Rand saß oben auf der Welt, und um ihn herum pfiff der Wind. Sein Gewebe aus Luft und Feuer hatte den Schnee geschmolzen und eine etwa drei Schritte breite Fläche aus zerklüftetem schwarzgrauen Felsen zum Vorschein gebracht. Der Gipfel war wie ein abgebrochener Fingernagel, der in den Himmel ragte, und Rand saß auf seiner Spitze. Soweit er feststellen konnte, handelte es sich genau um die Spitze des Drachenberges. Vielleicht die höchste Stelle auf der Welt.
Er saß auf seiner kleinen Felszunge, der Zugangsschlüssel stand auf dem Stein vor ihm. Hier war die Luft sehr dünn, und das Atmen war ihm schwergefallen, bis er eine Möglichkeit gefunden hatte, Luft so zu weben, dass sie sich um ihn herum etwas verdichtete. Genau wie bei dem Gewebe, das ihn wärmte, war er sich nicht sicher, wie er das geschafft hatte. Er erinnerte sich vage daran, dass Asmodean versucht hatte, ihm ein ähnliches Gewebe beizubringen, aber er hatte es nicht richtig hinbekommen. Jetzt war es die natürlichste Sache auf der Welt. Handelt es sich um Lews Therins Einfluss, oder wurde ihm die Eine Macht nur vertrauter?
Der zerklüftete offene Rachen des Drachenberges befand sich links von ihm mehrere Hundert Fuß in der Tiefe. Der Geruch nach Asche und Schwefel war selbst noch aus dieser Distanz durchdringend. Der Rachen war schwarz vor Asche und rot von geschmolzenem Stein und lodernden Flammen.
Rand hielt noch immer die Quelle fest. Er wagte es nicht, sie loszulassen. So schlimm wie beim letzten Mal, als er sie ergriffen hatte, war es noch nie gewesen, und er befürchtete, bei einem erneuten Versuch endgültig von der Übelkeit überwältigt zu werden.
Nun saß er schon seit Stunden hier. Trotzdem verspürte er keine Müdigkeit. Er starrte das Ter’angreal an. Dachte nach.
Was war er? Was war der Wiedergeborene Drache? Ein Symbol? Ein Opfer? Ein Schwert, das vernichten sollte? Eine schützende Hand, die bewahren sollte?
Eine Marionette, die immer wieder die gleiche Rolle spielte?
Er war wütend. Wütend auf die Welt, wütend auf das Muster, wütend auf den Schöpfer, dass er es den Menschen überlassen hatte, ohne Anweisungen gegen den Dunklen König kämpfen zu müssen. Welches Recht hatte auch nur einer von ihnen, Rands Leben zu verlangen?
Nun, er hatte ihnen dieses Leben angeboten. Er hatte lange Zeit gebraucht, bis er seinen unausweichlichen Tod akzeptiert hatte, aber er hatte damit seinen Frieden geschlossen. Reichte das nicht? Musste er denn bis zum Ende Qualen leiden?
Er hatte geglaubt, sich genug abgehärtet zu haben, dass ihm das den Schmerz nahm. Konnte er nichts fühlen, konnte man ihn auch nicht verletzen.
In den Wunden an seiner Seite pochte die Agonie. Eine Weile hatte er sie vergessen können. Aber der von ihm verursachte Tod rieb seine Seele wund. Diese Liste, die mit Moiraine begann. Nach ihrem Tod war alles schiefgelaufen. Davor hatte er noch immer Hoffnung gehabt.
Davor hatte man ihn noch nie in eine Kiste gesperrt.
Er hatte verstanden, was man von ihm verlangte, und er hatte sich auf eine Weise verändert, die er für erforderlich gehalten hatte. Diese Veränderungen sollten verhindern, dass er sich von alldem überwältigen ließ. Er musste sterben, um ihm völlig unbekannte Menschen zu beschützen? Er war dazu auserwählt, die Menschheit zu retten? Er war dazu auserwählt, die Königreiche der Welt zu zwingen, sich hinter ihm zu vereinigen, und sollte jene vernichten, die ihm nicht folgen wollten? Er war auserkoren, Tausenden, die in seinem Namen kämpften, den Tod zu bringen und diese Seelen dann als Last auf seinen Schultern zu tragen? Welcher Mann konnte solche Dinge vollbringen, ohne dabei den Verstand zu verlieren? Rand hatte nur eine Möglichkeit gesehen; er musste seine Gefühle bezwingen und sich in Cuendillar verwandeln.
Aber er war gescheitert. Es war ihm nicht gelungen, seine Gefühle auszumerzen. Die Stimme in seinem Inneren war so winzig gewesen, aber sie hatte ihn ununterbrochen gestochen, wie eine Nadel, die ein winziges Loch in sein Herz stach. Aber selbst das kleinste Loch ließ Blut ausströmen.
Diese Löcher würden ihn ausbluten.
Die leise Stimme war nun verschwunden. Sie war verschwunden, als er Tarn zu Boden geschleudert und ihn beinahe getötet hatte. Konnte er es wagen, ohne diese Stimme weiterzumachen? Wenn sie der letzte Rest des alten Rand gewesen war - des Rand, der zu wissen geglaubt hatte, was richtig und was falsch war -, was bedeutete ihr Schweigen dann?
Rand nahm den Zugangsschlüssel und stand auf. Es war Mittag, auch wenn die Sonne noch immer hinter den Wolken verborgen lag. In der Tiefe konnte er Hügel und Wälder sehen, Seen und Dörfer.
»Und was, wenn ich nicht will, dass das Muster fortgesetzt wird?«, brüllte er. Er trat vor, direkt an den Abgrund, hielt den Zugangsschlüssel an die Brust gedrückt.
»Wir leben das gleiche Leben!«, hielt er der Welt entgegen. »Immer und immer wieder. Wir machen die gleichen Fehler. Königreiche tun die gleichen dummen Dinge. Herrscher enttäuschen ihr Volk immer wieder. Die Menschen fahren darin fort, einander zu verletzen und zu hassen und zu sterben und zu töten!«
Der Wind peitschte ihn und ließ seinen braunen Umhang und die kostbaren tairenischen Hosen flattern. Aber seine Worte trugen weit und halten über die zersplitterten Felsen des Drachenberges. Es war kalt, die Luft frisch. Sein Gewebe hielt ihn warm genug, damit er überlebte, aber es hielt nicht die Kälte ab. Er hätte es auch nicht anders gewollt.
»Was, wenn ich der Meinung bin, dass das alles völlig sinnlos ist?«, verlangte er mit der lauten Stimme eines Königs zu wissen. »Was, wenn ich nicht will, dass es sich weiterdreht? Wir leben unsere Leben, indem wir das Blut anderer vergießen! Und diese anderen geraten in Vergessenheit! Welchen Sinn hat es, wenn alles, was wir wissen, irgendwann dahinschwindet? Große Taten oder große Tragödien, nichts davon hat auch nur die geringste Bedeutung! Sie werden zu Legenden, dann geraten diese Legenden in Vergessenheit, und dann fängt wieder alles von vorn an!«
Der Zugangsschlüssel in seiner Hand fing an zu glühen. Die Wolken in der Höhe schienen dunkler zu werden.
Rands Zorn pulsierte in einem Rhythmus mit seinem Herzen und verlangte freigelassen zu werden.
»Was, wenn er recht hat?«, brüllte Rand. »Wenn es besser wäre, dass das alles hier endet? Wenn das Licht die ganze Zeit eine Lüge war und das alles hier nur eine Strafe ist? Wir werden wiedergeboren, werden alt und hinfällig und sterben, auf ewig in diesem Kreislauf gefangen. Wir werden für alle Ewigkeit gefoltert!«
Macht flutete in Rand wie rauschende Wellen, die einen neuen Ozean füllen sollten. Er erwachte zum Leben, ergötzte sich an Saidin, und es war ihm egal, dass dieses Schauspiel ein strahlendes Spektakel für alle Männer sein musste, die die Macht lenken konnten. Die Macht vermittelte ihm das Gefühl, hell zu strahlen, er kam sich vor wie eine Sonne für die Welt unter ihm.
»NICHTS DAVON IST VON BEDEUTUNG! «
Er schloss die Augen, zog immer mehr Macht in sich hinein, fühlte sich, wie er sich nur zweimal zuvor gefühlt hatte. Einmal, als er Saidin gereinigt hatte. Einmal, als er diesen Berg erschaffen hatte.
Dann nahm er noch mehr in sich auf.
Er wusste, dass ihn so viel Macht vernichten konnte. Es interessierte ihn nicht mehr. Die Wut, die sich viele Jahre lang in ihm aufgestaut hatte, wurde endlich entfesselt. Er breitete die Arme aus, den Zugangsschlüssel in der Hand. Lews Therin hatte das Richtige getan, als er sich umbrachte und den Drachenberg erschuf. Nur war er nicht weit genug gegangen.
Rand konnte sich an diesen Tag erinnern. Der Qualm, das Grollen, der scharfe Schmerz der Heilung, die ihn in einem zerstörten Palast zurück ins Bewusstsein holte. Aber diese Schmerzen waren verblasst angesichts der Qual der Erkenntnis. Die Qual, die wunderschönen Wände vernarbt und zerbrochen zu sehen. Die Leichenstapel sehen zu müssen, die wie weggeworfene Lumpen auf dem Boden lagen.
llyena ein kurzes Stück entfernt zu sehen, deren goldenes Haar auf dem Boden um sie herum ausgebreitet lag.
Er konnte fühlen, wie der Palast durch das Schluchzen der Erde selbst um ihn herum erbebte. Oder war das der Drachenberg, der durch die gewaltige Macht pulsierte, die er in sich hineingezogen hatte?
Die Luft roch nach Blut und Asche und Tod und Schmerz. Oder war das bloß der Geruch einer sterbenden Welt, die sich vor ihm ausbreitete?
Die Winde peitschten ihn nun immer heftiger, die gewaltigen Wolken in der Höhe wanden sich wie uralte Leviathane, die in der undurchdringlichen Dunkelheit der Tiefe aneinander vorbeischwammen.
Lews Therin hatte einen Fehler gemacht. Er war gestorben, aber er hatte die Welt verwundet am Leben gelassen, damit sie weiterhumpeln konnte. Er hatte zugelassen, dass sich das Rad der Zeit weiterbewegte, weiterdrehte, vermoderte und ihn wieder zurückbrachte. Er konnte ihm nicht entkommen. Nicht, ohne alles zu beenden.
»Warum?«, fragte Rand flüsternd den fauchenden Wind. Die Macht, die durch den Zugangsschlüssel in ihn hineinströmte, war größer als die, die er bei der Reinigung Saidins gehalten hatte. Vielleicht größer, als je ein Mensch gehalten hatte. Groß genug, um das Muster selbst aufzulösen und den endgültigen Frieden zu bringen.
»Warum müssen wir das alles noch einmal machen?«, flüsterte er. »Ich bin schon einmal gescheitert. Sie ist durch meine Hand gestorben. Warum musstest du mich wieder ins Leben zurückholen?«
Blitze zuckten über das Firmament, Donner erschütterte ihn. Eingehüllt in einen eisigen Sturmwind, schloss Rand die Augen und beugte sich über die Felskante, die Tausende Fuß in die Tiefe führte. Durch die geschlossenen Lider konnte er das grelle Licht des Zugangsschlüssels spüren. Die Macht, die er in seinem Inneren hielt, ließ dieses Licht lächerlich klein erscheinen. Er war die Sonne. Er war Feuer. Er war Leben und Tod.
Warum? Warum mussten sie das immer wieder durchmachen? Aber die Welt konnte ihm keine Antwort auf diese Frage geben.
Rand streckte die Arme in die Höhe, ein Kanal für Macht und Energie. Eine Inkarnation des Todes und der Zerstörung. Er würde es beenden. Er würde allem ein Ende bereiten und die Menschen endlich von ihren Leiden erlösen.
Ihnen ersparen, immer wieder aufs Neue leben zu müssen. Warum? Warum hatte der Schöpfer ihnen das nur angetan? Warum?
Warum werden wir wiedergeboren?, fragte Lews Therin da plötzlich. Seine Stimme war klar und eigenständig.
Ja, erwiderte Rand flehend. Verrate es mir. Warum?
Vielleichtsagte Lews Therin schockierend klar und ohne eine Spur von Irrsinn. Er sprach leise, andächtig. Warum? Könnte es denn sein … Vielleicht, damit wir eine zweite Chance bekommen.
Rand erstarrte. Der Wind prallte gegen ihn, konnte ihn aber nicht bewegen. Die Macht in seinem Inneren zögerte wie die Axt des Henkers, die zitternd über dem Hals des Verbrechers verharrte. Du kannst dir vielleicht nicht aussuchen, welche Pflichten du aufgetragen bekommst, sagte Tams Stimme als Erinnerung in seinem Verstand. Aber du kannst entscheiden, warum du sie erfüllst.
Warum, Rand? Warum ziehst du in die Schlacht? Welchen Sinn soll das haben?
Warum?
Alles war still. Trotz des Sturms, des tosenden Windes, des ohrenbetäubenden Donners. Alles war still.
Warum?, dachte Rand ergriffen. Weil wir in jedem neuen Leben auch wieder neu lieben.
Das war die Antwort. Alles schlug wie eine Woge über ihm zusammen, gelebte Leben, begangene Fehler, Liebe, die alles veränderte. Vor seinem geistigen Auge sah er die ganze Welt, die von dem Licht in seiner Hand erhellt wurde. Er erinnerte sich an Leben, an Hunderte von ihnen, Tausende, eine Zahl, die sich in die Unendlichkeit erstreckte. Er erinnerte sich an Liebe und Frieden, an Freude und Hoffnung.
Und in diesem Augenblick kam ihm ein erstaunlicher Gedanke. Wenn ich wieder lebe, dann könnte sie das doch auch!
Darum kämpfte er. Darum lebte er wieder, und das war die Antwort auf Tams Frage. Ich kämpfe, weil ich das letzte Mal gescheitert bin. Ich kämpfe, weil ich das in Ordnung bringen will, was ich falsch gemacht habe.
Dieses Mal will ich es richtig machen.
Die Macht in ihm erreichte ein Crescendo, und er richtete sie gegen sich selbst, trieb sie durch den Zugangsschlüssel. Das Ter’angreal war mit einer viel größeren Macht verbunden, einem massiven Sa’angreal im Süden, das man gebaut hatte, um den Dunklen König aufzuhalten. Zu mächtig, wie einige behauptet hatten. Zu mächtig, um es jemals zu benutzen. Zu furchteinflößend.
Rand lenkte seine eigene Macht dagegen, zermalmte die Kugel in der Ferne, zersplitterte sie wie mit der Hand eines Riesen.
Der Choedan Kai explodierte. Die Macht erlosch. Der Sturm endete.
Und Rand öffnete zum ersten Mal seit langer Zeit die Augen. Er wusste, irgendwie wusste er, dass er nie wieder Lews Therins Stimme in seinem Kopf hören würde. Denn sie waren keine verschiedenen Männer, und sie waren es auch nie gewesen.
Er betrachtete die Welt zu seinen Füßen. Die Wolken am Himmel hatten sich endlich voneinander gelöst, wenn auch nur genau über ihm. Das Zwielicht verschwand und gestattete ihm die Sonne zu sehen, die genau über ihm schwebte.
Rand schaute zu ihr auf. Dann lächelte er. Und schließlich lachte er aus vollem Halse, ein unverfälschtes und echtes Lachen.
Es war viel zu lange her.