1 Stahl hat keine Tränen

Das Rad der Zeit dreht sich, Zeitalter kommen und vergehen und lassen Erinnerungen zurück, die zu Legenden werden. Legenden verblassen zu Mythen, und sogar der Mythos ist lange vergessen, wenn das Zeitalter wiederkehrt, aus dem er geboren wurde. In einem Zeitalter, das von einigen das Dritte Zeitalter genannt wurde, einem Zeitalter, das noch kommen sollte, einem lange vergangenen Zeitalter, strich ein Wind um die alabasterne Turmspitze dessen, was als die Weiße Burg bekannt war. Der Wind war nicht der Anfang. Es gibt bei der Drehung des Rades der Zeit keinen Anfang und kein Ende. Aber es war ein Anfang.

Der Wind wand sich um den prächtigen Turm, strich über perfekt zusammengefügte Steinquader und majestätisch flatternde Banner. Der Bau war irgendwie anmutig und mächtig zugleich; eine passende Metapher für all jene, die ihn seit dreitausend Jahren bewohnten. Nur wenige, die zum Turm hochblickten, würden ahnen, dass er in der Tiefe seines Herzens zerbrochen und verdorben worden war. Unabhängig voneinander.

Der Wind wehte weiter und passierte eine Stadt, die mehr Kunstwerk als nüchterne Hauptstadt war. Jedes Gebäude war ein Wunder; selbst die schlichtesten Geschäftsfassaden waren von pedantischen Ogierhänden erschaffen worden, um Staunen und Wunder heraufzubeschwören. Hier deutete eine Kuppel die Gestalt der aufgehenden Sonne an. Dort schoss ein Springbrunnen von einem Gebäudedach und erhob sich zu einem Gebilde, das zwei miteinander kollidierende Wellen darzustellen schien. An einer kopfsteingepflasterten Straße standen sich zwei dreistöckige Gebäude gegenüber, die beide in der Form einer Jungfrau gestaltet waren. Die Marmorschöpfungen - je zur Hälfte Statue und zur Hälfte Haus - streckten einander Steinhände wie zum Gruß entgegen; ihr Haar wehte nach hinten, unbeweglich und doch mit solcher Genauigkeit gemeißelt, dass jede Strähne im vorbeistreichenden Wind zu wogen schien.

Die Straßen selbst waren bedeutend weniger prächtig. Oh, man hatte sie mit Sorgfalt geplant, und sie gingen wie Sonnenstrahlen von der Weißen Burg aus. Aber Abfall dämpfte das Sonnenlicht, ein Hinweis auf die durch die Belagerung verursachte Enge. Und vielleicht war das Gedränge nicht der einzige Grund für den Verfall. Die Ladenschilder und Markisen waren schon viel zu lange nicht mehr geputzt oder poliert worden. Verrottender Müll stapelte sich dort, wo man ihn in den Gassen hingeworfen hatte, zog Fliegen und Ratten an, vertrieb aber alle anderen. An den Straßenecken lungerten gefährliche Gauner herum. Einst hätten sie das nie gewagt, und vor allem nicht mit solcher Arroganz.

Wo war die Weiße Burg, das Gesetz? Junge Narren lachten, behaupteten, die Probleme der Stadt würden durch die Belagerung verursacht und die Dinge sich wieder beruhigen, sobald man die Rebellen niedergerungen hatte. Ältere Männer schüttelten die ergrauten Köpfe und murmelten, dass die Dinge noch nie so schlimm gewesen waren, nicht einmal, als die wilden Aiel Tar Valon zwanzig Jahre zuvor belagert hatten.

Kaufleute ignorierten die Jungen wie die Alten. Sie hatten ihre eigenen Probleme, vor allem im Südhafen, wo der Flusshandel in die Stadt beinahe zum Erliegen gekommen war. Stämmige Arbeiter schufteten unter der Kontrolle einer Aes Sedai, die eine Stola mit roten Fransen trug; sie entfernte mit der Einen Macht Schutzgewebe und schwächte den Stein, während die Arbeiter den Felsen zerschlugen und wegschafften.

Die Arbeiter hatten die Ärmel aufgerollt und entblößten dunkles Haar auf strammen Armen, als sie Hammer oder Spitzhacke schwangen und auf die uralten Steine einschlugen. Ihr Schweiß tropfte auf den Felsen oder ins Wasser unter ihnen, als sie die Fundamente der Kette freigruben, die den Wasserweg in die Stadt behinderte. Die Hälfte dieser Kette bestand nun aus unzerstörbarem Cuendillar, das manche auch als Herzstein bezeichneten. Es war eine erschöpfende Plackerei, sie herauszureißen und den Zugang zur Stadt wieder zu ermöglichen; die prächtigen und widerstandsfähigen Hafenanlagen waren mit der Einen Macht geformt worden und nur eines der auffälligeren Opfer des stummen Krieges zwischen den Rebellen und den Aes Sedai, die die Burg hielten.

Der Wind blies durch den Hafen, in dem Träger müßig zusahen, wie Arbeiter einen Stein nach dem anderen zu Splittern zerlegten und grauweißen Staub produzierten, der auf der Wasseroberfläche trieb. Die mit zu viel Verstand - oder vielleicht auch zu wenig - flüsterten, dass solche Vorzeichen nur eines bedeuten konnten. Tarmon Gai'don, die Letzte Schlacht, musste bald kommen.

Der Wind tanzte von den Docks fort und passierte die hohen weißen Molen, die auch als die Leuchtenden Mauern bekannt waren. Hier konnte man endlich Sauberkeit und Aufmerksamkeit bei der Burgwache finden, die mit ihren Bogen Wache hielt. Glatt rasiert und mit ihren weißen fleckenlosen Wappenröcken bekleidet, spähten die Bogenschützen mit der gefährlichen Anspannung von gleich zubeißenden Schlangen über ihre Stellungen. Diese Soldaten hatten nicht die Absicht, Tar Valon während ihrer Schicht erobern zu lassen. Tar Valon hatte jeden Feind abgewehrt. Trollocs hatten die Stadtmauer durchbrochen, waren aber in den Straßen der Stadt besiegt worden. Artur Falkenflügel hatte Tar Valon nicht einnehmen können. Nicht einmal die schwarz verschleierten Aiel, die während des Aiel-Krieges das Umland verwüstet hatten, hatten die Stadt erobern können. Viele hatten das als großen Sieg betrachtet. Andere hatten sich gefragt, was wohl geschehen wäre, hätten die Aiel tatsächlich in die Stadt gewollt.

Der Wind passierte die westliche Gabelung des Erinin und ließ die Insel Tar Valon hinter sich zurück, passierte rechts die hohe Alindaer-Brücke, als wollte er die Feinde höhnisch herausfordern, sie zu überqueren und zu sterben. Hinter der Brücke fuhr der Wind nach Alindaer hinein, eines der vielen Dörfer im Umkreis von Tar Valon. Es war ein größtenteils entvölkertes Dorf, da die meisten Familien über die Brücke geflohen waren, um Zuflucht in der Stadt zu finden. Das feindliche Heer war ohne jede Vorwarnung erschienen, wie vom Sturm gebracht. Das wunderte nur wenige. Das Rebellenheer wurde von Aes Sedai angeführt, und jene, die im Schatten der Weißen Burg lebten, wetteten nur selten auf das, was Aes Sedai erreichen konnten und was nicht.

Das Rebellenheer stand bereit, war sich aber unsicher. Über fünfzigtausend Mann stark lagerte es in einem dichten Zeltring um das kleinere Lager der Aes Sedai. Zwischen dem inneren und äußeren Lager gab es eine deutliche Grenze, die erst kürzlich verstärkt worden war, um Männer fernzuhalten, vor allem jene, die Saidin lenken konnten.

Man hätte beinahe glauben können, dass dieses Rebellenlager für die Ewigkeit errichtet worden war. Seinen Abläufen haftete eine gewisse Alltäglichkeit an. Gestalten in Weiß eilten umher, manche in formeller Novizinnentracht, viele andere in ähnlicher Kleidung. Wenn man genau hinsah, konnte man sehen, dass viele von ihnen alles andere als jung waren. Manche von ihnen hatten schon graue Haare. Aber man sprach sie als »Kinder« an, und gehorsam waren sie, während sie unter den unbewegten Blicken von Aes Sedai Kleider wuschen, Teppiche ausklopften und Zeltplanen schrubbten. Und falls diese Aes Sedai ungewöhnlich oft zu dem nagelähnlichen Profil der Weißen Burg schauten, hätte man daraus den falschen Eindruck gewinnen können, nämlich dass sie nervös oder voller Unbehagen waren. Aes Sedai hatten alles unter Kontrolle. Immer. Selbst jetzt, wo sie eine unbestreitbare Niederlage erlitten hatten: Egwene al'Vere, Amyrlin-Sitz der Rebellen, war Gefangene der Weißen Burg.

Der Wind zupfte an ein paar Kleidern, riss Wäsche von ihren Leinen und eilte dann weiter nach Westen. Nach Westen, vorbei am gewaltigen Drachenberg mit seinem zerschmetterten und rauchenden Gipfel. Über die Schwarzen Hügel und die Caralain-Steppe. Hier klebten noch vereinzelte Schneewehen in den Schatten unter zerklüfteten Berghängen oder vereinzelten Gruppen von Schwarzholzbäumen. Man wartete auf den Anbruch des Frühlings, dass frische Sprossen durch das Wintergras spähten und Knospen auf den Weidenbäumen erblühten. Davon gab es nur wenig. Das Land lag noch immer im Schlummer, als würde es warten, den Atem anhalten. Die unnatürliche Hitze des vorangegangenen Herbstes hatte sich bis tief in den Winter erstreckt und dem Land eine Dürre aufgezwungen, die abgesehen von den widerstandsfähigsten Pflanzen aus allem das Leben herausgekocht hatte. Als der Winter endlich eingetroffen war, war er mit Stürmen aus Eis und Schnee gekommen und einem lange anhaltenden, alles abtötenden Frost. Jetzt, da sich die Kälte endlich zurückgezogen hatte, hofften die Bauern auf ihren verstreut liegenden Höfen vergeblich.

Der Wind strich über braunes Wintergras, schüttelte die noch immer kahlen Baumäste. Tief im Westen, als er sich dem Land namens Arad Doman näherte - hohe Berge und niedrige Gipfel -, krachte plötzlich etwas in ihn hinein. Etwas Unsichtbares, ausgebrütet von der fernen Finsternis im Norden. Etwas, das gegen die natürlichen Luftströmungen floss. Der Wind wurde davon verschlungen und durch eine Böe nach Süden geweht, über niedrige Gipfel und braune Hügel zu einem hölzernen Herrenhaus, das sich einsam auf den mit Kiefern bewachsenen Hügeln des östlichen Arad Doman erhob. Der Wind blies über das Herrenhaus und die auf einem sehr weitläufigen Rasen davor errichteten Zelte hinweg, ließ Kiefernnadeln fliegen und die Zelte erbeben.

Rand al'Thor, der Wiedergeborene Drache, stand mit auf dem Rücken gefalteten Händen vor dem offenen Fenster und sah hinaus. In Gedanken bezeichnete er sie noch immer so, seine »Hände«, obwohl er jetzt nur noch eine hatte. Sein linker Arm endete in einem Stumpf. Mit den Fingern der guten Hand tastete er über die glatte, mit Saidar Geheilte Haut. Und doch kam es ihm so vor, als müsste die andere Hand noch immer da sein.

Stahl, dachte er. Ich bin Stahl. Das kann nicht repariert werden, also mache ich weiter.

Das Haus - ein Gebäude aus dickem Kiefern- und Zedernholz in einem Baustil, den reiche Domani bevorzugten - ächzte und setzte sich im Wind. Irgendwie roch er nach verfaultem Fleisch. Kein ungewöhnlicher Geruch in diesen Tagen. Fleisch verdarb ohne jede Vorwarnung, manchmal nur ein paar Minuten nach dem Schlachten. Es zu trocknen oder einzusalzen half nicht. Das war die Hand des Dunklen Königs, und sie lastete mit jedem vergehenden Tag schwerer auf allem. Wie lange noch, bevor seine Berührung überwältigend war, so ölig und übelkeiterregend wie der Makel, der einst Saidin überzog, die männliche Hälfte der Einen Macht?

Der Raum war breit und lang, die Außenwand war aus breiten Stämmen gezimmert. Die Innenwände bestanden aus Kiefernplanken, die noch immer einen Duft nach Harz und Beize verströmten. Der Raum war spärlich möbliert; auf dem Boden lag ein Fellteppich, über dem Kamin kreuzten sich zwei alte Schwerter, den Holzmöbeln haftete stellenweise noch Rinde an. Das ganze Anwesen war auf eine Weise eingerichtet, die verkündete, dass das ein idyllisches Heim in den Wäldern war, weit weg vom Gewimmel der großen Städte. Natürlich war es keine Hütte - dafür war es zu groß und verschwenderisch ausgestattet. Ein Zufluchtsort.

»Rand?«, fragte eine Stimme leise. Er wandte sich nicht um, fühlte aber Mins Finger auf dem Arm. Einen Augenblick später bewegten sich die Hände zu seiner Taille, und er fühlte ihren Kopf an seinem Arm ruhen. Er konnte ihre Sorge durch den mit der Einen Macht erzeugten Bund fühlen, den sie teilten.

Stahl, dachte er.

»Ich weiß, dir gefällt nicht, dass ...«, begann Min.

»Das Geäst«, sagte er und wies mit dem Kopf zum Fenster. »Siehst du die Kiefern da, direkt an der Seite von Basheres Lager?«

»Ja, Rand. Aber ...«

»Sie neigen sich in die falsche Richtung«, sagte Rand.

Min zögerte, und obwohl sie sich nach außen hin nichts anmerken ließ, verriet ihm der Bund einen Stich der Furcht. Ihr Fenster befand sich in der oberen Etage des Hauses, und draußen flatterten Banner träge hoch über dem Lager; das Banner des Lichts und das Drachenbanner für Rand, eine viel kleinere blaue Flagge mit drei roten Königspfennigblüten, die die Anwesenheit von Haus Bashere verkündete. Alle drei flatterten stolz ... doch genau neben ihnen wehten die Kiefernäste in die genau andere Richtung.

»Der Dunkle König rührt sich, Min«, sagte Rand. Eigentlich hätte er auch annehmen können, dass diese Winde das Ergebnis seiner Natur als Ta'veren waren, aber die Ereignisse, die er in Gang setzte, waren immer vorstellbar. Wind, der zugleich in zwei verschiedene Richtungen wehte ... nun, er konnte spüren, wie falsch die Bewegungen dieser Kiefern waren, selbst wenn es ihm schwerfiel, die einzelnen Bäume voneinander zu unterscheiden. Sein Augenlicht war seit dem Tag, an dem er seine Hand verloren hatte, nicht mehr dasselbe. Es war, als ... würde er durch Wasser auf etwas Verzerrtes blicken. Es wurde besser. Langsam.

Das Gebäude gehörte zu einer Reihe von Herrenhäusern, Anwesen und anderen abgelegenen Verstecken, die Rand während der letzten Wochen benutzt hatte. Nach dem gescheiterten Treffen mit Semirhage hatte er in Bewegung bleiben wollen, war von einem Ort zum anderen gesprungen. Er hatte Zeit zum Nachdenken haben wollen und hoffentlich die Feinde verwirrt, die vermutlich nach ihm suchten. Lord Algarins Herrenhaus in Tear war kompromittiert worden; zu schade. Das war ein guter Ort gewesen. Aber er musste in Bewegung bleiben.

Basheres Saldaeaner hatten auf dem Rasen vor dem Haus ein Lager aufgebaut - auf einer weiten Grasfläche, die von Tannen und Kiefern umgeben war. Sie als »Rasen« zu bezeichnen, schien bestenfalls noch eine Ironie zu sein. Selbst vor der Ankunft der Truppen war er nicht grün gewesen - eine fleckige braune Fläche aus abgestorbenem Gras, die nur an wenigen Stellen zögerlich von neuen Trieben durchbrochen wurde. Und selbst die waren kränklich und gelb gewesen und von Hufen und Stiefeln zertrampelt worden.

Zelte bedeckten den Rasen. Von Rands Aussichtspunkt im ersten Stock erinnerten ihn die ordentlichen Reihen aus kleinen Spitzzelten an die Rechtecke eines Steinebretts. Die Soldaten hatten den Wind bemerkt. Einige zeigten darauf, andere hielten die Köpfe gesenkt, polierten Rüstungen, trugen Wassereimer zu den Pferdeleinen, schärften Schwerter und Lanzenspitzen. Wenigstens waren es nicht wieder die wandelnden Toten. Die entschlossensten Männer konnten ihren Willen verlieren, wenn sich Geister aus ihren Gräbern erhoben, und Rand brauchte eine starke Armee.

Brauchte. Es ging nicht länger darum, was er wollte oder wünschte. Seine sämtlichen Handlungen konzentrierten sich allein auf Notwendigkeiten, und am meisten brauchte er die Leben jener, die ihm folgten. Soldaten, die kämpften und starben, die die Welt auf die Letzte Schlacht vorbereiteten. Tarmon Gai'don kam. Dass sie stark genug waren, um zu siegen, das brauchte er.

An der linken Rasenseite schlängelte sich ein Bach durch das Gelände, ein Stück unterhalb des kleinen Hügels, auf dem sich das Anwesen erhob. Sicherlich nichts weiter als ein bescheidener Wasserweg, aber eine prächtige Wasserquelle für das Heer.

Plötzlich veränderte sich der Wind, und die Flaggen fuhren herum und flatterten in die andere Richtung. Also waren es gar nicht die Äste gewesen, die Banner hatten in die falsche Richtung gezeigt. Min stieß ein leises Seufzen aus, und er nahm ihre Erleichterung wahr, obwohl sie sich noch immer wegen ihm Sorgen machte. Dieses Gefühl war beständig in letzter Zeit. Er nahm es bei ihnen allen wahr, jeder der vier Gefühlsströme war in seinen Hinterkopf verbannt. Drei von den Frauen, denen er erlaubt hatte, sich dort zu platzieren, einer von der Frau, die sich dort gegen seinen Willen hineingedrängt hatte. Einer von ihnen kam näher. Aviendha, die von Rhuarc begleitet kam, um sich mit ihm hier zu treffen.

jede der vier Frauen würde die Entscheidung bereuen, mit ihm den Bund eingegangen zu sein. Er wünschte, er könnte es bereuen, das zugelassen zu haben - oder zumindest die Entscheidung, es den dreien zu erlauben, die er liebte. Aber in Wahrheit brauchte er Min, brauchte ihre Stärke und ihre Liebe. Er würde sie benutzen, wie er so viele andere benutzt hatte. Nein, in ihm war kein Platz für Reue. Er wünschte sich nur, er könnte seine Schuldgefühle genauso leicht verdrängen.

Ilyena!, sagte eine leise Stimme in seinem Kopf. Meine Liebe ... An diesem Tag verhielt sich Lews Therin Telamon, Brudermörder, relativ ruhig. Rand versuchte, nicht so gründlich über die Dinge nachzudenken, die Semirhage an dem Tag gesagt hatte, an dem er seine Hand verloren hatte. Sie war eine der Verlorenen; sie würde alles sagen, wenn sie der Meinung war, ihrem Opfer damit Qualen bereiten zu können.

Sie hat eine ganze Stadt gefoltert, um sich zu beweisen, flüsterte Lews Therin. Sie hat tausend Männer auf tausend verschiedene Weisen getötet, um zu sehen, wie sich ihre Schreie voneinander unterscheiden würden. Aber sie lügt nur selten. Selten.

Rand schob die Stimme von sich.

»Rand«, sagte Min. Ihre Stimme klang jetzt noch leiser.

Er drehte sich um und sah sie an. Sie war geschmeidig und klein von Statur, und er hatte oft das Gefühl, sie hoch zu überragen. Ihr Haar trug sie in kurzen Locken und dunkel - aber es war nicht so dunkel wie ihre besorgt dreinblickenden Augen. Wie immer hatte sie Mantel und Hosen als Kleidung gewählt. Heute waren sie dunkelgrün, wie die Kiefernnadeln dort draußen. Doch als stünden sie im Widerspruch zu ihrer Wahl, hatte sie die Kombination verändert, damit sie ihre Figur betonte. Die Manschetten waren mit silbernen Blüten bestickt, die darunter zum Vorschein kommenden Ärmel mit Spitze verziert. Sie duftete leicht nach Lavendel, vielleicht von der Seife, die sie in letzter Zeit bevorzugte.

Warum Hosen wählen, nur um sich dann mit Spitze zu schmücken? Rand hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, die Frauen verstehen zu wollen. Sie zu verstehen würde ihm nicht helfen, zum Shayol Ghul zu kommen. Außerdem musste er Frauen auch nicht verstehen, um sie benutzen zu können. Vor allem, wenn sie über Informationen verfügten, die er brauchte.

Er knirschte mit den Zähnen. Nein, dachte er. Nein, es gibt Grenzen, die ich nicht überschreiten werde. Es gibt Dinge, die nicht einmal ich tun werde.

»Du denkst wieder an sie!« Es klang beinahe vorwurfsvoll.

Er fragte sich oft, ob es einen Bund gab, der nur in eine Richtung funktionierte. Er hätte viel dafür gegeben.

»Rand, sie ist eine Verlorene«, fuhr Min fort. »Sie hätte uns alle ohne zu zögern getötet.«

»Sie wollte mich nicht töten«, sagte Rand leise, wandte sich wieder von Min ab und schaute aus dem Fenster. »Ich sollte ihr Gefangener werden.«

Min zuckte zusammen. Schmerz, Sorge. Sie dachte an das grässliche A'dam für Männer, das Semirhage verborgen mitgebracht hatte, als sie die Identität der Tochter der Neun Monde angenommen hatte. Cadsuanes Ter'angreal hatte die Tarnung der Verlorenen zunichtegemacht, darum hatte Rand Semirhage erkennen können. Beziehungsweise hatte es Lews Therin ermöglicht, sie zu erkennen.

Der Zwischenfall hatte damit geendet, dass Rand eine Hand verlor und dafür eine der Verlorenen als Gefangene gewann. Als er das letzte Mal in einer vergleichbaren Situation gewesen war, hatte es nicht gut geendet. Er wusste noch immer nicht, wohin Asmodean verschwunden war oder warum dieses Wiesel von einem Mann überhaupt geflohen war, aber er vermutete, dass er viel von seinen Plänen und Aktivitäten verraten hatte.

Hättest ihn töten sollen. Hättest sie alle töten sollen.

Rand nickte, dann erstarrte er. War das Lews Therins Gedanke gewesen oder sein eigener? Lews Therin, dachte er. Bist du da?

Er glaubte Gelächter gehört zu haben. Oder war es Schluchzen?

Sei verflucht!, dachte Rand. Rede mit mir! Der Zeitpunkt nähert sich. Ich muss wissen, was du weißt! Wie hast du das Gefängnis des Dunklen Königs versiegelt? Was ist schiefgegangen, warum war das Gefängnis danach nicht sicher? Rede mit mir!

Ja, das war definitiv Geschluchze und kein Lachen. Manchmal war das bei Lews Therin schwer auseinanderzuhalten. Rand betrachtete den Toten auch weiterhin als eigenständiges Individuum, ganz egal, was Semirhage gesagt hatte. Er hatte Saidin gereinigt! Der Makel war verschwunden und konnte seinen Verstand nicht länger berühren. Er würde nicht verrückt werden.

Der Sturz in den echten Wahnsinn kann ... ganz plötzlich erfolgen. Wieder hörte er ihre Worte, die sie laut verkündet hatte, damit auch alle sie hörten. Sein Geheimnis war endlich enthüllt. Aber Min hatte in einer Sicht gesehen, wie er mit einem anderen Mann verschmolz. Musste das nicht bedeuten, dass er und Lews Therin zwei eigenständige Persönlichkeiten waren, zwei Individuen, die in einen Körper gezwungen worden waren?

Es macht aber keinen Unterschied, dass seine Stimme real ist, hatte Semirhage gesagt. Tatsächlich verschlimmert das seine Situation noch ...

Rand sah zu, wie eine Gruppe von sechs Soldaten die Pferdeseile inspizierte, die an der rechten Seite des Rasens gespannt waren, zwischen der letzten Zeltreihe und den Bäumen. Sie überprüften einen Huf nach dem anderen.

Er durfte nicht über seinen Wahnsinn nachdenken. Er durfte auch nicht darüber nachdenken, was Cadsuane mit Semirhage machte. Damit blieben nur noch seine Pläne übrig. Der Norden und der Osten müssen eins sein. Der Westen und der Süden müssen eins sein. Die zwei müssen eins sein. Das war die Antwort gewesen, die er von den seltsamen Geschöpfen hinter der roten Tür erhalten hatte. Das war sein einziger Anhaltspunkt.

Norden und Osten. Er musste diese Länder zum Frieden zwingen, ob sie es wollten oder nicht. Im Osten hatte er ein zerbrechliches Gleichgewicht errichtet, mit Illian, Mayene, Cairhien und Tear, die alle irgendwie unter seiner Kontrolle standen. Die Seanchaner beherrschten den Süden, hatten Altara, Amadicia und Tarabon unter Kontrolle. Möglicherweise auch bald Murandy, falls sie in diese Richtung vorstießen. Damit blieben nur Andor und Elayne.

Elayne. Sie war in der Ferne, weit im Osten, trotzdem konnte er ein Bündel ihrer Gefühle in seinem Kopf wahrnehmen. Bei dieser Entfernung war es schwierig, Genaueres zu erkennen, aber er glaubte, sie war ... erleichtert. Bedeutete das, dass ihr Kampf um die Macht von Andor gut verlief? Was war mit den Heeren, die sie belagert hatten? Und was hatten diese Grenzländer nur vor? Sie hatten ihre Posten verlassen, sich vereinigt und marschierten nach Süden, um Rand zu finden, hatten aber keine Erklärung gegeben, was sie eigentlich von ihm wollten. Sie gehörten zu den besten Soldaten westlich vom Rückgrat der Welt. Sie würden eine unschätzbare Hilfe bei der Letzten Schlacht sein. Aber sie hatten die Nordländer verlassen. Warum?

Er sträubte sich dagegen, Rechenschaft von ihnen zu verlangen, aus Angst, ihn könnte ein weiterer Kampf erwarten. Einer, den er sich im Moment nicht leisten konnte. Beim Licht! Er hätte gedacht, sich zumindest bei den Grenzländern darauf verlassen zu können, dass sie ihn gegen den Schatten unterstützten.

Aber das spielte im Moment keine Rolle. Im größten Teil des Landes hatte er Frieden, oder zumindest etwas Vergleichbares. Er bemühte sich, nicht an die kürzlich niedergeschlagene Rebellion gegen ihn in Tear zu denken oder die Unberechenbarkeit der Grenzen mit den Seanchanern oder die Intrigenspiele des Adels in Cairhien. Jedes Mal, wenn er eine Nation gesichert zu haben glaubte, schienen ein Dutzend andere auseinanderzufallen. Wie sollte er Leuten den Frieden bringen, die sich weigerten, ihn zu akzeptieren?

Mins Finger auf seinem Arm drückten fester zu, und er holte tief Luft. Er tat, was er konnte, und im Augenblick verfolgte er zwei Ziele. Frieden in Arad Doman und einen Waffenstillstand mit den Seanchanern. Die Worte, die man ihm jenseits der Tür gesagt hatte, waren jetzt klar: Er konnte nicht gleichzeitig gegen die Seanchaner und den Dunklen König kämpfen. Er musste die Seanchaner an ihrem Vorstoß hindern, bis die Letzte Schlacht vorbei war. Danach konnte das Licht sie alle verbrennen.

Warum hatten die Seanchaner seine Bitten um ein Treffen ignoriert? Waren sie verärgert, dass er Semirhage gefangen genommen hatte? Er hatte die Sul'dam ziehen lassen. Zeigte das nicht seinen guten Willen? Arad Doman würde seine Absichten beweisen. Wenn er den Kampf auf der Ebene von Almoth beenden konnte, konnte er den Seanchanern demonstrieren, dass sein Bemühen um Frieden ernst gemeint war. Er würde sie dazu zwingen, dass sie es einsahen!

Er holte tief Luft und schaute aus dem Fenster. Basheres achttausend Soldaten schlugen Spitzzelte auf und hoben einen Graben aus und errichteten eine Mauer um die Rasenfläche. Der wachsende Wall aus dunkelbrauner Erde bildete einen Kontrast zu den weißen Zelten. Rand hatte den Asha'man befohlen, beim Graben zu helfen, und auch wenn er bezweifelte, dass ihnen die einfache Arbeit gefiel, beschleunigte das den Prozess doch gewaltig. Davon abgesehen vermutete er, dass sie - genau wie er - insgeheim jeden Vorwand genossen, Saidin zu halten. Sein Blick fiel auf eine kleine Gruppe von ihnen in ihren steifen schwarzen Mänteln und die von ihnen erzeugten Gewebe, während sie ein weiteres Stück Boden umgruben. Es gab zehn von ihnen im Lager, auch wenn nur Flinn, Naeff und Narishma den Rang von vollen Asha'man einnahmen.

Die Saldaeaner arbeiteten schnell; sie trugen ihre kurzen Mäntel, während sie sich um ihre Pferde kümmerten und Posten aufstellten. Andere holten Schaufel voll Erde von dem Hügel der Asha'man und benutzten sie für den Wall. Rand entging nicht der Unmut auf vielen saldaeanischen Gesichtern. Sie schlugen nicht gern Lager in bewaldeten Gegenden auf, nicht einmal so spärlich mit Kiefern bewachsenen wie dieser Hügel. Bäume erschwerten Kavallerieangriffe und konnten den Vorstoß von Feinden unterstützen.

Davram Bashere ritt langsam durch das Lager und bellte Befehle durch seinen dichten Schnurrbart. Neben ihm ging Lord Tellaen, ein korpulenter Mann in einem langen Mantel mit einem schmalen Domani-Schnurrbart. Er war ein Bekannter von Bashere.

Lord Tellaen ging ein großes Risiko ein, indem er Rand Unterschlupf gewährte; die Truppen des Wiedergeborenen Drachen aufzunehmen konnte man ihm als Verrat auslegen. Aber wer sollte ihn bestrafen? In Arad Doman herrschte das Chaos, der Thron wurde von mehreren Rebellenfraktionen bedroht. Und dann war da der große Domani-General Rodel Ituralde und sein erstaunlich effektiver Krieg gegen die Seanchaner im Süden.

Wie seine Männer trug Bashere nur einen kurzen blauen Mantel ohne Harnisch. Außerdem trug er die voluminösen Hosen, die er bevorzugte; die Beine waren in die kniehohen Stiefel gestopft. Was hielt Bashere wohl davon, sich in Rands ta'veren-Netz verfangen zu haben? Auch wenn er nicht im direkten Widerspruch zum Willen seiner Königin handelte, erfüllte er ihn auch nicht gerade. Wie lange war es her, dass er seiner rechtmäßigen Herrscherin Bericht erstattet hatte? Hatte er Rand nicht versprochen, dass die Unterstützung seiner Königin rasch erfolgen würde? Wie viele Monate war das jetzt her?

Ich bin der Wiedergeborene Drache, dachte Rand, ich breche alle Schwüre und Vereinbarungen. Alte Lehnspflichten sind nicht wichtig. Nur Tarmon Gai'don zählt. Tarmon Gai'don und die Diener des Schatten.

»Ich frage mich, ob wir Graendal hier finden werden«, sagte er nachdenklich.

»Graendal?«, fragte Min. »Wie kommst du darauf, dass sie hier sein könnte?«

Rand schüttelte den Kopf. Asmodean hatte behauptet, Graendal sei in Arad Doman, aber das war vor Monaten gewesen. War sie noch immer hier? Es erschien plausibel; es war eine der wenigen großen Nationen, in denen sie sein konnte. Graendal hatte gern eine verborgene Machtbasis weitab von den anderen Verlorenen. Sie würde sich nicht in Andor, Tear oder Illian niedergelassen haben. Und sie würde sich auch nicht in den Ländern des Südwestens erwischt haben lassen, nicht bei der Invasion der Seanchaner.

Irgendwo würde sie einen verborgenen Rückzugsort haben. So operierte sie. Vermutlich in den Bergen, irgendwo hier an einem abgeschiedenen Ort im Norden. Er konnte sich nicht sicher sein, dass sie in Arad Doman war, aber nach dem zu urteilen, was er von ihr wusste, fühlte es sich richtig an. Was Lews Therin von ihr wusste.

Aber es war nur eine Möglichkeit. Er würde vorsichtig sein müssen, nach ihr Ausschau halten. Jeder Verlorene, den er entfernen konnte, würde die Letzte Schlacht viel einfacher machen. Es würde ...

Leise Schritte näherten sich der geschlossenen Tür.

Rand löste sich von Min, und beide fuhren herum. Er griff mit beiden Händen nach dem Schwert - eine sinnlose Geste. Der Verlust seiner Hand, auch wenn es nicht seine führende Schwerthand gewesen war, würde ihn bei jedem geschickten Gegner verwundbar machen. Obwohl Saidin eine viel mächtigere Waffe darstellte, war sein erster Instinkt immer das Schwert. Das würde er ändern müssen. Oder es würde ihm eines Tages den Tod bringen.

Die Tür öffnete sich, und Cadsuane trat ein, so selbstsicher wie eine Königin an ihrem Hof. Sie war eine stattliche Frau, mit dunklen Augen und ebenmäßigem Gesicht. Das dunkelgraue Haar war oben zu einem Knoten gebunden, daran baumelten ein Dutzend winziger goldener Schmuckstücke - jedes davon ein Ter'angreal oder Angreal. Ihr Kleid bestand aus schlichter dicker Wolle und war an der Taille mit einem gelben Gürtel gebunden; gelbe Stickereien schmückten den Kragen. Das Kleid selbst war grün, was nicht ungewöhnlich war, da das ihre Ajah war. Manchmal fand Rand, dass ihr strenges Gesicht - das völlig alterslos war wie das einer jeden Aes Sedai, die lange genug mit der Macht gearbeitet hatte - viel besser zu einer Roten Ajah gepasst hätte.

Er entspannte die Hand auf dem Schwert, auch wenn er es nicht losließ. Er strich über den mit Stoff umwickelten Griff. Die Waffe war lang und leicht gekrümmt, und die lackierte Scheide war mit einem langen gewundenen Drachen in Rot und Gold bemalt. Sie sah aus, als wäre sie speziell für ihn angefertigt worden - und doch war sie Jahrhunderte alt und erst kürzlich entdeckt worden. Wie seltsam, dass man es erst jetzt gefunden hat, dachte er, und mir zum Geschenk machte, ohne dass sie auch nur eine Ahnung davon hatten, was sie da hielten ...

Das Schwert hatte er sofort angenommen. Es fühlte sich richtig in seiner Hand an. Er hatte niemandem, nicht einmal Min, erzählt, dass er die Waffe erkannt hatte. Und das seltsamerweise nicht einmal aus Lews Therins Erinnerungen - sondern seinen eigenen.

Cadsuane wurde von mehreren anderen Personen begleitet. Nynaeve war keine Überraschung; sie folgte Cadsuane nun oft, wie einer rivalisierenden Katze, die in ihr Territorium eindrang. Vermutlich tat sie es für ihn. Die dunkelhaarige Aes Sedai hatte nie ganz aufgehört, die Seherin von Emondsfelde zu sein, ganz egal, was sie auch behauptete, und sie überließ niemandem auch nur eine Handbreit Boden, von dem sie glaubte, er würde jemanden herumschubsen, der unter ihrem Schutz stand. Natürlich hatte Nynaeve andererseits kein Problem damit, das Herumschubsen selbst zu übernehmen.

Heute trug sie ein graues Kleid mit einer gelben Schärpe über dem Gürtel - eine neue Domani-Mode, wie er gehört hatte - und den traditionellen roten Punkt auf der Stirn. Sie trug eine lange Halskette aus Gold und einen schmalen goldenen Gürtel mit passenden Armreifen und Ringen, die mit großen roten, grünen und blauen Edelsteinen besetzt waren. Der Schmuck war ein Ter'angreal - eigentlich handelte es sich um mehrere und ein Angreal dazu -, das mit dem vergleichbar war, das Cadsuane trug. Rand hatte Nynaeve sich gelegentlich beklagen hören, dass ihr Ter'angreal mit den protzigen Edelsteinen nie zur Kleidung passte, ganz egal, was sie auch versuchte.

Auch wenn Nynaeve keine Überraschung war, so galt das doch für Alivia. Rand hatte gar nicht mitbekommen, dass die ehemalige Damane bei der ... Informationsbeschaffung beteiligt gewesen war. Gut, angeblich war sie in der Einen Macht noch stärker als Nynaeve, also hatte man sie vielleicht zur Unterstützung geholt. Wenn es um die Verlorenen ging, konnte man nie vorsichtig genug sein.

Alivias Haar wies weiße Strähnen auf, und sie war ein wenig größer als Nynaeve. Das Weiß in ihrem Haar war verräterisch - bei jeder Frau, die über die Eine Macht gebot, bedeutete Weiß oder Grau im Haar Alter. Und zwar viele Jahre. Alivia behauptete von sich, vierhundert Jahre alt zu sein. Die ehemalige Damane trug heute ein auffälliges rotes Kleid, als wollte sie provozieren. Die meisten Damane blieben ausgesprochen zurückhaltend, wenn man sie von der Leine befreit hatte. Nicht Alivia - bei ihr war eine Intensität zu bemerken, die beinahe an einen Weißmantel erinnerte.

Ihm entging nicht, wie sich Min versteifte, und er fühlte ihren Unmut. Alivia würde ihm beim Sterben helfen, irgendwann. Das hatte Min eine ihrer Sichten verraten - und Mins Sichten irrten sich nie. Wenn man einmal davon absah, dass sie behauptete, sich bei Moiraine geirrt zu haben. Vielleicht bedeutete das ja, dass er doch nicht ...

Nein. Alles, was ihn auf die Idee brachte, die Letzte Schlacht überleben zu können, alles, was ihm Hoffnung machte, war gefährlich. Er musste hart genug sein, um das zu akzeptieren, was auf ihn zukam. Hart genug, um sterben zu können, wenn die Zeit gekommen war.

Du hast gesagt, wir könnten sterben, sagte Lews Therin in seinem Kopf. Du hast es versprochen!

Cadsuane durchquerte schweigend den Raum und nahm sich einen Becher von dem Gewürzwein, der neben dem Bett auf einem kleinen Serviertischchen stand. Dann setzte sie sich auf einen der roten Zedernstühle. Wenigstens hatte sie nicht verlangt, dass er ihr Wein eingoss. Das wäre ihr durchaus zuzutrauen gewesen.

»Nun, was habt Ihr erfahren?«, wollte er wissen, verließ das Fenster und holte sich selbst einen Becher Wein. Min ging zum Bett - dessen Rahmen aus Zedernholz bestand und ein Kopfteil aus fleckigem rötlich-braunen Holz aufwies -, setzte sich und legte die Hände in den Schoß. Sie ließ Alivia keinen Augenblick lang aus den Augen.

Die Schärfe in Rands Stimme ließ Cadsuane eine Braue heben. Er seufzte und bezwang seinen Ärger. Er hatte sie gebeten, als seine Ratgeberin zu fungieren, und er hatte sich ihren Bedingungen gefügt. Min hatte behauptet, dass er von Cadsuane etwas Wichtiges lernen musste - das war eine weitere ihrer Sichten gewesen -, und um die Wahrheit zu sagen, hatte er ihren Rat bei mehr als einer Gelegenheit als nützlich empfunden. Sie war ihr ständiges Pochen auf Anstandsregeln wert.

»Wie ist die Befragung verlaufen, Cadsuane Sedai?«, fragte er in einem freundlicheren Ton.

Sie lächelte schmal. »Eigentlich ganz gut.«

»Ganz gut?«, fauchte Nynaeve. Sie hatte Cadsuane nicht versprochen, höflich zu sein. »Diese Frau macht einen rasend!«

Cadsuane trank einen kleinen Schluck Wein. »Ich frage mich, was man sonst von einem der Verlorenen erwarten sollte, mein Kind. Sie hatte viel Zeit zum Üben, um ... einen rasend zu machen.«

»Rand, diese ... Kreatur ist ein Stein«, sagte Nynaeve und wandte sich ihm zu. »Trotz tagelanger Verhöre hat sie kaum einen einzigen nützlichen Satz von sich preisgegeben! Sie tut nichts anderes, als uns zu erklären, wie minderwertig und rückständig wir sind, gelegentlich von den Versprechen untermalt, dass sie uns irgendwann alle töten wird.« Nynaeve griff nach ihrem langen Zopf - hielt sich aber zurück, daran zu ziehen. Sie wurde besser darin. Rand fragte sich, warum sie sich überhaupt die Mühe machte - bei ihrem Temperament.

»Trotz ihrer dramatischen Versprechungen«, sagte Cadsuane und nickte Nynaeve zu, »hat das Mädchen hier ihre Situation doch relativ gut begriffen. Pah! Als ich sagte, ›ganz gut‹, solltet Ihr das als ein ›so gut, wie man das unter unseren unerfreulichen Einschränkungen erwarten kann‹ interpretieren. Man kann einem Künstler nicht die Augen verbinden und dann überrascht sein, wenn er nichts zu malen hat.«

»Das ist keine Kunst, Cadsuane«, meinte Rand trocken. »Das ist Folter.« Min tauschte einen Blick mit ihm aus, und er spürte ihre Besorgnis. Sorge um ihn? Er war nicht derjenige, der gefoltert wurde.

Die Kiste, wisperte Lews Therin. Wir hätten in der Kiste sterben sollen. Dann ... dann wäre es vorbei.

Cadsuane trank ihren Wein. Rand hatte seinen noch nicht probiert - er wusste bereits, dass die Gewürze so stark waren, dass sie ihn ungenießbar machten. Und trotzdem besser als die Alternative.

»Ihr drängt uns zu Resultaten, mein Junge«, sagte Cadsuane. »Und doch verweigert Ihr uns die Werkzeuge, die wir brauchen, um sie zu erhalten. Ob Ihr es nun als Folter, Befragung oder Backen bezeichnet, ich nenne es Dummheit. Wenn wir also freie Hand hätten ...«

»Nein!«, knurrte Rand und fuchtelte mit der Hand ... Stumpf ... in ihrer Richtung herum. »Ihr werdet sie nicht bedrohen oder verletzen.«

Zeit in einer dunklen Kiste, nur herausgeholt, um geschlagen zu werden. Er würde nicht zulassen, dass eine in seiner Gewalt befindliche Frau auf die gleiche Weise behandelt wurde. Nicht einmal eine der Verlorenen. »Ihr dürft ihr Fragen stellen, aber ich werde einige Dinge nicht erlauben.«

Nynaeve schnaubte. »Rand, sie ist eine der Verlorenen, sie ist brandgefährlich!«

»Ich bin mir der Bedrohung durchaus bewusst«, erwiderte er tonlos und hielt den Stumpf hoch, wo früher seine linke Hand gewesen war. Die metallische goldene und rote Tätowierung eines Drachenkörpers funkelte im Lampenlicht. Der Kopf war von dem Feuer verschlungen worden, das Rand beinahe getötet hätte.

Nynaeve holte tief Luft. »Ja, nun, dann musst du doch verstehen, dass bei ihr normale Regeln nicht gelten sollten!«

»Ich habe Nein gesagt!«, beharrte er. »Ihr werdet sie verhören, aber ihr werdet sie nicht verletzen!« Nicht eine Frau. Ich werde diesen einen Funken Licht in mir bewahren. Ich habe bereits den Tod und das Leid so vieler Frauen verursacht.

»Wenn es das ist, was Ihr wünscht, mein Junge«, sagte Cadsuane kurz angebunden, »dann wird es auch so geschehen. Aber dann jammert auch nicht, wenn wir ihr nicht einmal entlocken können, was sie gestern zum Frühstück hatte, ganz zu schweigen den Aufenthaltsort der anderen Verlorenen. Langsam stellt sich die Frage, warum Ihr überhaupt darauf besteht, dass wir mit dieser Farce fortfahren. Vielleicht sollten wir sie einfach der Weißen Burg übergeben und es abhaken.«

Rand wandte sich ab. Draußen waren die Soldaten mit den Pferdeleinen fertig. Sie sahen gut aus. Gerade gespannt, ließen sie den Tieren genau das richtige Ausmaß an Bewegungsfreiheit.

Sie der Weißen Burg übergeben? Das würde nie passieren. Cadsuane würde sich Semirhage nicht wegnehmen lassen, bis sie die erwünschten Antworten hatte. Draußen wehte der Wind noch immer; seine Banner flatterten vor seinen Augen.

»Sie an die Weiße Burg übergeben, sagt Ihr?«, meinte er und wandte sich wieder dem Raum zu. »Welcher Weißen Burg denn? Würdet Ihr sie Elaida anvertrauen? Oder meint Ihr die anderen? Ich bezweifle, dass Egwene begeistert wäre, wenn ich ihr eine der Verlorenen in den Schoß fallen lasse. Möglicherweise würde sie Semirhage einfach gehen lassen und mich an ihrer Stelle zum Gefangenen machen. Mich dazu zwingen, vor der Gerechtigkeit der Weißen Burg das Knie zu beugen und mich von der Einen Macht abschneiden, nur damit sie sich eine weitere Kerbe in den Gürtel machen kann.«

Nynaeve runzelte die Stirn. »Rand! Egwene würde niemals ...«

»Sie ist die Amyrlin«, sagte er und leerte seinen Becher mit einem Schluck. Der Wein war genauso widerlich, wie er in Erinnerung hatte. »Aes Sedai bis ins Mark. Ich bin für sie nur eine weitere Spielfigur.«

Ja, sagte Lews Therin. Wir müssen uns von all dem fernhalten. Sie haben sich geweigert, uns zu helfen. Sich geweigert! Meinten, mein Plan sei zu gewagt. Somit blieben mir nur die Hundert Gefährten und keine Frau, um einen Zirkel zu bilden. Verräterinnen! Das ist ihre Schuld. Aber ... aber ich bin derjenige, der Ilyena getötet hat. Warum?

Nynaeve sagte etwas, aber Rand ignorierte sie. Lews Therin, sagte er zu der Stimme. Was hast du gemacht? Die Frauen wollten nicht helfen? Warum?

Aber Lews Therin hatte wieder angefangen zu schluchzen, und seine Stimme wurde leiser.

»Sag es mir!«, brüllte Rand und schleuderte den Becher zu Boden. »Soll man dich doch zu Asche verbrennen, Brudermörder! Rede mit mir!«

Schweigen kehrte in den Raum ein.

Rand blinzelte. Noch nie zuvor hatte er versucht, in der Anwesenheit von anderen laut mit Lews Therin zu sprechen. Und sie wussten Bescheid. Semirhage hatte von der Stimme gesprochen, die er hörte, hatte ihn verächtlich abgetan, als wäre er nur ein Verrückter.

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Das heißt, er versuchte es ... aber er nahm den Arm, der nur noch ein Stumpf war, und erreichte nichts.

Beim Licht! Ich verliere die Kontrolle. Die halbe Zeit weiß ich nicht, welche Stimme mir gehört und welche ihm. Das sollte doch besser werden, nachdem ich Saidin gereinigt hatte. Ich sollte sicher sein ...

Nicht sicher, murmelte Lews Therin. Wir waren bereits verrückt. Da können wir nicht mehr zurück. Er fing an zu kichern, aber das Gelächter verwandelte sich in Schluchzen.

Rand sah sich um. In Mins dunklen Augen lag eine solche Sorge, dass er sich abwenden musste. Alivia - die die Auseinandersetzung wegen Semirhage mit ihrem durchdringenden Blick stumm verfolgt hatte - schien viel zu sehr Bescheid zu wissen. Nynaeve gab es schließlich auf und riss an ihrem Zopf. Und dieses eine Mal schien Cadsuane ihn nicht wegen seines Ausbruchs zurechtzuweisen. Stattdessen trank sie ruhig ihren Wein. Wie konnte sie dieses Zeug nur runterbekommen?

Der Gedanke war trivial. Lächerlich. Rand wollte lachen. Aber es wollte einfach nicht rauskommen. Er brachte nicht einmal mehr trockenen Humor zustande, nicht mehr. Beim Licht! Ich schaffe das nicht mehr. Meine Augen tun so, als wären sie in Nebel getaucht, meine Hand ist weggebrannt, und die alten Wunden in meiner Seite reißen auf, wenn ich etwas Anstrengenderes mache, als zu atmen. Ich bin ausgetrocknet, wie ein zu oft benutzter Brunnen. Ich muss meine Arbeit hier zu Ende bringen und zum Shayol Ghul gehen.

Sonst wird von mir nichts mehr übrig sein, das der Dunkle König töten kann.

Das war kein Gedanke, der zum Lachen reizte; er rief bloß Verzweiflung hervor. Aber Rand weinte nicht, denn Stahl konnte keine Tränen hervorbringen.

Für den Augenblick schien Lews Therins Schluchzen für sie beide zu reichen.

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