Egwene, nun nehmt doch Vernunft an«, sagte Siuan. Der Ter’angreal-Ring, mit dem sie das Tel’aran’rhiod betreten hatte, ließ sie gelegentlich etwas durchsichtig erscheinen. »Wem nutzt es denn, wenn Ihr in dieser Zelle verrottet? Elaida wird dafür sorgen, dass Ihr dort niemals herauskommt, nicht nach dem, was Ihr bei diesem Abendessen über sie gesagt habt.« Siuan schüttelte den Kopf. »Mutter, manchmal muss man sich einfach der Wahrheit stellen. Irgendwann lässt sich ein Netz nicht mehr flicken, dann muss man es wegwerfen und ein neues weben.«
Egwene saß auf einem dreibeinigen Hocker in der Ecke des Zimmers, dem Verkaufsraum eines Schuhmachers. Sie hatte den Ort zufällig ausgewählt, nur für alle Fälle, und auf eine Zusammenkunft in der Weißen Burg verzichtet. Die Verlorenen wussten, dass Egwene und die anderen sich in der Welt der Träume bewegten.
Bei Siuan konnte Egwene entspannter sein und mehr von ihrem eigentlichen Ich enthüllen. Beiden war klar, dass Egwene jetzt die Amyrlin war und Siuan den geringeren Status hatte, aber sie teilten auch einen Bund. Eine Kameradschaft, die der Stellung zu verdanken war, die sie beide innegehabt hatten. Seltsamerweise hatte sich dieser Bund in etwas Ähnliches wie eine Freundschaft verwandelt.
Aber in diesem Augenblick stand Egwene kurz davor, ihre Freundin zu erwürgen. »Wir haben das doch besprochen«, sagte sie energisch. »Ich kann nicht flüchten. Jeder Tag, den ich eingesperrt verbringe und nicht geflohen bin, ist ein weiterer Schlag gegen Elaidas Herrschaft. Wenn ich vor ihrem Prozess verschwinde, untergräbt das alles, wofür wir gearbeitet haben!«
»Der Prozess wird eine Farce sein, Mutter«, sagte Siuan. »Und selbst wenn nicht, wird man nur eine leichte Strafe verhängen. So wie Ihr es mir berichtet habt, hat sie Euch bei ihren Schlägen keine Knochen gebrochen - sie hat Euch nicht einmal eine Platzwunde zugefügt.«
Das stimmte allerdings. Egwene hatte durch zerbrochenes Glas geblutet, nicht durch Elaidas Prügel.
»Selbst ein formeller Tadel vom Saal wird ihre Autorität untergraben«, beharrte Egwene. »Mein Widerstand, meine Weigerung, mich durch meine Inhaftierung brechen zu lassen, bedeutet etwas. Die Sitzenden selbst besuchen mich! Sollte ich flüchten, würde es so aussehen, als hätte ich Elaida nachgegeben.«
»Hat sie Euch nicht zur Schattenfreundin erklärt?«, fragte Siuan spitz.
Egwene zögerte. Ja, das hatte sie getan. Aber sie hatte keinen Beweis dafür.
Das Burggesetz war verzwickt, und die angemessenen Bestrafungen und Interpretationen zu finden konnte kompliziert sein. Die Drei Eide hätten Elaida davon abgehalten, die Eine Macht als Waffe zu benutzen, also musste sie geglaubt haben, das Gesetz nicht zu missachten. Entweder war sie weitergegangen als beabsichtigt, oder sie betrachtete Egwene als Schattenfreundin. Sie konnte beide Positionen zu ihrer Verteidigung anführen; die Letztere würde sie vom größten Teil der Schuld freisprechen, aber die Erstere würde viel einfacher zu beweisen sein.
»Sie könnte es schaffen, Euch verurteilen zu lassen«, meinte Siuan, die anscheinend in die gleiche Richtung dachte. »Man würde Euch hinrichten lassen. Was dann?«
»Das wird ihr nicht gelingen. Sie hat keinen Beweis, dass ich eine Schattenfreundin bin, also wird das der Saal niemals zulassen.«
»Und wenn Ihr Euch irrt?«
Egwene zögerte. »Also gut. Sollte der Saal entscheiden, mich hinzurichten, lasse ich mich von Euch hier herausholen. Aber vorher nicht, Siuan. Erst dann.«
Siuan schnaubte. »Möglicherweise bleibt Euch dann dazu keine Gelegenheit, Mutter. Falls Elaida die anderen einschüchtert, wird sie schnell handeln. Die Strafaktionen dieser Frau können so schnell wie ein Sturmwind sein und einen völlig unerwartet treffen. Das weiß ich zur Genüge.«
»Sollte das geschehen«, sagte Egwene spitz, »wäre mein Tod ein Sieg. Dann wäre Elaida diejenige, die aufgegeben hat, und nicht ich.«
Siuan schüttelte den Kopf und murmelte: »So unnachgiebig wie ein Ankerplatz.«
»Diese Diskussion ist beendet, Siuan«, sagte Egwene streng.
Siuan seufzte, sagte aber nichts mehr dazu. Sie schien zu viel nervöse Energie zu haben, um sich hinsetzen zu können, und hatte den Hocker auf der anderen Seite des Raumes ignoriert; sie stand rechts neben Egwene am Ladenfenster.
Das Ladenlokal des Schuhmachers wies Anzeichen von viel Betrieb auf. Eine Theke teilte den Raum in zwei Hälften, die Wand dahinter war mit Dutzenden Nischen von Schuhen in verschiedenen Größen versehen. Manchmal waren sie mit robusten Arbeitsschuhen aus Leder oder Segeltuch vollgestopft, deren Schnürriemen herunterhingen oder deren Schnallen im Phantomlicht des Tel’aran’rhiod funkelten, jedes Mal, wenn Egwene wieder zur Wand sah, hatten sich die Schuhe verändert. Einige waren verschwunden, andere waren aufgetaucht. Sie würden in der realen Welt nicht lange in ihren Nischen ruhen, denn sie ließen in der Welt der Träume nur vage Abdrücke zurück.
Die Vorderseite des Ladens war voller Hocker für die Kunden. Die Schuhe in den Fächern waren alle unterschiedlich, dann gab es Testschuhe, mit denen man die Größe feststellen konnte, jemand kam in den Laden, probierte den Testschuh an und suchte sich ein Modell aus. Dann würde der Schuhmaeher - oder vermutlich seine Angestellten - ein Paar in der gewünschten Mode herstellen, das man später abholen konnte. Die große Glasscheibe an der Vorderseite verkündete mit großen weißen aufgemalten Buchstaben, dass der Schuhmacher Naorman Mashinta hieß, und neben dem Namen war eine kleine »Drei« gemalt. Das war die dritte Generation von Mashintas, die den Laden betrieb. Keinesfalls ungewöhnlich für Stadtleute. Tatsächlich fand der Teil von Egwene, der noch immer von den Zwei Flüssen dominiert wurde, es seltsam, dass jemand in Betracht ziehen konnte, das Handwerk der Eltern nicht auszuüben, solange es sich nicht um das dritte oder vierte Kind handelte.
»Nachdem wir jetzt das Offensichtliche abgehandelt haben«, sagte Egwene, »was gibt es denn Neues?«
»Nun«, sagte Siuan, lehnte sich gegen das Fenster und schaute auf die auf unheimliche Weise leere Straße in Tar Valon hinaus, »kürzlich ist ein alter Bekannter von Euch im Lager aufgetaucht.«
»Wirklich?«, fragte Egwene gedankenverloren. »Wer denn?«
» Gawyn Trakand.«
Egwene zuckte zusammen. Das war unmöglich! Gawyn hatte sich während der Rebellion auf Elaidas Seite geschlagen. Er würde nicht die Fronten gewechselt haben. War er gefangen genommen worden? Aber so hatte Siuan es nicht ausgedrückt.
Einen kurzen Augenblick lang verwandelte sich Egwene in ein bebendes Mädchen im Bann seiner geflüsterten Versprechungen. Aber sie schaffte es, diesen Teil von ihr in der Gestalt der Amyrlin einzusperren, und zwang ihre Gedanken zurück in die Gegenwart. Mit betont nüchternem Tonfall fragte sie: »Gawyn? Wie seltsam. Ich hätte nicht erwartet, ihn dort zu finden.«
Siuan lächelte. »Gut reagiert«, meinte sie. »Aber Ihr habt zu lange geschwiegen, und als Ihr nach ihm gefragt habt, seid Ihr zu desinteressiert gewesen. Das machte Euch leicht zu durchschauen.«
»Das Licht soll Euch blenden«, sagte Egwene. »Ist das noch eine Prüfung? Ist er wirklich da?«
»Ich halte mich an die Eide, vielen Dank«, sagte Siuan beleidigt. Egwene gehörte zu den wenigen, die wussten, dass Siuan als Resultat ihrer Dämpfung und der darauf folgenden Heilung von den Drei Eiden entbunden worden war. Aber genau wie Egwene hatte sie sich entschlossen, nie zu lügen.
»Wie dem auch sei«, sagte Egwene. »Ich bin der Ansicht, dass die Zeit, mich auf die Probe zu stellen, vorbei ist.«
»feder, der Euch begegnet, Mutter, wird Euch auf die Probe stellen«, sagte Siuan. »Ihr müsst auf Überraschungen vorbereitet sein; in jedem Augenblick könnte Euch jemand eine entgegenschleudern, nur um zu sehen, wie Ihr reagiert.«
»Danke«, sagte Egwene kalt. »Aber diese Ermahnung ist wirklich unnötig.«
»Tatsächlich? Klingt irgendwie wie etwas, das Elaida sagen würde.«
»Das ist ungerecht!«
»Beweist es«, sagte Siuan süffisant.
Egwene zwang sich zur Ruhe. Siuan hatte recht. Es war besser, einen Rat anzunehmen - vor allem, wenn es ein guter Rat war -, als sich zu beschweren. »Natürlich habt Ihr recht«, sagte Egwene und strich das Kleid über den Knien glatt, während sie gleichzeitig den Unmut aus ihrer Miene strich. »Erzählt mir mehr über Gawyns Ankunft.«
»Viel mehr weiß ich auch nicht«, gestand Siuan ein. »Ich hätte es wirklich schon gestern erwähnen sollen, aber unser Treffen wurde ja abgekürzt.« Sie trafen sich nun viel öfter - in jeder Nacht von Egwenes Kerkerhaft -, aber am Vortag hatte jemand Siuan geweckt, bevor sie mit ihrem Gespräch fertig gewesen war. Eine Blase des Bösen im Rebellenlager, bei der Zelte zum Leben erwacht waren und versucht hatten, Menschen zu erdrosseln. Es hatte drei Todesfälle gegeben, darunter eine Aes Sedai.
»Aber Gawyn hat auch nicht viel gesagt, das ich mitbekommen hätte«, fuhr Siuan fort. »Ich glaube, er ist da, weil er von Eurer Gefangennahme gehört hat. Er hatte einen spektakulären Auftritt, aber jetzt bleibt er in Brynes Kommandoposten und besucht regelmäßig die Aes Sedai. Irgendetwas beschäftigt ihn; er spricht ständig mit Romanda und Lelaine.«
»Das ist beunruhigend.«
»Nun, sie sind es, die im Lager offensichtlich etwas zu sagen haben. Solange Sheriam und die anderen es nicht schaffen, ihnen einen Teil der Autorität zu entringen. Ohne Euch läuft es nicht gut; das Lager braucht Führung. Tatsächlich verzehren wir uns danach, so wie ein verhungernder Fischer sich nach einem Fang verzehrt. Ich schätze, Aes Sedai sind Menschen, die Ordnung brauchen. Ich …«
Sie verstummte. Vermutlich hatte sie Egwene schon wieder drängen wollen, eine Rettung zu akzeptieren. Sie sah Egwene an, dann sprach sie weiter. »Nun, es wird uns guttun, wenn Ihr zurückkehrt, Mutter, fe länger Ihr fortbleibt, desto unversöhnlicher werden die Fraktionen. Man kann die Linien, die durch die Mitte des Lagers gehen, fast schon sehen. Romanda auf der einen Seite, Lelaine auf der anderen, und ein stetig schrumpfender Teil, der sich nicht für eine Seite entscheiden will.«
»Wir können uns keine weitere Spaltung leisten«, sagte Egwene. »Gerade wir nicht; wir müssen uns stärker als Elaida erweisen.«
»Wenigstens verlaufen unsere Gräben nicht an den Grenzen der Ajahs«, meinte Siuan defensiv.
»Fraktion und Spaltungen«, sagte Egwene und stand auf. »Zank und Rangeleien. Wir sind besser als das, Siuan. Sag dem Saal, dass ich mich mit ihm treffen will. Vielleicht in zwei Tagen. Wir beide sollten uns morgen wieder treffen.«
Siuan nickte zögernd. »Also gut.«
Egwene sah sie an. »Haltet Ihr das für unklug?«
»Nein«, erwiderte Siuan. »Ich mache mir Sorgen darüber, wie sehr Ihr Euch antreibt. Die Amyrlin muss lernen, ihre Kräfte einzuteilen; einige in Eurer Stellung sind nicht deshalb gescheitert, weil ihnen die Fähigkeit zur Größe fehlte, sondern weil sie sich verzettelt haben, weil sie gerannt sind, als sie hätten gehen sollen.«
Egwene verzichtete auf den Hinweis, dass Siuan selbst einen großen Teil ihrer Herrschaft als Amyrlin in halsbrecherischem Tempo verbracht hatte. In der Tat hätte man durchaus argumentieren können, dass sich Siuan verzettelt hatte und darum gestürzt war. Wer könnte besser über die Gefahren solcher Aktivitäten sprechen als jemand, der von ihnen so sehr verbrannt worden war?
»Ich weiß diesen Rat zu schätzen, Tochter«, sagte Egwene. »Aber es gibt hier wirklich wenig, worüber man sich Sorgen machen sollte. Meine Tage verbringe ich in Einsamkeit, und die gelegentlichen Prügel sorgen für Würze. Diese nächtlichen Treffen helfen mir, zu überleben.« Sie erschauderte und lenkte den Blick von Siuan durch das Fenster auf die schmutzige, verlassene Straße.
»Ist es sehr schwer zu ertragen?«, fragte Siuan leise.
»Die Zelle ist schmal genug, dass ich beide Seiten gleichzeitig berühren kann«, sagte Egwene. »Sie ist auch nicht besonders lang. Wenn ich mich hinlege, muss ich die Beine anziehen, damit das geht. Ich kann nicht stehen, da die Decke so niedrig ist, dass ich mich nicht aufrichten kann, und ich kann nicht ohne Schmerzen sitzen, da man mich nicht länger zwischen den Prügelstrafen Heilt. Das Stroh ist alt und juckt. Die Tür ist dick, und zwischen den Spalten kann nicht viel Licht durchsickern. Ich wusste gar nicht, dass die Burg überhaupt solche Zellen hat.« Sie sah Siuan wieder an. »Sobald ich vollständig als Amyrlin anerkannt bin, wird man diesen Raum und alle wie ihn entfernen, man wird die Türen herausreißen und die Zellen selbst mit Ziegeln und Mörtel ausfüllen.«
Siuan nickte. »Wir werden dafür sorgen.«
Egwene wandte sich wieder von ihr ab und bemerkte beschämt, dass sie zugelassen hatte, dass sich ihr Gewand in einen Cadin’sor einer Aiel-Tochter verwandelt hatte, komplett mit Speeren und Bogen auf dem Rücken. Sie machte die Verwandlung rückgängig und holte tief Luft. »Kein Mensch sollte auf diese Weise festgehalten werden«, sagte sie, »nicht einmal…«
Siuan runzelte die Stirn, als Egwene nicht weitersprach. »Was ist?«
Egwene schüttelte den Kopf. »Mir ist gerade etwas klar geworden. So muss es für Rand gewesen sein. Nein, sogar noch schlimmer. Es heißt, man hätte ihn in eine Kiste gesperrt, die noch kleiner als meine Zelle war. Zumindest einen Teil meiner Abende kann ich damit verbringen, mich mit Euch zu unterhalten. Er hatte niemanden. Er konnte nicht daran glauben, dass seine Prügel einen Sinn hatten.« Sollte das Licht dafür sorgen, dass sie das nicht so lange ertragen musste wie er. Sie war erst ein paar Tage eingesperrt.
Siuan schwieg.
»Aber egal«, sagte Egwene. »Ich habe Tel’aran’rhiod. Am Tag ist mein Körper gefangen, aber in der Nacht ist meine Seele frei. Und jeder Tag, den ich durchhalte, ist ein weiterer Beweis, dass Elaidas Wille nicht das Gesetz ist. Sie kann meinen Willen nicht brechen. Ihre Unterstützung schwindet. Vertraut mir.«
Siuan nickte. »Natürlich. Ihr seid die Amyrlin.«
»Sicher bin ich das«, sagte Egwene in Gedanken.
»Nein«, erwiderte Siuan. »Ich meinte das von Herzen.«
Überrascht drehte Egwene sich um. »Aber Ihr habt doch immer an mich geglaubt!«
Siuan hob eine Braue.
»Zumindest so gut wie von Anfang an.«
»Ich war immer der Überzeugung, dass Ihr Potenzial habt«, korrigierte Siuan sie. »Nun, Ihr habt es erfüllt. Zumindest einen Teil. Genug davon. Wie auch immer dieser Sturm endet, eines habt Ihr bewiesen. Ihr verdient die Stellung, die Ihr innehabt. Beim Licht, Mädchen, Ihr könntet am Ende die beste Amyrlin sein, die die Welt seit Artur Falkenflügels Herrschaft hatte!« Sie zögerte. »Und es fällt mir nicht leicht, das zuzugeben, das könnt Ihr mir glauben.«
Lächelnd ergriff Egwene Siuans Arme. Was denn, Siuan schien vor Stolz beinahe feuchte Augen zu haben! »Aber ich habe mich doch bloß in eine Zelle sperren lassen.«
»Und das habt Ihr wie eine Amyrlin getan«, sagte Siuan. »Aber ich sollte zurückkehren. Einige von uns können sich nicht den ganzen Tag ausruhen so wie Ihr. Wir brauchen richtigen Schlaf, sonst fallen wir noch bewusstlos in unsere Waschlauge.« Sie verzog das Gesicht und löste sich von Egwene.
»Ihr könntet ihm doch sagen, dass Ihr …«
»Nein, das kommt nicht infrage«, sagte Siuan und drohte Egwene mit dem Finger. Hatte sie vergessen, dass sie gerade eben noch Egwenes Statur als Amyrlin gelobt hatte? »Ich habe mein Wort gegeben, und ich lasse mich eher zu Fischdärmen verarbeiten, bevor ich es breche.«
Egwene blinzelte. »Das würde mir im Traum nicht einfallen«, sagte sie und verbarg ein Lächeln, als ihr auffiel, dass Siuans schattenhafte Gestalt nun eine hellrote Schleife im Haar trug. »Dann ab mit Euch.«
Siuan nickte knapp, dann setzte sie sich auf einen Hocker und schloss die Augen. Langsam verblich sie aus dem Tel’aran’rhiod.
Egwene zögerte und betrachtete die Stelle, an der Siuan eben noch gestanden hatte. Eigentlich war es Zeit, in das normale Träumen zurückzukehren, damit ihr Verstand sich erholen konnte. Aber die Rückkehr in ihre gewöhnlichen Träume würde ein Schritt in Richtung Erwachen sein, und wenn sie aufwachte, fand sie sich nur in diesem engen Kerker in bedrückender Finsternis wieder. Sie sehnte sich danach, nur noch einen kleinen Augenblick lang in der Welt der Träume zu verweilen. Kurz dachte sie daran, Elaynes Träume zu besuchen und um ein Treffen zu bitten … aber nein, das erforderte zu viel Zeit, immer unter der Voraussetzung natürlich, dass Elayne ihr Traum-Ter’angreal zum Funktionieren bringen würde. In letzter Zeit schaffte sie das nur selten.
Egwene machte einen Schritt von Tar Valon fort, und der Schuhmacher verschwand.
Sie erschien im Lager der Rebellen. Vielleicht kein guter Ort für einen Besuch. Falls sich in der Welt der Träume Schattenfreunde oder Verlorene aufhielten, war es durchaus vorstellbar, dass sie dieses Lager auf der Suche nach Informationen beobachteten, genau wie Egwene manchmal im Tel’aran’rhiod das Arbeitszimmer der Amyrlin besuchte, um zu sehen, ob sie Elaidas Plänen auf die Schliche kamen. Aber sie hatte herkommen müssen. Sie stellte den Grund dafür nicht infrage; sie hatte einfach das Gefühl, dass es richtig war.
Die Lagerstraßen waren schlammig, zerfurcht von Wagenrädern. Einst war das ein Feld gewesen, das die Aes Sedai in Beschlag genommen und verwandelt hatten. Zum Teil in einen Ort des Krieges, da Brynes Soldaten in einem Kreis um sie herum lagerten. Zum Teil in eine Stadt, auch wenn es noch nie eine Stadt mit so vielen Aes Sedai, Novizinnen und Aufgenommenen gegeben hatte. Und zum Teil war es ein Monument der Schwäche der Weißen Burg.
Egwene ging über die Hauptstraße des Lagers, wo Unkraut zu Schlamm zertreten und der Schlamm schließlich zu einer Straße geworden war. Hölzerne Gehwege säumten sie, und das sich daran anschließende flache Land war mit Zelten übersät. Hier gab es keine Menschen, nur gelegentliche flüchtige Blicke auf Schläfer, die sich ins Tel’aran’rhiod verirrt hatten. Hier war kurz eine Frau in einem schönen grünen Kleid zu sehen. Vielleicht eine träumende Aes Sedai, obwohl es vermutlich nur eine Dienerin war, die träumte, eine Königin zu sein. Da war eine Frau in Weiß - eine Matrone mit strähnigen blonden Haaren, die viel zu alt war, um Novizin sein zu können. Aber das spielte keine Rolle mehr. Man hätte das Novizinnenbuch schon vor langer Zeit allen öffnen sollen. Die Weiße Burg war zu schwach, um neue Quellen der Kraft abweisen zu können.
Beide Frauen waren beinahe so schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht waren. Nur wenige Träumer blieben lange im Tel’aran’rhiod; um länger zu bleiben, brauchte man entweder eine besondere Fähigkeit, wie Egwene sie hatte, oder ein Ter’angreal wie den Ring, den Siuan benutzte. Es gab noch eine dritte Möglichkeit. In einem lebenden Albtraum gefangen zu sein. Von denen waren aber keine zu sehen, wofür man dem Licht danken musste.
Es erschien seltsam, das Lager so verlassen zu sehen. Schon vor langer Zeit hatte Egwene aufgehört, sich von dem unheimlichen Fehlen von Menschen im Tel’aran’rhiod nervös machen zu lassen. Aber dieses Lager war irgendwie anders. Es sah aus, wie ein Kriegslager vermutlich aussah, nachdem alle Soldaten auf dem Schlachtfeld abgemetzelt worden waren. Verlassen und trotzdem noch immer ein Banner, das Kunde vom Leben jener gab, die es bewohnt hatten. Egwene hatte das Gefühl, die Spaltung sehen zu können, von der Siuan gesprochen hatte; Zelte standen zusammen wie ein Haufen Blumenbeete.
Da die Individuen entfernt worden waren, konnte sie die Muster erkennen und die Schwierigkeiten, von denen sie kündeten. Egwene konnte Elaida beschuldigen, für die Zerwürfnisse zwischen den Ajahs der Weißen Burg verantwortlich zu sein, aber ihre eigenen Aes Sedai fingen ebenfalls an, sich zu entzweien. Zugegeben, es war so gut wie unmöglich, dass drei Aes Sedai zusammentrafen, ohne dass zwei ein Bündnis schlossen. Es war ja gesund und erstrebenswert, dass die Frauen im Lager Pläne schmiedeten und Vorbereitungen trafen; die Schwierigkeiten fingen erst dann an, wenn sie anfingen, andere ihrer Art als Feinde statt als Rivalen zu betrachten.
Unglücklicherweise hatte Siuan recht. Egwene blieb nicht mehr viel Zeit, um ihre Hoffnungen auf eine Aussöhnung zu setzen. Was, wenn die Weiße Burg Elaida nicht absetzte? Was, wenn die Differenzen zwischen den Ajahs niemals mehr beigelegt wurden? Was dann? In den Krieg ziehen?
Es gab noch eine andere Möglichkeit, eine, die keine von ihnen erwähnt hatte: permanent auf die Aussöhnung zu verzichten. Eine zweite Weiße Burg aufzubauen. Es würde bedeuten, die Aes Sedai im Streit zu lassen, vielleicht für immer. Die Vorstellung ließ Egwene erschaudern, ihre Haut juckte und rebellierte gegen den Gedanken.
Aber wenn ihr keine andere Wahl blieb? Sie musste die Auswirkungen bedenken, und sie fand sie beängstigend. Wie sollte sie die Kusinen oder die Weisen Frauen dazu ermutigen, sich den Aes Sedai anzuschließen, wenn die Aes Sedai selbst keine Einheit bildeten? Die beiden Weißen Burgen würden gegensätzliche Kräfte werden und alle politischen Anführer verwirren, während die rivalisierenden Amyrlin versuchten, Nationen für ihre eigenen Zwecke zu benutzen. Verbündete wie Feinde würden die Ehrfurcht vor den Aes Sedai verlieren, und es war nicht auszuschließen, dass Könige anfingen, ihre eigenen Zentren für in der Macht begabte Frauen zu gründen.
Egwene stählte sich und ging die schlammige Straße entlang; die Zelte auf dem Weg veränderten sich, ihre Eingänge flatterten auf die seltsam vergängliche Weise der Welt der Träume. Sie fühlte, wie die Stola der Amyrlin um ihren Hals erschien, aber sie war viel zu schwer, als hätte man Blei in den Stoff gewebt.
Sie würde die Aes Sedai der Weißen Burg auf ihre Seite bringen. Elaida würde stürzen. Aber wenn nicht … dann würde Egwene tun, was nötig war, um die Welt und ihre Menschen im Angesicht von Tarmon Gai’don zu beschützen.
Sie wandte sich vom Lager ab, und Zelte, Furchen und leere Straßen verschwanden. Wieder war sie sich nicht sicher, wo sie ihr Verstand hinführte. Auf diese Weise in der Welt der Träume auf die Reise zu gehen - sich von Bedürfnissen führen zu lassen - konnte gefährlich sein, aber auch sehr erhellend. In diesem Fall suchte sie nicht nach einem Gegenstand, sondern nach Wissen. Was musste sie wissen, was musste sie sehen?
Ihre Umgebung wurde undeutlich und gewann sofort wieder an Konturen. Nun stand sie in der Mitte eines kleinen Lagers; in einer Feuergrube glühten Holzscheite, eine winzige Rauchwolke schlängelte sich gen Himmel. Das war seltsam. Feuer war für gewöhnlich zu flüchtig, um in Tel’aran’rhiod widergespiegelt zu werden. Trotz des Rauchs und des roten Glühens, das die plangeschliffenen Flusskiesel um die Grube erwärmte, fehlten die richtigen Flammen. Sie schaute in den zu dunklen stürmischen Himmel. Dieser stumme Sturm war eine weitere Unregelmäßigkeit für die Welt der Träume, auch wenn er in der letzten Zeit so alltäglich geworden war, dass sie ihn kaum noch wahrnahm. Konnte man an diesem Ort überhaupt etwas für normal halten?
Überrascht sah Egwene bunte Wagen um sich herum aufgereiht, grün, rot, orange und gelb. Waren sie eben schon dort gewesen? Sie stand auf einer großen Lichtung in einem Wald aus weißen Phantomespen. Das Unterholz war dicht, dürres Wildgras stach an unregelmäßigen Stellen fingergleich in die Höhe. Zu ihrer Rechten schlängelte sich eine überwucherte Straße zwischen den Bäumen hindurch; die bunten Wagen bildeten einen Kreis um das Feuer. Die Seiten der kastenförmigen Gefährte, die Dächer und Wände wie kleine Gebäude hatten, waren mit grellen Farben gestrichen. Ochsen spiegelten sich nicht in der Welt der Träume, dafür erschienen Teller, Becher und Löffel, nur um gleich darauf wieder neben der Feuergrube oder auf den Kutschböcken zu verschwinden.
Es war ein Lager der Kesselflicker, der Tuatha’an. Warum dieser Ort? Egwene ging langsam um die Feuergrube herum und betrachtete die Wagen, deren Lackierung keinerlei Risse oder Abnutzung aufwies. Diese Karawane war bedeutend kleiner als die, die sie und Perrin vor so langer Zeit besucht hatten, aber sie machte fast den gleichen Eindruck. Fast glaubte Egwene die Flöten und Trommeln hören zu können, konnte sich beinahe vorstellen, dass das Flackern der Feuergrube die Schatten tanzender Männer und Frauen darstellte. Ob die Tuatha’an wohl noch immer tanzten, wo der Himmel so dunkel und der Wind voller schlimmer Neuigkeiten war? Welchen Platz gab es noch für sie in einer Welt, die sich auf den Krieg vorbereitete? Trollocs war der Weg des Blattes egal. Wollte sich diese Gruppe Tuatha’an vor der Letzten Schlacht verstecken?
Egwene setzte sich auf die unterste Treppenstufe eines Wagens, dessen Vorderseite der Feuergrube zugewandt war. Einen Augenblick lang ließ sie ihr Gewand sich in ein einfaches grünes Wollkleid aus den Zwei Flüssen verwandeln, das dem ähnelte, das sie während ihres Besuches bei den Kesselflickern getragen hatte. Sie starrte in die nicht existierenden Flammen und hing nachdenklich ihren Erinnerungen nach. Was war wohl aus Aram, Raen und IIa geworden? Aller Wahrscheinlichkeit nach befanden sie sich in einem Lager genau wie diesem hier in Sicherheit und warteten darauf, was Tarmon Gai’don mit der Welt anstellen würde. Egwene lächelte, als sie an jene Tage dachte, in denen sie mit Aram getanzt und geflirtet hatte, während Perrin stirnrunzelnd sein Missfallen darüber zum Ausdruck gebracht hatte. Das war eine einfachere Zeit gewesen; allerdings hatten die Kesselflicker es immer geschafft, die Zeit für sich einfacher zu machen.
Ja, diese Gruppe würde noch immer tanzen. Und zwar bis zu dem Tag, an dem das Muster verbrannte, ob sie nun ihr Lied gefunden hatten oder nicht, ob die Trollocs die Welt nun verwüsteten oder nicht oder der Wiedergeborene Drache sie zerstörte.
Hatte sie die Dinge aus den Augen verloren, die von allen am Kostbarsten waren? Warum kämpfte sie so energisch dafür, sich die Weiße Burg zu sichern? Um der Macht willen? Aus Stolz? Oder weil sie der Meinung war, dass das wirklich das Beste für die Welt war?
Würde sie sich verausgaben, während sie diese Schlacht ausfocht? Sie hatte die Grünen und nicht die Blauen gewählt - oder hätte sie gewählt. Der Unterschied bestand nicht nur darin, dass ihr gefiel, wie die Grünen aufstanden und kämpften; ihrer Meinung nach waren die Blauen einfach zu verbissen. Das Leben war komplizierter, und es ging um mehr als nur eine Sache. Das Leben wollte gelebt werden. Es ging dabei ums Träumen, Lachen und Tanzen.
Gawyn war im Lager der Aes Sedai. Sie hatte immer behauptet, die Grünen wegen ihrer aggressiven Entschlossenheit wählen zu wollen - es war die Kampf-Ajah. Aber ein ehrlicherer Teil von ihr musste zugeben, dass Gawyn ebenfalls an dieser Entscheidung schuld gewesen war. Bei den Grünen Ajah war nichts Besonderes daran, seinen Behüter zu heiraten. Egwene würde Gawyn zu ihrem Behüter erwählen. Und zu ihrem Ehemann.
Sie liebte ihn. Sie würde mit ihm den Bund eingehen. Diese Herzenswünsche waren sicher nicht so wichtig wie das Schicksal der Welt, aber sie waren wichtig.
Egwene erhob sich von der Stufe, und ihr Kleid verwandelte sich wieder in das weiße und silberne Gewand der Amyrlin. Sie tat einen Schritt und ließ die Welt sich verändern.
Sie stand vor der Weißen Burg. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick über den zierlichen und doch so mächtigen weißen Turm schweifen. Obwohl der Himmel in schwarzer Unruhe brodelte, ließ etwas den Turm einen Schatten werfen, der direkt auf Egwene fiel. Handelte es sich um eine Art Vision? Die Weiße Burg überragte sie weit, und sie spürte ihr Gewicht, als würde sie sie stützen. Als stemmte sie sich gegen diese Mauern, um zu verhindern, dass sie zerbarsten und einstürzten.
Egwene stand lange da, während der Himmel kochte und der perfekte Turm der Burg seinen Schatten auf sie warf. Sie starrte zur Spitze empor und versuchte sich darüber klar zu werden, ob wohl der Zeitpunkt gekommen war, sie einfach in sich zusammenbrechen zu lassen.
Nein, dachte sie erneut. Nein, noch nicht. Noch ein paar Tage.
Egwene schloss die Augen, und als sie sie wieder öffnete, umgab sie eine tiefe Finsternis. Plötzlich schien ihr ganzer Körper vor Schmerzen zu explodieren, ihr vom Riemen wund geschlagener Hintern, ihre von der Enge des kleinen Raumes verkrampften Arme und Beine. Es roch nach altem Stroh und Moder, und hätte sich ihre Nase nicht schon lange daran gewöhnt, hätte sie auch den Gestank ihres ungewaschenen Körpers gerochen. Sie unterdrückte ein Stöhnen - vor der Tür standen Frauen, die sie bewachten und die Abschirmung aufrechterhielten. Sie würde sie keine Beschwerde hören lassen, nicht einmal in der Form eines Stöhnens.
Sie setzte sich auf. Noch immer trug sie das Novizinnengewand, das sie bei Elaidas Abendessen getragen hatte. Die Ärmel waren steif von getrocknetem Blut, und sie knisterten und kratzten auf ihrer Haut, als sie sich bewegte. Sie war völlig ausgedörrt; man gab ihr nie genug zu trinken. Aber sie beschwerte sich nicht. Kein Brüllen, kein Weinen, kein Betteln. Trotz der Schmerzen zwang sie sich, sich aufrecht hinzusetzen, und lächelte darüber, wie sich das anfühlte. Sie schlug die Beine untereinander, lehnte sich zurück und streckte die Muskeln in ihren Armen, einen nach dem anderen. Dann stand sie auf, blieb geduckt stehen und streckte Rücken und Schultern. Schließlich legte sie sich auf den Rücken und streckte die Beine in die Luft, verzog das Gesicht, als sie sich beschwerten. Sie musste beweglich bleiben. Der Schmerz war nichts. Nichts auf der Welt kam der Gefahr gleich, in der sich die Weiße Burg befand.
Nun setzte sie sich wieder mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden und holte tief Luft, wiederholte in Gedanken, dass sie in diesen Raum eingesperrt sein wollte. Sie hätte entkommen können, wenn sie es so gewollt hätte, aber sie blieb. Und indem sie blieb, untergrub sie Elaidas Autorität. Indem sie blieb, bewies sie, dass sich manche nicht beugten und den Untergang der Weißen Burg tatenlos akzeptierten. Diese Kerkerhaft bedeutete etwas.
Diese in Gedanken wiederholten Worte halfen ihr, die Panik abzuwehren, die bei der Vorstellung aufkam, einen weiteren Tag in dieser Zelle zu verbringen. Was hätte sie nur ohne diese nächtlichen Träume getan, um den Verstand nicht zu verlieren? Wieder musste sie an den armen Rand denken, den man in eine Kiste gesperrt hatte. Nun teilten sie etwas, er und sie. Eine Verwandtschaft, die weit über die gemeinsame Kindheit in den Zwei Flüssen hinausging. Beide hatten sie Elaidas Bestrafungen erlitten. Und sie hatten keinen von ihnen gebrochen.
Es gab nichts anderes zu tun, als zu warten. Gegen Mittag würde man die Tür öffnen und sie herauszerren, um sie zu schlagen. Die Prügel würde nicht Silviana verabreichen. Die Schläge auszuteilen betrachteten alle als Belohnung, eine Entschädigung dafür, dass die Roten Schwestern den ganzen Tag im Kerker sitzen und sie bewachen mussten.
Nach den Prügeln würde man Egwene zurück in die Zelle stoßen und ihr eine Schale mit einem geschmacklosen Brei geben. Jeder Tag verlief gleich. Aber sie würde nicht nachgeben, vor allem nicht, solange sie die Nächte im Tel’aran’rhiod verbringen konnte. In gewisser Hinsicht waren sie jetzt ihre Tage, die sie frei und aktiv verbringen konnte, während das hier die Nächte in tatenloser Dunkelheit waren. Das redete sie sich zumindest ein.
Der Morgen verging langsam. Schließlich klirrten eiserne Schlüssel, als einer von ihnen in das uralte Schloss gesteckt wurde. Die Tür öffnete sich, und vor ihr standen zwei Rote Schwestern, nur als Silhouetten auszumachen, denn das Licht war Egwene so fremd, dass sie kaum ihre Gesichtszüge erkennen konnte. Die Roten ergriffen sie grob an den Armen, obwohl sie sich nie wehrte. Sie zerrten sie aus der Zelle und stießen sie zu Boden. Egwene hörte den Riemen, als eine der Frauen ihn voller Vorfreude in die Hand klatschen ließ, und stählte sich gegen die Schläge. Die Schwestern würden sie lachen hören, genau wie an den Vortagen.
»Wartet«, sagte eine Stimme.
Die Arme, die Egwene hielten, wurden steif. Egwene runzelte die Stirn, die Wange gegen den kalten Boden gedrückt. Diese Stimme … das war Katerine.
Langsam lockerten die Schwestern ihren Griff, dann zogen sie Egwene auf die Füße. Sie blinzelte gegen das grelle Licht der Lampen an und entdeckte Katerine ein Stück weit entfernt mit verschränkten Armen im Korridor stehen. »Sie soll freigelassen werden«, sagte die Rote und klang seltsam zufrieden.
» Was?«, stieß eine von Egwenes Kerkerwärterinnen hervor. Als sich ihre Augen endlich an die Helligkeit gewöhnten, erkannte sie sie als die schlanke Barasine.
»Die Amyrlin hat erkannt, dass sie die falsche Person bestraft«, sagte Katerine. »Es ist nicht allein die Schuld dieses … dieses Insekts von einer Novizin, sondern vor allem die Schuld der Frau, die sie manipuliert hat.«
Egwene musterte Katerine. Und dann ergab alles einen Sinn. »Silviana«, sagte sie.
»In der Tat«, erwiderte Katerine. »Wenn die Novizinnen außer Kontrolle sind, sollte man dann nicht die zur Verantwortung ziehen, die sie ausbilden soll?«
Also hatte Elaida eingesehen, dass sie unmöglich beweisen konnte, dass Egwene eine Schattenfreundin war. Die Aufmerksamkeit auf Silviana zu lenken war ein schlauer Zug; bestrafte man Elaida, weil sie Egwene mit der Macht geschlagen hatte, und bestrafte man Silviana dann aber noch härter, weil sie zugelassen hatte, dass Egwene überhaupt außer Kontrolle geriet, würde das das Gesicht der Amyrlin wahren.
»Ich bin der Meinung, dass die Amyrlin eine weise Entscheidung getroffen hat«, fuhr Katerine fort. »Egwene, Ihr werdet von jetzt an nur noch von der Oberin der Novizinnen … unterrichtet.«
»Aber Silviana ist doch Euch zufolge diejenige, die versagt hat«, sagte Egwene verwirrt.
»Nicht Silviana«, sagte Katerine, und ihre Selbstzufriedenheit trat noch stärker hervor. »Die neue Oberin der Novizinnen. «
Egwene erwiderte ihren Blick. »Ah«, sagte sie. »Und Ihr glaubt, dass Ihr da Erfolg habt, wo Silviana gescheitert ist?«
»Ihr werdet schon sehen.« Katerine wandte sich ab und setzte sich in Bewegung. »Bringt sie in ihr Quartier.«
Egwene schüttelte den Kopf. Elaida war kompetenter, als sie gedacht hätte. Sie hatte eingesehen, dass die Kerkerhaft nicht funktionierte, und hatte stattdessen einen Sündenbock gefunden, den sie nun bestrafen konnte. Aber Silviana von ihrem Posten entbinden? Das würde ein Schlag gegen die Moral der Burg selbst sein, denn viele Schwestern betrachteten sie als hervorragende Oberin der Novizinnen.
Zögernd brachten die Roten Egwene zum Quartier der Novizinnen, das sich nun an seinem neuen Platz auf der zweiundzwanzigsten Ebene befand. Es schien sie zu ärgern, dass ihnen die Gelegenheit entgangen war, sie zu prügeln.
Egwene ignorierte sie. Nach der langen Haft fühlte es sich einfach wunderbar an, wieder gehen zu können. Es war keine Freiheit, nicht mit zwei Wärterinnen, aber so fühlte es sich an! Beim Licht! Sie war sich nicht sicher, wie viele Tage sie noch in dem feuchten Loch von Zelle ertragen hätte!
Aber sie hatte gewonnen. Das dämmerte ihr so langsam. Sie hatte gewonnen! Sie hatte der schlimmsten Strafe widerstanden, die sich Elaida hatte einfallen lassen, und sie hatte den Sieg davongetragen! Der Saal würde die Amyrlin bestrafen, und Egwene würde frei sein.
Jeder bekannte Korridor schien in einem huldigenden Licht zu erstrahlen, und jeder Schritt schien wie der Siegesmarsch von tausend Männern auf einem Schlachtfeld zu sein. Sie hatte gewonnen! Der Krieg war noch nicht vorbei, aber diese Schlacht ging an Egwene. Sie stiegen ein paar Treppen hinauf, dann betraten sie die bevölkerten Teile der Burg. Bald kamen Gruppen von Novizinnen in Sicht; Egwenes Anblick ließ sie tuscheln, dann eilten sie weiter.
Innerhalb weniger Minuten begegnete die kleine Prozession aus Egwene und ihren beiden Aufpasserinnen immer mehr Menschen in den Korridoren. Schwestern aller Ajahs, die beschäftigt aussahen - und doch verlangsamten sich ihre Schritte, als sie Egwene erblickten. Aufgenommene reagierten weniger verstohlen; sie standen an den Kreuzungen und starrten Egwene einfach nur an. In allen Augen stand Überraschung zu lesen. Warum hatte man Egwene freigelassen? Alle erschienen angespannt. War etwas geschehen, von dem sie nichts wussten?
»Ah, Egwene«, sagte eine Stimme, als sie einen anderen Korridor passierten. »Ausgezeichnet, Ihr seid bereits frei. Ich möchte mit Euch sprechen.«
Egwene wandte den Kopf und entdeckte überrascht Saerin, die zielstrebige Sitzende der Braunen. Die Narbe auf ihrer Wange ließ die Frau stets furchteinflößender als andere Aes Sedai erscheinen, ein Eindruck, der noch von ihren weißen Locken unterstrichen wurde, die von hohem Alter kündeten. Nur wenige Angehörige der Braunen konnte man als einschüchternd beschreiben, aber Saerin gehörte zweifellos zu dieser kleinen Gruppe.
»Wir bringen sie auf ihr Zimmer«, sagte Barasine. »Nun, dann spreche ich eben auf dem Weg mit ihr«, erwiderte Saerin ruhig. »Sie darf nicht…«
»Ihr verweigert mir das, Rote? Einer Sitzenden?« Barasine errötete. »Die Amyrlin wird nicht erfreut sein, das zu hören.«
»Dann lauft und berichtet es ihr«, sagte Saerin. »Während ich mit der jungen al’Vere ein paar wichtige Dinge bespreche.« Sie musterte die Roten. »Gebt uns etwas Privatsphäre, wenn ich bitten darf.«
Es misslang den beiden Roten Schwestern, sie niederzustarren, und sie wichen zurück. Egwene verfolgte alles neugierig. Es hatte den Anschein, als wäre die Autorität der Amyrlin etwas gesunken - tatsächlich sogar die ihrer ganzen Ajah. Saerin wandte sich Egwene zu und hob die Hand, und sie setzten sich gemeinsam in Bewegung, gefolgt von den Roten Schwestern.
»Ihr geht ein Risiko ein, wenn man Euch dabei sieht, wie Ihr auf diese Weise mit mir sprecht«, sagte Egwene.
Saerin schnaubte. »Heutzutage ist es immer ein Risiko, sein Quartier zu verlassen. Die Geschehnisse bereiten mir zu viel Kummer, um mich noch auf Höflichkeiten achten zu lassen.« Sie hielt kurz inne. »Davon abgesehen, mit Euch gesehen zu werden, kann heutzutage das Risiko wert sein. Ich wollte etwas herausfinden.«
»Was denn?«, fragte Egwene neugierig.
»Nun, ich wollte tatsächlich wissen, ob man sie herumschubsen kann. Die meisten Angehörigen der Roten sind über Eure Entlassung nicht erfreut. Sie betrachten sie als große Niederlage für Elaida.«
»Sie hätte mich töten sollen«, sagte Egwene und nickte. » Schon vor Tagen.«
»Das hätte man als Niederlage betrachtet.«
»Eine genauso große Niederlage, wie gezwungen zu werden, Silviana zu entfernen? Plötzlich zu entscheiden, dass ihre Oberin der Novizinnen an allem schuld ist, eine Woche nach dem Vorfall?«
»Hat man Euch das erzählt?« Saerin lächelte. »Dass Elaida ›plötzlich‹ ganz allein diese Entscheidung traf?« Egwene hob eine Braue.
»Silviana verlangte, vor dem Saal gehört zu werden«, erklärte Saerin. »Sie trat vor uns, vor Elaida selbst, und beharrte darauf, Eure Behandlung würde gegen das Gesetz verstoßen. Was vermutlich auch stimmt. Selbst wenn Ihr keine Aes Sedai seid, hätte man Euch nicht unter so schrecklichen Bedingungen unterbringen dürfen.« Saerin warf Egwene einen Seitenblick zu. »Silviana verlangte Eure Freilassung. Ich muss sagen, sie schien Euch sehr zu respektieren. Sie sprach mit Stolz in ihrer Stimme davon, wie Ihr Eure Bestrafungen akzeptiert habt; als wärt Ihr eine Schülerin, die ihre Lektion gut gelernt hat. Dann stellte sie Elaida bloß und verlangte ihre Absetzung als Amyrlin. Es war ziemlich … außergewöhnlich.«
»Beim Licht…«, hauchte Egwene. »Was hat Elaida mit ihr gemacht?«
»Ihr befohlen, das Kleid einer Novizin anzuziehen«, erwiderte Saerin. »Was im Saal für erheblichen Aufruhr sorgte.« Saerin hielt inne. »Natürlich weigerte sich Silviana. Elaida hat verlangt, dass man sie dämpfen und hinrichten soll. Der Saal weiß nicht, was er machen soll.«
Egwene verspürte einen Stich der Panik. »Beim Licht! Sie darf nicht bestraft werden! Das müssen wir verhindern.«
»Es verhindern?«, sagte Saerin. »Kind, die Rote Ajah bricht auseinander! Ihre Angehörigen wenden sich gegeneinander, Wölfe greifen ihr eigenes Rudel an. Falls man zulässt, dass Elaida eine Angehörige ihrer eigenen Ahja tötet, wird sich ihre Unterstützung aus den Rängen in Luft auflösen. Tatsächlich würde es mich nicht überraschen, dass sich, wenn sich der Staub erst einmal legt, diese Ajah so sehr selbst geschadet hat, dass man sie einfach auflösen kann und für alle Zeiten los ist.«
»Ich will sie nicht auflösen«, sagte Egwene. »Saerin, das ist doch eines der Probleme, die Elaidas Einstellung von Anfang an verursacht hat! Die Weiße Burg braucht alle Ajahs, um sich dem zu stellen, was auf uns zukommt, selbst die Roten. Wir können es uns einfach nicht leisten, eine Frau wie Silviana zu verlieren, nur um einen Standpunkt zu beweisen. Holt an Unterstützung zusammen, was Ihr könnt. Wir müssen schnell handeln, um diese Posse zu verhindern.«
Saerin blinzelte. »Kind, glaubt Ihr allen Ernstes, dass Ihr hier die Kontrolle habt?«
Egwene erwiderte ihren Blick. »Wollt Ihr sie haben?«
»Beim Licht, nein!«
»Nun, dann steht mir nicht länger im Weg, und macht Euch an die Arbeit! Elaida muss entfernt werden, aber wir dürfen nicht zulassen, dass dabei die ganze Burg um uns herum in sich zusammenfällt. Geht zum Saal und seht, was Ihr tun könnt, um das zu verhindern!«
Saerin nickte tatsächlich respektvoll, bevor sie sich in einen Seitenkorridor zurückzog. Egwene drehte sich zu ihren Roten Aufpasserinnen um. »Habt Ihr genug mitbekommen?«
Sie schauten einander an. Natürlich hatten sie gelauscht. »Ihr werdet sicher gehen und selbst in Erfahrung bringen wollen, was geschehen ist«, meinte Egwene. »Warum habt Ihr es nicht getan?«
Die beiden Frauen sahen sie ärgerlich an. »Die Abschirmung«, sagte Barasine. »Wir haben den Befehl, dass zu jeder Zeit mindestens zwei sie aufrechterhalten.«
»Ach, soll man Euch doch zu …« Egwene holte tief Luft. »Wenn ich schwöre, nicht die Macht zu umarmen, bis ich wieder unter der Aufsicht einer anderen Roten Schwester stehe, wird Euch das reichen?«
Die beiden sahen sie nur misstrauisch an.
»Das dachte ich mir«, sagte Egwene. Sie wandte sich einer Gruppe Novizinnen zu, die in einem abzweigenden Korridor standen und so taten, als würden sie die Fliesen an der Wand scheuern, während sie Egwene anstarrten.
»Ihr da.« Egwene zeigte auf eine von ihnen. »Marsial, richtig?«
»Ja, Mutter«, quiekte das Mädchen.
»Geht und holt uns etwas Spaltwurzeltee. Katerine sollte etwas davon im Arbeitszimmer der Oberin der Novizinnen haben. Das ist nicht weit. Sagt ihr, dass Barasine ihn für mich verlangt; bringt ihn in mein Zimmer.«
Die Novizin eilte los.
»Ich trinke ihn, und dann kann zumindest eine von Euch gehen«, sagte Egwene. »Eure Ajah bricht zusammen. Sie wird alle klaren Köpfe brauchen, die sie bekommen kann; vielleicht könnt Ihr ja Eure Schwestern davon überzeugen, dass es nicht klug ist, Silviana von Elaida hinrichten zu lassen.«
Die beiden Schwestern sahen sich unsicher an. Dann fluchte die Dürre, deren Name Egwene unbekannt war, leise und eilte mit rauschenden Röcken los. Barasine rief ihr nach, aber die Frau blieb nicht stehen.
Barasine sah Egwene an und murmelte etwas Unverständliches, wich aber nicht von der Stelle. »Wir warten auf die Spaltwurzel«, sagte sie und starrte Egwene in die Augen. »Geht weiter.«
»Schön«, erwiderte Egwene. »Aber jede Minute, die Ihr zögert, könnte Euch teuer zu stehen kommen.«
Sie stiegen die Treppe zu dem neuen Novizinnenquartier hinauf, das nun neben die Überreste der Sektion der Braunen gequetscht war. Vor Egwenes Tür blieben sie stehen, um auf die Spaltwurzel zu warten. Während sie dort standen, scharten sich Novizinnen um sie. In den fernen Korridoren rannten Schwestern und ihre Behüter eilig umher. Hoffentlich würde der Saal etwas tun können, um Elaida aufzuhalten. Wenn sie wirklich so weit ging und Schwestern hinrichtete, nur weil sie ihr widersprachen …
Schließlich kehrte die Novizin mit noch immer weit aufgerissenen Augen zurück und brachte einen Becher und eine kleine Packung Kräuter. Barasine inspizierte das Päckchen und war anscheinend zufrieden, denn sie schüttete seinen Inhalt in den Becher und hielt ihn Egwene hin. Seufzend nahm Egwene ihn und leerte ihn bis zur Neige. Die Dosis war groß genug, dass sie nicht einmal ein paar Tropfen der Macht lenken konnte, aber hoffentlich nicht so groß, um ihr das Bewusstsein zu rauben.
Barasine drehte sich auf dem Absatz um und eilte los. Egwene blieb allein im Korridor zurück. Nicht nur allein, sondern allein und in der Lage, das zu tun, was auch immer sie wollte. Solche Gelegenheiten erhielt sie nicht oft.
Nun, sie würde sehen, was sie damit erreichen konnte. Aber zuerst musste sie aus diesem dreckigen, blutverschmierten Kleid heraus und sich waschen. Sie stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf.
Und entdeckte, dass dort jemand saß.
»Hallo, Egwene«, sagte Verin und trank einen Schluck aus einer Tasse mit dampfendem Tee. »Ich dachte schon, ich müsste in Eure Zelle einbrechen, um mit Euch sprechen zu können.«
Egwene schüttelte ihre Überraschung ab. Verin? Wann war die Frau in die Weiße Burg zurückgekehrt? Wie lange war es her, seit sie sie zuletzt gesehen hatte? »Jetzt ist keine Zeit, Verin«, sagte sie und öffnete schnell die kleine Truhe, die ihr Ersatzkleid enthielt. »Auf mich warten wichtige Arbeiten.«
»Hmm, ja«, sagte Verin und nahm in aller Ruhe den nächsten Schluck. »Das glaube ich gern. Übrigens, das Kleid, das Ihr tragt, ist grün.«
Die unsinnige Bemerkung ließ Egwene die Stirn runzeln, und sie schaute unwillkürlich nach unten auf ihr Kleid. Natürlich war es nicht grün. Wie konnte Verin nur so etwas sagen? Hatte die Frau den Verstand …
Egwene erstarrte, sah Verin an.
Das war eine Lüge gewesen. Verin konnte lügen.
»Ja, ich dachte mir schon, dass das Eure Aufmerksamkeit erregt«, sagte Verin und lächelte. »Ihr solltet Euch setzen. Wir haben viel zu besprechen, und uns bleibt dafür nur wenig Zeit.«