36 Tuons Tod

Meine Reise nahm ihren Anfang in Tear«, sagte Verin und setzte sich auf Mats besten Stuhl aus dunklem Walnussholz, auf dem ein hübsches hellbraunes Kissen lag. Tomas nahm hinter ihr Aufstellung, die Hand am Schwertgriff. »Ich wollte nach Tar Valon.«

»Und wieso seid Ihr dann hier gelandet?«, fragte Mat noch immer misstrauisch, während er sich gegenüber auf die Bank mit den Kissen setzte. Er hasste das Ding; es war unmöglich, darauf eine bequeme Position zu finden. Kissen halfen da gar nichts. Irgendwie erschwerten sie das Sitzen sogar. Das verdammte Ding musste ein verrückter schielender Trolloc entworfen und aus den Knochen der Verdammten zusammengebaut haben. Das war die einzige vernünftige Erklärung.

Er rutschte auf der Bank herum und hätte beinahe nach einem anderen Stuhl verlangt, aber Verin sprach weiter. Mandevwin stand mit verschränkten Armen da, Talmanes hatte sich auf den Boden gesetzt. Thom saß auf der anderen Seite des Raumes ebenfalls auf dem Boden und musterte Verin nachdenklich. Sie alle befanden sich in Mats kleinerem Audienzzelt, das nur für kurze Stabsbesprechungen gedacht war. Mat hatte Verin nicht in sein Zelt führen wollen, da dort noch immer die Pläne für den Angriff auf Trustair ausgebreitet lagen.

»Diese Frage stelle ich mir auch, Meister Cauthon«, sagte Verin lächelnd. »Wieso bin ich hier gelandet? Das war sicherlich nicht meine Absicht. Und doch bin ich hier.«

»Ihr sagt das beinahe so, als wäre das ein Zufall, Verin Sedai«, meinte Mandevwin. »Aber wir sprechen von einer Distanz von mehreren Hundert Meilen.«

»Davon abgesehen könnt Ihr Reisen«, fügte Mat hinzu. »Wenn Ihr also zur Weißen Burg wolltet, warum Reist Ihr verdammt noch mal nicht einfach dorthin?«

»Gute Fragen«, erwiderte Verin. »In der Tat. Dürfte ich um eine Tasse Tee bitten?«

Mat seufzte, rutschte auf der Teufelsbank herum und gab Talmanes ein Zeichen. Dieser erhob sich und ging kurz hinaus, um Anweisungen zu geben, dann kehrte er zurück und setzte sich wieder.

»Danke«, sagte Verin. »Ich fühle mich doch ziemlich ausgetrocknet. « Sie erweckte den für Schwestern der Braunen Ajah typischen Eindruck, mit den Gedanken woanders zu sein. Dank seiner Erinnerungslücken konnte sich Mat nur noch undeutlich an seine erste Begegnung mit Verin erinnern. Tatsächlich war die ganze Frau nur noch eine verschwommene Erinnerung. Aber er glaubte zu wissen, dass sie das Temperament einer Gelehrten hatte.

Doch als er sie jetzt genauer musterte, erschien ihm ihr Benehmen viel zu übertrieben. Als würde sie sich auf die Vorurteile stützen, die über die Braunen im Umlauf waren. Als würde sie alle täuschen wie ein Straßenkünstler, der Landjungen mit einem geschickten Hütchenspiel ausnahm.

Sie betrachtete ihn. Dieses feine Lächeln, das ihre Mundwinkel umspielte? Das war das Lächeln eines Trickbetrügers, dem egal war, dass man ihn durchschaut hatte. Da man jetzt begriffen hatte, konnte man das Spiel auch zusammen genießen und gemeinsam vielleicht jemand anderen reinlegen.

»Ist Euch eigentlich klar, wie stark ihr als Ta’veren seid, junger Mann?«, fragte Verin.

Mat zuckte mit den Schultern. »Wenn es um diese Dinge geht, müsst ihr Rand fragen. Ehrlich, verglichen mit ihm ist das bei mir nur eine alberne Spielerei.« Verdammte Farben!

»Oh, mir würde im Traum nicht einfallen, die Bedeutung des Drachen herunterzuspielen«, sagte Verin und kicherte.

»Aber Ihr könnt Euer Licht nicht in seinem Schatten verbergen, Matrim Cauthon. Das funktioniert bestenfalls nur bei Blinden. In jedem anderen Zeitalter wärt ihr zweifellos der mächtigste Ta’veren gewesen. Möglicherweise sogar der mächtigste in Jahrhunderten.«

Mat rutschte auf der Bank herum. Verdammte Asche, es ließ ihn aussehen, als würde er sich unbehaglich winden, und er hasste diese Vorstellung. Vielleicht sollte er einfach aufstehen. »Wovon sprecht Ihr, Verin?«, fragte er stattdessen. Er verschränkte die Arme und versuchte wenigstens so zu tun, als wäre er entspannt.

»Ich spreche davon, dass Ihr mich durch das halbe Land gezerrt habt.« Ihr Lächeln wurde breiter, als ein Soldat mit einer dampfenden Tasse Pfefferminztee eintrat. Dankbar nahm sie sie entgegen, und der Mann ging wieder.

»Ich habe Euch hergezerrt?«, sagte Mat. »Ihr habt nach mir gesucht.«

»Erst, nachdem mir klar wurde, dass mich das Muster irgendwohin lockte.« Verin blies auf ihren Tee. »Das bedeutete, es geht um Euch oder um Perrin. Rands Fehler konnte es nicht sein, da ich ihn mühelos zurücklassen konnte.«

»Rand?«, sagte Mat und verdrängte den nächsten Farbenwirbel. »Ihr wart bei ihm?«

Verin nickte.

»Wie … welchen Eindruck machte er?«, wollte Mat wissen. »Ist er … Ihr wisst schon …«

»Verrückt?«, fragte Verin. Mat nickte.

»Ich fürchte schon«, sagte die Aes Sedai, und ihre Lippen verzogen sich leicht. »Aber ich glaube, er hat sich noch immer unter Kontrolle.«

»Verfluchte Eine Macht«, sagte Mat und griff unter das Hemd, um das beruhigende Fuchskopf-Medaillon zu berühren.

Verin schaute auf. »Oh, ich bin nicht davon überzeugt, dass die Probleme des jungen al’Thor einzig und allein der Macht zuzuschreiben sind, Matrim. Viele würden gern Saidin für sein ungestümes Temperament verantwortlich machen, aber damit ignoriert man die unvorstellbaren Belastungen, die wir dem armen Jungen aufgebürdet haben.«

Mat hob eine Braue und warf Thom einen Blick zu.

»Wie dem auch sei«, fuhr Verin fort und nippte an dem Tee, »man kann dem Makel nicht für alles die Schuld geben, denn er wird ihn nicht länger beeinflussen.«

»Wird er nicht? Hat sich Rand entschieden, mit dem Machtlenken aufzuhören?«

Sie lachte. »Da hört eher ein Fisch auf zu schwimmen. Nein, der Makel wird ihn nicht länger beeinflussen, da es den Makel nicht mehr gibt. Al’Thor hat Saidin gereinigt.«

»Er hat was?«, fragte Mat scharf und setzte sich gerade auf.

Verin trank ihren Tee.

»Ist das Euer Ernst?«

»Aber ja.«

Wieder warf Mat Thom einen Blick zu. Dann zog er an seinem Mantel und strich sich durchs Haar.

»Was macht Ihr da?«, wollte Verin amüsiert wissen.

»Keine Ahnung«, erwiderte Mat und kam sich albern vor. »Ich glaube, mir kam gerade in den Sinn, dass ich mich anders fühlen sollte oder so. Unsere ganze Welt hat sich verändert, nicht wahr?«

»So könnte man sagen«, meinte Verin, »obwohl ich dagegenhalten würde, dass die Säuberung selbst eher wie ein in einen Teich geworfener Stein ist. Die Wellen werden einige Zeit brauchen, bis sie das Ufer erreicht haben.«

»Ein Stein?«, fragte Mat. »Ein Stein?«

»Nun, vielleicht eher ein Felsbrocken.«

»Ein verdammter Berg, wenn Ihr mich fragt«, murmelte Mat und lehnte sich wieder auf der schrecklichen Bank zurück.

Verin kicherte. Verfluchte Aes Sedai. Mussten sie so sein? Vermutlich war das nur ein weiterer Eid, den sie leisteten und verschwiegen, bei dem es irgendwie darum ging, immer geheimnisvoll zu sein. Er starrte sie an. »Was sollte das Kichern bedeuten?«, fragte er schließlich.

»Nichts«, erwiderte sie. »Ich vermute bloß, dass Ihr bald etwas von dem empfinden werdet, wie es mir die letzten paar Tage ergeht.«

»Und was sollte das sein?«

»Nun, ich glaube, davon haben wir bereits gesprochen, bevor wir uns von irrelevanten Themen ablenken ließen.«

»Die Reinigung der Wahren Quelle ist irrelevant«, murmelte Mat. »Also ehrlich.«

»Ich habe die seltsamsten Dinge erlebt«, fuhr Verin fort. Und ignorierte Mat natürlich. »Möglicherweise wisst Ihr das ja nicht, aber um einen Ort mit dem Schnellen Reisen verlassen zu können, muss man dort einige Zeit verbringen. Normalerweise reicht ein Abend. Nach meiner Abreise vom Drachen begab ich mich in ein Dorf in der Nähe und nahm im Gasthaus ein Zimmer. Ich richtete mich ein, prägte mir das Zimmer ein und bereitete mich darauf vor, am nächsten Morgen ein Wegetor zu öffnen.

Mitten in der Nacht kam jedoch der Wirt. Zerknirscht erklärte er mir, ich müsse in ein anderes Zimmer umziehen. Anscheinend hatte man im Dach über meinem Raum eine undichte Stelle entdeckt, und es würde bald durch die Decke tropfen. Ich protestierte, aber er bestand darauf.

Also zog ich auf die andere Seite des Korridors und fing an, mir dieses Zimmer einzuprägen. Ich hatte gerade das Gefühl, es gut genug zu kennen, um ein Wegetor öffnen zu können, da wurde ich erneut unterbrochen. Dieses Mal erklärte mir der Wirt noch verlegener als zuvor, dass seine Frau hier beim morgendlichen Putzen ihren Ring verloren hätte. Die Frau wachte mitten in der Nacht auf und war sehr aufgebracht. Der Wirt, der sehr müde aussah, wollte mich erneut umquartieren.«

»Und?«, fragte Mat. »Zufälle, Verin.«

Sie hob eine Braue, dann lächelte sie, als er schon wieder auf der Bank herumrutschte. Verflucht, das war kein unbehagliches Winden!

»Ich weigerte mich umzuziehen, Matrim«, fuhr Verin fort. »Ich sagte dem Wirt, er könnte das Zimmer gern durchsuchen, nachdem ich weg bin, und versprach, dass, sollte ich Ringe entdecken, ich sie nicht mitnehmen würde. Dann schloss ich energisch die Tür.« Sie trank einen Schluck. »Ein paar Minuten später brannte das Gasthaus - ein Scheit rollte aus dem Kamin zu Boden und brannte das ganze Gebäude bis auf die Grundmauern nieder. Glücklicherweise konnten alle entkommen, aber das Haus war zerstört. Müde und erschöpft mussten Tomas und ich ins nächste Dorf und dort ein Zimmer nehmen. «

»Klingt immer noch wie ein Zufall.«

»Das ging dann drei Tage lang so weiter«, sagte Verin. »Ich wurde selbst dann unterbrochen, wenn ich versuchte, mir einen Platz außerhalb eines Gebäudes zu merken. Zufällige Passanten baten um Feuer, ein umstürzender Baum krachte ins Lager, eine Herde Schafe lief vorbei, ein Sturm brach aus. Verschiedene zufällige Geschehnisse verhinderten immer, dass ich mich mit der Gegend vertraut machen konnte.«

Talmanes pfiff leise. Verin nickte. »Immer ging etwas schief, wenn ich versuchte, mir die Umgebung meinem Gedächtnis anzuvertrauen. Unweigerlich musste ich aus irgendeinem Grund weiterziehen. Entschied ich mich allerdings, mir den Ort nicht einzuprägen und kein Wegetor zu erschaffen, passierte nichts. Eine andere Person wäre vermutlich einfach weitergereist und hätte das mit den Wegetoren einfach sein lassen, aber da setzte sich meine Natur durch, und ich fing an, das Phänomen zu studieren. Es trat ziemlich regelmäßig ein.«

Verdammte Asche. Das war genau die Art von Sache, die Rand anderen Leuten antat. Und nicht Mat. »Eurem Bericht zufolge solltet Ihr eigentlich noch in Tear sein.«

»Ja«, erwiderte sie, »aber bald verspürte ich dieses Ziehen. Jemand lockte mich. Als hätte …«

Wieder rutschte Mat herum. »Als hätte jemand einen verdammten Angelhaken an Euch befestigt? Und er steht weit entfernt und zieht vorsichtig, aber beharrlich daran?«

»Ja«, sagte Verin. Sie lächelte. »Welch kluge Beschreibung.« Mat reagierte nicht.

»Also entschied ich mich, meine Reise mit herkömmlicheren Methoden fortzusetzen. Vielleicht hatte meine Unfähigkeit, Reisen zu können, ja etwas mit der Nähe zu al’Thor zu tun, vielleicht auch die langsame Auflösung des Musters durch den Einfluss des Dunklen Königs. Ich sicherte mir einen Platz in einer Handelskarawane, die nach Norden in Richtung Cairhien reiste. Sie hatten einen leeren Wagen, den sie für einen vernünftigen Preis vermieteten. Ich war ziemlich erschöpft von den Tagen, an denen ich rund um die Uhr wegen Bränden, schreienden Kleinkindern und ständigen Umzügen von einem Zimmer ins nächste wach geblieben war. Darum schlief ich länger, als ich es hätte tun sollen. Auch Tomas nickte ein.

Als wir erwachten, mussten wir zu unserer Überraschung entdecken, dass die Karawane nach Nordwesten abgebogen war, statt nach Cairhien zu fahren. Ich sprach mit dem Karawanenmeister, und er erklärte mir, dass er in letzter Minute einen Tipp bekommen hätte, dass seine Waren in Murandy einen viel besseren Preis erzielen würden als in Cairhien. Als er darüber nachdachte, erwähnte er, dass er mir die Änderung wirklich hätte mitteilen sollen, er es aber einfach vergessen hätte.«

Sie trank noch einen Schluck. »Da wusste ich dann mit Sicherheit, dass man mich lenkte. Vermutlich wäre das den meisten nicht aufgefallen, aber ich habe die Natur des ta’veren studiert. Die Karawane war nicht weit nach Murandy gekommen, nur einen Tag, aber zusammen mit dem Zupfen reichte das aus. Ich sprach mit Tomas, und wir entschieden uns, nicht in die Richtung zu gehen, in die es uns hinzog. Das Gleiten ist ein minderwertiger Ersatz für das Reisen, aber es gibt nicht die Einschränkung, die Umgebung genau kennen zu müssen. Ich öffnete ein Tor, aber als wir das Ende unserer Reise erreichten, standen wir nicht in Tar Valon, sondern in einem kleinen Dorf im Norden von Murandy!

Das hätte nicht möglich sein dürfen. Aber als wir darüber nachdachten, wurde Tomas und mir klar, dass er von einem schönen fagdausflug erzählt hatte, den er in einem Dorf namens Trustair gemacht hatte, und ich hatte das Tor in genau diesem Augenblick geöffnet. Ich musste mich auf den falschen Ort konzentriert haben.«

»Und hier sind wir nun«, sagte Tomas und sah sehr unzufrieden aus, wie er da mit verschränkten Armen hinter dem Stuhl seiner Aes Sedai stand.

»In der Tat«, sagte Verin. »Seltsam, findet Ihr nicht, junger Matrim? Zufällig lande ich hier direkt auf Eurem Weg, genau in dem Augenblick, in dem Ihr jemanden braucht, der für Euer Heer ein Wegetor erschafft?«

»Könnte trotzdem ein Zufall sein.«

»Und die Anziehung?«

Darauf hatte er keine Antwort.

»So funktioniert ta’veren, es erschafft Zufälle«, sagte Verin. »Man findet einen weggeworfenen Gegenstand, der einem von großem Nutzen ist, oder begegnet im genau richtigen Augenblick der richtigen Person. Seltene Zufälle, die einem einen Vorteil bringen. Oder ist Euch das noch nicht aufgefallen?« Sie lächelte. »Wollt Ihr nicht darauf wetten und die Würfel werfen?«

»Nein«, erwiderte er zögernd.

»Eines allerdings stört mich«, meinte Verin. »Gab es denn keinen anderen, der Euch zufällig hätte begegnen können? Al’Thor hat doch diese Asha’man, die das Land nach Männern durchsuchen, die die Macht lenken können, und ich vermute, abgelegene Gegenden wie hier stehen ganz oben auf ihrer Liste, da es eher wahrscheinlich ist, dass Machtlenker hier unbemerkt bleiben. Einer von ihnen hätte Euch unterwegs begegnen und für Euch ein Wegetor erschaffen können.«

»Wohl kaum«, erwiderte Mat schaudernd. »Denen vertraue ich doch nicht die Bande an.«

»Nicht einmal, um einen Herzschlag später in Andor zu sein?«

Mat zögerte. Nun ja, vielleicht.

»Ich musste aus einem ganz bestimmten Grund hier sein«, sagte die Aes Sedai nachdenklich.

»Und ich finde noch immer, Ihr deutet dort zu viel hinein«, meinte er und rutschte schon wieder auf der verdammten Bank herum.

» Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber zuerst sollten wir uns auf den Preis einigen, den es Euch kosten wird, wenn ich Euch nach Andor bringe. Ich nehme an, Ihr wollt nach Caemlyn?«

»Preis?«, wiederholte Mat. »Aber Ihr glaubt doch, dass das Muster Euch hergezwungen hat! Warum verlangt Ihr dann einen Preis von mir?«

»Weil mir«, sagte sie und hob einen Finger, »während ich auf Euch wartete, klar wurde - und ich wusste ehrlich nicht, ob es nun Ihr wärt oder der junge Perrin -, dass ich Euch mehrere Dinge geben kann, zu denen kein anderer in der Lage ist.« Sie griff in die Tasche und zog mehrere Blätter hervor. Bei einem davon handelte es sich um das Bild von Mat. »Ihr habt mich gar nicht gefragt, wo ich das herhabe.«

Mat zuckte mit den Schultern. »Ihr seid eine Aes Sedai. Ich nehme an, Ihr habt es … Ihr wisst schon, gesaidart.«

»Gesaidart?«, fragte sie tonlos.

Erneut zuckte er mit den Schultern.

»Matrim, ich erhielt dieses Blatt…«

»Nennt mich Mat«, sagte er.

»Ich erhielt dieses Blatt von einem Schattenfreund, Matrim«, sagte sie, »der mich für eine Dienerin des Schattens hielt und mir berichtete, dass die Verlorenen den Befehl gaben, die abgebildeten Männer zu töten. Ihr und Perrin schwebt in tödlicher Gefahr.«

»Das überrascht mich nicht«, erwiderte er und verbarg das Frösteln, das ihre Erklärung bei ihm auslöste. »Verin, seit dem Tag, an dem ich die Zwei Flüsse verließ, wollen mich Schattenfreunde umbringen.« Er hielt inne. »Soll man mich doch zu Asche verbrennen, seit dem Tag, bevor ich die Zwei Flüsse verließ. Was sollte das daran ändern?«

»Das ist anders«, erwiderte Verin mit strengem Tonfall. »Die Gefahr, in der Ihr nun schwebt… ich … nun, einigen wir uns doch einfach darauf, dass Ihr in großer, wirklich großer Gefahr schwebt. Ich schlage vor, dass Ihr in den nächsten Wochen ausgesprochen vorsichtig seid.«

»Ich bin immer vorsichtig«, sagte Mat.

»Nun, dann seid noch vorsichtiger«, meinte sie. »Versteckt Euch. Geht keine Risiken ein. Ihr seid unentbehrlich, bevor das hier vorbei ist.«

Er zuckte mit den Schultern. Sich verbergen? Das war machbar. Mit Thoms Hilfe würde er sich so verkleiden können, dass ihn nicht einmal seine Schwestern wiedererkannt hätten. »Das kann ich machen«, sagte er. »Nicht gerade ein hoher Preis. Wie lange braucht Ihr, um uns nach Caemlyn zu schaffen?«

»Das war nicht mein Preis, Matrim«, sagte sie amüsiert. »Das war ein Vorschlag. Auf den Ihr meiner Meinung nach unbedingt hören solltet.« Sie schob ein kleines, zusammengefaltetes Blatt Pergament unter dem Bild hervor. Es war mit blutrotem Wachs versiegelt.

Mat nahm es zögernd. »Ist er das?«

»Anweisungen«, sagte Verin. »Die Ihr am zehnten Tag, nachdem ich Euch in Caemlyn zurücklasse, ausführen werdet. «

Er kratzte sich am Hals, runzelte die Stirn; dann wollte er das Siegel brechen.

»Ihr werdet sie nicht vor diesem Tag öffnen«, sagte Verin.

»Was?«, protestierte Mat. »Aber …«

»Das ist mein Preis«, sagte Verin schlicht.

»Verdammte Frau«, erwiderte er und betrachtete den Brief. »Ich werde doch keinen Schwur leisten, ohne vorher zu wissen, worum es geht.«

»Matrim, ich bezweifle, dass Euch meine Anweisungen schwerfallen werden.«

Einen Augenblick lang betrachtete Mat das Siegel stirnrunzelnd, dann stand er auf. »Ich passe.«

Sie schürzte die Lippen. »Matrim, Ihr …«

»Nennt mich Mat«, sagte er und nahm seinen Hut von einem Kissen. »Und ich sagte, es gibt keinen Handel. In zwanzig Tagen bin ich sowieso in Caemlyn.« Er schob den Zelteingang zur Seite und zeigte nach draußen. »Ihr werdet mich nicht einwickeln, Frau.«

Sie bewegte sich nicht, runzelte aber die Stirn. »Ich hatte ganz vergessen, wie schwierig Ihr sein könnt.«

»Und stolz darauf«, sagte Mat.

»Und wenn wir einen Kompromiss schließen?«

»Ihr verratet mir, was in dem verdammten Brief steht?«

»Nein«, sagte Verin. »Denn es könnte sein, dass Ihr Euch gar nicht um den Inhalt kümmern müsst. Ich hoffe, ich kann zurückkehren, Euch den Brief wieder abnehmen und Euch Eurer Wege schicken. Aber falls nicht…«

»Wie soll der Kompromiss aussehen?«

»Ihr braucht den Brief nicht zu öffnen, wenn Ihr nicht wollt«, sagte Verin. »Verbrennt ihn. Aber solltet Ihr das tun, wartet Ihr fünfzig Tage in Caemlyn, nur für den Fall, dass ich länger für meine Rückkehr brauche als gedacht.«

Das ließ ihn innehalten. Fünfzig Tage waren eine lange Zeit, um auf jemanden zu warten. Aber wenn er es in Caemlyn tun konnte, statt allein unterwegs sein zu müssen …

Ob Elayne in der Stadt war? Seit ihrer Flucht aus Ebou Dar sorgte er sich um sie. War sie dort, würde er zumindest mit der Produktion von Aludras Drachen anfangen können.

Aber fünfzig Tage? Einfach nur warten? Entweder das oder den verdammten Brief aufmachen und das tun, was dort stand? Ihm gefiel beides nicht. »Zwanzig Tage«, sagte er.

»Dreißig Tage«, erwiderte sie, stand auf und hob den Finger, um jeden Einspruch zu unterbinden. »Ein Kompromiss, Mat. Was Aes Sedai angeht, so werdet Ihr entdecken, dass ich wesentlich zugänglicher als andere bin.« Sie streckte die Hand aus.

Dreißig Tage. Dreißig Tage konnte er warten. Er betrachtete den Brief. Er konnte der Versuchung widerstehen, ihn zu öffnen, und dreißig Tage zu warten kostete ihn wirklich nicht viel Zeit. Es war nur etwas länger, als er ohnehin für den Weg nach Caemlyn gebraucht hätte. Tatsächlich war das ein verdammtes Schnäppchen! Er brauchte ein paar Wochen, um das Projekt mit den Drachen auf die Beine zu stellen, und er brauchte Zeit, um mehr über den Turm von Ghenjei und die Schlangen und Füchse herauszufinden. Thom konnte sich nicht beschweren - nicht, wenn es sie sowieso zwei Wochen kostete, um Caemlyn zu erreichen.

Verin musterte ihn, einen Anflug von Sorge auf dem Gesicht. Er durfte sie nicht wissen lassen, wie erfreut er war. Sollte sie das erfahren, würde sie eine Möglichkeit finden, ihn dafür bezahlen zu lassen.

»Dreißig Tage«, sagte Mat zögernd und ergriff ihre Hand. »Aber danach kann ich gehen.«

»Oder Ihr öffnet den Brief nach zehn Tagen und tut, was dort steht. Eines von beiden, Matrim. Habe ich Euer Wort?«

»Das habt Ihr. Aber ich werde den verdammten Brief nicht öffnen. Ich warte dreißig Tage und kümmere mich dann um meine Angelegenheiten.«

»Wir werden sehen«, sagte sie mit einem feinen Lächeln und ließ seine Hand los. Sie faltete sein Bild zusammen, dann zog sie eine kleine, in Leder gebundene Mappe aus der Tasche. Sie öffnete sie und schob das Bild hinein, und als sie das tat, bemerkte er, dass sie dort einen kleinen Stapel versiegelter Briefe aufbewahrte, die genau wie der aussahen, den er in der Hand hielt. Welchem Zweck dienten sie?

Sobald die Briefe wieder sicher in ihrer Tasche ruhten, zog sie einen kleinen, durchsichtigen, geschnittenen Stein hervor - eine wie eine Lilie geformte Brosche. » Fangt damit an, Euer Lager abzubrechen, Matrim. Ich muss das Wegetor so schnell wie möglich erschaffen. Ich muss selbst bald Reisen.«

»Gut.« Matt schaute auf den versiegelten Brief in seiner Hand. Warum war Verin nur so geheimnisvoll?

Verdammt!, dachte er. Ich werde ihn nicht öffnen. Niemals. »Mandevwin«, sagte er. »Beschafft Verin Sedai ein eigenes Zelt, in dem sie warten kann, während wir das Lager abbrechen. Teilt ihr ein paar Soldaten zu, die sie mit dem versorgen sollen, was sie braucht. Und informiert die anderen Aes Sedai darüber, dass sie hier ist. Vermutlich interessiert es sie, von ihrer Ankunft zu hören. Aes Sedai sind schließlich Aes Sedai.«

Er schob den Brief unter den Gürtel, dann setzte er sich in Bewegung. »Und lasst jemanden diese verdammte Bank verbrennen. Einfach unfassbar, dass wir dieses Ding so weit mitgeschleppt haben.«


Tuon war tot. Fort, weggeworfen, vergessen. Tuon war die Tochter der Neun Monde gewesen. Jetzt war sie nur noch eine Randnotiz in den Geschichtsbüchern. Fortuona war die Kaiserin.

Fortuona Athaem Devi Paendrag küsste den Soldaten sanft auf die Stirn, der mit gesenktem Haupt im kurzen Gras kniete. Die schwüle altaranische Hitze erweckte den Eindruck, als wäre der Sommer bereits eingetroffen, aber das Gras, das noch vor wenigen Wochen so voller Leben erschienen war, fing bereits an zu verdorren. Wo waren das Unkraut und die Disteln? In der letzten Zeit wuchs nichts mehr so, wie es sollte. Genau wie das Getreide verdarb alles und starb, bevor es richtig lebte.

Der Soldat vor Fortuona war einer von fünfen. Hinter diesen fünf standen zweihundert Angehörige der Faust des Himmels - die Elite ihrer Angriffstruppen. Sie trugen Brustpanzer aus dunklem Leder und Helme aus leichtem Holz und Leder, die wie Insekten geformt waren. Helme und Brustpanzer waren mit dem Symbol einer geballten Faust versehen. Fünzig Paare aus Sul’dam und Damane, darunter Dali und ihre Sul’dam Malahavana, die Fortuona für die Sache gestiftet hatte. Sie hatte das Bedürfnis verspürt, dieser ungemein wichtigen Mission ein persönliches Opfer zu bringen.

Dahinter drängten sich Hunderte To’raken in den Ställen, die von ihren Führern auf den kommenden Flug vorbereitet wurden. Ein Schwarm Raken kreiste bereits anmutig am Himmel.

Fortuona schaute auf den Soldaten vor ihr hinab und legte ihm die Finger auf die Stirn, dort, wo sie ihn geküsst hatte. »Möge Euer Tod den Sieg bringen«, zitierte sie leise die rituellen Worte. »Möge Euer Messer Blut fließen lassen. Mögen Eure Kinder bis zum letzten Sonnenaufgang Euer Loblied singen.«

Er senkte den Kopf noch tiefer. Er trug schwarzes Leder, genau wie die vier anderen in der Reihe. Drei Messer hingen an seinem Gürtel, und er hatte weder Umhang noch Helm. Er war ein kleiner Mann - alle Angehörigen der Faust des Himmels waren klein und gedrungen, und über die Hälfte dieser Gruppe bestand aus Frauen. Das Gewicht war immer ein wichtiger Punkt, wenn es um Missionen mit To’raken ging. Bei einem Angriff waren zwei kleine, gut ausgebildete Soldaten einem schwerfälligen Hünen in schwerer Rüstung vorzuziehen.

Es war früher Abend, die Sonne ging gerade unter. Generalleutnant Yulan, der die Angriffsgruppe persönlich anführen würde, hielt es für besser, so spät am Tag aufzubrechen. Ihr Angriff würde in der Dunkelheit beginnen, die ihn vor allen verbergen würde, die möglicherweise den Horizont von Ebou Dar beobachteten. Einst wäre diese Vorsichtsmaßnahme unnötig gewesen. Was spielte es schon für eine Rolle, wenn Menschen in Ebou Dar sahen, wie Hunderte To’raken gen Himmel stiegen? Neuigkeiten verbreiteten sich nie schneller, als ein Raken fliegen konnte.

Aber ihre Feinde konnten viel schneller reisen, als ihnen hätte möglich sein dürfen. Ob ihnen nun ein Ter’angreal, ein Gewebe oder was auch immer diese Macht verlieh, sie stellte eine reelle Gefahr dar. Es war besser, heimlich vorzugehen. Der Flug nach Tar Valon würde mehrere Tage in Anspruch nehmen.

Fortuona ging zum Nächsten in der Reihe der fünf. Das schwarze Haar der Frau war geflochten. Fortuona küsste sie auf die Stirn und sprach die rituellen Worte. Diese fünf waren Blutmesser. Der schwarze Steinring, den jeder von ihnen trug, war ein besonderes Ter’angreal, das ihnen Stärke und Schnelligkeit verleihen würde, außerdem hüllte er sie in Dunkelheit, was ihnen erlaubte, mit den Schatten zu verschmelzen.

Diese unglaublichen Fähigkeiten forderten jedoch ihren Tribut, denn die Ringe saugten das Leben aus ihren Trägern und töteten sie im Verlauf weniger Tage. Den Ring abzunehmen würde den Prozess etwas verlangsamen, aber sobald er aktiviert war - dazu musste man den Steinring tragen und mit einem Tropfen des eigenen Blutes benetzen -, war er nicht mehr umkehrbar.

Diese fünf würden nicht mehr zurückkehren. Sie würden zurückbleiben, ganz egal, wie der Angriff auch ausging, und so viele Marath’damane töten, wie sie konnten. Das war eine schreckliche Verschwendung - diese Damane hätten an die Leine gelegt werden müssen -, aber es war besser, sie zu töten, als sie dem Wiedergeborenen Drachen zu überlassen.

Fortuona ging zum nächsten Soldaten in der kurzen Reihe und gab ihm den Kuss und den Segen.

Seit ihrer Begegnung mit dem Wiedergeborenen Drachen vor einigen Tagen hatte sich so viel verändert. Ihr neuer Name war nur eines davon. Jetzt ging sogar das Hohe Blut oft vor ihr auf die Knie. Ihre So’jhin hatten sich die Köpfe rasiert - Selucia eingeschlossen. Von jetzt an würden sie die rechte Kopfseite rasiert und das Haar auf der linken Seite wachsen lassen und es dabei flechten. Für den Augenblick trugen sie Mützen auf der linken Seite.

Das normale Volk ging mit mehr Selbstvertrauen, zeigte mehr Stolz. Sie hatten wieder eine Kaiserin. Bei allem, was mit der Welt nicht stimmte, war wenigstens das wieder in Ordnung.

Fortuona küsste den letzten der fünf Blutmesser und sprach die Worte, die sie sowohl zum Tode wie auch zum Heldentum verurteilte. Sie trat zurück, Selucia an ihrer Seite. General Yulan trat vor und verneigte sich tief. »Man soll verkünden, dass wir die Kaiserin, soll sie ewig leben, nicht enttäuschen werden.«

»Es ist vernommen worden«, sagte Selucia. »Das Licht folge euch. Wisset, dass Ihre Majestät, soll sie ewig leben, heute im Garten sah, wie eine neue Frühlingsrose drei Blätter fallen ließ. Das Omen für euren Sieg wurde gegeben. Erfüllt es, General, und Eure Belohnung wird groß sein.«

Yulan richtete sich auf und salutierte, indem er mit der Faust gegen die Brust hieb. Eisen traf auf Eisen. Er führte die Soldaten zu den Ställen der To’raken, die fünf Blutmesser vorneweg. Schon wenige Augenblicke später lief die erste Kreatur über die lange Wiese hinter den Ställen, die mit Pfosten und Wimpeln markiert war, und katapultierte sich in die Luft. Andere folgten, eine ganze Flotte, mehr, als Fortuona je am Himmel gesehen hatte. Als der letzte Sonnenstrahl erstarb, flogen sie nach Norden.

Normalerweise benutzte man Raken und To’raken nicht auf diese Weise. Bei den meisten Unternehmen setzte man die Soldaten an einem Punkt ab, an dem die To’raken warteten, während die Soldaten angegriffen und zurückkehrten. Aber dieses Unternehmen war zu wichtig. Yulans Plan verlangte nach einem waghalsigeren Angriff, wie man ihn nur selten in Betracht gezogen hatte. To’raken mit Damane und Sul’dam auf dem Rücken, die aus der Luft angriffen. Das konnte der Anfang einer kühnen neuen Taktik sein. Oder es konnte in einer Katastrophe enden.

»Wir haben alles verändert«, sagte Fortuona leise. »General Galgan irrt; das wird den Wiedergeborenen Drachen keineswegs in eine schlechtere Verhandlungsposition bringen. Er wird sich gegen uns wenden.«

»War er nicht schon zuvor gegen uns?«, fragte Selucia.

»Nein«, antwortete Fortuona. »Wir waren gegen ihn.«

»Besteht da ein Unterschied?«

»ja«, sagte Fortuona und beobachtete die Wolke aus To’raken, die am Himmel kaum noch sichtbar war. »Den gibt es. Ich fürchte, wir werden bald erleben, wie groß dieser Unterschied tatsächlich ist.«

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