Eine kühle Meeresbrise strich in dem Moment über Rand hinweg, in dem er durch das Wegetor ritt. Der federschwere Wind trug den Geruch von tausend Kochfeuern aus der Stadt Falme herbei, wo man den Morgenbrei zubereitete.
Rand zügelte Tai’daishar, vollkommen überrumpelt von den Erinnerungen, die diese Gerüche mit sich brachten. Erinnerungen an eine Zeit, in der er sich über seine Rolle in der Welt noch unsicher gewesen war. Erinnerungen an eine Zeit, in der ihn Mat unaufhörlich damit aufgezogen hatte, dass er feine Mäntel trug, obwohl er es nach Möglichkeit vermieden hatte. Erinnerungen an eine Zeit, in der er sich der Banner geschämt hatte, die nun hinter ihm wehten. Einst hatte er darauf bestanden, sie zu verbergen, als könnte er sich damit vor seinem eigenen Schicksal verstecken.
Die Prozession hinter ihm wartete ab, Schnallen ächzten, Pferde schnaubten. Rand hatte Falme schon einmal einen kurzen Besuch abgestattet. Damals hatte er nirgendwo lange bleiben können, hatte diese Monate damit verbracht, entweder jemanden zu jagen oder gejagt zu werden. Fain hatte das Horn von Valere und den Rubindolch, an den Mat gebunden gewesen war, in seinen Besitz gebracht und ihn nach Falme gelockt. Als er an Mat dachte, blitzten die Farben wieder auf, aber er ignorierte sie. Diese wenigen Augenblicke war er nicht in der Gegenwart.
Falme hatte einen so bedeutsamen Wendepunkt in seinem Leben dargestellt, wie er sich später im kargen Land der Aiel zugetragen hatte, als er sich als der Car’a’carn erwies. Nach Falme hatte es kein Versteckspiel mehr gegeben, hatte er nicht länger gegen das angekämpft, was er war. Das hier war der Ort, an dem er sich das erste Mal eingestanden hatte, dass er ein Mörder war, der Ort, an dem er zum ersten Mal begriffen hatte, welche Gefahr er für alle in seiner Umgebung darstellte. Er hatte versucht, sie alle zurückzulassen. Sie waren ihm gefolgt.
In Falme war der Hirtenjunge verbrannt, und die Meereswinde hatten seine Asche fortgetragen. Aus dieser Asche hatte sich der Wiedergeborene Drache erhoben.
Rand trieb Tai’daishar an, und die Prozession ging weiter. Er hatte befohlen, das Wegetor einen kurzen Ritt von der Stadt entfernt zu öffnen, hoffentlich aus der Sichtweite einer jeden Damane. Natürlich hatte er es von Asha’man erschaffen lassen - was die Gewebe vor den Frauen verbarg -, aber er wollte ihnen nicht den geringsten Hinweis auf das Schnelle Reisen in die Hände spielen. Das Unvermögen der Seanchaner, Reisen zu können, war einer seiner größten Vorteile.
Falme selbst erhob sich auf der kleinen Halbinsel von Toman, die in das Aryth-Meer hineinragte. Hohe Klippen auf beiden Seiten brachen die Wellen und erzeugten ein leises, fernes Brausen. Die dunklen Steingebäude der Stadt bedeckten die Halbinsel wie Kiesel ein Flussbett. Größtenteils waren es niedrige, einstöckige Häuser von erheblicher Breite, als hätten ihre Bewohner erwartet, dass die Wellen über die Klippen schlagen und gegen ihre Heime krachen würden. Das Grasland hier war nicht so verkümmert wie im Norden, aber das frische Frühlingsgras sah bereits gelb und glanzlos aus, als würden es die Halme bereuen, die Köpfe aus dem Boden gestreckt zu haben.
Die Halbinsel senkte sich zu einem natürlichen Hafen, in dem viele seanchanische Schiffe vor Anker lagen. Überall flatterten seanchanische Flaggen und beanspruchten diese Stadt als einen Teil ihres Kaiserreichs; das höchste Banner in der Stadt zeigte einen fliegenden goldenen Falken, der drei Blitze gepackt hielt. Das Banner war mit blauen Fransen umgeben.
Durch die in der Ferne liegenden Straßen bewegten sich die seltsamen Kreaturen, die die Seanchaner von ihrer Seite des Ozeans mitgebracht hatten, zu weit entfernt, als dass Rand Einzelheiten hätte erkennen können. Am Himmel flogen Raken; offensichtlich hatten die Seanchaner einen großen Stall davon. Die Halbinsel von Toman befand sich direkt südlich von Arad Doman, und diese Stadt war zweifellos ein wichtiges Aufmarschgebiet für den seanchanischen Feldzug im Norden.
Diese Eroberung würde heute enden. Rand musste Frieden schließen, musste die Tochter der Neun Monde davon überzeugen, ihre Heere zurückzuziehen. Dieser Friede würde die Ruhe vor einem Sturm sein. Er würde Rands Volk nicht vor einem Krieg beschützen, er würde es nur davor bewahren, damit es dann für ihn an einem anderen Ort sterben konnte. Aber er würde tun, was getan werden musste.
Nynaeve ritt neben ihm heran, als sie weiter auf Falme zurückten. Ihr hübsches weißblaues Kleid war nach der Domanimode geschnitten, bestand allerdings aus wesentlich dickerem - und schicklicherem - Stoff. Sie schien Mode aus der ganzen Welt zu adoptieren, trug Kleider aus den Städten, die sie besuchte, drängte ihnen aber ihre ureigenen Ansichten auf, was sich gehörte und was nicht. Einst hätte Rand das vielleicht amüsant gefunden. Dieses Gefühl schien er nicht länger empfinden zu können. Er fühlte bloß die kalte Stille in seinem Inneren, die Stille, die bei der Fontäne aus gefrorenem Zorn als Deckel diente.
Er würde Zorn und Stille lange genug im Gleichgewicht halten. Das musste er.
»Und so kehren wir zurück«, sagte Nynaeve. Der bunte Schmuck aus Ter’angrealen verdarb irgendwie den Eindruck ihres so liebevoll maßgeschneiderten Kleides.
»Ja.«
»Ich erinnere mich noch an das letzte Mal, als wir hier waren«, sagte sie nachdenklich. »So großes Chaos, so viel Wahnsinn. Und am Ende fanden wir dich mit dieser Wunde in deiner Seite.«
»Ja«, flüsterte Rand. Hier hatte er die erste seiner unheilbaren Wunden davongetragen, beim Kampf gegen Ishamael am Himmel über der Stadt. Die Wunde erwärmte sich, als er daran dachte. Erwärmte sich und schmerzte. Er hatte angefangen, diesen Schmerz als alten Freund zu betrachten, als eine Erinnerung, dass er noch lebte.
»Ich sah dich oben in der Luft«, sagte Nynaeve. »Ich habe es nicht geglaubt. Ich … versuchte, diese Wunde zu Heilen, aber da war ich noch immer blockiert und konnte die nötige Wut nicht heraufbeschwören. Min wollte nicht von deiner Seite weichen.«
Min hatte ihn heute nicht begleitet. Sie standen sich immer noch nahe, aber es hatte sich etwas zwischen ihnen verändert. Genau wie er immer befürchtet hatte. Wenn sie ihn ansah, dann sah sie, wie er sie umbrachte. Das wusste er.
Noch vor wenigen Wochen hätte er sie nicht davon abhalten können, ihn zu begleiten, unter welchen Umständen auch immer. Nun blieb sie ohne jeden Widerspruch zurück.
Kälte. Es würde bald vorbei sein. Kein Platz für Bedauern oder Trauer.
Die Aiel liefen voraus, um nach einem Hinterhalt Ausschau zu halten. Viele von ihnen trugen die roten Stirnbänder. Rand sorgte sich nicht um einen Hinterhalt. Die Seanchaner würden ihn nicht verraten, es sei denn, es befand sich ein weiterer Verlorener unter ihnen.
Rand berührte das Schwert an seiner Taille. Es war das mit der Krümmung, mit der schwarzen Scheide und dem dort aufgemalten Drachen in Rot und Gold. Aus mehreren Gründen ließ es ihn an seinen letzten Aufenthalt in Falme denken.
»In dieser Stadt habe ich das erste Mal einen Mann mit einem Schwert getötet«, sagte er leise. »Ich habe nie davon erzählt. Er war ein seanchanischer Lord, ein Schwertmeister. Verin hatte mir gesagt, ich sollte darauf verzichten, in der Stadt die Macht zu lenken, also trat ich ihm nur mit dem Schwert entgegen. Ich besiegte ihn. Tötete ihn.«
Nynaeve runzelte die Stirn. »Also hast du das Recht, eine Klinge mit Reiherzeichen zu tragen.«
Rand schüttelte den Kopf. »Es gab keine Zeugen. Mat und Hurin kämpften anderswo. Sie sahen mich direkt nach dem Kampf, waren aber keine Zeugen des Todesstoßes.«
»Wozu braucht man da Zeugen?«, höhnte sie. »Du hast einen Schwertmeister besiegt, also bist du einer. Ob das nun andere beobachtet haben oder nicht, ist doch unwichtig.«
Er sah sie an. »Warum das Reiherzeichen tragen, wenn andere es nicht sehen können, Nynaeve?«
Darauf gab sie keine Antwort. Voraus hatten die Seanchaner einen schwarzweiß gestreiften Pavillon vor der Stadt errichtet. Offensichtlich umgaben Hunderte von Damane und Sul’dam das an der Vorderseite offene Zelt; die Damane trugen das charakteristische graue Gewand, die Sul’dam ihre rotblauen Kleider mit den Blitzen auf der Brust. Rand hatte nur ein paar Machtlenker mitgebracht: Nynaeve, drei Weise Frauen, Corele, Narishma, Flinn. Ein Bruchteil von dem, zu denen er Zugang hatte, selbst ohne sich an seine im Osten stationierten Streitkräfte wenden zu müssen.
Aber nein, es war besser, nur eine Ehrenwache mitzubringen, damit es auch so aussah, als würde er in Frieden kommen. Falls dieses Treffen zu einer Schlacht ausarten sollte, lag Rands einzige Hoffnung in einer schnellen Flucht durch ein Wegetor. Entweder das … oder er musste selbst etwas unternehmen, um den Kampf zu beenden.
Die Statuette von dem Mann mit der Kugel hing vor ihm am Sattel. Damit würde er sicher gegen hundert Damane standhalten können. Zweihundert. Er konnte sich an die Macht erinnern, die er bei der Reinigung von Saidin gehalten hatte. Mit dieser Macht konnte man Städte einebnen, jeden vernichten, der sich gegen ihn stellte.
Nein. Dazu würde es nicht kommen. Er konnte es sich nicht leisten, dass es dazu kam. Sicherlich wussten die Seanchaner, dass ein Angriff auf ihn nur in einer Katastrophe enden konnte. Rand war gekommen, um sich erneut mit ihnen zu treffen, gleichzeitig war er sich bewusst, dass ein Verräter in ihren Reihen versucht hatte, ihn gefangen zu nehmen oder zu töten. Sie würden seine Ehrlichkeit erkennen müssen.
Aber falls nicht… Er griff nach dem Zugangsschlüssel, nur für alle Fälle, und schob ihn in seine übergroße Außentasche. Dann holte er tief Luft, stählte sich und suchte das Nichts. Dort ergriff er die Eine Macht.
Übelkeit und Schwindel drohten ihn zu Boden zu werfen. Er schwankte, umklammerte Tai’daishar mit den Knien, packte den Zugangschlüssel in der Tasche mit seiner Hand. Er biss die Zähne zusammen. In seinem Hinterkopf regte sich Lews Therin. Der Verrückte wollte die Eine Macht. Ein verzweifelter Kampf folgte, und als Rand endlich gewann, entdeckte er, dass er im Sattel zusammengesunken war.
Und wieder vor sich hinmurmelte.
»Rand?«, fragte Nynaeve.
Rand richtete sich auf. Er war Rand, nicht wahr? Manchmal konnte er sich nach so einer Schlacht nur mühsam erinnern, wer er war. Hatte er endlich Rand, den Eindringling, tief nach unten verdrängt und war zu Lews Therin geworden? Am Vortag war er mittags in einer Zimmerecke kauernd weinend und etwas über Ilyena flüsternd erwacht. Er konnte die Beschaffenheit ihres langen blonden Haares zwischen den Fingern spüren und sich daran erinnern, wie er sie im Arm gehalten hatte. Er erinnerte sich, wie sie tot zu seinen Füßen lag, getötet von der Einen Macht.
Wer war er?
Aber war das wirklich wichtig?
»Alles in Ordnung?«, fragte Nynaeve.
»Uns geht es gut.« Rand war sich gar nicht bewusst, dass er den Plural benutzte, bevor er die Worte ausgesprochen hatte. Seine Sehkraft erholte sich langsam, auch wenn sie noch nicht ganz wieder in Ordnung war. Alles war ein wenig verzerrt, wie es die ganze Zeit seit dem Kampf mit Semirhage gewesen war, bei dem sie ihm die Hand genommen hatte. Mittlerweile fiel ihm das kaum noch auf.
Er richtete sich auf, dann zog er noch etwas Macht durch den Zugangsschlüssel und füllte sich mit Saidin. Eigentlich sehnte er sich danach, noch mehr zu nehmen, aber er hielt sich zurück. Er hielt bereits mehr von der Macht, als jeder andere Mann ohne Hilfsmittel geschafft hätte. Es würde reichen.
Nynaeve warf einen Blick auf die Statuette an seiner Seite. Die erhobene Kugel glühte leicht. »Rand …«
»Ich halte nur ein kleines bisschen mehr, als Vorsichtsmaßnahme. « Je mehr eine Person von der Einen Macht hielt, desto schwieriger wurde es, sie davon abzuschneiden. Sollten die Damane versuchen, ihn gefangen zu nehmen, würde sein Widerstand sie entsetzen. Möglicherweise konnte er sogar einem vollständigen Zirkel widerstehen.
»Niemand wird mich je wieder gefangen nehmen«, flüsterte er. »Nie mehr. Sie werden mich nicht überraschen.«
»Vielleicht sollten wir umkehren «, meinte Nynaeve.» Rand, wir müssen uns nicht mit ihnen zu ihren Bedingungen treffen. Es …«
»Wir bleiben«, sagte Rand leise. »Wir erledigen das mit ihnen hier und jetzt.« Voraus konnte er eine Gestalt erkennen, die in dem Pavillon auf einem Podest an einem Tisch saß. Gegenüber der Person stand ein Stuhl. Auf gleicher Höhe. Das überraschte ihn; nach dem zu urteilen, was er von den Seanchanern gehört hatte, war er davon ausgegangen, sich die Stellung eines Angehörigen ihres Blutes erstreiten zu müssen.
War das die Tochter der Neun Monde? Dieses Kind? Rand runzelte die Stirn, als sie näher kamen, aber dann erkannte er, dass sie gar kein Kind war, sondern nur eine ausgesprochen kleine Frau. In Schwarz gekleidet war sie von dunkler Hautfarbe, als würde sie zum Meervolk gehören. An den Wangen ihres runden, ruhigen Gesichts klebte graue Asche. Bei näherem Hinsehen schien sie in seinem Alter zu sein.
Rand holte tief Luft und stieg vom Pferd. Es war Zeit, diesen Krieg zu beenden.
Der Wiedergeborene Drache war ein junger Mann. Das hatte man Tuon gesagt, dennoch überraschte es sie.
Aber warum sollte sie seine Jugend überraschen? Eroberer waren oft jung. Artur Falkenflügel, der große Stammvater des Kaiserreichs, war ein junger Mann gewesen, als er mit seinen Eroberungszügen angefangen hatte.
Die, die eroberten, die die Welt dominierten, brannten schnell aus, wie Lampen mit ungeschnittenen Dochten. Er trug Gold und Rot auf Schwarz, und die Knöpfe seines Mantels funkelten, als er von seinem großen schwarzen Hengst abstieg und sich dem Pavillon näherte. Der schwarze Mantel wies an den Manschetten rote und goldene Stickereien auf - die fehlende Hand war ziemlich auffällig, wenn der Blick auf die Manschetten fiel -, aber davon abgesehen war seine Kleidung schmucklos. Als hätte er kein Bedürfnis, mit einer prächtigen Tracht von seinem Antlitz abzulenken.
Sein Haar hatte die Farbe eines dunklen Sonnenuntergangs, war von einem dunklen Rot. Seine Haltung hatte etwas Majestätisches - ein fester Gang, jeder Schritt voller Zuversicht, die Augen nach vorn gerichtet. Man hatte Tuon ausgebildet, auf diese Weise zu gehen, bei keinem Schritt zu zögern. Sie fragte sich, wer ihn ausgebildet hatte. Vermutlich hatte er die besten Lehrer gehabt, die ihn in den Verhaltensweisen von Königen und Anführern unterwiesen hatten. Doch Berichten zufolge war er als Bauer in einem Dorf auf dem Land aufgewachsen. Vielleicht eine Geschichte, die man sorgfältig verbreitet hatte, damit er in den Augen des Volkes an Glaubwürdigkeit gewann?
Er ging auf den Pavillon zu, eine Marath’damane an seiner linken Seite. Die Frau trug ein Kleid in der Farbe eines wolkenlosen Himmels, dessen Besatz an weiße Wolken erinnerte. Das dunkle Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten und sich mit knallbuntem Schmuck ausstaffiert. Etwas schien sie zu stören, denn ihre Stirn lag in Falten gelegt, und ihre Lippen bildeten einen schmalen Strich. Ihre Gegenwart ließ Tuon erschaudern. Nach ihrer Reise mit Matrim hätte man denken sollen, dass sie sich in der Zwischenzeit an Marath’damane gewöhnt hatte. Aber das war nicht der Fall. Sie waren unnatürlich. Gefährlich. Tuon konnte sich genauso wenig in Gegenwart einer nicht angeleinten Damane entspannen, wie sie eine Graszahnschlange um ihren Knöchel hätte tolerieren können, die über ihre Haut züngelte.
Aber wenn die Marath’damane schon für Unbehagen sorgte, dann galt das erst recht für die beiden Männer, die zur Rechten des Drachen gingen. Der eine war kaum älter als ein Jüngling und trug die Haare zu vielen Zöpfen gebunden, an deren Enden Glöckchen bimmelten. Der andere war ein älterer Mann mit weißem Haar und gebräuntem Antlitz. Trotz ihres unterschiedlichen Alters bewegten sich beide mit dem lässigen Gang von Männern, die schon viele Schlachten erlebt hatten. Und beide trugen schwarze Mäntel, an deren hohen Kragen Anstecknadeln funkelten. Asha’man, so nannte man sie. Männer, die die Macht lenken konnten. Ungeheuer, die man am besten schnell tötete. In Seanchan hatte es vereinzelt Leute gegeben, die in ihrem Verlangen nach einem unerwarteten Vorteil versucht hatten, diese Tsorov’ande Doon auszubilden, diese Wirbelstürme mit schwarzen Seelen. Diese Narren waren schnell gestorben, oftmals von den Werkzeugen vernichtet worden, die sie hatten kontrollieren wollen.
Tuon stählte sich. Die Anspannung von Karede und den Totenwachen um sie herum stieg. Es war kaum zu bemerken - Fäuste ballten sich, Atemzüge verlangsamten sich. Tuon wandte sich ihnen nicht zu, aber sie gab Selucia ein verstohlenes Zeichen.
»Ihr werdet eure Ruhe behalten«, sagte die Stimme leise zu den Männern.
Und das würden sie - sie waren die Totenwache. Tuon machte die Bemerkung nur ungern, da es ihren Blick senken würde. Aber sie duldete keinen unglücklichen Zwischenfall. Die Begegnung mit dem Wiedergeborenen Drachen würde gefährlich sein. Daran ließ sich nichts ändern. Selbst mit zwanzig Damane und Sul’dam an jeder Seite des Pavillons. Selbst mit Karede hinter sich und Hauptmann Musenge und der Streitmacht aus Bogenschützen, die im Versteck eines Daches gerade noch in Schussreichweite alles beobachteten.
Selbst mit Selucia zu ihrer Rechten, die angespannt und bereit war, sich wie ein Jagwin von einem hohen Felsen auf alles zu stürzen. Tuon war trotz allem ohne Deckung. Der Wiedergeborene Drache war eine Feuersbrunst, die sich aus unerklärlicher Weise in einem Haus entzündet hatte. Man konnte nicht verhindern, dass sie das Zimmer verwüstete. Man konnte nur hoffen, das Haus zu retten.
Er ging auf direktem Weg zu dem ihr gegenüberstehenden Stuhl und setzte sich, stellte dabei nicht einmal infrage, dass sie ihn für einen Gleichgestellten hielt. Sie wusste, dass sich die anderen darüber wunderten, dass sie noch immer die Asche der Trauer trug, warum sie sich noch immer nicht zur Kaiserin ausgerufen hatte. Die Trauerzeit war vorbei, aber Tuon hatte ihren Thron noch nicht beansprucht.
Der Grund dafür war dieser Mann. Die Kaiserin konnte niemanden als Gleichgestellten empfangen, nicht einmal den Wiedergeborenen Drachen. Die Tochter der Neun Monde hingegen … dieser eine Mann konnte ihr gleichberechtigt sein. Darum hatte sie gezögert. Der Wiedergeborene Drache wäre vermutlich nicht besonders erfreut darüber gewesen, hätte sich ein anderer über ihn gestellt, selbst wenn derjenige einen völlig legitimen Grund dazu hatte.
Als er sich setzte, blitzte es in der Ferne zwischen zwei Wolken auf, obwohl Malai - eine der Damane, die aus dem Wetter die Zukunft vorhersagen konnte - darauf bestanden hatte, dass kein Regen drohte. Blitze an einem Tag ohne Regen. Sei vorsichtig, dachte Tuon und las das Omen, und sei vorsichtig, was du sagst. Nicht gerade das aussagekräftigste aller Omen. Um noch vorsichtiger aufzutreten, hätte sie fliegen müssen!
»Ihr seid die Tochter der Neun Monde«, sagte der Wiedergeborene Drache. Es war eine Feststellung, keine Frage.
»Ihr seid der Wiedergeborene Drache«, erwiderte sie. Bei dem Blick in diese schieferähnlichen Augen erkannte sie, dass ihr erster Eindruck falsch gewesen war. Er war kein junger Mann. Ja, sein Körper mochte der eines jungen Mannes sein. Aber diese Augen … das waren alte Augen.
Er beugte sich ein kleines Stück vor. Die Totenwächter spannten sich an, Leder ächzte. »Wir werden Frieden schließen«, sagte al’Thor. »Heute. Hier und jetzt.«
Selucia zischte leise. Seine Worte hörten sich verdächtig nach einer Forderung an. Tuon hatte ihm großen Respekt erwiesen, indem sie ihn auf ihre Ebene holte, aber niemand gab der kaiserlichen Familie einen Befehl.
Al’Thor warf Selucia einen Blick zu. »Ihr könnt Eurer Leibwächterin sagen, dass sie sich entspannen soll«, meinte er trocken. »Diese Begegnung wird sich nicht in einen Konflikt verwandeln. Das erlaube ich nicht.«
»Sie ist meine Stimme«, erwiderte Tuon bedächtig, »und meine Wahrheitssprecherin. Mein Leibwächter ist der Mann hinter meinem Stuhl.«
Al’Thor schnaubte leise. Also war er ein aufmerksamer Mann. Oder er hatte Glück. Nur wenige erkannten Selucias wahre Natur.
»Ihr wünscht den Frieden«, fuhr Tuon fort. »Habt Ihr Bedingungen für Euer … Angebot?«
»Es ist kein Angebot, sondern eine Notwendigkeit«, sagte al’Thor. Er sprach mit einer gewissen Weichheit. Die Menschen hier sprachen alle so schnell, aber bei al’Thor hatten die Worte Gewicht. Er erinnerte sie an ihre Mutter. »Die Letzte Schlacht naht. Sicherlich erinnert sich Euer Volk an die Prophezeiungen. Euer Krieg bringt uns alle in Gefahr. Meine Streitkräfte - alle Streitkräfte - werden für den Kampf gegen den Schatten benötigt.«
Die Letzte Schlacht würde zwischen dem Kaiserreich und den Heeren des Dunklen Königs ausgetragen werden. Das wusste jeder. Die Prophezeiungen legten deutlich dar, dass die Kaiserin jene besiegen würde, die dem Schatten dienten, und dann würde sie den Wiedergeborenen Drachen zu einem Duell mit dem Lichtfresser ausschicken.
Wie viel davon hatte er erfüllt? Er schien noch nicht erblindet zu sein, also musste das noch passieren. Im Essanik-Zyklus hieß es, er würde auf seinem eigenen Grab stehen und weinen. Oder bezog sich diese Prophezeiung auf das Wandeln der Toten, was ja bereits geschah? Sicherlich waren einige dieser Geister über ihre eigenen Gräber gegangen. Manchmal waren die Schriften ungenau.
Die Menschen hier schienen viele der Prophezeiungen vergessen zu haben, so wie sie ihre Eide vergessen hatten, nach der Wiederkehr Ausschau zu halten. Aber das sagte Tuon nicht. Pass auf deine Worte auf…
»Ihr glaubt also, dass die Letzte Schlacht nahe ist?«, fragte sie.
»Ob sie nahe ist? Sie ist so nahe wie ein Attentäter, der einem seinen stinkenden Atem in den Nacken pustet, während er einem mit seinem Messer schon die Haut aufschlitzt. Sie ist so nahe wie der letzte Schlag der Mitternacht, nachdem die anderen elf bereits verklungen sind. Nahe? Ja, sie ist nahe. Schrecklich nahe.«
Hatte ihn der Wahnsinn bereits gepackt? Falls dem so war, würde das die Dinge schrecklich verkomplizieren. Sie musterte ihn und suchte nach Anzeichen geistiger Umnachtung. Er schien sich unter Kontrolle zu haben.
Eine Brise rüttelte an dem Segeltuch und trug den Gestank von verfaulendem Fisch heran. Zurzeit schienen viele Dinge zu verfaulen.
Diese Kreaturen, dachte Tuon. Die Trollocs. Was sagte ihr Auftauchen voraus? Tylee hatte sie vernichtet, und die Späher hatten keine weiteren gefunden. Die Intensität dieses Mannes ließ Tuon zögern. Ja, die Letzte Schlacht war nahe, vielleicht so nahe, wie er behauptete. Das machte es noch viel wichtiger, dass sie diese Länder unter ihrem Banner vereinigte.
»Ihr müsst einsehen, warum das so wichtig ist«, sagte der Wiedergeborene Drache. »Warum kämpft Ihr gegen mich?«
»Wir sind die Wiederkehr«, erwiderte Tuon. »Die Omen besagten, dass für uns die Zeit zum Aufbruch gekommen war, und wir rechneten damit, ein vereintes Königreich zu finden, das bereit war, uns zu ehren und Armeen für die Letzte Schlacht zur Verfügung zu stellen. Stattdessen fanden wir ein zerbrochenes Land, das seine Eide vergessen und sich auf nichts vorbereitet hatte. Wieso könnt Ihr nicht verstehen, dass wir kämpfen müssen? Es macht uns keine Freude, Euch zu töten, so wie es geduldigen Eltern keine Freude macht, ein Kind zu bestrafen, das den rechten Pfad verlassen hat.«
Al’Thor hörte ungläubig zu. »Wir sind Kinder für Euch?«
»Das ist nur eine Metapher«, sagte Tuon.
Einen Moment lang saß er da und rieb sich das Kinn. Machte er sie für den Verlust seiner Hand verantwortlich? Falendre hatte davon gesprochen.
»Eine Metapher«, sagte er dann. »Vielleicht trifft sie sogar zu. Ja, dem Land fehlte die Einheit. Aber ich habe es zusammengeschmiedet. Der Lötzinn mag schwach sein, aber er wird lange genug halten. Euer Krieg für die Einheit wäre durchaus lobenswert, gäbe es mich nicht. So seid Ihr eine Störung. Wir müssen Frieden haben. Unser Bündnis muss nur so lange Bestand haben, bis mein Leben endet.« Ihre Blicke trafen sich. »Ich versichere Euch, das wird nicht mehr lange dauern.«
Sie saß an dem breiten Tisch, die Arme gefaltet. Hätte al’Thor den Arm ausgestreckt, hätte er sie nicht berühren können. Darin lag eine Absicht, auch wenn diese Vorsichtsmaßnahme im Nachhinein lächerlich war. Sollte er sie töten wollen, würde er nicht seine Hand brauchen. Es war besser, nicht darüber nachzudenken.
»Wenn Ihr den Wert der Wiedervereinigung erkennt«, sagte sie, »dann solltet Ihr Eure Länder vielleicht unter dem Banner von Seanchan vereinen, Eure Völker die Treueide leisten lassen und…« Die Frau hinter al’Thor, die Marath ‘damane, riss die Augen weit auf, als sie das hörte.
»Nein«, unterbrach al’Thor Tuon.
»Aber sicherlich könnt Ihr doch einsehen, dass ein alleiniger Herrscher …«
»Nein«, wiederholte er leiser und doch energischer. Gefährlicher. »Ich werde nicht zulassen, dass auch nur noch eine Person an Eure abscheulichen Leinen gelegt wird.«
»Abscheulich? Sie sind die einzige Möglichkeit, um die Machtlenker zu kontrollieren!«
»Wir haben Jahrhunderte ohne sie überlebt.«
»Und ihr habt…«
»Bei diesem Punkt mache ich keine Zugeständnisse«, sagte al’Thor.
Tuons Wächter - Selucia eingeschlossen - knirschten mit den Zähnen, und die Männer ließen die Hände auf die Schwertgriffe fallen. Er hatte sie jetzt zweimal hintereinander unterbrochen. Die Tochter der Neun Monde. Wie konnte er nur so unverschämt sein?
Er war der Wiedergeborene Drache. Darum. Aber seine Worte waren blanker Unsinn. Er würde sich vor ihr verneigen, sobald sie die Kaiserin war. Die Prophezeiungen verlangten es. Sicherlich bedeutete das, dass sich seine Königreiche dem Kaiserreich anschlossen.
Sie hatte zugelassen, dass die Unterhaltung ihrer Kontrolle entglitt. Marath’damane waren auf dieser Seite des Ozeans für viele ein heikles Thema. Sicherlich verstand man die Logik, warum man diese Frauen an die Leine legte, aber es fiel ihnen schwer, ihre Traditionen aufzugeben. Zweifellos bereitete es ihnen deshalb so großes Unbehagen, über diese Dinge zu sprechen.
Sie musste das Gespräch in eine andere Richtung lenken. Auf ein Gebiet, das den Wiedergeborenen Drachen aus dem Gleichgewicht brachte. Sie musterte ihn. »Ist das alles, worum es bei unserem Gespräch gehen wird?«, fragte sie. » Wir sitzen uns gegenüber und sprechen nur von unseren Unterschieden?«
»Worüber sollten wir sonst sprechen?«
»Vielleicht über etwas, das wir gemeinsam haben?«
»Ich bezweifle, dass es da etwas Relevantes gibt.«
»Ach?«, fragteTuon. »Und was ist mit Matrim Cauthon?«
Ja, das erschütterte ihn. Der Wiedergeborene Drache blinzelte, sein Mund öffnete sich leicht. »Ihr kennt Mat? Aber wie …«
»Er hat mich entführt«, erklärte Tuon. »Und mich fast durch ganz Altara gezerrt.«
Der Wiedergeborene Drache starrte sie an, dann schloss er den Mund wieder. »Ich erinnere mich«, sagte er leise. »Ich habe Euch gesehen. Zusammen mit ihm. Ich habe Euch einfach nicht mit diesem Gesicht in Zusammenhang gebracht. Mat… was habt Ihr getan?«
Du hast uns gesehen?, dachte Tuon skeptisch. Also hatte sich der Wahnsinn manifestiert. Würde er dadurch leichter zu manipulieren sein oder eher schwerer? Unglücklicherweise vermutlich das Letztere.
»Nun«, sagte al’Thor schließlich. »Mat hatte bestimmt seine Gründe, davon bin ich überzeugt. Die hat er immer. Und er hält sie dann immer für so logisch …«
Also kannte Matrim den Wiedergeborenen Drachen tatsächlich; er würde eine ausgezeichnete Informationsquelle für sie darstellen. Vielleicht war er aus diesem Grund in ihre Richtung gelenkt worden, damit sie eine Möglichkeit hatte, Dinge über den Wiedergeborenen Drachen zu erfahren. Sie würde ihn zurückholen müssen, bevor er ihr dabei helfen konnte.
Matrim würde das nicht gefallen, aber er würde vernünftig sein müssen. Er war der Erste Prinz der Raben. Er musste zum Hohen Blut erhoben werden, sich den Kopf kahl scheren und lernen, wie man sich richtig benahm. Das alles kam ihr wie ein Verlust vor - aus Gründen, die sie sich nicht erklären konnte.
Sie konnte sich nicht davon abhalten, noch ein paar Fragen über Matrim zu stellen. Weil das Thema al’Thor aus dem Gleichgewicht zu bringen schien und weil sie einfach neugierig war. »Was für ein Mann ist er, dieser Matrim Cauthon? Ich muss zugeben, ich hielt ihn eigentlich für einen arbeitsscheuen Schurken, der viel zu schnell eine Entschuldigung bei der Hand hatte, warum er sich Eiden entzog, die er geschworen hatte.«
» Sprecht nicht so von ihm!« Überraschenderweise kamen diese Worte von der Marath’damane, die neben al’Thors Stuhl stand.
»Nynaeve …«, setzte al’Thor an.
»Verbiete mir nicht das Wort, Rand al’Thor«, sagte die Frau und verschränkte die Arme. »Er ist auch dein Freund.« Die Frau wandte den Kopf, sah Tuon wieder an und erwiderte ihren Blick. Sie erwiderte ihn! Eine Marath’damane!
Sie fuhr fort: »Matrim Cauthon ist einer der anständigsten Männer, denen Ihr je begegnen werdet, Euer Hoheit, und ich werde mir nicht anhören, wie Ihr schlecht von ihm sprecht. Was Recht ist, muss auch Recht bleiben.«
»Nynaeve hat recht«, sagte al’Thor widerstrebend. »Er ist ein guter Mann. Mat mag ja manchmal etwas ungeschliffen erscheinen, aber er ist ein so treuer Freund, wie man ihn sich nur wünschen kann. Auch wenn er darüber meckert, was ihn sein Gewissen tun lässt.«
»Er rettete mir das Leben«, sagte die Marath’damane. »Rettete mich, als niemand daran dachte, sich um mich zu kümmern, obwohl er dafür einen hohen Preis zahlen musste und ihn das in schreckliche Gefahr brachte.« Ihre Augen blitzten vor Wut. »fa, er trinkt und spielt zu viel. Aber sprecht nicht von ihm, als würdet Ihr ihn kennen, denn das tut Ihr nicht. Unter all dem hat er ein goldenes Herz. Wenn Ihr ihm etwas angetan habt…«
»Ihm etwas angetan?«, sagte Tuon. »Er hat mich entführt!«
»Dann wird er einen Grund dafür gehabt haben«, sagte Rand al’Thor.
Eine solche Loyalität! Wieder war sie gezwungen, ihre Einschätzung über Matrim Cauthon zu überdenken.
»Aber das ist irrelevant«, sagte al’Thor und stand plötzlich auf. Einer der Totenwächter zog das Schwert. Al’Thor sah den Wächter nur an, und Karede gab dem Mann ein Zeichen, der das Schwert beschämt und mit gesenktem Blick wieder in die Scheide schob.
Al’Thor legte die Hand flach auf den Tisch. Er beugte sich vor und fing Tuons Blick ein. Wer konnte sich diesen intensiven grauen Augen entziehen, die wie Stahl waren? »Nichts davon ist von Belang. Mat ist nicht von Belang. Unsere Ähnlichkeiten und unsere Unterschiede sind nicht von Belang. Allein eines zählt: was wir brauchen. Und ich brauche Euch.«
Er beugte sich weiter vor, überragte sie. Seine Gestalt veränderte sich nicht, aber plötzlich erschien er hundert Fuß groß. Er sprach mit demselben ruhigen, alles durchdringenden Tonfall, aber jetzt lag eine Drohung darin. Eine Schärfe.
»Ihr müsst mit Euren Angriffen aufhören«, sagte er beinahe flüsternd. »Ihr müsst ein Abkommen mit mir unterzeichnen. Das sind keine Bitten. Das ist mein Wille.«
Plötzlich sehnte sich Tuon danach, ihm zu gehorchen. Ihn zu erfreuen. Ein Vertrag. Ein Vertrag wäre ausgezeichnet, er würde ihr Gelegenheit geben, ihre Position in diesen Ländern hier zu festigen. Sie könnte planen, wie sie in Seanchan wieder für Ordnung sorgen wollte. Sie konnte rekrutieren und ausbilden. So viele Möglichkeiten eröffneten sich ihr, als wäre ihr Verstand plötzlich entschlossen, jeden Vorteil der Allianz zu sehen, aber keinen der Nachteile.
Sie griff nach diesen Nachteilen, stürzte sich darauf, die Probleme zu sehen, die die Verbindung mit diesem Mann bringen würden. Aber sie verflüssigten sich und entglitten ihr. Sie konnte sie nicht ergreifen und Einwände formulieren. Im Pavillon wurde es still, die Brise schlief ein.
Was geschah nur mit ihr? Ihr stockte der Atem, als würde ein Gewicht auf ihrer Brust liegen. Sie hatte das Gefühl, sich dem Willen dieses Mannes beugen zu müssen, ob sie wollte oder nicht.
Sein Ausdruck war grimmig. Trotz des nachmittäglichen Lichts lag sein Gesicht im Schatten, bedeutend ausgeprägter als bei allen anderen unter dem Zeltdach. Er hielt ihren Blick gefangen, und ihr Atem ging stoßweise. Am Rand ihres Blickfeldes glaubte sie etwas um ihn herum zu sehen. Ein dunkler Schimmer, eine schwarze Aura, die er zu verströmen schien. Sie verzerrte die Luft wie ein Hitzeschleier. Tuons Hals verkrampfte sich, Worte bildeten sich. Ja. Ich tue, worum Ihr mich bittet. Ja. Ich muss es tun. Ich muss.
»Nein«, sagte sie, und es war kaum ein Flüstern.
Seine Miene verfinsterte sich, und sie erkannte Zorn in der Weise, wie er die Hand so fest auf die Tischplatte drückte, dass die Finger zitterten. Wie er die Zähne zusammenbiss. Wie sich seine Augen weiteten. Solche Intensität.
»Ich brauche …«, setzte er an.
»Nein«, wiederholte sie mit wachsendem Selbstvertrauen. »Ihr werdet Euch vor mir verbeugen, Rand al’Thor. Es wird nicht andersherum geschehen.« Eine solche Dunkelheit! Wie konnte ein Mann sie nur in sich behalten? Er schien einen Schatten von der Größe eines Berges zu werfen.
Sie konnte sich nicht mit dieser Kreatur verbünden. Dieser siedende Hass, er versetzte sie in Angst und Schrecken, und Entsetzen war ein Gefühl, mit dem sie nicht vertraut war. Man durfte diesem Mann nicht erlauben, sich frei zu bewegen und das zu tun, was er wollte. Er musste unter Kontrolle gehalten werden.
Er sah sie noch einen Moment länger an. »Gut«, sagte er. Seine Stimme war eisig.
Er fuhr auf dem Absatz herum, entfernte sich von dem Pavillon, sah nicht zurück. Sein Gefolge schloss sich ihm an; sie alle sahen verstört aus, sogar die Marath’damane mit dem Zopf. Als wären sie sich selbst nicht sicher, was - oder wem - sie in diesem Mann folgten.
Tuon sah ihm keuchend nach. Sie konnte die anderen nicht sehen lassen, wie verstört sie war. Sie durften nicht wissen, dass sie ihn in diesem letzten Augenblick gefürchtet hatte. Sie beobachtete ihn, bis er auf seinem Pferd hinter dem Hügel verschwunden war. Und noch immer zitterten ihre Hände. Sie traute sich nicht zu sprechen.
Niemand sprach in der Zeit, die sie brauchte, um sich zu beruhigen. Vielleicht waren sie genauso erschüttert wie sie. Vielleicht spürten sie ihre Sorge. Schließlich stand Tuon auf, lange nachdem al’Thor weg war. Sie drehte sich um und sah das Blut, die Generäle, die Soldaten und die Wächter an, die sich dort versammelt hatten. »Ich bin die Kaiserin«, sagte sie leise.
Alle fielen auf die Knie, selbst das Hohe Blut.
Das war die einzig erforderliche Zeremonie. Oh, in Ebou Dar würde es noch eine formelle Krönung geben, mit Prozessionen und Paraden und Audienzen. Sie würde die persönlichen Treueide von jedem Angehörigen des Blutes entgegennehmen und der Tradition zufolge die Gelegenheit haben, jeden von ihnen ohne einen Grund mit der eigenen Hand hinrichten zu können, jene, von denen sie der Ansicht war, dass sie gegen ihren Aufstieg auf den Thron opponiert hatten.
Alles das und noch viel mehr würde es geben. Aber ihre Ankündigung war die wahre Krönung. Gesprochen von der Tochter der Neun Monde nach der Trauerzeit.
Die Festivitäten begannen in dem Augenblick, in dem sie alle bat, sich zu erheben. Man würde eine Woche lang feiern. Eine notwendige Ablenkung. Die Welt brauchte Tuon. Sie brauchte eine Kaiserin. Von diesem Augenblick an würde sich alles verändern.
Als sich die Da’covale erhoben und anfingen, ihre Krönung zu preisen und zu besingen, trat Tuon zu General Galgan. »Gebt General Yulan Bescheid«, sagte sie leise. »Sagt ihm, er soll den Angriff gegen die Marath ‘damane von Tar Valon vorbereiten. Wir müssen einen Schlag gegen den Wiedergeborenen Drachen ausführen, und zwar schnell. Man darf diesem Mann nicht erlauben, noch mehr Kräfte zu sammeln, als er ohnehin schon hat.«