Ruckartig erwachte Siuan. Etwas stimmte nicht. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Sie sprang förmlich von ihrer Pritsche. Unversehens kam eine dunkle Gestalt von der anderen Zeltseite heran, Stahl schabte gegen Stahl. Siuan erstarrte, umarmte reflexartig die Quelle und formte eine Lichtkugel.
Gareth Bryne stand aufmerksam da, die Klinge mit dem Reiher gezogen und bereit. Er trug nur seinen Lendenschurz, und sie musste sich davon abhalten, seinen muskulösen Körper anzustarren, der in viel besserer Form als bei den meisten nur halb so alten Männern war. »Was ist los?«, fragte er angespannt.
»Beim Licht!«, sagte Siuan. »Ihr schlaft mit Eurem Schwert?«
»Immer.«
» Egwene ist in Gefahr.«
»Was für eine Gefahr?«
»Das weiß ich nicht«, musste sie zugeben. »Wir trafen uns, und plötzlich verschwand sie. Ich glaube … ich glaube, Elaida hat sich entschieden, sie hinzurichten. Oder hat sie zumindest aus ihrer Zelle geholt und … ihr etwas angetan.«
Bryne fragte nicht nach Einzelheiten. Er schob das Schwert einfach wieder in die Scheide zurück, dann schlüpfte er in Hosen und Hemd. Siuan trug noch immer ihren nun zerknitterten blauen Rock mit der Bluse - es war zur Gewohnheit geworden, sich nach den Begegnungen mit Egwene auszuziehen, sobald Bryne schlief.
Eine Unruhe suchte sie heim, die sie nicht genau erklären konnte. Warum war sie nur so nervös? Es war nicht ungewöhnlich, dass Menschen geweckt wurden, während sie schliefen.
Aber die meisten Menschen waren auch nicht Egwene. Sie war eine Meisterin der Welt der Träume. Wenn sie etwas unerwartet geweckt hatte, hätte sie sich darum gekümmert und wäre danach zurückgekehrt, um Siuan zu beruhigen. Aber das war nicht geschehen, obwohl Siuan scheinbar eine Ewigkeit gewartet hatte.
Bryne trat vor sie; nun trug er seine grauen Hosen und den Uniformmantel. Er knöpfte den hohen Kragen zu; auf der linken Brustseite steckten drei Sterne, auf den Schultern goldene Epauletten.
Von draußen rief eine hektische Stimme. »General Bryne! Mein Lord General!«
Bryne schenkte ihr noch einen Blick, dann wandte er sich dem Zelteingang zu. »Kommt rein!«
Ein jugendlicher Soldat mit ordentlich geschnittenem schwarzen Haar drängte sich in das Zelt und salutierte flüchtig. Er entschuldigte sich nicht für die späte Störung - Brynes Männer wussten, dass sich ihr General darauf verließ, dass sie ihn falls nötig weckten. »Mein Lord«, sagte der Mann. »Berichte von den Spähern. In der Stadt tut sich etwas.«
»›Etwas‹, Rijids?«, fragte Bryne.
»Die Späher sind sich nicht sicher, mein Lord«, sagte der Mann und verzog das Gesicht. »Der Himmel ist bewölkt, die Nacht dunkel, und Ferngläser nutzen nicht viel. In der Nähe der Burg wurden Lichtblitze gesehen, wie das Schauspiel von Illuminatoren. Dunkle Schatten in der Luft.«
»Schattengezücht?«, fragte Bryne und verließ eilig das Zelt. Der Soldat und Siuan mit ihrer Leuchtkugel folgten ihm. Vom Mond würde ohnehin kaum ein Splitter zu sehen sein, und mit den allgegenwärtigen Wolken war es schwierig, überhaupt etwas zu erkennen. Die Offizierszelte um sie herum waren schlummernde dunkle Erhebungen, und das einzig wirklich erkennbare Licht waren die Wachfeuer der Wächter am Palisadeneingang.
»Es könnte Schattengezücht sein, mein Lord«, sagte der Soldat und trabte hinter Bryne her. »Geschichten berichten von Schattenkreaturen, die auf solche Weise fliegen. Die Späher sind sich jedoch nicht sicher, was sie da sehen. Aber die Lichtblitze gibt es auf jeden Fall.«
Bryne nickte und ging in Richtung der Wachfeuer. »Alarmiert die Nachtwache; ich will sie in Rüstung und aufgesessen, nur für alle Fälle. Schickt Läufer zu den Stadtbefestigungen. Und bringt mir mehr Informationen!«
»Ja, mein Lord.« Der Soldat salutierte und lief los.
Brynes Gesicht wurde von der über Siuans Hand schwebenden Leuchtkugel angestrahlt. »Schattengezücht würde es nicht wagen, die Weiße Burg anzugreifen«, sagte er. »Nicht ohne ausreichende Bodentruppen, und ich bezweifle doch sehr, dass sich hunderttausend Trollocs in der geringen Deckung dieses ebenen Geländes verbergen. Also was geht hier verflucht noch mal vor?«
»Seanchaner«, sagte Siuan und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. »Fischscheiße, Gareth! Das muss es sein. Egwene hat es prophezeit.«
Er nickte. »Ja. Einigen Gerüchten zufolge reiten sie auf Schattengezücht.«
»Fliegende Bestien«, sagte Siuan, »kein Schattengezücht. Egwene hat erzählt, dass man sie Raken nennt.«
Er warf ihr einen zweifelnden Blick zu, sagte aber bloß: »Warum sollten die Seanchaner so dumm sein, ohne zusätzliche Bodentruppen anzugreifen?«
Siuan schüttelte den Kopf. Sie war immer von der Annahme ausgegangen, dass ein Angriff der Seanchaner auf die Weiße Burg eine riesige Invasionsstreitmacht bedeutete, und Egwene hatte geglaubt, dass der Angriff noch Monate in der Zukunft lag. Beim Licht! Offensichtlich konnte auch Egwene sich irren.
Bryne wandte sich den Wachfeuern zu, die sich nun höher in die Nacht erhoben und ihr Licht auf die Palisade warfen. Im Inneren der Pfahlmauer erhoben sich Offiziere und weckten die Nachbarszelte. Lampen und Laternen erwachten flackernd zum Leben.
»Nun, solange sie Tar Valon angreifen, sind sie nicht unser Problem. Wir müssen nur …«
»Ich hole sie raus«, sagte da Siuan und überraschte sich selbst mit diesen Worten.
Bryne fuhr auf dem Absatz zu ihr herum und tauchte wieder in den Lichtschein ihrer Leuchtkugel. Auf seinem Kinn zeigten sich Bartstoppeln. »Was?«
»Egwene«, sagte Siuan. »Wir müssen sie dort herausholen. Das ist die perfekte Ablenkung, Gareth! Wir können dort reingehen und sie schnappen, ohne dass es jemand merkt.«
Er sah sie nur an.
»Was?«
»Ihr habt Euer Wort gegeben, sie nicht zu retten, Siuan.« Beim Licht, es fühlte sich wirklich gut an, wenn er ihren Namen benutzte!
Konzentration!, schalt sie sich. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Sie ist in Gefahr und braucht Hilfe.«
» Sie will unsere Hilfe aber nicht«, sagte Bryne streng. »Wir müssen uns darum kümmern, dass unserer Streitmacht nichts geschieht. Die Amyrlin ist davon überzeugt, dass sie allein zurechtkommt.«
»Das glaubte ich auch«, erwiderte Siuan. »Und seht, wohin mich das gebracht hat.« Sie schüttelte den Kopf und schaute zum fernen Turm von Tar Valon. Undeutlich konnte sie einen kurz aufflackernden Lichtblitz dort ausmachen. »Wenn Egwene von den Seanchanern spricht, dann erschaudert sie immer. Nur wenig kann sie erschüttern - nicht die Verlorenen und auch nicht der Wiedergeborene Drache. Gareth, Ihr habt ja keine Vorstellung, was die Seanchaner mit Frauen machen, die die Macht lenken können.« Sie erwiderte seinen Blick. »Wir müssen sie holen.«
»Damit will ich nichts zu tun haben«, sagte er stur.
»Auch gut«, fauchte Siuan. Dieser Narr! »Dann kümmert Euch um Eure Männer. Ich glaube, ich weiß, wer mir helfen wird.« Und sie ging los, zu einem Zelt innerhalb der Palisade.
Egwene stützte sich an der Korridorwand ab, als der Turm erneut erbebte. Die Steine selbst erzitterten. Mörtel regnete von der Decke, eine Fliese fiel von der Wand und zersplitterte zu tausend Scherben. Nicola schrie auf und klammerte sich an Egwene fest.
»Der Dunkle König!«, kreischte sie. »Die Letzte Schlacht! Sie ist da! «
»Nicola!«, fauchte Egwene und richtete sich wieder auf. »Beherrscht Euch. Das ist nicht die Letzte Schlacht. Das sind die Seanchaner.«
»Die Seanchaner?«, stammelte Nicola. »Aber ich habe immer geglaubt, sie wären bloß ein Gerücht!«
Alberne Göre, dachte Egwene und eilte in einen Seitengang hinein. Nicola rannte mit ihrer Lampe hinter ihr her. Egwene hatte sich richtig erinnert, und der nächste Korridor befand sich an der Ecke des Turms und wies ein Fenster auf. Sie bedeutete Nicola, sich an die Wand zu drücken, dann riskierte sie einen Blick in die Dunkelheit hinaus;
Wie erwartet schwebten dunkle geflügelte Schatten am Himmel. Sie waren zu groß für Raken. Also To’raken. Sie schossen in die Tiefe; um sie herum wirbelten Gewebe, die für Egwenes Augen pulsierend leuchteten. Feuerblitze bildeten sich und erhellten weibliche Paare, die auf den Rücken der To’raken ritten. Damane und Sul’dam.
Die beiden Flügel des Turms brannten teilweise lichterloh, und zu ihrem Entsetzen entdeckte Egwene im Turm selbst mehrere klaffende Löcher. To’raken klammerten sich wie Fledermäuse am Mauerwerk fest und entluden Soldaten und Damane in das Gebäude. Egwene sah zu, wie sich ein To’raken vom Turm löste; die Höhe erlaubte ihm, auf den normalen Startanlauf verzichten zu können. Die Kreatur war nicht so anmutig wie die kleineren Raken, aber ihr Reiter lenkte sie meisterhaft zurück in den Himmel. Sie flog direkt an Egwenes Fenster vorbei und ließ ihr Haar flattern. Leise Schreie waren zu vernehmen, als sie vorbeisauste. Entsetzte Schreie.
Es handelte sich gar nicht um einen Vernichtungsangriff - es war ein Raubzug! Ein Raubzug, um Marath’damane gefangen zu nehmen! Egwene zuckte zur Seite, als ein Feuerstoß am Fenster vorbeischoss und ein kurzes Stück weiter die Mauer traf. Stein bröckelte, der Turm der Weißen Burg bebte. Staub und Rauch wallten in einen Nebenkorridor.
Gleich würden Soldaten folgen. Soldaten und Sul’dam. Mit diesen Leinen. Egwene erschauderte und schlang die Arme um den Körper. Das kühle, fugenlose Metall. Die Übelkeit, die Erniedrigung, die Panik, die Verzweiflung und - schändliche - Schuld, ihrer Herrin nicht nach besten Kräften geholfen zu haben. Sie erinnerte sich an die heimgesuchte Miene einer Aes Sedai, deren Willen gebrochen wurde. Aber vor allem erinnerte sie sich an ihr eigenes Entsetzen.
Das Entsetzen der Erkenntnis, dass sie irgendwann genau wie die anderen sein würde. Nur eine weitere Sklavin, deren Glück darin bestand, dienen zu dürfen.
Die Burg wankte. In fernen Korridoren blitzte Feuer auf, begleitet von Rufen und Verzweiflungsschreien. Sie konnte Rauch riechen. Oh, beim Licht! Geschah das hier wirklich? Sie würde nicht zu ihnen zurückkehren. Sie würde sich nicht wieder von ihnen an die Leine legen lassen. Sie musste fliehen! Sie musste sich verstecken, fliehen, entkommen …
Nein!
Sie richtete sich auf.
Nein, sie würde nicht fliehen. Sie war die Amyrlin.
Nicola drückte sich wimmernd an die Wand. »Sie kommen, um uns zu holen«, flüsterte sie. »O beim Licht, sie kommen!«
»Sollen sie doch kommen!«, brüllte Egwene und öffnete sich der Quelle. Glücklicherweise war genug Zeit vergangen, um die Wirkung der Spaltwurzel zu verringern, und sie konnte ein Rinnsal der Macht ergreifen. Es war winzig, vielleicht die geringste Menge an Macht, die sie je gelenkt hatte.
Damit würde sie nicht einmal einen Strang Luft weben können, um ein Blatt Papier zu verschieben. Aber es würde reichen. Es würde reichen müssen. »Wir werden kämpfen!«
Nicola schaute zu ihr auf und schniefte. »Ihr könnt kaum die Macht lenken, Mutter!«, schluchzte sie. »Das sehe ich doch. Wie können nicht gegen sie kämpfen!«
»Wir können und wir werden«, erwiderte Egwene energisch. »Nicola, steht auf! Ihr seid eine Novizin der Weißen Burg und keine verängstigte Milchmagd.«
Das Mädchen schaute auf.
»Ich werde Euch beschützen«, sagte Egwene. »Das verspreche ich Euch.«
Das Mädchen schien Mut zu fassen und erhob sich. Egwene schaute zu der Stelle in dem Korridor, wo der Blitz eingeschlagen war. Dort war alles dunkel und die Wandlampen erloschen, aber sie glaubte sich bewegende Schatten zu sehen. Sie würden kommen, und sie würden jede Frau anleinen, die sie fanden.
Egwene wandte sich in die andere Richtung. Dort ertönten noch immer leise Schreie. Die gleichen, die sie beim Aufwachen gehört hatte. Sie hatte keine Ahnung, wohin ihre Wächterin verschwunden war, und es war ihr auch egal.
»Kommt«, sagte sie und setzte sich in Bewegung, hielt sich an der winzigen Menge Macht fest, wie sich eine Ertrinkende an einem Rettungsseil festklammert. Nicola folgte ihr; zwar schluchzte sie noch immer, aber sie kam. Augenblicke später entdeckte Egwene das, was sie zu finden gehofft hatte. Der Korridor war voller Mädchen, einige in ihren weißen Kleidern, andere in Nachthemden. Die Novizinnen drängten sich eng aneinander, und viele schrien bei jedem Treffer auf, der den Turm der Weißen Burg erzittern ließ. Vermutlich wünschten sie sich verzweifelt, unten zu sein, wo sich die Novizinnenquartiere früher befunden hatten.
»Die Amyrlin!«, riefen einige aus, als Egwene den Korridor betrat. Sie waren ein trauriger Haufen, angeleuchtet von Kerzen in verängstigten Händen. Ihre Fragen überschlugen sich, erblühten wie Holzschimmelpilze im Frühling.
» Was geschieht hier?«
»Werden wir angegriffen?«
»Ist es der Dunkle König?«
Egwene hob die Hände, und glücklicherweise verstummten die Mädchen. »Die Weiße Burg wird von den Seanchanern angegriffen«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Sie sind gekommen, um die Frauen gefangen zu nehmen, die die Macht lenken können; ihnen stehen Möglichkeiten offen, diese Frau dazu zu zwingen, ihnen zu dienen. Es ist nicht die Letzte Schlacht, aber wir schweben in höchster Gefahr. Ich habe nicht vor, sie auch nur eine einzige von euch mitnehmen zu lassen. Ihr gehört mir.«
Die Mädchen schauten sie an, voller Hoffnung und Nervosität. Es waren ungefähr fünfzig, vielleicht auch mehr. Es würde reichen müssen.
»Nicola, fasmen, Yeteri, Inala«, sagte Egwene und wandte sich an einige der Stärkeren unter den Novizinnen. »Tretet vor. Der Rest von euch passt jetzt genau auf. Ich werde euch jetzt etwas beibringen.«
»Was denn, Mutter?«, fragte eines der Mädchen.
Hoffentlich funktioniert das, dachte Egwene. »Ich werde euch beibringen, wie man sich miteinander verknüpft.«
Einige keuchten auf. Das war nichts, was man Novizinnen lehrte, aber Egwene wollte dafür sorgen, dass die Sul’dam in den Novizinnenquartieren keine leichte Beute fanden!
Die Methode zu lehren nahm eine Besorgnis erregende Zeitspanne in Anspruch, und jeder Augenblick wurde von weiteren Erschütterungen und neuen Schreien zerrissen. Die Novizinnen hatten Angst, und das erschwerte es einigen von ihnen, die Quelle zu umarmen, geschweige denn eine neue Technik zu lernen. Was Egwene nach nur wenigen Versuchen gemeistert hatte, dazu brauchten die Novizinnen fünf angsterfüllte Minuten.
Nicola war eine Hilfe - ihr hatte man schon in Salidar beigebracht, wie man eine Verknüpfung herstellte -, und sie konnte bei der Demonstration helfen. Egwene erschuf mit ihr einen Zirkel. Die junge Novizin öffnete sich der Quelle, ergab sich ihr aber nicht ganz, sondern ließ Egwene über sie die Macht in sich aufnehmen. Es funktionierte! Egwene verspürte ein wildes Hochgefühl, als die Eine Macht, die man ihr viel zu lange in vernünftiger Menge vorenthalten hatte, in sie hineinströmte! Wie süß sie doch war! Die Welt um sie herum war viel lebendiger, Geräusche viel prägnanter, Farben viel leuchtender.
Der Kitzel ließ sie lächeln. Sie konnte Nicola spüren, ihre Angst und ihre überschäumenden Gefühle. Egwene hatte an genug Zirkeln teilgenommen, um zu wissen, wie sie sich von Nicola abgrenzen musste, aber sie erinnerte sich, wie sie sich beim ersten Mal in etwas viel Größeres als sie selbst hineingerissen gefühlt hatte.
Es bedurfte einer bestimmten Fertigkeit, sich für einen Zirkel zu öffnen. Es war nicht immens schwierig, aber sie hatten nicht viel Zeit. Glücklicherweise begriffen es die ersten Mädchen bald. Yeteri, eine zierliche Blondine, die noch immer ihr Nachthemd trug, war die Erste. Kurz darauf konnte es auch Inala, eine schlanke Domani. Begierig bildete Egwene zusammen mit Nicola und den anderen beiden Novizinnen einen Zirkel. Macht strömte in sie hinein.
Als Nächstes ließ sie die anderen üben. Aus Unterhaltungen mit den Novizinnen während ihres Aufenthalts in der Burg hatte sie eine gewisse Vorstellung, wer von ihnen am geschicktesten mit Geweben und wer am vernünftigsten war. Das waren nicht immer die Stärksten, aber das würde auch keine Rolle spielen, solange ein Zirkel sie unterstützte. Eilig teilte Egwene sie zu Gruppen ein und erklärte, wie man durch eine Verknüpfung auf die Quelle zugriff. Mit etwas Glück würden zumindest einige von ihnen es kapieren.
Am wichtigsten war für Egwene, dass sie jetzt Zugriff auf die Macht hatte. Eine ordentliche Menge, beinahe genauso viel, wie sie normalerweise gewöhnt war - ohne Spaltwurzel. Sie lächelte voller Vorfreude und fing an zu weben, und die Komplexität ihrer Gewebe ließ einige der Mädchen vor Ehrfurcht staunen. »Was ihr hier seht, ist etwas, das ihr nicht ausprobieren werdet«, warnte Egwene, »nicht einmal jene von euch, die die Zirkel anführen. Das ist viel zu schwierig und gefährlich.«
Ein Strich Licht spaltete die Luft am Ende des Korridors und rotierte. Egwene hoffte, dass sich das Wegetor am richtigen Ort öffnete; sie richtete sich nach Siuans Schilderung, die etwas oberflächlich gewesen war; allerdings hatte sie ja auch noch Elaynes ursprüngliche Ortsbeschreibung.
»Außerdem«, fuhr sie streng fort, »werdet ihr dieses Gewebe vor niemandem ohne meine ausdrückliche Erlaubnis wiederholen, nicht einmal vor anderen Aes Sedai.« Allerdings bezweifelte sie, dass es überhaupt ein Problem sein würde, denn das Gewebe war sehr kompliziert, und nur wenige Novizinnen würden bereits die Fähigkeiten haben, es zu wiederholen.
» Mutter?«, quiekte ein Mädchen namens Tamala. » Ergreift Ihr die Flucht?« In ihrer Stimme lag Angst, aber vor allem die Hoffnung, dass Egwene sie in diesem Fall mitnahm.
»Nein«, erwiderte Egwene energisch. »Ich komme sofort wieder zurück. Und wenn ich zurückkomme, will ich mindestens fünf gute fertige Zirkel sehen!«
Und mit Nicola und den anderen beiden Mädchen im Schlepptau trat Egwene durch das Wegetor in einen dunklen Raum. Sie webte eine Lichtkugel, und die Helligkeit enthüllte ein Lager mit Regalen an den Wänden. Erleichtert seufzte sie. Sie hatte den richtigen Ort gefunden.
Die Regale waren mit seltsam geformten Gegenständen gefüllt. Kristallkugeln, kleine exotische Statuetten, hier ein gläserner Anhänger, der das Licht blau widerspiegelte, dort ein umfangreicher Satz metallene Handschuhe, deren Manschetten mit Feuertropfen geschmückt waren. Egwene ging los und ließ die drei Novizinnen mit staunenden Blicken zurück. Vermutlich konnten sie spüren, was Egwene bereits wusste - das waren Gegenstände der Einen Macht. Ter ‘angreale, Angreale, Sa’angreale. Relikte aus dem Zeitalter der Legenden.
Egwene ließ den Blick über die Regalreihen schweifen. Gegenstände der Macht waren berüchtigt dafür, sich nur unter großen Gefahren benutzen zu lassen, wenn man nicht genau wusste, was sie vollbringen konnten, feder Einzelne dieser Gegenstände konnte sie umbringen. Wenn sie doch nur …
Mit einem breiten Lächeln trat sie an ein Regal und nahm ein weißes, gerilltes Zepter von der Länge ihres Unterarms vom obersten Brett. Sie hatte es gefunden! Andächtig hielt sie es einen Augenblick lang, dann griff sie durch es hindurch nach der Einen Macht. Eine unfassbare, beinahe überwältigende Flut strömte in sie hinein.
Yeteri keuchte deutlich hörbar, als sie es spürte. Nur wenige Frauen hatten jemals so viel Macht gehalten. Wie ein tiefer Atemzug fuhr sie in Egwene hinein. Entfachte in ihr das Verlangen, wie ein Löwe zu brüllen. Mit einem breiten Grinsen schaute sie die drei Novizinnen an. »Jetzt sind wir bereit!«, verkündete sie.
Sollten die Sul’dam nur versuchen, sie abzuschirmen, solange sie eines der mächtigsten Sa’angreale hielt, die die Aes Sedai besaßen. Solange sie die Amyrlin war, würde die Weiße Burg nicht fallen! Nicht ohne einen Kampf wie die Letzte Schlacht selbst.
Siuan fand Gawyns Zelt hell erleuchtet vor; Schatten zuckten bei jeder Bewegung des Mannes über die Wände. Sein Zelt stand verdächtig nah an dem Wachtposten; er durfte innerhalb der Palisaden wohnen, vermutlich, damit Bryne - und die Wächter - ihn im Auge behalten konnten.
Bryne, der nun einmal der sture Teufelsfisch war, der er war, war natürlich nicht zu seinen Männern gegangen, wie sie ihm befohlen hatte. Stattdessen war er ihr fluchend gefolgt und hatte dabei nach seinen Offizieren gerufen, statt sie am Posten zu treffen. Als sie vor dem Zelt des jungen Gawyn stehen blieb, trat er an ihre Seite, die Hand auf dem Schwertgriff. Ungehalten sah er sie an. Nun ja. Sie würde sich bestimmt nicht von ihm vorschreiben lassen, wie sie sich ehrenvoll zu verhalten hatte! Sie würde tun, was ihr gefiel.
Auch wenn Egwene später sehr, sehr wütend auf sie sein würde. Am Ende wird sie mir dafür danken, dachte Siuan. »Gawyn!«, brüllte sie.
Der ansehnliche junge Mann kam hüpfend aus dem Zelt geschossen, weil er seinen linken Stiefel noch nicht richtig anhatte. In der Hand hielt er das in der Scheide steckende Schwert, der Schwertgürtel an der Taille saß noch nicht richtig. »Was ist los?«, fragte er und sah sich im Lager um. »Ich habe Rufe gehört. Werden wir angegriffen?«
»Nein«, erwiderte Siuan. »Aber vermutlich Tar Valon.«
»Egwene!«, rief Gawyn und fädelte eilig den Gürtel durch die letzten Schlaufen. Beim Licht, der junge kannte wirklich nur ein Thema.
Siuan verschränkte die Arme, »junge, ich stehe in Eurer Schuld, weil Ihr mich aus Tar Valon herausgeholt habt. Wenn ich Euch dabei helfe, nach Tar Valon hineinzukommen, sind wir dann quitt?«
»Auf jeden Fall«, erwiderte Gawyn begierig und hakte das Schwert fest. »Da bekommt Ihr sogar noch etwas heraus!«
Sie nickte. »Dann besorgt uns Pferde. Nur für uns beide.«
»Ich riskiere es«, sagte Gawyn. »Endlich!«
»Das ist hirnverbrannt, dafür kriegt Ihr meine Pferde nicht!«, sagte Bryne streng.
Siuan ignorierte ihn. »In den Ställen sind Pferde, die den Aes Sedai gehören, Gawyn«, sagte sie. »Holt mir eines von ihnen. Aber ein sanftes Tier. Ein sehr, sehr sanftes Tier.«
Gawyn nickte und rannte in die Nacht. Siuan folgte ihm viel langsamer und schmiedete Pläne. Das wäre alles so viel einfacher gewesen, hätte sie ein Wegetor erschaffen können, aber dafür war sie nicht stark genug in der Macht. Vor ihrer Dämpfung war sie das durchaus gewesen, aber sich zu wünschen, dass die Dinge anders waren, war ungefähr so nützlich wie der Wunsch, dass der gefangene Silberhecht stattdessen eine Forelle war. Man verkaufte, was man hatte, und war zufrieden und glücklich, überhaupt etwas gefangen zu haben.
Bryne ging neben ihr her. Konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? »Siuan«, sagte er leise. »Hört doch zu. Das ist Wahnsinn! Wie wollt Ihr überhaupt dort hineingelangen?«
»Shemerin ist ja auch hinausgekommen.«
»Das war aber vor der Belagerung.« Bryne klang richtig verzweifelt, »jetzt ist der Ort viel besser bewacht.«
Siuan schüttelte den Kopf. » Shemerin wurde ständig überwacht. Sie ist durch ein Wassertor hinaus; ich wette, es ist immer noch unbewacht. Ich habe nie davon gehört, und ich war die Aymrlin. Ich besitze einen Plan, auf dem das Tor markiert ist.«
Bryne zögerte. Dann verhärtete sich seine Miene. »Das spielt keine Rolle. Allein habt ihr beiden trotzdem keine Chance.«
»Dann begleitet uns«, sagte Siuan.
»Ich werde keinen Anteil daran haben, dass Ihr schon wieder Eure Eide brecht.«
» Egwene sagte, dass wir etwas unternehmen könnten, wenn es den Anschein hat, dass sie in Gefahr schwebt, hingerichtet zu werden«, sagte Siuan. »Sie hat mir gesagt, dass sie sich dann von uns retten lassen wird! Nun, so wie sie heute Abend bei unserem Treffen verschwunden ist, neige ich zu der Annahme, dass sie in Gefahr schwebt.«
»Aber daran ist nicht Elaida schuld, sondern die Seanchaner!«
»Das wissen wir doch gar nicht genau.«
»Unwissenheit ist keine Entschuldigung«, sagte Bryne streng und trat näher an sie heran. »Ihr seid viel zu schnell mit dem Eidbruch bei der Hand, Siuan, und ich will nicht, dass Euch das zur Gewohnheit wird. Ob Aes Sedai oder nicht, ob ehemalige Amyrlin oder nicht, Menschen müssen Regeln und Grenzen haben. Ganz davon zu schweigen, dass Euch dieser Versuch vermutlich umbringen wird!«
»Und werdet Ihr mich aufhalten?« Sie hielt noch immer die Quelle umarmt. »Glaubt Ihr, Ihr schafft das?«
Er knirschte mit den Zähnen, aber er erwiderte nichts darauf. Siuan drehte sich um und ließ ihn stehen, ging direkt auf die Feuer am Palisadentor zu.
»Verdammte Frau«, sagte Bryne hinter ihr. »Ihr werdet noch mein Tod sein.«
Sie drehte sich um und hob eine Braue.
»Ich komme ja schon«, rief er und umklammerte den Griff seines Schwertes. Er bot einen imposanten Anblick; die scharfen Falten seines Mantels passten zu seiner erstarrten Miene. »Aber es gibt zwei Bedingungen.«
»Nennt sie mir«, sagte sie.
»Zuerst geht Ihr mit mir den Behüterbund ein.«
Siuan starrte ihn an. Er wollte … beim Licht! Bryne wollte ihr Behüter sein? Aufregung durchflutete sie wie eine Woge.
Aber sie hatte nie daran gedacht, sich einen neuen Behüter zu nehmen, nicht seit Alrics Tod. Sein Verlust war eine schreckliche Erfahrung gewesen. Wollte sie das Risiko eingehen, das noch einmal zu erleben?
Andererseits, konnte sie die Gelegenheit verstreichen lassen, dass sich dieser Mann mit ihr verband, dass sie seine Gefühle wahrnahm und ihn an ihrer Seite wusste? Nach allem, wovon sie geträumt und was sie sich gewünscht hatte?
Von einem ehrfurchtsvollen Gefühl ergriffen, ging sie zu Bryne zurück, dann legte sie ihm die Hand auf die Brust, webte die erforderlichen Gewebe aus Geist und hüllte ihn damit ein. Er keuchte auf, als ein neues Bewusstsein in ihnen beiden erblühte, eine neue Verbindung. Sie konnte seine Gefühle wahrnehmen, seine ungeahnt tiefe Sorge um sie spüren. Sie stand weit über seiner Sorge um Egwene, oder die Sorge um seine Soldaten! Oh, Gareth, dachte sie und wurde sich bewusst, wie die Süße seiner Liebe sie lächeln ließ.
»Ich habe mich immer gefragt, wie sich das anfühlen würde«, sagte Bryne und ballte im Fackelschein mehrmals die Faust. Er klang erstaunt. »Könnte ich das doch an jeden Mann in meinem Heer weitergeben!«
Siuan schnaubte. »Ich bezweifle doch sehr, dass das ihren Frauen und Familien gefallen würde.«
»Das würde es, wenn es die Soldaten am Leben erhält«, erwiderte Bryne. »Ich könnte tausend Meilen laufen, ohne einmal nach Luft zu schnappen. Ich könnte gegen hundert Gegner auf einmal antreten und sie alle auslachen.«
Sie verdrehte die Augen. Männer! Da hatte sie ihm eine zutiefst persönliche und gefühlsmäßige Verbindung mit einem anderen Menschen gegeben - eine Verbindung, wie sie nicht einmal Eheleute erfuhren -, und er konnte bloß daran denken, wie sehr sich doch sein Geschick im Schwertkampf verbessert haben würde!
» Siuan!«, rief da eine Stimme. » Siuan Sanche!«
Gawyn ritt auf einem schwarzen Wallach heran. Neben ihm trottete ein weiteres Pferd - eine zottelige braune Stute. »Bela!«, rief Siuan aus.
»Ist sie geeignet?«, erkundigte sich Gawyn und klang leicht außer Atem. »Bela war einst Egwenes Pferd, das weiß ich noch, und der Stallmeister meinte, sie sei das sanfteste Tier, das er hat.«
»Sie wird reichen«, meinte Siuan und wandte sich wieder Bryne zu. »Ihr sagtet etwas von zwei Bedingungen?«
»Die zweite erkläre ich Euch später.« Bryne klang noch immer etwas atemlos.
Siuan verschränkte die Arme. »Das klingt ziemlich mehrdeutig. Ich gebe nicht gern Versprechen, von denen ich nicht weiß, worum es dabei geht.«
»Nun, Ihr müsst Euch trotzdem darauf einlassen.« Bryne erwiderte ihren Blick.
»Schön, aber es sollte sich besser um nichts Unanständiges handeln, Gareth Bryne.«
Er runzelte die Stirn.
»Was?«
»Es ist seltsam«, meinte er und musste lächeln. »Ich habe nun Anteil an Euren Gefühlen. Zum Beispiel kann ich mit Sicherheit sagen, dass …« Er unterbrach sich, und sie konnte seine Verlegenheit fühlen.
Er weiß, dass ein Teil von mir will, dass er etwas Unanständiges verlangt!, erkannte Siuan entsetzt. Verdammte Asche!
Sie fühlte, wie sie errötete. Das würde doch reichlich unbequem werden. »Ach, beim gesegneten Licht … ich stimme Euren Bedingungen zu, Ihr Schurke. Und jetzt bewegt Euch! Wir müssen los.«
Er nickte. »Ich muss nur noch meinen Hauptleuten befehlen, die Sache in die Hände zu nehmen, falls sich der Kampf aus der Stadt heraus verlagert. Eine Abteilung meiner besten hundert Männer bringe ich mit. Die sollten wir reinbekommen, vorausgesetzt, dieses Tor ist passierbar.«
»Das wird es«, sagte sie. »Geht!«
Da salutierte er doch tatsächlich mit unbewegter Miene vor ihr, aber ihr entging nicht sein innerliches Grinsen - und vermutlich wusste er das genau. Dieser Schuft! Sie wandte sich Gawyn zu, der auf seinem Wallach saß und anscheinend nichts begriff.
»Worum geht es hier eigentlich?«, wollte er wissen.
»Wir müssen nicht allein gehen.« Siuan holte tief Luft, stählte sich und kletterte in Belas Sattel. Pferden konnte man nicht vertrauen, nicht einmal Bela, auch wenn sie besser als die meisten war. »Das bedeutet, dass unsere Chancen, lange genug am Leben zu bleiben, um Egwene zu holen, gerade beträchtlich gestiegen sind. Was gut ist, denn nach unserer tollkühnen Aktion wird sie zweifellos das Privileg haben wollen, uns persönlich umzubringen.«
Adelorna Bastine rannte durch die Gänge der Weißen Burg. Dieses eine Mal bereute sie die erhöhte Wahrnehmung, die die Macht mit sich brachte. Gerüche erschienen ihr viel ausgeprägter, aber alles, was sie roch, war brennendes Holz und sterbendes Fleisch. Die Farben waren lebhafter, doch alles, was sie sah, war geborstener Stein, wo Feuerbälle getroffen hatten. Laute waren schärfer, aber alles, was sie hörte, waren Schreie, Flüche und das heisere Bellen dieser schrecklichen Kreaturen in der Luft.
Ihr Atem ging stoßweise, als sie einen dunklen Korridor entlang eilte. An einer Kreuzung blieb sie stehen, legte eine Hand auf die Brust. Sie musste den Widerstand finden. Beim Licht, sie konnten doch nicht alle gefallen sein, oder doch? Eine Abteilung Grüne hatte an ihrer Seite gekämpft. Sie hatte fosaine sterben sehen, als ein Gewebe aus Erde die Wand neben ihr vernichtet hatte, und sie hatte gesehen, wie man Marthera mit einer Art metallenen Leine um den Hals gefangen hatte. Adelorna wusste nicht, wo ihre Behüter waren. Einer war verletzt. Einer lebte. Der Letzte … sie wollte nicht daran denken. Mochte das Licht dafür sorgen, dass sie zumindest bald den verletzten Talric erreichte.
Sie wischte sich Blut von der Stirn, wo sie ein Steinsplitter getroffen hatte. Da waren so viele Eindringlinge mit ihren seltsamen Helmen und den Frauen, die man als Waffe benutzte. Und sie waren so geschickt mit diesen tödlichen Geweben! Adelorna verspürte eine tiefe Scham. Die Kampf-Ajah, von wegen! Die Grünen an ihrer Seite hatten nur wenige Minuten durchgehalten, bevor sie besiegt wurden.
Schwer atmend setzte sie sich wieder in Bewegung. Sie blieb dem äußeren Rand des Turms fern, wo sich die Invasoren am ehesten aufhielten. Hatte sie ihre Verfolger abschütteln können? Wo war sie überhaupt? Auf der zweiundzwanzigsten Ebene? Sie wusste nicht mehr, wie viele Treppen sie auf ihrer Flucht passiert hatte.
Da erstarrte sie; rechts von ihr lenkte jemand die Macht. Das konnte Angreifer bedeuten, aber auch Schwestern. Sie zögerte, knirschte mit den Zähnen. Sie war Generalhauptmann der Grünen Ajah! Sie konnte nicht einfach weglaufen und sich verstecken.
Fackelschein flackerte aus dem fraglichen Durchgang, begleitet von den unheilverkündenden Schatten von Männern in seltsamen Rüstungen. Eine Abteilung Eindringlinge eilte um die Ecke, begleitet von zwei Frauen, die Sorte, die eine Leine miteinander verband. Ohne es zu wollen, stieß Adelorna einen leisen Schrei aus und rannte los, so schnell ihre Füße sie trugen. Eine Abschirmung bedrängte sie, aber sie hielt Saidar zu fest umklammert, und sie konnten sie nicht richtig erfassen, bevor sie um eine Ecke bog. Keuchend und wie benommen floh sie weiter.
Die nächste Ecke, und beinahe rannte sie aus einem Loch in der Außenwand. Am Abgrund schwankend, schaute sie auf einen Himmel voller schrecklicher Ungeheuer und Feuerblitze. Mit einem Aufschrei warf sie sich von der Öffnung zurück. Rechts von ihr übersäten Steintrümmer den Boden. Sie stolperte über das Geröll. Der Korridor führte in diese Richtung weiter! Sie musste…
Eine Abschirmung schob sich wuchtig zwischen sie und die Quelle, und dieses Mal rastete sie ein. Adelorna keuchte auf und ging taumelnd zu Boden. Man konnte sie nicht gefangen nehmen! Man würde sie nicht gefangen nehmen! Alles, nur das nicht!
Sie schleppte sich weiter, aber ein Strom Luft schlang sich um ihren Knöchel und schleifte sie zurück über die zerbrochenen Fliesen. Nein! Man zerrte sie direkt zu den Soldaten, die jetzt von zwei mit Leinen verbundenen Frauenpaaren begleitet wurden, jedes Paar bestand aus einer Frau in einem grauen und einer in einem roten und blauen Kleid, das ein Blitzmuster aufwies.
Eine weitere Frau in Rot und Blau kam auf sie zu. In den Händen hielt sie etwas Silbriges. Adelorna schrie fassungslos auf, stemmte sich gegen die Abschirmung. Die Frau ging in aller Ruhe auf die Knie und ließ einen Silberkragen um Adelornas Hals zuschnappen.
Das konnte nicht geschehen! Das durfte nicht geschehen!
»Ah, sehr schön«, sagte die Frau in einem schleppenden Akzent. »Ich heiße Gregana, und du wirst Sivi sein. Sivi wird eine gute Damane sein. Das erkenne ich sofort. Lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet, Sivi.«
»Nein«, wisperte Adelorna.
»Ja.« Gregana lächelte zufrieden.
Und dann löste sich der Kragen völlig unerwartet von Adelornas Hals und fiel zu Boden. Einen Augenblick lang sah Gregana völlig verblüfft aus, bevor sie ein Feuerball verschlang.
Adelorna riss die Augen weit auf und wich vor der plötzlichen Hitze zurück. Vor ihr sackte eine Leiche in einem roten und blauen Kleid qualmend und nach verbranntem Fleisch stinkend zu Boden. Erst da wurde sich Adelorna einer außerordentlich mächtigen Quelle der Macht hinter ihr bewusst.
Die Eindringlinge schrien auf, die Frauen in Grau webten Abschirmungen. Das erwies sich als Fehler, denn ihre Leinen lösten sich, als peitschende Ströme aus Luft ihre Verschlüsse mit gauklerhafter Geschicklichkeit öffneten. Einen Herzschlag später verschwand eine der Frauen in Rot und Blau in einem Lichtblitz, während die andere von Flammenzungen eingehüllt wurde, und zwar mit einer Schnelligkeit, die an zubeißende Schlangen erinnerte. Sie starb schreiend, und ein Soldat rief etwas. Offensichtlich handelte es sich um einen Rückzugsbefehl, denn die Soldaten ergriffen die Flucht und ließen die beiden Frauen zurück, die von den Strömen aus Luft von ihren Leinen befreit worden und jetzt völlig verängstigt waren.
Zögernd drehte sich Adelorna um. Ein paar Schritte entfernt stand eine Frau in Weiß auf dem Schutthaufen, umgeben von einer gewaltigen Aura der Macht, den Arm in Richtung der flüchtenden Soldaten ausgestreckt. Ihr Blick war wild. Die Frau stand da wie die personifizierte Vergeltung, eingehüllt in einen Sturm aus Saidars Macht. Die Luft selbst schien zu leuchten, und ihr braunes Haar flatterte im Wind, der durch die Mauerlücke strich. Egwene al’Vere.
»Schnell«, sagte Egwene. Eine Gruppe Novizinnen kletterte über das Geröll und half Adelorna wieder auf die Füße. Erstaunt stand sie da. Sie war frei! Andere Novizinnen eilten los und ergriffen die beiden von der Leine befreiten Frauen in Grau - die seltsamerweise einfach dort knien blieben. Sie konnten die Macht lenken; Adelorna konnte das unmissverständlich wahrnehmen. Warum wehrten sie sich nicht? Stattdessen schienen sie zu weinen.
»Bringt sie zu den anderen«, befahl Egwene, stieg über die Trümmer und schaute durch die Lücke in der Wand. »Ich will…« Sie erstarrte und hob die Hände.
Plötzlich traten weitere Gewebe um Egwene zum Vorschein. Beim Licht! War das etwa Vorsas Sa’angreal in ihrer Hand, das weiße Zepter? Wo hatte Egwene denn das her? Lichtblitze zuckten aus ihrer geöffneten Hand und schossen durch die Öffnung, dann kreischte draußen etwas auf. Adelorna trat an ihre Seite und umarmte die Quelle; sie kam sich wie eine Närrin vor, weil sie sich hatte gefangen nehmen lassen. Egwene schlug erneut zu, und ein weiteres dieser fliegenden Ungeheuer stürzte in die Tiefe.
»Und wenn sie Gefangene tragen?«, fragte Adelorna und sah zu, wie eine der Bestien in Egwenes Flammen eingehüllt abstürzte.
»Dann sind diese Gefangenen tot besser dran«, sagte Egwene und sah sie an. »Glaubt mir. Ich weiß das.« Sie wandte sich den Novizinnen zu. »Alle weg von dem Loch. Diese Blitze könnten Aufmerksamkeit erregt haben. Shanal und Clara, ihr beobachtet diese Lücke aus der Ferne. Rennt zu uns, falls hier To’raken landen. Greift sie auf keinen Fall an.«
Zwei Mädchen nickten und nahmen ihre Positionen in den Trümmern ein. Die anderen eilten los und zogen die beiden seltsamen Frauen der Invasoren mit sich. Egwene schloss sich ihnen an, wie ein General hinter den Schlachtreihen. Und vielleicht war sie das sogar. Adelorna beeilte sich, den Anschluss nicht zu verlieren. »Nun«, sagte sie, »das habt Ihr hübsch organisiert, Egwene, obwohl es gut ist, dass jetzt eine Aes Sedai…«
Egwene erstarrte. Diese Augen, sie blickten so ruhig, so kontrolliert. »Bis diese Bedrohung vorbei ist, habe ich das Kommando. Ihr werdet mich als Mutter ansprechen. Ihr könnt mir später eine Buße auferlegen, wenn Ihr das müsst, aber im Augenblick darf meine Autorität nicht infrage gestellt werden. Ist das klar?«
Und zu ihrer eigenen Überraschung sagte Adelorna, ohne zu zögern: »ja, Mutter!«
»Gut. Wo sind Eure Behüter?«
»Einer ist verwundet«, antwortete Adelorna. »Einer ist bei den anderen in Sicherheit. Einer ist tot.«
»Beim Licht, Frau, und da seid Ihr noch auf den Beinen?« Adelorna drückte den Rücken durch. »Habe ich eine Wahl?«
Egwene nickte. Warum erweckte ihr respektvoller Blick in Adelorna das Gefühl, gleich vor Stolz bersten zu müssen?
»Nun, ich bin froh, dass ich Euch habe«, sagte Egwene und setzte sich wieder in Bewegung. »Wir haben nur sechs Aes Sedai gerettet, und davon gehört keine zu den Grünen, und wir haben Probleme, die Seanchaner im östlichen Treppenhaus festzuhalten. Eine der Novizinnen wird Euch zeigen, wie man die Leinen aufschließt; geht aber kein Risiko ein. Grundsätzlich ist es einfacher - und viel sicherer -, die Damane zu töten. Wie vertraut seid Ihr mit den Lagerräumen für die Angreale?«
»Sogar sehr vertraut«, erwiderte Adelorna.
»Ausgezeichnet«, sagte Egwene und webte beiläufig ein Gewebe von einer Komplexität, wie sie Adelorna nur selten gesehen hatte. Ein Lichtbalken durchschnitt die Luft, verdrehte sich und schuf ein Loch, das in Finsternis hineinführte. »Lucain, lauft und sagt den anderen, dass sie warten sollen. Ich bringe gleich neue Angreale.«
Eine brünette Novizin nickte und eilte los. Adelorna starrte noch immer das Loch an. »Schnelles Reisen«, sagte sie ausdruckslos. »Ihr habt es tatsächlich entdeckt. Ich habe die Berichte für Tagträume gehalten.«
Egwene sah sie an. »Ich hätte Euch das nie gezeigt, aber ich habe soeben den Bericht erhalten, dass Elaida das Wissen über dieses Gewebe verbreitet hat. Damit ist das Schnelle Reisen kein Geheimnis mehr. Das bedeutet, dass die Seanchaner es vermutlich jetzt auch haben, vorausgesetzt, sie haben welche der Frauen erwischt, denen es Elaida beigebracht hat.«
»Muttermilch in einer Tasse!«
»In der Tat«, sagte Egwene. Ihr Blick war eisig. »Wir müssen sie aufhalten und jeden To’raken vernichten, den wir sehen, ob sie Gefangene tragen oder nicht. Wenn es auch nur eine Möglichkeit gibt, sie daran zu hindern, mit jemandem nach Ebou Dar zurückzukehren, der das Reisen beherrscht, dann müssen wir sie ergreifen.« Adelorna nickte.
»Kommt«, sagte Egwene. »Ich muss wissen, welche Gegenstände in diesem Lager Angreale sind.« Sie trat in das Loch hinein.
Adelorna stand noch immer wie betäubt an Ort und Stelle und dachte über das nach, was sie gerade erfahren hatte. »Ihr hättet fliehen können«, sagte sie dann. »Ihr hättet zu jeder Zeit fliehen können.«
Egwene drehte sich zu ihr um und schaute durch das Portal. » Fliehen?«, fragte sie. »Wäre ich gegangen, wäre ich nicht vor Euch geflohen, Adelorna, ich hätte Euch alle im Stich gelassen. Ich bin der Amyrlin-Sitz. Mein Platz ist hier. Ich bin mir sicher, dass Ihr gehört habt, dass ich diesen Angriff Geträumt habe.«
Adelorna erschauderte. Das hatte sie in der Tat.
»Kommt«, wiederholte Egwene. »Wir müssen uns beeilen. Das ist nur ein Raubzug; sie wollen sich so viele Machtlenkerinnen wie möglich schnappen und dann mit ihnen verschwinden. Ich will dafür sorgen, dass sie mehr Damane verlieren, als sie Aes Sedai bekommen.«