45 Die Burg hält stand

Egwene ging langsam in einem blutroten Reitgewand durch das Rebellenlager. Die Farbe sorgte für nicht wenige gehobene Brauen. Zog man die Taten der Roten Ajah in Betracht, würden die hier zusammengekommenen Aes Sedai wohl kaum diese Farbe tragen. Sogar die Dienerinnen des Lagers hatten das begriffen und ihre roten und rotbraunen Kleider verkauft oder zu Lumpen verarbeitet.

Egwene hatte ganz bewusst Blutrot verlangt. In der Weißen Burg hatten sich die Schwestern angewöhnt, nur die Farben ihrer eigenen Ajah zu tragen, und diese Praxis hatte die Gräben nur noch vertieft. Natürlich war es gut, auf die Zugehörigkeit zu seiner Ajah stolz zu sein, aber es war gefährlich, wenn man von der Annahme ausging, niemandem in anderen Farben vertrauen zu können.

Egwene verkörperte alle Ajahs. Heute symbolisierte das Rot viele Dinge für sie. Die unmittelbar bevorstehende Wiedervereinigung mit der Roten Ajah. Eine Erinnerung an die Spaltung, die beendet werden musste. Ein Zeichen, dass Blut vergossen würde, das Blut guter Männer, die die Weiße Burg verteidigen wollten.

Das Blut der toten Aes Sedai, die nicht einmal vor einer Stunde durch Egwenes Befehl enthauptet worden waren.

Siuan hatte ihren Großen Schlangenring gefunden; es fühlte sich gut an, ihn wieder zu tragen.

Der Himmel zeigte eine eisengraue Farbe, und der Geruch nach Schmutz lag in der Luft und begleitete die Geschäftigkeit im Lager. Mägde wuschen eilig, als müssten sie ihre Herrschaft noch schnell für ein Fest vorbereiten. Novizinnen eilten von Unterricht zu Unterricht, liefen buchstäblich. Aes Sedai standen mit verschränkten Armen da, dazu bereit, jedem Feuer unter dem Hintern zu machen, der das Tempo nicht einhielt.

Sie spüren die Bedeutung dieses Tages, dachte Egwene. Und sie können nicht vermeiden, sich davon anstecken zu lassen. In der vergangenen Nacht der Angriff der Seanchaner. Gefolgt von der Rückkehr der Amyrlin, die den Morgen damit verbracht hatte, die Aes Sedai zu säubern. Und jetzt der Nachmittag, und die Kriegstrommeln schlugen.

Sie bezweifelte, dass Brynes Lager sich in einem ähnlichen Zustand befand. Er würde seine Männer zum Angriff bereit stehen haben. Vermutlich hätte er die Weiße Burg an jedem Tag der Belagerung sofort angreifen können. Seine Soldaten würden diesen Krieg entscheiden. Egwene würde ihre Aes Sedai nicht in die Schlacht reiten lassen, würde nicht zulassen, dass sie sich um ihren Eid herummogelten, mit der Macht nicht zu töten. Sie konnten hier warten, bis man sie rief, um zu Heilen.

Oder man sie rief, falls sich ihre Schwestern aus der Weißen Burg ernsthaft am Kampf beteiligten. Hoffentlich sorgte das Licht dafür, dass Elaida weise genug war, das zu verbieten. Falls sich die Aes Sedai gegenseitig mit der Einen Macht angriffen, würde dies in der Tat ein schwarzer Tag werden.

Kann dieser Tag denn überhaupt noch finsterer werden?, fragte sich Egwene. Viele der Aes Sedai, an denen sie im Lager vorbeiging, warfen ihr Blicke voller Respekt, Ehrfurcht und nicht geringem Entsetzen zu. Die Amyrlin war nach langer Abwesenheit zurückgekehrt. Und sie brachte Zerstörung und hielt Gericht.

Über fünfzig Schwarze Schwestern waren gedämpft und danach hingerichtet worden. Bei dem Gedanken an ihren Tod verspürte Egwene Übelkeit. Sheriam war beinahe erleichtert erschienen, als sie an die Reihe kam, aber dann hatte sie doch angefangen, sich schluchzend zu wehren. Sie hatte mehrere schwere Verbrechen gestanden, als hätte sie die verzweifelte Hoffnung, durch ihre Bereitwilligkeit zur Kooperation begnadigt zu werden.

Man hatte ihr Haupt auf den Richtblock gelegt und ihn abgeschlagen, genau wie bei den anderen. Dieser Anblick würde niemals in Egwenes Erinnerung verblassen - wie ihre ehemalige Behüterin der Chroniken mit auf den Block gedrücktem Kopf dort lag und ihr blaues Kleid und feuerrotes Haar plötzlich in warmes goldenes Licht getaucht wurden, als eine dünne Wolkenschicht plötzlich die Sonne freigab. Dann die funkelnde Axt, die zuschlug und ihren Kopf forderte. Vielleicht würde das Muster das nächste Mal gnädiger zu ihr sein, sollte es ihr wieder einen Faden in seinem großen Gewebe zugestehen. Aber vielleicht auch nicht. Der Tod war keine Flucht vor dem Dunklen König. Sheriams Entsetzen am Ende war ein deutlicher Hinweis, dass sie möglicherweise genau diesen Gedanken gehabt hatte, als die Axt auf sie niedersauste.

Jetzt verstand Egwene endgültig, warum die Aiel bei simplen Prügeln lachen konnten. Hätte sie doch nur ein paar Tage unter der Rute durchmachen müssen, statt die Hinrichtung von Frauen zu befehlen, die sie gemocht und mit denen sie zusammengearbeitet hatte!

Einige der Sitzenden hatten sich für ein Verhör statt für eine Hinrichtung ausgesprochen, aber Egwene hatte sich nicht darauf eingelassen. Fünfzig Frauen waren bei weitem zu viele, um sie abschirmen und bewachen zu können, und wo nun allen bekannt war, dass man das Dämpfen wieder Heilen konnte, kam das nun gar nicht mehr infrage. Nein, die Geschichte hatte bewiesen, wie schlüpfrig und gefährlich die Mitglieder der Schwarzen sein konnten, und Egwene war es leid, sich darüber Sorgen machen zu müssen, was passieren konnte. Sie hatte bei Moghedien gelernt, dass Gier ihren Preis kostete, selbst wenn es nur die Gier nach Informationen war. Sie und die anderen waren zu gierig gewesen - zu stolz auf die »Entdeckungen«, die sie gemacht hatten -, um die Welt von einer der Verlorenen zu befreien.

Nun, sie würde hier keine ähnlichen Fehler zulassen. Das Gesetz war allgemein bekannt, der Saal hatte sein Urteil gefällt, und es war nicht hinter verschlossenen Türen geschehen. Verin war gestorben, um diese Frauen aufzuhalten, und Egwene würde dafür sorgen, dass ihr Opfer eine Bedeutung hatte.

Das hast du gut gemacht, Verin. So gut. Jede Aes Sedai im Lager hatte die Drei Eide noch einmal leisten müssen, und es waren nur drei Schwarze entdeckt worden, die nicht auf Venns Liste gestanden hatten. Ihre Nachforschungen waren sehr gründlich gewesen.

Die Behüter der Schwarzen standen unter Bewachung. Um sie würde man sich später kümmern müssen, wenn man Zeit dazu hatte, um festzustellen, welche von ihnen tatsächlich zu den Schwarzen gehörten und welche nur über den Verlust ihrer Aes Sedai außer sich waren. Die meisten von ihnen würden den Tod suchen, selbst die Unschuldigen. Vielleicht konnte man die Unschuldigen davon überzeugen, lange genug am Leben zu bleiben, um sich in die Letzte Schlacht zu stürzen.

Trotz allem waren beinahe zwanzig von den Schwarzen Schwestern auf Verins Liste entkommen, trotz Egwenes Vorkehrungen. Sie wusste nicht mit Sicherheit, wie sie es erfahren hatten. Brynes Männer hatten ein paar der Schwächeren bei ihren Fluchtversuchen festnehmen können, und dabei waren Soldaten gestorben. Und trotzdem waren viele entkommen.

Sinnlos, deswegen Tränen zu vergießen. Fünfzig Schwarze waren tot; das war ein Sieg. Ein furchteinflößender Sieg. Trotzdem ein Sieg.

Und so ging sie durch das Lager, in einem roten Kleid mit Reitstiefeln, und ihr braunes Haar flatterte im Wind. Die hineingeflochtenen roten Riemen sollten die Ströme von Blut anzeigen, die sie vor nicht einmal einer Stunde vergossen hatte. Den Schwestern ringsum nahm sie weder die verstohlenen Seitenblicke übel noch ihre verhüllte Sorge oder ihre Furcht.

Oder ihren Respekt. Falls je irgendwelche Zweifel daran bestanden hatten, dass Egwene die Amyrlin war, waren sie nun ausgeräumt. Sie akzeptierten sie, sie fürchteten sie. Sie würde nie wieder so zu ihnen gehören wie zuvor. Sie stand getrennt von ihnen, und das würde sich auch nie wieder ändern.

Eine entschlossene Gestalt in Blau suchte sich ihren Weg an den Zelten vorbei und näherte sich Egwene. Die Achtung gebietende Frau machte den Knicks, der sich gehörte, da sie aber so schnell gingen, hielt Egwene nicht an, um sie den Großen Schlangenring küssen zu lassen. »Mutter«, sagte Lelaine. »Bryne hat die Nachricht geschickt, dass alles zum Angriff bereit ist. Er sagt, dass die westlichen Brücken die ideale Stelle dafür sind, aber er schlug auch vor, dass man mit Wegetoren eine flankierende Streitmacht seiner Leute hinter die Linien der Weißen Burg bringt. Er fragt, ob das möglich wäre.«

Damit würde man die Macht nicht als Waffe benutzen, auch wenn es nahe dran war. Eine feine Unterscheidung. Aber als Aes Sedai ging es nur um feine Unterscheidungen. »Sagt ihm, ich werde das Wegetor selbst erschaffen.«

»Ausgezeichnet, Mutter«, erwiderte Lelaine und neigte den Kopf, die perfekte loyale Gefolgsfrau. Es war schon erstaunlich, wie schnell sich doch die Einstellung dieser Frau Egwene gegenüber verändert hatte. Sie musste erkannt haben, dass ihr nur die Möglichkeit blieb, sich Egwene ohne Wenn und Aber anzuschließen und sie mit ihren Versuchen aufhören musste, sich Macht zu sichern. Auf diese Weise sah sie nicht wie eine Heuchlerin aus und würde vielleicht durch Egwene in eine höhere Position gelangen. Vorausgesetzt, Egwene konnte sich als mächtige Amyrlin etablieren.

Es war eine gute Annahme.

Lelaine musste sich sehr über Romandas geänderte Einstellung geärgert haben. Und wie aufs Stichwort wartete die Gelbe voraus am Wegesrand. Sie trug ein Kleid in der Farbe ihrer Ajah, das Haar zu einem eindrucksvollen Knoten zurückgebunden. Sie machte einen Knicks vor Egwene und hatte kaum einen Blick für Lelaine übrig, bevor sie sich rechts von Egwene einreihte, auf der anderen Seite von Lelaine. »Mutter, ich habe die Erkundigungen eingezogen, um die Ihr mich gebeten habt. Es hat keinen Kontakt zu jenen gegeben, die zur Schwarzen Burg geschickt wurden. Nicht einmal ein Flüstern.«

»Kommt Euch das nicht seltsam vor?«, fragte Egwene.

»Ja, Mutter. Mit dem Schnellen Reisen hätten sie mittlerweile schon längst wieder zurück sein müssen. Zumindest hätten sie eine Nachricht schicken müssen. Dieses Schweigen ist beunruhigend.«

Beunruhigend in der Tat. Was noch schlimmer war, bei der Delegation waren auch Nisao, Myrelle, Faolain und Theodrin. Jede dieser Frauen hatte Egwene die Treue geschworen. Ein beunruhigender Zufall. Vor allem die Abreise von Faolain und Theodrin war besonders verdächtig. Angeblich waren sie gegangen, weil sie keine Behüter hatten, aber die Schwestern im Lager betrachteten die beiden nicht einmal als vollwertige Aes Sedai - auch wenn es niemand gewagt hätte, das Egwene ins Gesicht zu sagen.

Warum waren von den Hunderten von Aes Sedai im Lager ausgerechnet diese vier der Delegation zugeteilt worden? War das lediglich ein Zufall? Es erschien unglaubwürdig. Aber was hatte es dann zu bedeuten? Hatte jemand absichtlich die Leute weggeschickt, die Egwene gegenüber loyal waren? Aber warum hatte man dann nicht Siuan geschickt? War das vielleicht Sheriams Werk? Vor ihrer Hinrichtung hatte die Frau einige Dinge gestanden, aber das war nicht darunter gewesen.

Wie dem auch sei, etwas ging bei diesen Asha’man vor. Man würde sich um die Schwarze Burg kümmern müssen.

»Mutter«, sagte Lelaine und zog die Aufmerksamkeit wieder auf sich. Die Blaue hatte für ihre Rivalin keinen Blick übrig. »Ich habe noch andere Neuigkeiten.«

Romanda schnaubte leise.

»Sprecht«, sagte Egwene.

»Sheriam hat nicht gelogen«, sagte Lelaine. »Die Ter’angreale für die Träumer sind weg. Alle.«

»Wie ist das möglich?«, wollte Egwene wissen und ließ einen Hauch ihres Zorns durchschimmern.

»Sheriam war die Behüterin, Mutter«, sagte Lelaine schnell. »Wir haben die Ter’angreale zusammen aufbewahrt, wie es in der Weißen Burg üblich ist, unter Bewachung. Aber … nun, welchen Grund hätten diese Wächter haben sollen, Sheriam abzuweisen?«

»Was glaubt Ihr, wie wollte sie uns das erklären? Dieser Diebstahl wäre doch nicht lange verborgen geblieben.«

»Ich weiß es nicht, Mutter.« Lelaine schüttelte den Kopf. »Die Wächter sagten, Sheriam wäre … aufgeregt … erschienen, als sie die Ter’angreale holte. Das war erst vergangene Nacht.«

Egwene biss die Zähne zusammen und dachte an Sheriams restliche hervorgesprudelte Geständnisse. Der Diebstahl der Ter’angreale war bei weitem nicht die schockierendste Einzelheit gewesen, die sie erwähnt hatte. Elayne würde außer sich vor Zorn sein; unter dem Diebesgut befand sich auch der Originalring, und Egwene bezweifelte, dass Siuans versteckte Kopie als Muster taugte. Sie war bereits fehlerhaft; damit hergestellte Kopien würden vermutlich noch weniger funktionieren.

»Mutter«, sagte Lelaine leiser. »Was ist mit Sheriams anderer … Behauptung?«

»Dass sich eine weitere der Verlorenen in der Weißen Burg aufhält und sich als Aes Sedai ausgibt?«, sagte Egwene. Sheriam hatte behauptet, dieser … Person die Ter’angreale gegeben zu haben.

Lelaine und Romanda gingen stumm weiter und starrten geradeaus, als wäre jede Spekulation zu beängstigend.

»Ja, ich vermute, da hat sie nicht gelogen«, sagte Egwene. »Sie haben nicht nur unser Lager infiltriert, sondern auch den Adel in Andor, Illian und Tear. Warum also nicht auch die Weiße Burg?« Sie sparte sich die Bemerkung, dass Verins Buch die Anwesenheit einer der Verlorenen bestätigte. Es erschien vernünftiger, den Umfang von Verins Notizen geheim zu halten.

»Darüber würde ich mir keine zu großen Sorgen machen«, fuhr sie fort. »Mit dem Angriff auf die Burg und unserer Rückkehr erscheint es wahrscheinlich, dass die Verlorene - wer auch immer sie ist - es für besser halten wird, sich aus dem Staub zu machen und ein leichteres Ziel für ihre Intrigen zu suchen.«

Diese Bemerkung schien weder Lelaine noch Romanda zu trösten. Sie erreichten den Lagerrand der Aes Sedai, wo bereits Pferde auf sie warteten, genau wie eine große Gruppe Soldaten und je eine Sitzende von jeder Ajah, ausgenommen der Blauen und der Roten. Es war keine Blaue da, weil Lelaine die einzige noch im Lager Anwesende war; warum es keine Rote gab, war offensichtlich. Nicht zuletzt aus diesem Grund trug Egwene das Rot, ein subtiler Hinweis, dass alle Ajahs an dem bevorstehenden Unternehmen beteiligt sein sollten. Es war zu ihrer aller Besten.

Als Egwene in den Sattel stieg, sah sie, dass ihr Gawyn wieder in respektvollem Abstand folgte. Wo war er hergekommen? Seit dem Morgen hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Als sie aufstieg, folgte er ihrem Beispiel, und als sie sich anschickte, zusammen mit Lelaine, Romanda, den Sitzenden und den Soldaten das Lager zu verlassen, folgte er ihnen in sicherer Distanz. Egwene war sich immer noch nicht sicher, was sie mit ihm machen sollte.

Das Heerlager lag größtenteils verlassen da. Zelte standen leer, Hufe und Füße hatten den Boden zertrampelt, es waren kaum noch Soldaten da. Unmittelbar nach Verlassen des Lagers umarmte Egwene die Quelle und hielt sie fest, bereit, sofort Gewebe herzustellen, sollte sie jemand während des Ritts angreifen. Sie war noch immer nicht davon überzeugt, dass Elaida nicht versuchen würde, den Angriff mit Wegetoren zu stören. Sicher war die falsche Amyrlin vollauf mit den Auswirkungen des seanchanischen Angriffs beschäftigt. Aber solche Annahmen - die Annahme, dass ihr nichts passieren konnte - hatten Egwene erst zur Gefangenen gemacht. Sie war die Amyrlin. Sie durfte sich keinem Risiko aussetzen. Das war ärgerlich, aber ihr war klar, dass ihre Tage des Alleingangs, wo sie das tat, was sie für richtig hielt, zu einem Ende gekommen waren. Genauso gut hätte sie vor diesen vielen Wochen auch getötet statt gefangen genommen werden können. Die Salidar-Rebellion hätte ihr Ende gefunden, und Elaida hätte weiter als Amyrlin geherrscht.

Und so ritt ihre Streitmacht zur Front außerhalb des Dorfes Darein. Die Weiße Burg schwelte noch immer, aus der Mitte der Insel stieg eine kreisrunde Rauchwolke empor und hüllte den weißen Turm ein. Selbst aus der Ferne waren die Narben des seanchanischen Angriffs deutlich sichtbar. Geschwärzte Löcher, die wie faulige Stellen auf einem ansonsten gesunden Apfel erschienen. Die Burg schien beinahe zu stöhnen, als Egwene sie betrachtete. Sie stand seit so langer Zeit, hatte so vieles gesehen. Jetzt war sie so schwer verletzt worden, dass sie einen Tag später noch immer blutete.

Und doch stand sie noch aufrecht. Sollte das Licht sie alle segnen, sie stand aufrecht. Sie ragte in die Höhe, verletzt, aber robust, und zeigte auf die von den Wolken verborgene Sonne. Sie trotzte allen, die sie zerstören wollten, ob nun von innen oder von außen.

Bryne und Siuan erwarteten Egwene hinter den formierten Reihen. Sie waren ein ungleiches Paar. Der schlachtengestählte General mit den grauen Schläfen und einem Gesicht, das so viel Ähnlichkeit mit einer unnachgiebigen Rüstung hatte. Stark und voller Falten. Und neben ihm Siuan, die zierliche Frau in Hellblau mit dem lieblichen Gesicht, die jung genug aussah, um Brynes Enkelin zu sein, obwohl sie doch beide ungefähr im gleichen Alter waren.

Siuan verneigte sich auf dem Rücken ihres Pferdes, als Egwene sich näherte, und Bryne salutierte. Er schaute noch immer unbehaglich drein. Anscheinend schämte er sich für die Rolle, die er bei ihrer Rettung gespielt hatte, obwohl sie ihm nichts nachtrug. Er war ein Mann von Ehre. Wenn sie ihn lange genug bedrängt hatten, damit er mitkam, um die leichtsinnige Siuan und Gawyn zu beschützen, dann konnte man ihm nur dankbar sein, dass er sie am Leben erhalten hatte.

Als sich Egwene zu ihnen gesellte, fiel ihr auf, dass Siuan und Bryne eng nebeneinander ritten. Hatte sich Siuan endlich eingestanden, dass sie sich von dem Mann angezogen fühlte? Und Bryne wies nun eine gewisse vertraute … Anmut auf. Es war unauffällig genug, dass sie sich genauso gut hätte irren können, aber bedachte man, in welcher Beziehung die beiden zueinander standen …

»Habt Ihr endlich einen neuen Behüter erwählt?«, fragte Egwene Siuan.

Die Frau kniff die Augen zusammen. »Aye«, sagte sie.

Bryne erschien überrascht und ein kleines bisschen verlegen.

»Tut Euer Bestes, General, sie aus allem Ärger herauszuhalten«, sagte Egwene und schaute Siuan in die Augen. »In letzter Zeit hat sie genug davon gehabt. Beinahe bin ich geneigt, sie Euch als Fußsoldat zu überlassen. Die militärische Disziplin könnte ihr guttun, sie daran erinnern, dass Gehorsam manchmal vor Initiative geht.«

Siuan schrumpfte in sich zusammen und schaute zur Seite.

»Ich habe noch nicht entschieden, was ich mit Euch mache, Siuan«, sagte Egwene in einem weniger scharfen Tonfall. »Aber mein Zorn wurde geweckt. Und mein Vertrauen ist verloren. Ihr werdet das Erstere beschwichtigen und am Letzteren arbeiten müssen, wenn Ihr wollt, dass ich mich je wieder auf Euch verlassen soll.«

Sie wandte sich von Siuan an den General, dem schlecht zu sein schien. Vermutlich, weil er gezwungenermaßen Siuans Scham spüren musste.

»Man muss Euch zu Eurem Mut beglückwünschen, General, dass Ihr zugelassen habt, von ihr den Bund zu empfangen«, fuhr Egwene fort. »Mir ist schon klar, dass es eine beinahe unlösbare Aufgabe ist, sie von jedem Ärger fernzuhalten, aber ich setze mein Vertrauen in Euch.«

Der General entspannte sich. »Ich werde mein Bestes tun, Mutter«, sagte er. Dann wendete er sein Pferd und betrachtete die Reihen seiner Soldaten. »Da gibt es etwas, das Ihr sehen solltet. Wenn Ihr die Freundlichkeit hättet?«

Egwene nickte, trieb ihr Pferd an und ritt neben ihm die Straße entlang. Sämtliche Dorfbewohner waren evakuiert worden, und die Hauptstraße wurde von Tausenden von Brynes Soldaten gesäumt. Siuan begleitete Egwene, und Gawyn folgte ihr. Lelaine und Romanda blieben nach einem Handzeichen Egwenes bei den anderen Sitzenden. Ihr neu gefundener Gehorsam erwies sich als nützlich, vor allem, seit sie sich anscheinend entschieden hatten, einander darin zu übertreffen, Egwenes Zustimmung zu gewinnen. Vermutlich wetteiferten sie beide um den Posten ihrer neuen Behüterin der Chroniken, jetzt, da es Sheriam nicht mehr gab.

Der General führte Egwene zur Frontlinie, und sie bereitete ein Gewebe Luft vor nur für den Fall, dass man einen Pfeil in ihre Richtung abschoss. Siuan sah sie an, sagte aber nichts über die Vorsichtsmaßnahme. Eigentlich hätte sie nicht nötig sein dürfen - Burgwächter würden niemals auf eine Aes Sedai schießen, nicht einmal in solch einem Konflikt. Aber über Behüter konnte man nicht das Gleiche sagen, und Unfälle geschahen nun einmal. Es wäre schon sehr praktisch für Elaida gewesen, hätte ein verirrter Pfeil ihre Rivalin in den Hals getroffen.

Die Pflastersteine wichen quadratischen Steinfliesen, als sie durch Darein ritten, und die wichen wiederum Marmorfliesen, die auf die Alindaer-Brücke führten, eine majestätische weiße Konstruktion, die den Fluss bis nach Tar Valon überspannte. Hier war das, was Bryne ihr zeigen wollte: auf der anderen Seite der Brücke stand eine Streitmacht der Burgwache in ihren Wappenröcken mit der Flamme von Tar Valon hinter einer provisorischen Barrikade aus Steinen und Baumstämmen. Und es konnten nicht mehr als tausend Mann sein.

Brynes Heer verfügte über zehntausend Mann.

»Ich weiß, dass es nie die Zahlen waren, die uns vom Angriff abhielten«, sagte der General. »Aber die Burgwache sollte dazu fähig sein, mehr Männer ins Feld zu führen, insbesondere, wenn sie in der Stadt rekrutieren. Ich bezweifle, dass sie die letzten Monate damit verbracht haben, am Feuer zu sitzen, Haken zu schnitzen und über alte Zeiten zu plaudern. Wenn Chubain auch nur einen Funken Verstand hat, dann hat er neue Rekruten ausgebildet.«

»Und wo sind sie dann alle?«, fragte Egwene.

»Das weiß das Licht allein, Mutter.« Bryne schüttelte den Kopf. »Wenn wir an dieser Streitmacht vorbei wollen, werden wir einige Männer verlieren, aber nicht sehr viele. Wir werden sie vernichtend schlagen.«

»Könnten die Seanchaner ihnen so schlimm zugesetzt haben?«

»Ich weiß es nicht, Mutter. Es war schlimm, was vergangene Nacht geschah. Viel Feuer, viele tote Männer. Aber ich hätte mit Hunderten an Verlusten gerechnet, nicht mit Tausenden. Vielleicht räumt die Burgwache ja noch den Schutt weg und löscht die Brände, trotzdem glaube ich, dass sie eine größere Streitmacht versammelt hätten, als sie mich aufmarschieren sahen. Ich habe mir die Jungs dort drüben mit dem Fernglas angesehen und mehr als nur ein paar müde rote Augen entdeckt.«

Egwene saß nachdenklich da und war dankbar für die Brise, die vom Fluss wehte. »Ihr habt gar nicht die Klugheit dieses Angriffes infrage gestellt, General.«

»Ich stelle für gewöhnlich nie infrage, welche Richtung man mich beauftragt einzuschlagen, Mutter.«

»Und was haltet Ihr davon, wenn man Euch fragt?«

»Wenn man mich fragt?«, wiederholte Bryne. »Nun, taktisch gesehen macht ein Angriff Sinn. Wir haben den Vorteil des Schnellen Reisens verloren, und wenn unser Feind sich beliebig versorgen und Abordnungen dorthin schicken kann, wo immer er will, welchen Sinn macht eine Belagerung dann noch? Entweder wir greifen jetzt an, oder wir rücken ab.«

Egwene nickte. Und doch zögerte sie. Der unheilvolle Rauch in der Luft, die beschädigte Burg, die verängstigten Soldaten ohne jede Verstärkung … Das alles schien eine Warnung zu flüstern.

»Wie lange können wir warten, bevor Ihr mit dem Angriff unwiderruflich beginnen müsst, General?«

Er runzelte die Stirn, verzichtete aber auf jeden Einwand. Er blickte in den Himmel. »Es wird spät. Vielleicht eine Stunde? Danach wird es zu dunkel sein. Bei einem so günstigen Zahlenverhältnis würde ich es lieber vermeiden, die Unwägbarkeiten einer nächtlichen Schlacht in die Rechnung einzuführen.«

»Dann warten wir eine Stunde«, sagte Egwene. Die anderen erschienen verwirrt, aber keiner sagte etwas. Der Amyrlin-Sitz hatte gesprochen.

Worauf wartete sie? Was verrieten ihr ihre Instinkte? Während die Minuten verstrichen, dachte Egwene darüber nach, und schließlich wurde ihr bewusst, was sie hatte innehalten lassen. Nach diesem Schritt gab es kein Zurück mehr. Die Weiße Burg hatte in der vergangenen Nacht gelitten; zum ersten Mal hatte eine feindliche Streitmacht die Eine Macht gegen sie eingesetzt. Egwenes Angriff würde eine weitere Premiere sein: das erste Mal, dass eine Gruppe Aes Sedai gegen eine andere Truppen ins Feld führte. Schon zuvor hatte es Fraktionskämpfe in der Burg gegeben; Zusammenstöße zwischen verschiedenen Ajahs, und einige davon hatten durchaus zu Blutvergießen geführt, so wie bei Siuans Absetzung. Die geheimen historischen Aufzeichnungen erwähnten solche Geschehnisse.

Aber noch nie zuvor hatte sich der Streit jenseits der Tore der Weißen Burg erstreckt. Noch nie zuvor hatten Aes Sedai Truppen über diese Brücken geführt. Das jetzt zu tun würde Egwenes Amtszeit als Amyrlin für alle Ewigkeit mit dieser Schmach verbinden. Was auch immer sie sonst erreichen würde, dieser Tag würde es mit Sicherheit überschatten.

Sie hatte gehofft, als Befreierin zu kommen und zu versöhnen. Stattdessen würde sie sich Krieg und Unterwerfung zuwenden. Wenn es nicht anders ging, würde sie den Befehl geben. Aber sie wollte bis zum letztmöglichen Augenblick damit warten. Und wenn es eben bedeutete, eine grimmige Stunde unter dem bewölkten Himmel zu warten, während die Pferde schnaubten, weil sie die Anspannung ihrer Reiter spürten, dann sollte es eben so sein.

Brynes Stunde verging. Egwene zögerte noch ein paar Minuten länger - solange sie es wagte. Die armen Soldaten auf der anderen Seite der Brücke erhielten keine Verstärkung. Sie starrten bloß entschlossen hinter ihrer kleinen Barrikade hervor.

Zögernd drehte sich Egwene um, um den Befehl zu geben. »Einen Moment.« Bryne beugte sich auf seinem Sattel vor. »Was ist das?«

Egwene wandte den Blick wieder der Brücke zu. Kaum erkennbar kam in der Ferne eine Prozession die Straße entlang. Hatte sie zu lange gewartet? Hatte die Weiße Burg Verstärkung geschickt? Würde ihr stures Zögern ihre Männer das Leben kosten?

Aber nein. Diese Gruppe bestand nicht aus Soldaten, sondern aus Frauen in Röcken. Aes Sedai!

Egwene hob die Hand und verhinderte jeden Angriff ihrer Soldaten. Die Prozession ritt auf direktem Weg zu der Barrikade der Burgwache. Einen Augenblick später begab sich eine Frau in einem grauen Kleid vor die Straßensperre; begleitet wurde sie nur von einem einzigen Behüter. Egwene kniff die Augen zusammen und versuchte, das Gesicht der Frau zu erkennen, und Bryne reichte ihr hastig sein Fernglas. Egwene nahm es dankbar entgegen, aber sie hatte die Frau bereits erkannt. Andaya Forae, eine der neuen Sitzenden des Saals, die man nach der Spaltung erwählt hatte. Graue Ajah. Das deutete die Bereitschaft zu Verhandlungen an.

Der Schein der Macht umgab die Frau, und Siuan zischte, was einige der Soldaten in der Nähe die Bögen heben ließ. Wieder hob Egwene die Hand. »Bryne«, sagte sie streng. »Es wird kein erster Schuss abgegeben, bevor ich den ausdrücklichen Befehl dazu gebe!«

»Zurück, Männer!«, brüllte Bryne. »Ich ziehe euch die Haut ab, wenn ihr auch nur einen Pfeil auf die Sehne legt!« Hastig nahmen die Männer die Bögen herunter.

Die Frau in der Ferne benutzte ein Gewebe, das Egwene nicht erkennen konnte, und sprach dann mit einer Stimme, die offensichtlich verstärkt wurde. »Wir möchten mit Egwene al’Vere sprechen«, sagte Andaya. »Ist sie anwesend?«

Egwene erschuf ihr eigenes Gewebe, um ihre Stimme zu verstärken. »Ich bin hier, Andaya. Sagt den anderen in Eurer Begleitung, sie sollen vortreten, damit ich sie sehen kann.«

Überraschenderweise gehorchten sie dem Befehl. Neun weitere Frauen traten nacheinander hervor, und Egwene musterte eine nach der anderen. »Zehn Sitzende«, sagte sie, gab Bryne sein Fernglas zurück und löste ihr Gewebe auf, damit sie sprechen konnte, ohne dass ihre Worte über die Distanz projiziert wurden. »Zwei von jeder Ajah mit Ausnahme der Blauen und der Roten.«

»Das ist vielversprechend.« Bryne rieb sich das Kinn.

»Nun, sie könnten gekommen sein, um meine Kapitulation entgegenzunehmen«, bemerkte Egwene trocken. »Also gut.« Sie verstärkte ihre Stimme wieder mit der Macht. »Was wünscht Ihr von mir?«

»Wir sind hergekommen«, sagte Andaya. Dann zögerte sie. »Wir sind hergekommen, um Euch darüber zu informieren, dass der Saal der Weißen Burg sich entschieden hat, Euch zum Amyrlin-Sitz zu erheben.«

Siuan keuchte ungläubig auf, und Bryne fluchte leise. Mehrere Soldaten murmelten etwas davon, dass das nur eine Falle sein konnte. Aber Egwene schloss bloß die Augen. Konnte sie zu hoffen wagen? Sie war von der Annahme ausgegangen, dass ihre ungewollte Rettung viel zu früh erfolgt war. Aber wenn sie tatsächlich eine ausreichende Grundlage geschaffen hatte, bevor Siuan und Gawyn sie gerettet hatten …

»Was ist mit Elaida?«, verlangte sie zu wissen. Sie öffnete die Augen, und ihre Stimme hallte über die Distanz. »Habt ihr die nächste Amyrlin abgesetzt?«

Auf der anderen Seite herrschte einen Augenblick lang Stille. »Sie besprechen sich.« Bryne hatte sein Fernglas gehoben.

Dann ergriff Andaya wieder das Wort. »Elaida do Avriny a Roihan, der Amyrlin-Sitz, wurde … bei dem Angriff vergangene Nacht gefangen genommen. Ihr Aufenthaltsort ist unbekannt. Sie gilt als tot oder ansonsten nicht in der Lage, ihre Pflichten zu erfüllen.«

»Beim Licht!« Bryne senkte das Fernglas.

»Das hat sie sich redlich verdient«, murmelte Siuan.

»Keine Frau verdient das«, sagte Egwene zu Siuan und Bryne. Unwillkürlich griff sie sich an den Hals. »Es wäre besser, sie wäre gestorben.«

»Das könnte eine Falle sein«, bemerkte Bryne.

»Ich wüsste nicht, wie das funktionieren sollte«, meinte Siuan. »Andaya ist an die Eide gebunden. Sie steht doch nicht auf Eurer Liste der Schwarzen, oder, Egwene?«

Egwene schüttelte den Kopf.

»Ich zögere noch immer, Mutter«, sagte Bryne.

Egwene erschuf ihr Gewebe neu. »Ihr lasst mein Heer eintreten? Ihr nehmt die anderen Aes Sedai zurück in die Gemeinschaft auf und setzt die Blaue Ajah wieder ein?«

»Wir haben diese Forderungen erwartet«, sagte Andaya. »Man wird sie erfüllen.«

Stille kehrte ein, die nur vom Rauschen der Wellen unterbrochen wurde, die unter ihnen ans Ufer schwappten.

»Dann akzeptiere ich«, sagte Egwene über die Brücke.

»Mutter«, sagte Simon vorsichtig. »Das könnte voreilig sein. Vielleicht solltet Ihr vorher …«

»Es ist nicht voreilig.« Egwene ließ das Gewebe los und spürte Hoffnung in sich aufsteigen. »Es ist das, was wir gewollt haben.« Sie warf Siuan einen Blick zu. »Davon abgesehen, Ihr wollt mich über voreilige Handlungen belehren?« Siuan schaute zu Boden. »General, bereitet Eure Männer vor, damit sie zur anderen Seite marschieren, und holt die Sitzenden. Entsendet Läufer mit der Neuigkeit ins Lager der Aes Sedai, und kümmert Euch darum, dass Eure Männer an den anderen Brücken Bescheid wissen und sich zurückziehen.«

»Ja, Mutter.« Bryne zog sein Pferd herum und gab die nötigen Befehle.

Egwene holte tief Luft, dann trieb sie ihr Pferd an und ritt auf die Brücke. Siuan murmelte einen Fischerfluch und folgte ihr. Egwene konnte Gawyns Pferd ebenfalls folgen hören, dann eine Abteilung Soldaten, die Brynes barschen Befehl befolgten.

Egwene ritt über den Fluss, und der Wind wehte ihr mit roten Bändern geschmücktes Haar nach hinten. Einen Moment lang erlebte sie ein seltsames Gefühl - die Last der Erkenntnis -, als sie darüber nachdachte, was sie gerade alles vermieden hatten. Es wurde schnell durch wachsende Zufriedenheit und Freude ersetzt.

Die weiße Stute unter ihr warf den Kopf ein Stück zurück und strich ihre seidige Mähne über Egwenes Hand. Auf der anderen Seite der Brücke warteten ernst die Sitzenden. Direkt voraus erhob sich die Weiße Burg. Verletzt. Blutend.

Aber sie stand noch immer. Beim Licht, sie stand!

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