu sehr in Aufruhr. Könnte sie doch nur vergessen, dass die Damane abgeschirmt war und von wem. Von was. Nenci wimmerte wieder.

»Du wirst die Botschaft ausrichten, wie ich sie dir aufgetragen habe?«, sagte ein Mann hinter ihr.

Nein, mehr als ein Mann. Der Klang seiner Stimme wühlte die Säure in ihrem Bauch auf. Sie zwang sich dazu, sich ihm zuzuwenden, zwang sich dazu, den Blick aus diesen kalten, harten Augen zu erwidern. Sie veränderten sich, so wie er den Kopf hielt, waren blau, dann grau, aber immer wie polierte Edelsteine. Sie hatte viele harte Männer kennengelernt, aber niemals hatte sie einen gekannt, der hart genug war, um eine Hand zu verlieren und sich im nächsten Augenblick so zu verhalten, als hätte er nur einen Handschuh verloren. Sie verneigte sich förmlich, riss an dem A'dam, damit Nenci ihrem Beispiel folgte. Unter diesen Umständen hatte man sie als Gefangene bislang gut behandelt, hatte ihnen sogar Wasser zum Waschen gegeben, und angeblich würden sie nicht mehr lange Gefangene bleiben. Aber wer vermochte bei diesem Mann schon zu sagen, was es brauchte, damit er sich anders entschied? Die verheißene Freiheit war möglicherweise nur Teil eines perfiden Plans.

»Eure Botschaft werde ich mit der Sorgfalt überbringen, die sie verlangt«, begann sie, dann geriet sie ins Schwimmen. Mit welchem Ehrentitel sprach sie ihn an? »Mein Lord Drache«, endete sie hastig. Die Worte ließen ihre Zunge austrocknen, aber er nickte, also musste es ausgereicht haben.

Eine der Marath'damane erschien durch dieses unmögliche Loch in der Luft, eine junge Frau mit einem langen Zopf. Sie trug genug Schmuck, um zum Blut zu gehören, und ausgerechnet einen roten Punkt in der Mitte ihrer Stirn. »Wie lange willst du hier bleiben, Rand«, verlangte sie zu wissen, als wäre der junge Mann mit den harten Augen nur ein Diener, statt der zu sein, der er war. »Wie weit sind wir hier von Ebou Dar entfernt? Dieser Ort wimmelt vor Seanchanern, das weißt du, und vermutlich fliegen überall Raken herum.«

»Hat Cadsuane dich geschickt, um das zu fragen?«, erwiderte er, und ihre Wangen röteten sich leicht. »Nicht mehr lange, Nynaeve. Ein paar Minuten.«

Die junge Frau richtete den Blick auf die anderen Sul'dam und Damane, die sich alle an Falendre orientierten und so taten, als würden sie nicht von Marath'damane bewacht und erst recht nicht von Männern in schwarzen Mänteln. Die anderen hatten sich so gut zurechtgemacht, wie sie konnten. Surya hatte sich das Blut vom Gesicht gewaschen, hatte auch das Gesicht ihrer Tabi gesäubert, und Malian hatte sie mit großen Kompressen versorgt, sodass sie nun aussahen, als würden sie seltsame Hüte tragen. Ciar hatte sich vom größten Teil des Erbrochenen säubern können, das sie über das Vorderteil ihres Kleides gespuckt hatte.

»Nach wie vor bin ich der Meinung, dass ich sie Heilen sollte«, sagte Nynaeve abrupt. »Schläge auf den Kopf können seltsame Dinge verursachen, die nicht sofort ersichtlich sind.«

Suryas Miene verhärtete sich, und sie schob Tabi hinter sich, als wollte sie die Damane beschützen. Als wäre sie dazu imstande gewesen. Tabis helle Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen.

Falendre hob flehend die Hand zu dem hochgewachsenen jungen Mann. Zu dem Wiedergeborenen Drachen, wie es den Anschein hatte. »Bitte. Sie erhalten medizinische Hilfe, sobald wir Ebou Dar erreichen.«

»Lass es gut sein, Nynaeve«, sagte der junge Mann. »Wenn sie nicht Geheilt werden wollen, dann wollen sie es nicht.« Die Marath'damane warf ihm einen finsteren Blick zu. Er wandte die Aufmerksamkeit wieder Falendre zu. »Die Straße nach Ebou Dar liegt eine Stunde östlich von hier. Wenn ihr euch beeilt, könnt ihr die Stadt bei Einbruch der Nacht erreichen. Die Abschirmungen der Damane lösen sich in etwa einer halben Stunde auf. Stimmt das für die mit Saidar gewobenen Schilde, Nynaeve?« Die Frau sah ihn immer noch finster und stumm an. »Ist das richtig, Nynaeve?«

»Eine halbe Stunde«, erwiderte sie schließlich. »Aber nichts davon ist richtig, Rand al'Thor. Diese Damane zurückzuschicken - das ist nicht richtig, und das weißt du.«

Für einen kurzen Moment blickten seine Augen noch kälter. Nicht härter. Das wäre unmöglich gewesen. Aber für diesen langen Augenblick hatte es den Anschein, als wären sie Eishöhlen. »Das Richtige zu tun war einfach, als ich mich nur um ein paar Schafe kümmern musste«, sagte er leise. »Heute ist es manchmal etwas schwieriger.« Er wandte sich von ihr ab und hob die Stimme. »Logain, schafft alle zurück durch das Wegetor. Ja, ja, Merise. Ich versuche nicht, Euch Befehle zu geben. Aber hättet Ihr die Güte, Euch zu uns zu gesellen? Es wird sich gleich schließen.«

Marath'damane, die, die sich Aes Sedai nannten, gingen nacheinander durch das verrückte Loch in der Luft, genau wie die Männer in den schwarzen Mänteln, die Asha'man; sie alle vermengten sich mit den Soldaten mit den Hakennasen. Ein paar von denen waren endlich damit fertig, Tanera auf dem Sattel des Pferdes festzubinden. Die Tiere waren von dem Wiedergeborenen Drachen bereitgestellt worden. Wie seltsam, dass er ihnen nach dem, was sich zugetragen hatte, Geschenke machte.

Der junge Mann mit den harten Augen wandte sich wieder Falendre zu. »Wiederhol deine Befehle!«

»Ich werde nach Ebou Dar zurückkehren mit einer Botschaft für unsere Anführer.«

»Der Tochter der Neun Monde«, sagte der Wiedergeborene Drache streng. »Du wirst ihr meine Botschaft überbringen.«

Falendre geriet ins Stocken. Sie war nicht einmal annähernd wert, zu einem Mitglied des Blutes zu sprechen, geschweige denn zur Hochlady, der Tochter der Kaiserin, mochte sie ewig leben! Aber der Ausdruck dieses Mannes erlaubte keinen Widerspruch. Falendre würde eine Möglichkeit finden. »Ich werde ihr Eure Botschaft übermitteln«, fuhr sie fort. »Ich werde ihr sagen, dass Ihr ... dass Ihr ihr diesen Angriff nicht nachtragt, und dass Ihr ein Treffen wünscht.«

»Dass ich noch immer ein Treffen wünsche«, sagte der Wiedergeborene Drache.

Falendres Kenntnis zufolge hatte die Tochter der Neun Monde nichts von dem ursprünglichen Treffen gewusst. Es war im Geheimen von Anath arrangiert worden. Und genau aus diesem Grund wusste Falendre mit Sicherheit, dass dieser Mann der Wiedergeborene Drache sein musste. Denn nur der Wiedergeborene Drache konnte einer der Verlorenen gegenübertreten und nicht nur überleben, sondern auch noch als Sieger aus dem Kampf hervorgehen.

War sie das tatsächlich gewesen? Eine der Verlorenen? Die Vorstellung drohte Falendres Verstand zu überwältigen. Unmöglich. Und doch, da stand der Wiedergeborene Drache. Wenn es ihn tatsächlich gab, wenn er auf der Welt wandelte, dann würden das auch die Verlorenen tun. Sie war wie benommen, ihre Gedanken drehten sich im Kreis, das war ihr bewusst. Sie unterdrückte ihr Entsetzen - damit würde sie sich später auseinandersetzen. Sie musste sich zusammenreißen.

Sie zwang sich, den Blick aus den eiskalten Edelsteinen, die dieser Mann anstelle von Augen hatte, zu erwidern. Sie musste sich einen kleinen Teil an Würde bewahren, und wenn auch nur, um die anderen vier überlebenden Sul'dam zu beruhigen. Und natürlich die Damane. Wenn die Sul'dam wieder die Fassung verloren, gab es für die Damane keine Hoffnung mehr.

»Ich werde ihr ausrichten«, sagte Falendre und schaffte es, die Stimme ruhig zu halten, »dass Ihr noch immer ein Treffen mit ihr wünscht. Dass Ihr der Meinung seid, dass Frieden zwischen unseren Völkern herrschen muss. Und ich soll ihr berichten, dass Lady Anath eine ... eine der Verlorenen war.«

Sie verfolgte, wie ein paar Marath'damane Anath in das Loch in der Luft stießen; trotz ihrer Gefangenschaft behielt sie ihr hochmütiges Gebaren bei. Sie hatte immer versucht, über ihre Stellung hinaus zu dominieren. Konnte sie wirklich das sein, was dieser Mann von ihr behauptete?

Wie sollte Falendre nur der Der'sul'dam gegenübertreten und diese Tragödie erklären, diese schreckliche Katastrophe? Sie verspürte den übermächtigen Drang, einen Ort zu finden, an dem sie sich verkriechen konnte.

»Wir müssen Frieden haben«, sagte der Wiedergeborene Drache. »Dafür werde ich sorgen. Richte deiner Herrin aus, dass sie mich in Arad Doman finden wird; ich werde dort dem Kampf gegen eure Streitkräfte ein Ende bereiten. Lass sie wissen, dass das ein Zeichen meines guten Willens ist, so wie ich euch aus gutem Willen freilasse. Es liegt keine Schande darin, von einer der Verlorenen hintergangen zu werden, vor allem nicht von dieser ... Kreatur. In gewisser Weise kann ich jetzt beruhigt sein. Stets hatte ich die Sorge, dass einer von ihnen den seanchanischen Adel unterwandert hat. Ich hätte mir denken können, dass es Semirhage ist. Eine Herausforderung hat sie immer zu schätzen gewusst.«

Er sprach mit einer unglaublichen Vertrautheit von den Verlorenen, und das bereitete Falendre eine Gänsehaut.

Er sah sie an. »Du darfst gehen«, sagte er, wandte sich ab und passierte den Riss in der Luft. Was hätte sie darum gegeben, diese Fortbewegungsmethode für Nenci zu haben. Die letzten Marath'damane betraten das Loch, und es schloss sich, ließ Falendre und die anderen allein zurück. Es war eine traurige Gruppe. Talha weinte noch immer, und Malian schien kurz davor zu stehen, sich zu übergeben. Einige der anderen hatten blutige Gesichter gehabt, bevor sie sich hatten waschen können, und noch immer befleckte verkrustetes Blut an einigen Stellen ihre Haut. Falendre war froh, dass sie es geschafft hatte, das Heilen für sie abzuwenden. Sie hatte gesehen, wie einer dieser Männer Mitglieder der Mannschaft des Drachen geheilt hatte. Wer vermochte schon zu sagen, welchen Makel man davontrug, wenn man sich von diesen verdorbenen Händen berühren ließ?

»Seid stark«, befahl sie den anderen, fühlte sich aber viel unsicherer, als sie klang. Er hatte sie tatsächlich freigelassen! Sie hatte kaum darauf zu hoffen gewagt. Es war das Beste, hier schnell zu verschwinden. Sehr schnell. Sie hetzte die anderen auf die Pferde, die er ihnen überlassen hatte, und schon wenige Minuten später ritten sie nach Süden, in Richtung Ebou Dar; jede Sul'dam ritt mit ihrer Damane an der Seite.

Die Geschehnisse dieses Tages bedeuteten möglicherweise, dass man ihr ihre Damane wegnahm, ihr verbot, jemals wieder das A'dam zu halten. Da Anath fort war, würde jemand eine Bestrafung fordern. Was würde Hochlady Suroth sagen? Damane tot, der Wiedergeborene Drache beleidigt.

Sicherlich würde der Verlust des Zugangs zum A'dam das Schlimmste sein, das ihr passieren konnte. Jemanden wie sie würde man doch bestimmt nicht zur Da'covale machen, oder etwa doch? Der Gedanke drehte ihr wieder den Magen um. Die Ereignisse dieses Tages würde sie sehr sorgfältig erklären müssen. Es musste eine Möglichkeit geben, wie sie diese Dinge auf eine Weise darstellte, die ihr Leben rettete.

Dem Drachen hatte sie ihr Wort gegeben, von Angesicht zu Angesicht mit der Tochter der Neun Monde zu sprechen. Und das würde sie. Aber sie würde es möglicherweise nicht sofort tun. Vorher war sorgfältiges Nachdenken erforderlich. Ausgesprochen sorgfältiges Nachdenken.

Falendre beugte sich nach vorn über den Pferdehals und trieb ihr Tier an, den anderen voraus. So würde keiner ihre Tränen der Verzweiflung, des Schmerzes und des Entsetzens sehen.

Tylee Khirgan, Generalleutnant des Immer Siegreichen Heeres, hatte ihr Pferd auf einem bewaldeten Hügel gezügelt und schaute nach Norden. Dieses Land war so anders. Ihre Heimat Maram Kashor war eine trockene Insel an der südöstlichsten Spitze von Seanchan. Die Lummabäume dort waren gerade, hoch aufragende Ungeheuer, aus deren Spitzen Wedel wie die Haarkrone eines Angehörigen des Hohen Blutes sprossen.

Verglichen damit waren die Dinger, die in diesem Land als Bäume durchgingen, knorrige verdrehte Büsche. Ihre Äste waren wie die Finger alter Soldaten, die von den vielen Jahren des Schwerttragens arthritisch geworden waren. Wie nannten die Einheimischen noch einmal diese Pflanzen? Buschwald? Wie seltsam. Wenn man bedachte, dass einige ihrer Vorfahren möglicherweise von diesem Ort stammten, Luthair Paendrag nach Seanchan begleitet hatten.

Unten auf der Straße marschierte ihr Heer und erfüllte die Luft mit Staub. Tausende und Abertausende von Männern. Weniger, als sie zuvor gehabt hatte, aber nicht bedeutend weniger. Ihr Kampf mit den Aiel war nun zwei Wochen her, als Perrin Aybaras Plan auf beeindruckende Weise funktioniert hatte. An der Seite eines solchen Mannes zu kämpfen war stets eine bittersüße Erfahrung. Süß wegen seiner Genialität. Bitter wegen der Sorge, dass sie sich eines Tages auf dem Schlachtfeld gegenüberstehen würden. Tylee gehörte nicht zu jenen, die im Kampf eine Herausforderung zu schätzen wussten. Sie hatte es stets vorgezogen, sofort zu siegen.

Manche Generäle behaupteten, dass man nie dazu gezwungen wurde, sich zu verbessern, wenn man niemals um etwas kämpfen musste. Tylee war der Ansicht, dass sie und ihre Männer sich auf dem Übungsfeld verbessern konnten und mühsame Anstrengungen lieber ihren Feinden überließen.

Sie würde Perrin nicht gern gegenübertreten. Nein, das würde sie nicht. Und das nicht nur, weil sie ihn mochte.

Langsames Hufgetrappel ertönte. Mishima lenkte sein Pferd, einen hellen Wallach, an ihre Seite. Den Helm hatte er an den Sattel gebunden, und sein Narbengesicht wirkte nachdenklich. Sie passten gut zusammen, sie beide. Auch ihr Gesicht wies seinen Anteil an alten Narben auf.

Mishima salutierte ihr, nun bedeutend respektvoller, seit man Tylee zum Blut erhoben hatte. Diese besondere Botschaft, die ein Raken überbracht hatte, war unerwartet gekommen. Es war eine Ehre, und sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt.

»Denkt Ihr noch immer über die Schlacht nach?«, fragte Mishima.

»Das tue ich«, sagte Tylee. Zwei Wochen, und noch immer beherrschte sie ihre Gedanken. »Wie ist Eure Meinung?«

»Über Aybara?« Mishima sprach noch immer wie ein Freund zu ihr, selbst wenn er es bewusst vermied, ihren Blick zu erwidern. »Er ist ein guter Soldat. Vielleicht zu konzentriert, zu verbissen. Aber solide.«

»Ja«, sagte Tylee, dann schüttelte sie den Kopf. »Die Welt verändert sich, Mishima. Auf eine Weise, die wir nicht vorausahnen können. Zuerst Aybara, dann die Seltsamkeiten.«

Mishima nickte nachdenklich. »Die Männer wollen nicht darüber sprechen.«

»Es ist zu oft geschehen, um es als Täuschung abzutun. Die Kundschafter sehen etwas

»Männer verschwinden nicht einfach«, sagte Mishima. »Haltet Ihr das für die Eine Macht?«

»Ich weiß nicht, was es ist.« Ihr Blick glitt über die Bäume. Ein paar davon, an denen sie vorhin vorbeigekommen war, hatten bereits mit ihrem Frühlingswachstum begonnen, aber von denen hier war keiner dabei. Sie sahen wie Gerippe aus, dabei war die Luft warm genug, dass man bald mit der Aussaat beginnen konnte. »Gibt es in Halamak solche Bäume?«

»Nicht genau«, erwiderte Mishima. »Aber ich habe schon so ähnliche gesehen.«

»Hätten sie nicht schon längst knospen müssen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin Soldat, General Tylee.«

»Das ist mir noch gar nicht aufgefallen«, erwiderte sie trocken.

Er grunzte. »Ich meine, dass ich Bäumen keine Aufmerksamkeit schenke. Bäume bluten nicht. Vielleicht hätten sie knospen müssen, vermutlich aber nicht. Auf dieser Seite des Ozeans machen nur wenige Dinge Sinn. Bäume, die im Frühling nicht knospen, das ist nur eine weitere Seltsamkeit. Besser das als noch mehr Marath'damane, die sich benehmen, als gehörten sie zum Blut, und vor denen jeder buckeln soll.« Er schauderte sichtlich.

Tylee nickte, aber sie teilte seinen Abscheu nicht. Jedenfalls nicht völlig. Sie war sich nicht sicher, was sie von Perrin Aybara und seinen Aes Sedai halten sollte, ganz zu schweigen von seinen Asha'man. Und sie wusste kaum mehr über Bäume als Mishima. Aber sie hatte das Gefühl, dass sie schon längst hätten knospen müssen. Und diese Männer, die die Kundschafter immer wieder auf den Feldern sahen, wie konnten sie so schnell verschwinden, selbst mit der Einen Macht?

Der Quartiermeister hatte heute eines der Proviantpakete geöffnet und nur Staub gefunden. Tylee hätte die Suche nach einem Dieb oder Spaßvogel befohlen, hätte der Mann nicht darauf bestanden, dieses Paket kurz zuvor überprüft zu haben. Karm war ein solider Mann; er war schon seit Jahren ihr Quartiermeister. Er machte keine Fehler.

Hier war es fast schon eine Selbstverständlichkeit, dass Nahrung verdarb. Karm machte dafür die Hitze dieses seltsamen Landes verantwortlich. Aber Reiseproviant konnte nicht verderben, jedenfalls nicht auf diese unvorhergesehene Weise. Im Augenblick waren alle Omen schlecht. Früher am Tag hatte Tylee zwei tote Ratten auf dem Rücken liegen sehen, und eine hatte den Schwanz der anderen im Maul. Es war das schlimmste Omen, das sie je im Leben gesehen hatte, und nur daran zu denken ließ sie erschaudern.

Hier ging etwas vor. Perrin war nicht bereit gewesen, viel darüber zu sprechen, aber sie hatte die Last erkannt, die er mit sich trug. Er wusste viel mehr, als er verraten hatte.

Wir können es uns nicht leisten, diese Leute zu bekämpfen, dachte sie. Das war ein rebellischer Gedanke, den sie vor Mishima nicht aussprechen würde. Die Kaiserin, sie sollte ewig leben, hatte befohlen, dieses Land wieder in Besitz zu nehmen. Suroth und Galgan waren die vom Reich auserwählten Anführer für dieses Unternehmen gewesen, bis sich die Tochter der Neun Monde zu erkennen gegeben hatte. Tylee konnte die Absichten der Hochlady Tuon nicht kennen, aber Suroth und Galgan teilten das Verlangen, dieses Land unterworfen zu sehen. Es war praktisch das Einzige, bei dem sie sich einig waren.

Keiner von ihnen hörte auf den Rat, bei den Einwohnern dieses Landes nach Verbündeten zu suchen statt nach Feinden. Der Gedanke daran grenzte schon an Verrat. Zumindest war es Insubordination. Tylee seufzte und wandte sich Mishima zu, um den Befehl zu geben, nach einem geeigneten Nachtlager zu suchen.

Sie erstarrte. Mishima hatte einen Pfeil im Hals stecken, ein bösartiges, mit Widerhaken versehenes Ding. Sie hatte ihn nicht einschlagen gehört. Verblüfft erwiderte er ihren Blick, versuchte zu sprechen, aber aus seinem Mund kam nur Blut. Er rutschte aus dem Sattel und sackte in sich zusammen, als neben Tylee etwas Gewaltiges aus dem Unterholz brach, knorrige Äste zersplitterte und sich ihr entgegenwarf. Ihr blieb kaum genug Zeit, das Schwert zu ziehen und einen Schrei auszustoßen, bevor Staubfresser - ein gutes solides Schlachtross, das sie in noch keiner Schlacht im Stich gelassen hatte - voller Panik auf die Hinterbeine stieg und sie zu Boden warf.

Vermutlich rettete ihr das das Leben, denn ihr Angreifer schwang ein Schwert mit dicker Klinge und schnitt in den Sattel, wo sie eben noch gesessen hatte. Sie kämpfte sich mit klirrender Rüstung auf die Beine und schrie den Alarmruf. »Zu den Waffen! Ein Überfall!«

Ihre Stimme gesellte sich buchstäblich gleichzeitig zu hunderten gleicher Rufe. Männer schrien. Pferde wieherten.

Ein Hinterhalt, dachte sie und hob die Klinge. Und wir sind geradewegs hineingelaufen! Wo sind die Kundschafter? Was ist passiert? Sie warf sich auf den Mann, der versucht hatte, sie umzubringen. Schnaubend fuhr er herum.

Und zum ersten Mal sah Tylee genau, was er tatsächlich war. Kein richtiger Mann, sondern eine Kreatur mit verzerrten Zügen, deren Kopf mit rauem braunem Haar bedeckt war. Auf der zu breiten Stirn schlug dicke Haut tiefe Falten. Die Augen waren auf grässliche Weise menschenähnlich, aber die Nase war so flach wie die eines Ebers, und aus dem Mund ragten zwei große Stoßzähne. Die Kreatur brüllte sie an, Speichel sprühte von beinahe menschlichen Lippen.

Beim Blut meiner vergessenen Väter, dachte Tylee. Wo sind wir da hineingeraten? Das Ungeheuer war ein Albtraum, dem man einen Körper verliehen und dann ausgeschickt hatte, um zu töten. Es war ein Ding, das sie stets als Aberglauben abgetan hatte.

Sie griff die Kreatur an, schlug deren breites Schwert zur Seite. Dann warf sie sich herum, nahm die Stellung Schlag die Büsche ein und trennte der Bestie den Arm von der Schulter. Sie schlug erneut zu, und der Kopf folgte dem Arm zu Boden. Das Ungeheuer taumelte und brachte irgendwie noch drei Schritte zustande, bevor es zusammenbrach.

In den Bäumen raschelte es, noch mehr Äste brachen. Von ihrem Hügel aus sah Tylee, dass Hunderte dieser Kreaturen aus dem Unterholz hervorgebrochen waren und die Linie ihrer Männer in der Mitte angriffen und Chaos verursachten. Immer mehr Ungeheuer kamen zwischen den Bäumen hervor.

Wie hatte das passieren können? Wie hatten diese Dinger nur so nah an Ebou Dar herankommen können? Sie waren tief im Verteidigungsring der Seanchaner, nur einen Tagesmarsch von der Hauptstadt entfernt.

Tylee raste den Hügel hinunter und brüllte nach ihrer Ehrenwache, während noch mehr von den tobenden Bestien hinter ihr zwischen den Bäumen hervorkamen.

Graendal lungerte in einem steinernen Raum voller sie bewundernder Männer und Frauen herum, von denen jeder ein perfekter Vertreter seiner Rasse war und kaum mehr als eine Robe aus durchsichtigem weißen Stoff trug. Im Kamin prasselte ein warmes Feuer und beleuchtete einen prächtigen blutroten Teppich. In den Teppich waren die Abbildungen ineinander verschlungener junger Frauen und Männer gewebt, deren Stellungen selbst erfahrene Kurtisanen hätte erröten lassen. Die offenen Fenster ließen die Nachmittagssonne herein; die luftige Position ihres Palastes gab einen Ausblick auf die Kiefern und den schimmernden See in der Tiefe.

Graendal nippte an dem Süßdornsaft. Sie trug ein hellblaues Kleid im Domanischnitt - diese Mode gefiel ihr immer mehr, obwohl ihr Gewand bedeutend dünner als die der Allgemeinheit war. Diese Domani waren viel zu sehr von einem Flüstern angetan, wo sie einen hübschen scharfen Schrei bevorzugte. Sie nahm noch einen Schluck Saft. Welch einen interessanten sauren Geschmack er doch hatte. In diesem Zeitalter war er exotisch, wuchsen die Bäume doch nur noch auf fernen Inseln.

Ohne Vorwarnung öffnete sich in der Mitte des Raumes ein Wegetor. Sie fluchte lautlos, als eines ihrer kostbarsten Besitztümer - eine üppige junge Frau namens Thurasa, eine Angehörige des Kaufmannsrates der Domani - durch das Ding beinahe einen Arm verlor. Das Wegetor ließ eine schwüle Hitze herein, die die perfekte Mischung aus kühler Bergluft und Kaminwärme, die sie kultiviert hatte, störte.

Graendal bewahrte die Fassung und zwang sich, sich auf dem plüschigen Samtstuhl zurückzulehnen. Ein Bote in Schwarz schritt durch das Portal, und sie wusste, was er wollte, bevor er einen Ton von sich gegeben hatte. Allein Moridin wusste, wo sie zu finden war, jetzt, da Sammael tot war.

»Meine Lady, Eure Anwesenheit wird erwünscht ...«

»Ja, ja«, sagte sie. »Steh gerade und lass dich ansehen.«

Der Junge stand still, keine zwei Schritte vor dem Tor. Was war er doch für ein attraktiver Bursche! So helles Blondhaar, das so selten in vielen Teilen der Welt war, grüne Augen wie moosbewucherte Teiche, eine geschmeidige Gestalt, die gerade genug Muskeln hatte. Graendal schnalzte mit der Zunge. Wollte Moridin sie in Versuchung führen, indem er seinen hübschesten Burschen schickte, oder war das ein Zufall?

Nein. Bei den Auserwählten gab es keine Zufälle. Beinahe hätte Graendal mit der Einen Macht einen Zwang gewebt, um den Jungen für sich zu beanspruchen. Aber sie hielt sich zurück. Hatte ein Mann erst einmal mit einem Zwang von dieser Stärke Bekanntschaft gemacht, konnte man ihn unmöglich zurückgewinnen, und das würde Moridin womöglich verärgern. Sie musste auf seine Launen aufpassen. Der Mann war noch nie stabil gewesen, nicht einmal in den frühen Jahren. Wenn sie es eines Tages zur Nae'blis bringen wollte, war es wichtig, ihn nicht zu reizen, bis der Zeitpunkt zum Zuschlagen gekommen war.

Sie verbannte den Boten aus ihren Gedanken - wenn sie ihn nicht haben konnte, dann war sie auch nicht an ihm interessiert - und schaute durch das offene Tor. Sie hasste es, wenn sie gezwungen wurde, sich mit einem der anderen Auserwählten zu dessen Bedingungen treffen zu müssen. Sie hasste es, ihre Festung und ihr Spielzeug zu verlassen. Aber vor allem hasste sie es, vor jemandem kriechen zu müssen, der ihr Untergebener hätte sein müssen.

Daran war nichts zu ändern. Moridin war der Nae'blis. Für den Augenblick. Und das bedeutete, dass Graendal keine andere Möglichkeit blieb, als seinem Ruf zu folgen, ob sie es nun hasste oder nicht. Also stellte sie ihr Glas ab, erhob sich und trat in ihrem durchscheinenden hellblauen Gewand, dessen goldener Besatz funkelte, durch das Wegetor.

Auf der anderen Seite war es schrecklich heiß. Sofort webte sie Luft und Wasser und kühlte um sich herum die Luft. Sie befand sich in einem Gebäude aus schwarzem Stein; durch die Fenster strömte rötliches Licht. Sie waren nicht verglast. Der rötliche Schimmer ließ an den Sonnenuntergang denken, aber in Arad Doman war kaum der Nachmittag angebrochen. Sicherlich war sie nicht so weit gereist, oder doch?

Der Raum war nur mit harten Stühlen aus tiefschwarzem Holz möbliert. Zweifellos mangelte es Moridin in letzter Zeit an Vorstellungskraft. Alles war nur rot oder schwarz, alles drehte sich bloß darum, diese dummen Jungen aus Rand al'Thors Dorf zu töten. War sie die Einzige, der klar war, dass al'Thor die wahre Bedrohung darstellte? Warum ihn nicht endlich töten und die Sache hinter sich bringen?

Die offensichtlichste Antwort auf diese Frage - dass sich bis jetzt keiner als stark genug erwiesen hatte, um ihn zu besiegen - gefiel ihr gar nicht.

Sie trat ans Fenster und entdeckte den Grund für das rostfarbene Licht. Das Eisen in der Erde ließ den lehmartigen Boden rot schimmern. Sie befand sich im ersten Stock eines schwarzen Turms, dessen Steine die brennende Hitze des Himmels in sich aufsogen. Es gab nur wenig Vegetation zu sehen, und die war voller schwarzer Flecken. Also befand sie sich irgendwo tief im Nordosten der Großen Fäule. Es war schon einige Zeit her, dass sie hier gewesen war. Moridin schien eine Festung entdeckt zu haben, ausgerechnet.

Im Schatten der Burg erhob sich eine Reihe primitiv gezimmerter Hütten, in der Ferne ein paar schmale, von der Fäulnis befleckte Getreidefelder. Vielleicht experimentierte man mit einer neuen Züchtung, versuchte sie in dieser Gegend zum Wachsen zu ermuntern. Vielleicht sogar verschiedene Getreidearten, das würde die kleinen Felder erklären. Wächter patrouillierten die Gegend; trotz der Hitze trugen sie schwarze Uniformen. Soldaten waren erforderlich, um Angriffe des Schattengezüchts abzuwehren, das so tief in der Fäule durch das Land zog. Diese Kreaturen gehorchten allein dem Großen Herrn. Was hatte Moridin so weit draußen zu suchen?

Ihre Überlegungen wurden unterbrochen, als Schritte die Ankunft von anderen ankündigten. Demandred trat durch die Tür im Süden, und er wurde von Mesaana begleitet. Waren die beiden zusammen eingetroffen? Sie glaubten, dass Graendal nichts von ihrer kleinen Allianz wusste, ein Pakt, der Semirhage einschloss. Aber mal ehrlich, wenn sie das geheim halten wollten, war ihnen dann nicht klar, dass sie nicht zusammen kommen durften?

Graendal unterdrückte ein Lächeln, als sie den beiden zunickte, dann wählte sie den größten und am bequemsten aussehenden Stuhl im Raum und setzte sich. Sie fuhr mit dem Finger über das glatte, dunkle Holz, betastete die Maserung unter dem Lack. Demandred und Mesaana musterten sie kühl, und sie kannte sie gut genug, um zu sehen, wie überrascht sie waren, sie hier anzutreffen. Also ... Sie hatten mit diesem Treffen gerechnet, nicht wahr? Aber nicht mit Graendals Anwesenheit? Am besten, sie tat so, als wäre sie nicht verwirrt. Sie lächelte die beiden wissend an und sah die Wut, die kurz in Demandreds Augen aufflackerte.

Der Mann frustrierte sie, auch wenn sie das nie offen zugegeben hätte. Mesaana hielt sich in der Weißen Burg auf und spielte, was in diesem Zeitalter als Aes Sedai durchging. Sie war leicht zu durchschauen; Graendals Agenten in der Weißen Burg hielten sie über Mesaanas Aktivitäten auf dem Laufenden. Und natürlich war Graendals neue Verbindung mit Aran'gar ebenfalls hilfreich. Aran'gar spielte mit den Aes Sedai-Rebellen, die die Weiße Burg belagerten.

Ja, Mesaana konnte sie nicht verwirren, und die anderen waren genauso leicht im Auge zu behalten. Moridin sammelte die Streitkräfte des Großen Herrn für die Letzte Schlacht, und seine Kriegsvorbereitungen ließen ihm nur wenig Zeit für den Süden - auch wenn seine beiden Handlanger Cyndane und Moghedien dort gelegentlich ihre Gesichter zeigten. Sie verbrachten ihre Zeit damit, die Schattenfreunde zu versammeln, und unternahmen gelegentliche Anstrengungen, Moridins Befehl, die beiden Ta'veren - Perrin Aybara und Matrim Cauthon - umzubringen, in die Tat umzusetzen.

Sie war davon überzeugt, dass Sammael während des Kampfes um Illian Rand al'Thor zum Opfer gefallen war. Tatsächlich war sie sich sicher - jetzt, da sie die Hinweise hatte, dass Semirhage bei den Seanchanern die Strippen zog -, dass sie die Pläne von jedem einzelnen der übrig gebliebenen sieben Auserwählten kannte.

Außer bei Demandred.

Was hatte der verfluchte Mann nur vor? Sie hätte ihr ganzes Wissen über Mesaanas und Aran'gars Aktivitäten gegen einen kleinen Hinweis auf Demandreds Pläne eingetauscht. Dort stand er, attraktiv und hakennasig, die Lippen in ewiger Wut verzogen. Demandred lächelte nie, schien nie etwas genießen zu können. Obwohl er einer der ersten Generäle der Auserwählten war, hatte ihm das Kriegshandwerk anscheinend nie Freude gebracht. Sie hatte ihn einmal sagen hören, dass er an dem Tag, an dem er endlich Lews Therin das Genick brach, lachen würde. Aber erst dann.

Er war ein Narr, diesen Groll zu hegen. Wenn man sich vorstellte, dass er beinahe auf der anderen Seite gekämpft hätte - dass er selbst der Drache hätte werden können, hätten sich die Dinge anders entwickelt. Aber ob nun ein Narr oder nicht, er war außerordentlich gefährlich, und Graendal gefiel es nicht, seine Pläne nicht zu kennen. Wo hatte er seine Machtbasis aufgebaut? Demandred mochte es, Armeen zu befehligen, aber da waren keine mehr übrig auf der Welt.

Abgesehen vielleicht von den Grenzländern. Konnte es ihm gelungen sein, sie zu infiltrieren? Das wäre allerdings ein bewundernswerter Coup gewesen. Aber sicherlich hätte sie davon gehört; sie hatte Spione in diesem Lager.

Sie schüttelte den Kopf und wünschte sich, etwas zu trinken zu haben, um sich die Lippen zu benetzen. Diese nördliche Luft war zu trocken; sie zog die feuchte Wärme der Domani vor. Demandred verschränkte die Arme vor der Brust und blieb stehen, während sich Mesaana setzte. Sie trug das dunkle Haar kinnlang und hatte wässrige blaue Augen. Ihr bodenlanges weißes Kleid wies keine Verzierungen auf, und sie trug keinen Schmuck. Eine Gelehrte bis ins Mark. Manchmal war Graendal fest davon überzeugt, dass Mesaana nur zum Schatten übergelaufen war, weil die Möglichkeiten zur Forschung dort interessanter waren.

Mesaana war dem Großen Herrn mittlerweile völlig ergeben, genau wie der Rest von ihnen, aber sie schien nur ein zweitrangiges Mitglied der Auserwählten zu sein. Prahlte mit Versprechen, die sie nicht einhalten konnte, verbündete sich mit stärkeren Parteien, die sie aber nicht manipulieren konnte, weil ihr dazu das nötige Geschick fehlte. Im Namen des Großen Herrn hatte sie böse Taten vollbracht, konnte aber nicht einmal annähernd so große Erfolge wie beispielsweise Semirhage und Demandred vorweisen. Oder etwa Moridin.

Und als Graendal an Moridin dachte, trat der Mann ein. Nun, das war nun wirklich ein attraktives Geschöpf. Verglichen mit ihm sah Demandred wie ein Bauer mit Knubbelgesicht aus. Ja, dieser Körper war viel besser als der vorherige. Er war fast hübsch genug, um als eines ihrer Spielzeuge zu dienen, allerdings verdarb dieses Kinn das Gesicht. Zu ausgeprägt, zu stark. Dennoch, das schwarze Haar auf diesem hochgewachsenen, breitschultrigen Körper ... Sie lächelte und stellte sich vor, wie er in hauchdünner weißer Kleidung vor ihr kniete und sie bewundernd ansah, den Verstand so sehr in Zwang gehüllt, dass er nichts und niemanden mehr außer Graendal wahrnahm.

Mesaana stand bei seinem Eintreten auf, und Graendal folgte zögernd ihrem Beispiel. Noch war er nicht ihr Spielzeug, noch nicht. Er war der Nae'blis, und in der letzten Zeit hatte er angefangen, ständig mehr Gesten des Gehorsams von ihnen zu verlangen. Der Große Herr verlieh ihm die Autorität dazu. Alle drei Auserwählten verneigten sich zögernd vor ihm; allein ihm unter allen Menschen würden sie ihre Ehrerbietung erweisen. Er registrierte ihren Gehorsam mit strengem Blick, während er zu der Stelle der schwarzen Wand ging, wo sich ein Kamin befand. Wie hatte jemand nur auf die Idee kommen können, in der Hitze der Fäule eine Festung aus schwarzem Stein zu erbauen?

Graendal setzte sich wieder. Kamen die anderen Auserwählten auch? Wenn nicht, was hatte das zu bedeuten?

Bevor Moridin etwas sagen konnte, ergriff Mesaana das Wort. »Moridin«, sagte sie und trat einen Schritt vor, »wir müssen sie retten.«

»Ihr werdet erst sprechen, wenn ich Euch dazu die Erlaubnis gebe, Mesaana«, erwiderte er kalt. »Noch ist Euch nicht verziehen worden.«

Sie zuckte zusammen, worüber sie sich aber dann offensichtlich ärgerte. Moridin ignorierte sie und schaute Graendal mit zusammengekniffenen Augen an. Was hatte denn dieser Blick zu bedeuten?

»Ihr dürft fortfahren«, sagte er schließlich zu Mesaana, »aber vergesst Euren Platz nicht.«

Mesaanas Lippen bildeten einen dünnen Strich, aber sie wehrte sich nicht. »Moridin«, begann sie in einem weniger fordernden Tonfall, »Ihr habt die Weisheit gehabt, darin einzuwilligen, Euch mit uns zu treffen. Sicherlich aus dem Grund, dass Ihr so entsetzt wie wir seid. Wir haben nicht die Möglichkeiten, um ihr zu helfen; Aes Sedai und diese Asha'man werden sie aufmerksam bewachen. Ihr müsst uns bei ihrer Befreiung helfen.«

»Semirhage verdient ihre Gefangenschaft«, sagte Moridin und stützte den Arm auf den Kaminsims, den Blick noch immer von Mesaana abgewandt.

Semirhage war gefangen genommen worden? Graendal hatte gerade erst in Erfahrung gebracht, dass die Frau eine wichtige Seanchanerin verkörperte! Was hatte sie getan, um sich gefangen nehmen zu lassen? Wenn Asha'man im Spiel waren, dann hatte sie es wohl geschafft, sich von al'Thor selbst erwischen zu lassen!

Trotz ihrer Überraschung behielt Graendal ihr wissendes Lächeln bei. Demandred warf ihr einen Blick zu. Wenn er und Mesaana um dieses Treffen gebeten hatten, warum hatte Moridin dann nach ihr geschickt?

»Aber bedenkt doch nur, was Semirhage alles enthüllen könnte!«, fuhr Mesaana fort und ignorierte Graendal. »Davon abgesehen ist sie eine Auserwählte. Es ist unsere Pflicht, ihr zu helfen.«

Und abgesehen davon ist sie ein Mitglied der kleinen Allianz, die ihr beide gegründet habt, dachte Graendal. Vielleicht sogar das stärkste Mitglied. Sie zu verlieren dürfte ein herber Rückschlag für eure Anstrengungen sein, die Auserwählten zu kontrollieren.

»Sie hat nicht gehorcht«, sagte Moridin. »Sie sollte nicht versuchen, al'Thor zu töten.«

»Das war auch gar nicht ihre Absicht«, beeilte sich Mesaana zu sagen. »Unsere Frau bei ihnen glaubt, dass der Blitz aus Feuer nur eine überraschte Reaktion war, dass er nicht töten sollte.«

»Und was sagt Ihr dazu, Demandred?«, wollte Moridin wissen.

»Ich will Lews Therin«, sagte Demandred; wie immer waren seine Stimme tief und seine Miene finster. »Semirhage weiß das. Sie weiß auch, dass ich ihr Leben als Entschädigung gefordert hätte, hätte sie ihn getötet. Niemand tötet al'Thor. Niemand außer mir.«

»Ihr oder der Große Herr, Demandred«, sagte Moridin gefährlich leise. »Sein Wille beherrscht uns alle.«

»Ja, ja, natürlich tut er das«, mischte sich Mesaana ein und trat vor; der Saum des einfachen Kleides strich über den spiegelhellen schwarzen Marmorboden. »Moridin, Tatsache ist, dass sie ihn nicht töten wollte, sondern bloß gefangen nehmen. Ich ...«

»Natürlich wollte sie ihn gefangen nehmen!«, brüllte Moridin. »So lautete ihr Befehl. Und sie hat versagt, Mesaana. Auf spektakuläre Weise versagt, hat ihn trotz meines ausdrücklichen Befehls, ihm kein Haar zu krümmen, verletzt! Und für diese Inkompetenz wird sie leiden. Ich werde euch nicht helfen, sie zu retten. Tatsächlich verbiete ich euch sogar, ihr Hilfe zu schicken. Habt ihr verstanden?«

Mesaana zuckte zusammen. Demandred tat das nicht; er erwiderte Moridins Blick und nickte dann. Ja, er war eiskalt. Vielleicht unterschätzte Graendal ihn ja. Möglicherweise war er der stärkste von den dreien, gefährlicher als Semirhage. Sie war gefühllos und kontrolliert, das schon, aber manchmal brauchte man Gefühle. Sie konnten einen Mann wie Demandred zu Taten treiben, die sich jemand mit kühlerem Kopf nicht einmal vorstellen konnte.

Moridin schaute zu Boden, krümmte die Finger der linken Hand, als wären sie steif. Graendal las einen Hauch von Schmerz aus seiner Miene.

»Soll Semirhage verrotten«, knurrte Moridin. »Soll sie erleben, wie es ist, wenn man der Befragung unterworfen wird. Vielleicht wird der Große Herr in den kommenden Wochen eine Verwendung für sie finden, aber das ist seine Entscheidung. Und jetzt berichtet mir von euren Vorbereitungen.«

Mesaana war etwas blass geworden und schaute Graendal an. Demandreds Wangen röteten sich, als könnte er nicht glauben, dass sie vor einer anderen Auserwählten auf diese Weise ausgefragt wurden. Graendal lächelte sie an.

»Ich bin in der perfekten Position«, sagte Mesaana und wandte sich mit einem hochmütigen Ruck wieder Moridin zu. »Die Weiße Burg und diese Närrinnen, die sie beherrschen, werden bald mir gehören. Unserem Großen Herrn werde ich nicht nur eine vernichtete Weiße Burg übergeben, sondern eine ganze Brut von Machtlenkerinnen, die - so oder so - in der Letzten Schlacht unserer Sache dienen werden. Dieses Mal werden die Aes Sedai für uns kämpfen!«

»Eine kühne Behauptung«, meinte Moridin.

»Ich werde sie wahr machen«, erwiderte Mesaana leichthin. »Meine Anhängerinnen infizieren die Burg wie eine unsichtbare Seuche, die in einem völlig gesund aussehenden Mann auf dem Markt schwärt. Immer mehr schließen sich unserer Sache an. Manche mit Absicht, andere, ohne dass sie es wissen. Das Ergebnis ist das Gleiche.«

Graendal lauschte nachdenklich. Aran'gar behauptete, dass die Rebellen die Burg schließlich erobern würden, obwohl sich Graendal da gar nicht so sicher war. Wer würde den Sieg davontragen, das Kind oder die Närrin? Aber spielte das überhaupt eine Rolle?

»Und Ihr?«, fragte Moridin Demandred.

»Meine Herrschaft ist sicher«, sagte Demandred. »Ich bereite mich auf den Krieg vor. Wir werden bereit sein.«

Graendal wartete ungeduldig darauf, dass er mehr sagte, aber Moridin drängte ihn nicht. Trotzdem war das immer noch mehr, als sie selbst hatte in Erfahrung bringen können. Anscheinend hatte Demandred einen Thron und die dazugehörigen Heere. Die sich versammelten. Es erschien immer wahrscheinlicher, dass es die Grenzländer waren, die durch den Osten marschierten.

»Ihr dürft euch beide zurückziehen«, sagte Moridin.

Mesaana regte sich sichtlich über diese Entlassung auf, aber Demandred drehte sich einfach um und ging. In Gedanken nickte Graendal; sie würde ihn im Auge behalten müssen. Der Große Herr favorisierte das Handeln, und oft erhielten diejenigen die beste Belohnung, die ihm ganze Heere bringen konnten. Demandred konnte sehr gut ihr wichtigster Rivale sein - natürlich nach Moridin.

Sie hatte er nicht entlassen, also blieb sie sitzen, während sich die anderen beiden zurückzogen. Moridin blieb stehen, wo er war, den einen Arm auf den Kaminsims gelegt. Eine Weile herrschte Schweigen in dem viel zu schwarzen Raum, dann trat ein Diener in einer schneidigen roten Uniform ein und brachte zwei Pokale. Er war ein hässlicher Kerl mit einem flachen Gesicht und buschigen Augenbrauen, der keinen zweiten Blick wert war.

Sie nahm einen Schluck und schmeckte neuen Wein, etwas herb, aber nicht schlecht. Es wurde immer schwerer, guten Wein zu finden; die Berührung des Großen Herrn verdarb alles auf der Welt, zerstörte die Nahrung und ruinierte selbst die Dinge, die eigentlich keiner hätte ruinieren dürfen.

Moridin schickte den Diener mit einer Geste fort; seinen Pokal rührte er nicht an. Natürlich fürchtete Graendal Gift. Das tat sie immer, wenn sie aus dem Glas eines anderen trank. Aber es gab keinen Grund, dass Moridin sie vergiftete. Er war der Nae'blis. Während sich die meisten von ihnen weigerten, ihm ihre Unterwürfigkeit zu zeigen, zwang er ihnen immer mehr seinen Willen auf und drängte sie in Positionen als seine Untergebenen. Hätte er es gewollt, so hätte er Graendal auf alle möglichen Arten exekutieren lassen können, und der Große Herr würde ihn gewähren lassen. Also trank sie und wartete ab.

»Habt ihr Euch viel aus dem Gehörten zusammengereimt, Graendal?«, fragte er dann.

»So viel, wie möglich war«, antwortete sie wohlüberlegt.

»Ich weiß, wie sehr Ihr Euch nach Informationen verzehrt. Moghedien ist als die Spinne bekannt, die aus der Ferne an ihren Fäden zupft, aber Ihr seid in vielerlei Hinsicht besser als sie. Sie webt so viele Netze, dass sie sich in ihnen verfängt. Ihr seid vorsichtiger. Ihr schlagt nur dann zu, wenn es klug ist, scheut Euch aber nicht vor dem Konflikt. Der Große Herr erkennt Eure Initiative an.«

»Mein lieber Moridin«, sagte sie lächelnd. »Ihr schmeichelt mir.«

»Spielt nicht mit mir, Graendal«, sagte er mit harter Stimme. »Hört Euch Eure Komplimente an und schweigt.«

Sie zuckte zurück, als hätte man sie geschlagen, sagte aber kein Wort mehr.

»Es war eine Belohnung, dass Ihr den beiden zuhören durftet«, fuhr Moridin fort. »Der Nae'blis ist auserwählt worden, aber unter der Herrschaft des Großen Herrn wird es andere hohe ruhmreiche Positionen geben. Manche werden höher als andere sein. Der heutige Tag war ein Vorgeschmack auf die Privilegien, die Ihr genießen könntet.«

»Ich lebe nur, um dem Großen Herrn zu dienen.«

»Dann dient ihm hiermit.« Moridin blickte sie an. »Al'Thor geht nach Arad Doman. Er soll unbeschadet leben, bis er mir an jenem letzten Tag gegenübersteht. Aber man darf ihm nicht erlauben, in Eurem Land Frieden zu stiften. Er wird versuchen, die Ordnung wiederherzustellen. Ihr müsst einen Weg finden, das zu verhindern.«

»Es wird geschehen.«

»Dann geht«, sagte Moridin und schwenkte ruckartig die Hand.

Sie stand nachdenklich auf und ging in Richtung Tür.

»Und Graendal«, sagte er.

Sie zögerte, sah ihn an. Er stand gegen den Kaminsims gelehnt, wandte ihr größtenteils den Rücken zu. Er schien ins Leere zu starren, einfach auf die schwarzen Steine der gegenüberliegenden Wand. Auf eine seltsame Weise hatte er eine große Ähnlichkeit mit al'Thor - von dem sie dank ihrer Spione zahllose Zeichnungen hatte -, wenn er so stand.

»Das Ende ist nah«, sagte er. »Das Rad hat ächzend seine letzte Umdrehung hinter sich gebracht, die Uhr ist abgelaufen, die Schlange hat ihren letzten Hauch getan. Er muss den Herzschmerz erleben. Er muss die Enttäuschungen erleben, und er muss das Leid erleben. Macht ihn damit bekannt. Und Ihr werdet belohnt.«

Sie nickte, dann trat sie durch das bereitgestellte Wegetor zurück in ihre Festung in den Bergen von Arad Doman.

Um zu planen.

Rodel Ituraldes Mutter, die nun schon seit dreißig Jahren in den Lehmhügeln seiner Domani-Heimat begraben lag, hatte ein Sprichwort ganz besonders zu schätzen gewusst: »Es wird immer schlimmer, bevor es besser wird.« Sie hatte es gesagt, als sie ihm als Jungen seinen kranken Zahn gezogen hatte, ein Leiden, das er sich geholt hatte, als er mit den anderen Dorfjungen mit dem Schwert gespielt hatte. Sie hatte es gesagt, als er seine erste Liebe an einen jungen Lord verloren hatte, der einen mit Federn verzierten Hut trug und dessen weiche Hände genau wie das mit Juwelen verzierte Schwert bewiesen, dass er nie einen richtigen Kampf erlebt hatte. Und sie hätte es jetzt gesagt, hätte sie neben ihm auf dem Kamm gestanden und zugesehen, wie die Seanchaner auf die Stadt in dem flachen Tal unten zumarschierten.

Er studierte Darluna durch sein Fernglas, beschattete das Ende mit der linken Hand; der Wallach, auf dem er saß, stand still im Abendlicht da. Er und mehrere seiner Domani hielten sich in der Nähe einer kleinen Baumgruppe auf. Es hätte schon des Glücks des Dunklen Königs bedurft, damit die Seanchaner ihn entdeckten. Selbst mit Ferngläsern.

Es wird immer schlimmer, bevor es besser wird. Unter dem Hintern der Seanchaner hatte er ein Feuer entzündet, als er auf der Ebene von Almoth und bis nach Tarabon hinein ihre Nachschubposten zerstörte. Und darum hätte es ihn nicht überraschen dürfen, ein so großes Heer zu sehen - mindestens hundertfünfzigtausend Mann -, das gekommen war, um den Brand zu löschen. Es verriet einen gewissen Respekt. Sie unterschätzten ihn nicht, diese seanchanischen Invasoren. Er wünschte, sie hätten es getan.

Ituralde schwenkte das Fernglas und musterte eine Gruppe Reiter. Sie ritten paarweise, die eine Frau des Pärchens trug Grau, die andere Rot und Blau. Sie waren viel zu weit entfernt, um selbst mit dem Fernglas die aufgestickten Blitze auf den Kleidern in Rot und Blau erkennen zu können, genauso wenig konnte er die Ketten sehen, die jedes Paar miteinander verbanden. Damane und Sul'dam.

Dieses Heer führte mindestens hundert Paare mit sich, vielleicht auch mehr. Und hätte das nicht schon ausgereicht, konnte er am Himmel eine der fliegenden Bestien sehen, die näher kam, damit ihr Reiter dem General eine Botschaft zuwerfen konnte. Mit solchen Kreaturen für ihre Späher hatte die seanchanische Armee einen unerhörten Vorteil. Ituralde hätte zehntausend Soldaten für eine der fliegenden Bestien eingetauscht. Andere Kommandanten hätten lieber eine Damane gehabt, die Blitze schleudern und die Erde erschüttern konnte, aber genau wie Kriege wurden auch Schlachten genauso oft durch Informationen gewonnen wie durch Waffen.

Natürlich hatten die Seanchaner nicht nur bessere Späher, sondern auch bessere Waffen. Ganz zu schweigen von besseren Truppen. Auch wenn Ituralde stolz auf seine Domani war, waren doch viele seiner Männer schlecht ausgebildet oder zu alt für den Kampf. Im Grunde gehörte er selbst zur zweiten Gruppe, da sich die Jahre mittlerweile auf ihm auftürmten wie Ziegel auf einer Palette. Dabei verschwendete er keinen Gedanken daran, sich zur Ruhe zu setzen. Als Junge hatte er oft das Gefühl gehabt, von etwas getrieben zu werden - die Sorge, dass bei Erreichen seiner Volljährigkeit alle großen Schlachten bereits geschlagen sein würden, dass der ganze Ruhm bereits geerntet war.

Manchmal beneidete er die Jungen um ihre Dummheit.

»Sie marschieren schnell, Rodel«, sagte Lidrin. Er war ein junger Mann mit einer Narbe auf der linken Wange, und er trug einen modischen schmalen schwarzen Schnurrbart. »Sie können es nicht erwarten, diese Stadt zu erobern.« Vor Beginn dieses Feldzugs war Lidrin ein noch unerprobter Offizier gewesen. Jetzt war er Veteran. Obwohl Ituralde und seine Streitkräfte beinahe jedes Gefecht mit den Seanchanern gewonnen hatten, hatte Lidrin miterleben müssen, wie drei seiner Offizierskameraden gefallen waren, darunter der arme Jaalam Nishur. Aus ihrem Tod hatte Lidrin eine der bittersten Lektionen des Kriegshandwerks gelernt: ein Sieg bedeutete nicht notwendigerweise das Überleben. Und Befehlen zu folgen bedeutete oft auch nicht, zu siegen oder zu überleben.

Lidrin trug nicht seine gewöhnliche Uniform. Das taten weder Ituralde noch einer der anderen Männer. Ihre Uniformen waren anderswo gebraucht worden, und das ließ ihnen nur schlichte, abgetragene Mäntel und braune Hosen, die häufig von Ortsansässigen geliehen oder gekauft worden waren.

Ituralde hob wieder das Fernglas und dachte über Lidrins Bemerkung nach. In der Tat marschierten die Seanchaner sehr schnell; sie planten, Darluna im Handstreich zu besetzen. Sie erkannten den Vorteil, der das brachte, denn sie waren kluge Gegner, und sie hatten in Ituralde wieder eine Begeisterung entfacht, die er schon vor Jahren hinter sich gelassen geglaubt hatte.

»Ja, sie drücken aufs Tempo«, sagte er. »Aber was würdet Ihr tun, Lidrin? Ein feindliches Heer aus zweihunderttausend Mann hinter Euch, ein weiteres aus hundertfünfzigtausend Mann vor Euch. Von allen Seiten von Feinden umgeben, würdet Ihr Eure Männer nicht vielleicht auch etwas zu sehr antreiben, wenn Ihr wüsstet, dass am Ende eine Zuflucht auf Euch wartet?«

Lidrin schwieg. Ituralde schwenkte das Fernglas und studierte die Frühlingsfelder, auf denen viele Arbeiter dicht gedrängt mit der Aussaat beschäftigt waren. Für diesen Teil des Landes war Darluna eine große Stadt. Natürlich konnte hier im Westen nichts mit den großen Städten des Ostens und Südens mithalten, ganz egal, was die Bewohner von Tanchico oder Falme auch behaupten mochten. Und dennoch, Darluna hatte eine ordentliche Granitmauer von zwanzig Fuß Höhe. In den Befestigungen lag keine Schönheit, aber es war eine stabile Mauer, und sie umgab eine Stadt, die groß genug war, um jeden Landjungen staunen zu lassen. In seiner Jugend hätte Ituralde sie als prächtig bezeichnet. Das war, bevor er vor Tar Valon gegen die Aiel gekämpft hatte.

Auf jeden Fall war es die beste Befestigung, die es in der Gegend zu finden gab, und das war den seanchanischen Kommandanten zweifellos bekannt. Sie hätten auf einem Hügel Stellung beziehen können; bei einem Angriff von allen Seiten hätte man die Fähigkeiten der Damane voll ausschöpfen können. Allerdings hätte ihnen das nicht nur keine Möglichkeit zum Rückzug gelassen, es hätte ihnen auch nur wenige Möglichkeiten zur Versorgung geboten. Hinter Stadtmauern würde es Brunnen und vielleicht sogar Reste der Wintervorräte geben. Und Darluna, dessen Garnison anderswo zum Dienst gezwungen worden war, war viel zu klein, um ernsthaft Widerstand leisten zu können ...

Ituralde senkte das Fernglas. Er musste nicht wissen, was geschah, als die seanchanischen Späher die Stadt erreichten und verlangten, dass man dem Invasionsheer die Tore öffnete. Er schloss die Augen und wartete.

Lidrin neben ihm atmete leise aus. »Sie haben es nicht bemerkt«, flüsterte er. »Sie bringen den Großteil ihrer Truppen zur Stadtmauer und warten darauf, eingelassen zu werden!«

»Gebt den Befehl«, sagte Ituralde und schlug die Augen wieder auf. Mit überlegenen Spähern wie den Raken gab es ein Problem. Verfügte man über ein so nützliches Werkzeug, dann neigte man dazu, sich auch darauf zu verlassen. Und derartiges Vertrauen konnte ausgenutzt werden.

In der Ferne warfen die vermeintlichen Feldarbeiter ihre Werkzeuge zur Seite und zogen Bogen und Pfeile aus verdeckten Gräben. Die Stadttore öffneten sich und enthüllten sich dahinter verbergende Soldaten - Soldaten, von denen die seanchanischen Raken-Späher behauptet hatten, sie seien vier Tagesritte weit entfernt.

Ituralde hob das Fernglas. Die Schlacht begann.

Die Finger des Propheten gruben Furchen in den Boden, als er sich auf den Kamm des bewaldeten Hügels hinaufzog. Seine Anhänger kämpften sich hinter ihm in die Höhe. So wenige. So wenige! Aber er würde seine Armee wieder aufbauen. Die Herrlichkeit des Wiedergeborenen Drachen folgte ihm, und ganz egal, wo er hinkam, er fand immer willige Seelen. Jene, deren Herzen rein waren, jene, deren Hände es nicht erwarten konnten, den Schatten zu vernichten.

Ja! Er musste nicht an die Vergangenheit denken, sondern an die Zukunft, wenn der Lord Drache die ganze Welt beherrschte! Wenn die Menschen allein seine Untertanen sein würden, und die des Propheten unter ihm. Glorreiche Tage würden das werden, Tage, an denen es niemand mehr wagte, den Propheten zu verschmähen oder sich seinem Willen zu verweigern. Tage, an denen der Prophet nicht solche Demütigungen hinzunehmen hatte, wie in der Nähe des Lagers von Schattengezücht wie dieser Kreatur Aybara leben zu müssen. Glorreiche Tage. Glorreiche Tage kamen.

Es fiel schwer, die Gedanken auf diese zukünftigen Erfolge zu richten. Die Welt um ihn herum war dreckig. Männer verleugneten den Drachen und suchten den Schatten. Selbst seine eigenen Anhänger. Ja! Das musste der Grund dafür sein, warum sie gestorben waren. Das musste der Grund dafür sein, warum so viele bei dem Angriff auf Malden mit seinen Schattenfreunden, den Aiel, getötet worden waren.

Der Prophet war sich so sicher gewesen. Er war davon ausgegangen, dass der Drache sein Volk beschützen und zu einem großen Sieg führen würde. Dann wäre der Wunsch des Propheten endlich in Erfüllung gegangen. Er hätte Perrin Aybara mit eigenen Händen töten können! Die Finger um diesen viel zu dicken Hals legen und ihn würgen können, zuzudrücken und zu spüren, wie die Knochen brachen, wie das Fleisch gequetscht wurde, wie der Atem versiegte.

Der Prophet erreichte den Hügelkamm und strich den Dreck von seinen Fingern. Er atmete ein und aus, sah sich um, während seine wenigen übrig gebliebenen Anhänger raschelnd aus dem Unterholz kletterten. Die Baumwipfel über ihren Köpfen waren sehr dicht, und nur wenig Sonnenlicht drang in die Tiefe. Licht. Das strahlende Licht.

In der Nacht vor dem Angriff war ihm der Drache erschienen. Erschienen in glorreicher Pracht! Eine Lichtgestalt, deren schimmernde Gewänder in der Luft leuchteten. Töte Perrin Aybara!, hatte der Drache befohlen. Töte ihn! Also hatte der Prophet sein bestes Werkzeug ausgeschickt, Aybaras lieben Freund.

Dieser Junge, dieses Werkzeug, hatte versagt. Aram war tot. Die Männer des Propheten hatten das bestätigt. Eine Tragödie! Waren sie darum nicht gediehen? War das der Grund, warum ihm von seinen Tausenden von Anhängern nur noch eine bloße Handvoll geblieben waren? Nein. Nein! Sie mussten sich gegen ihn gestellt, mussten im Geheimen den Schatten angebetet haben. Aram! Ein Schattenfreund! Darum hatte er versagt.

Die ersten seiner Anhänger - schmutzig, blutig, erschöpft - erreichten den Hügelkamm. Ihre Kleidung war nicht besser als Lumpen. Kleidung, die sie nicht von anderen hervorhob. Die Kleidung von schlichten und guten Menschen.

Der Prophet zählte sie. Weniger als hundert. So wenige. Trotz des Tageslichts war dieser verfluchte Wald so finster. Dicke Baumstämme standen dicht beieinander, und Wolken hatten den Himmel verdunkelt. Das Unterholz aus Knochenbüschen mit ihren dünnen Ästen war verfilzt und bildete eine beinahe unnatürliche Barriere, außerdem kratzten die Büsche wie Krallen über seine Haut.

Das Unterholz und die steilen Erdkämme verhinderten, dass ihm das Heer folgen konnte. Obwohl der Prophet vor nicht einmal einer Stunde aus Aybaras Lager entkommen war, fühlte er sich bereits sicher. Sie würden nach Norden gehen, wo sie Aybara und seine Schattenfreunde nicht finden würden. Dort konnte der Prophet einen Neuanfang machen. Er war nur bei Aybara geblieben, weil seine Anhänger stark genug gewesen waren, Aybaras Schattenfreunde fernzuhalten.

Seine geliebten Anhänger. Tapfere Männer, und treu, jeder Einzelne von ihnen. Von Schattenfreunden ermordet. Er trauerte um sie, beugte den Kopf und murmelte ein Gebet. Seine Leute folgten seinem Beispiel. Sie waren müde, aber in ihren Augen brannte das Licht der Leidenschaft. Die Schwachen unter ihnen oder die, denen die nötige Hingabe fehlte, waren geflohen und vor langer Zeit getötet worden. Das hier waren die Besten, die Stärksten, die Treuesten. Jeder von ihnen hatte im Namen des Wiedergeborenen Drachen viele Schattenfreunde getötet.

Mit ihnen konnte er neu beginnen. Aber zuerst musste er Aybara entkommen. Im Augenblick war der Prophet zu schwach, um sich ihm entgegenzustellen. Aber er würde ihn später töten. Ja ... Finger um diesen Hals ... ja ...

Der Prophet konnte sich noch an eine Zeit erinnern, in der man ihn anders genannt hatte. Masema. Mittlerweile waren diese Tage sehr verschwommen, wie die Erinnerungen an ein früheres Leben. Tatsächlich war Masema wiedergeboren worden, so wie alle Menschen in das Muster wiedergeboren wurden - er hatte sein altes, profanes Leben abgestreift und war der Prophet geworden.

Die letzten Männer gesellten sich auf dem Kamm zu ihm. Er spuckte ihnen vor die Füße. Sie hatten ihn im Stich gelassen. Feiglinge. Sie hätten besser kämpfen müssen! Er hätte diese Stadt erobern müssen!

Er wandte sich nach Norden und marschierte weiter. Diese Landschaft wurde ihm vertraut, obwohl es oben in den Grenzlanden nichts Vergleichbares gab. Sie würden ins Hochland hinaufsteigen und dann die Ebene von Almoth betreten. Dort gab es Drachenverschworene, Anhänger des Propheten, auch wenn viele noch nie von ihm gehört hatten. Dort würde er schnell neue Kräfte gewinnen.

Er schob sich durch ein dunkles Gebüsch und betrat eine kleine Lichtung. Seine Männer folgten ihm schnell. Sie würden bald etwas zu essen brauchen, und er würde sie auf die Jagd schicken müssen. Keine Feuer. Sie konnten es sich nicht leisten, den Feind zu alarmieren ...

»Hallo, Masema«, sagte eine leise Stimme.

Er fauchte, fuhr herum, seine Anhänger drängten sich um ihn und zogen die Waffen. Wenige Schwerter, Messer, Kampfstäbe, ein paar Stangenwaffen. Der Prophet ließ die Blicke über die im trüben Nachmittagslicht liegende Lichtung schweifen, suchte nach der Sprecherin. Sie stand ein kurzes Stück entfernt auf ein paar Felsen, die aus dem Erdreich ragten. Eine Frau mit einer typisch saldaeanischen Nase, leicht schräg stehenden Augen und schulterlangem schwarzen Haar. Sie trug Grün, einen Reitrock, und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.

Faile Aybara, die Frau des Schattengezüchts Perrin Aybara. »Ergreift sie!«, schrie der Prophet und zeigte mit dem Finger auf sie. Ein paar seiner Anhänger stolperten los, aber die meisten zögerten. Sie hatten gesehen, was ihm verborgen geblieben war. Schatten im Wald hinter Aybaras Frau, die einen Halbkreis bildeten. Die Umrisse von Männern, deren Bogen auf die Lichtung zielten.

Faile winkte energisch, und die Pfeile flogen. Diejenigen von seinen Anhängern, die seinem Befehl zuerst gefolgt waren, fielen auch als Erste, schrien in dem stummen Wald auf, bevor sie auf den lehmigen Boden stürzten. Der Prophet brüllte, jeder Pfeil schien sein eigenes Herz zu durchbohren. Seine geliebten Anhänger! Seine Freunde! Seine lieben Brüder!

Ein Pfeil traf ihn und warf ihn auf den Rücken. Um ihn herum starben Männer, so wie sie zuvor gestorben waren. Warum hatte ihn der Drache nicht beschützt, warum nicht? Warum nicht? Plötzlich überwältigte ihn wieder der Schrecken des Ganzen, das schleichende Entsetzen, seine Männer in Wellen fallen sehen zu müssen, zusehen zu müssen, wie sie durch die Hand der Aiel-Schattenfreunde starben.

Es war Perrin Aybaras Fehler. Hätte der Prophet das doch nur früher begriffen, damals am Anfang, noch bevor er den Lord Drachen als das erkannt hatte, was er war!

»Es ist mein Fehler«, flüsterte der Prophet, als die letzten seiner Anhänger starben. Bei einigen von ihnen hatte man mehrere Pfeile gebraucht, um sie aufzuhalten. Das hatte ihn mit Stolz erfüllt.

Langsam zwang er sich wieder auf die Füße, hielt sich die Schulter, aus der der Schaft herausragte. Er hatte zu viel Blut verloren. Schwindelig sackte er wieder auf die Knie.

Faile stieg von ihrem Stein und betrat die Lichtung. Zwei Frauen in Hosen folgten ihr. Sie erschienen besorgt, aber Faile ignorierte ihre Proteste, dass sie zurückbleiben sollte. Sie trat zu dem Propheten, dann zog sie das Messer aus dem Gürtel. Es war eine schöne Klinge, mit einem gegossenen Griff, den ein Wolfskopf zierte. Das war gut so. Der Anblick erinnerte den Propheten an den Tag, an dem er sich seine eigene Klinge verdient hatte. Der Tag, an dem sein Vater sie ihm gegeben hatte.

»Danke, dass du bei dem Angriff auf Malden geholfen hast, Masema«, sagte Faile und blieb direkt vor ihm stehen. Dann holte sie aus und rammte ihm diese Klinge direkt ins Herz. Er fiel nach hinten, das Blut strömte heiß über seine Brust.

»Manchmal muss eine Ehefrau das tun, was ihr Mann nicht tun kann«, hörte er Faile zu ihren Frauen sagen, während ihm die Augen zufallen wollten. »Was wir heute getan haben, war eine finstere Tat, aber sie war nötig. Keiner soll es meinem Mann sagen. Er darf es nie erfahren.«

Ihre Stimme wurde leiser. Der Prophet fiel.

Masema. Das war sein Name gewesen. An seinem fünfzehnten Geburtstag hatte er sich sein Schwert verdient. Sein Vater war so stolz gewesen.

Also ist es vorbei, dachte er und konnte die Augen nicht länger geöffnet halten. Habe ich es gut gemacht, Vater, oder habe ich versagt?

Es gab keine Antwort. Und dann vereinigte er sich mit der Leere und fiel in ein endloses Meer aus Dunkelheit.

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