Aviendha hockte mit ihren Speerschwestern und ein paar Spähern der Blutabkömmlinge auf dem niedrigen grasigen Hügel und betrachtete die Flüchtlinge weiter unten. Ein trauriger Haufen, diese Domani-Feuchtländer, mit schmutzigen Gesichtern, die seit Monaten kein Schweißzelt mehr gesehen hatten und deren abgemagerte Kinder zu hungrig waren, um weinen zu können. Bei den hundert sich abmühenden Menschen zog ein erbärmliches Maultier einen Karren; was sie nicht auf das Gefährt gehäuft hatten, trugen sie. Es gab von beidem nicht viel. Sie schleppten sich nach Nordosten auf einem Weg, den man nun wirklich nicht als Straße bezeichnen mochte. Vielleicht gab es ein Dorf in dieser Richtung. Vielleicht flohen sie auch einfach nur vor der Unsicherheit der Küstenregion.
Abgesehen von ein paar vereinzelten Bäumen war die hügelige Landschaft weit offen. Die Flüchtlinge hatten Aviendha und ihre Gefährten nicht gesehen, und das trotz der Tatsache, dass sie keine hundert Schritte weit entfernt waren. Sie hatte nie begriffen, wie diese Feuchtländer so blind sein konnten. Sahen sie nicht hin und bemerkten die Unregelmäßigkeiten am Horizont? War ihnen denn nicht klar, dass der Weg so nah an einem Hügelkamm vorbei Späher praktisch dazu einlud, sie zu beobachten? Sie hätten den Hügel mit ihren eigenen Kundschaftern sichern sollen, bevor sie sich in seine Nähe wagten.
War ihnen das alles egal? Aviendha fröstelte. Wie konnte es einem egal sein, ob Augen einen beobachteten, Augen, die möglicherweise einem Mann oder einer Tochter mit einem Speer gehörten? Konnten sie es nicht erwarten, aus dem Traum zu erwachen? Aviendha fürchtete den Tod nicht, aber es bestand ein großer Unterschied darin, ob man den Tod umarmte oder ihn sich ersehnte.
Städte, dachte sie, das ist das Problem. Städte waren stinkende, schwärende Orte, wie Geschwüre, die nie heilten. Manche waren besser als andere - Elayne leistete bemerkenswerte Arbeit in Caemlyn -, aber die Besten von ihnen versammelten zu viele Menschen und brachten ihnen bei, wie bequem es doch war, an einem Ort zu bleiben. Wären diese Flüchtlinge ans Reisen gewöhnt und hätten gelernt, die eigenen Füße zu benutzen, statt sich auf Pferde zu verlassen, wie es die Feuchtländer so oft taten, dann wäre es ihnen nicht so schwergefallen, ihre Städte zu verlassen. Bei den Aiel brachte man den Handwerkern bei, sich zu verteidigen, die Kinder konnten tagelang vom Land leben, und selbst Schmiede konnten große Entfernungen schnell zurücklegen. Eine ganze Septime konnte innerhalb einer Stunde auf dem Weg sein und alles Nötige auf dem Rücken tragen.
Feuchtländer waren seltsam, da bestand kein Zweifel. Trotzdem verspürte sie Mitleid für die Flüchtlinge. Das Gefühl überraschte sie. Sie war zwar nicht herzlos, aber ihre Pflicht lag anderswo, bei Rand al'Thor. Es gab für sie keinen Grund, sich wegen einer Gruppe unbekannter Feuchtländer schlecht zu fühlen. Doch die Zeit, die sie mit ihrer Erstschwester Elayne Trakand verbracht hatte, hatte sie gelehrt, dass nicht alle Feuchtländer weich und schwach waren. Nur die meisten. Es lag Ji darin, sich um die zu kümmern, die sich nicht um sich selbst kümmern konnten.
Aviendha betrachtete die Flüchtlinge und versuchte sie mit Elaynes Augen zu sehen, aber sie tat sich noch immer schwer damit, Elaynes Führungsstil zu begreifen. Es war nicht die simple Führung wie bei einer Gruppe von Töchtern auf einem Raubzug - die geschah instinktiv und effizient. Elayne würde bei diesen Flüchtlingen nicht nach Anzeichen von Gefahr oder verborgenen Soldaten Ausschau halten. Sie würde sich für sie verantwortlich fühlen, selbst wenn es nicht ihre eigenen Leute waren. Sie würde eine Möglichkeit finden, ihnen Lebensmittel zu schicken, würde vielleicht von ihren Truppen ein Gebiet sichern lassen, auf dem sie sich niederlassen konnten - und auf diese Weise würde sie ein Stück dieses Landes für sich selbst erwerben.
Früher hätte Aviendha diese Gedanken den Clanhäuptlingen und Dachherrinnen überlassen. Aber sie war keine Tochter mehr, und das hatte sie akzeptiert. Sie lebte jetzt unter einem anderen Dach. Sie schämte sich dafür, dass sie sich dieser Veränderung so lange widersetzt hatte.
Aber das brachte sie in ein Dilemma. Welche Ehre gab es jetzt noch für sie? Keine Tochter mehr, aber auch noch keine Weise Frau. Ihre ganze Identität hatte in diesen Speeren gelegen, ihr Ich war so sicher in ihren Stahl geschmiedet worden wie der Kohlenstoff, der ihm Stärke verlieh. Seit frühester Kindheit war klar gewesen, dass sie Far Dareis Mai sein würde. Tatsächlich hatte sie sich so früh wie möglich den Töchtern angeschlossen. Sie war stolz auf ihr Leben und ihre Speerschwestern gewesen. Sie hätte ihrem Clan und ihrer Septime bis zu dem Tag gedient, an dem sie schließlich dem Speer zum Opfer fiel und ihr letztes Wasser auf den trockenen Boden des Dreifachen Landes blutete.
Das hier war nicht das Dreifache Land, und sie hatte gehört, wie ein paar Algai'd'siswai darüber spekuliert hatten, ob die Aiel jemals dorthin zurückkehren würden. Ihr Leben hatte sich verändert. Aviendha traute Veränderungen nicht. Man konnte sie weder frühzeitig entdecken noch erstechen; sie waren lautloser als ein Späher und tödlicher als ein Attentäter. Nein, sie würde ihnen niemals trauen, aber sie würde sie akzeptieren. Sie würde lernen, wie Elayne zu handeln und wie ein Häuptling zu denken.
Sie würde Ehre in ihrem neuen Leben finden. Irgendwie.
»Sie sind keine Bedrohung«, wisperte Heirn, der mit den Blutabkömmlingen auf der anderen Seite der Töchter kauerte.
Rhuarc beobachtete die Flüchtlinge aufmerksam. »Die Toten wandeln«, sagte der Clanhäuptling der Taardad, »und Männer fallen zufällig Sichtblenders Bösem zum Opfer, ihr Blut wird verdorben wie das Wasser einer schlechten Quelle. Das könnten arme Menschen sein, die vor dem Krieg fliehen. Oder es könnte etwas anderes sein. Wir halten Distanz.«
Aviendha schaute auf die immer kleiner werdende Reihe der Flüchtlinge. Sie glaubte nicht, dass Rhuarc recht hatte; das waren keine Geister oder Ungeheuer. An denen war immer etwas ... falsch. Sie verursachten bei ihr ein Jucken, als würde man sie angreifen.
Trotzdem war Rhuarc weise. Im Dreifachen Land lernte man, vorsichtig zu sein, wo ein winziger Zweig töten konnte. Die Aiel huschten von dem Hügel nach unten zu der Ebene mit dem braunen Gras. Selbst nach vielen Monaten im Feuchtland fand Aviendha die Landschaft seltsam. Hier waren die Bäume hoch und mit langen Ästen versehen. Stießen die Aiel auf Gebiete mit gelbem Frühlingsgras zwischen den abgefallenen Winterblättern, schien es immer so voller Wasser zu sein, dass sie fast damit rechnete, dass die Halme und Blätter unter ihren Füßen platzten. Die Feuchtländer behaupteten, dass dieser Frühling unnatürlich langsam kam, aber er war bereits fruchtbarer als die Heimat der Aiel.
Im Dreifachen Land wäre diese Wiese - und die Hügel, die für Wachtposten und Schutz sorgten - sofort von einer Septime in Beschlag genommen und als Ackerland benutzt worden. Hier war es bloß ein weiteres von tausend unberührten Stücken Land. Wieder lag der Fehler bei den Städten. Die nächsten von ihnen waren zu weit entfernt von diesem Ort, als dass es eine gute Stelle für einen Feuchtländerhof gewesen wäre.
Die acht Aiel liefen über das Gras, bewegten sich mit Schnelligkeit und Verstohlenheit zwischen den Hügeln hindurch. Pferde konnten nicht mit den Füßen eines Menschen mithalten, wenn man nur an ihren donnernden Galopp dachte. Schreckliche Kreaturen - warum beharrten die Feuchtländer nur darauf, auf ihnen zu reiten? Verblüffend. Aviendha konnte lernen, wie ein Häuptling oder eine Königin denken musste, aber Feuchtländer würde sie niemals richtig verstehen, das war ihr klar. Sie waren einfach zu seltsam. Selbst Rand al'Thor.
Vor allem Rand al'Thor. Sie lächelte und dachte an seine ernsten Augen. Sie erinnerte sich an seinen Geruch - Feuchtländerseife, die nach Öl duftete, vermischt mit diesem besonderen erdigen Moschus. Sie würde ihn heiraten. In dieser Hinsicht war sie so entschlossen wie Elayne. Jetzt, da sie Erstschwestern waren, konnten sie ihn gemeinsam heiraten, wie es sich gehörte. Andererseits, wie sollte sie jetzt noch jemanden heiraten können? Ihre Ehre hatte in ihren Speeren gelegen, aber Rand al'Thor trug sie an seiner Taille; man hatte aus ihnen eine Gürtelschnalle geschmiedet, die sie ihm mit eigener Hand überreicht hatte.
Er hatte ihr einmal die Ehe angeboten. Ein Mann! Der ihr die Ehe anbot! Noch eine dieser seltsamen Feuchtländersitten. Selbst wenn man einmal vergaß, wie verrückt das Ganze doch war - und die Beleidigung außer Acht ließ, die sein Antrag für Elayne bedeutete -, hätte Aviendha Rand al'Thor niemals als Ehemann akzeptieren können. Konnte er nicht verstehen, dass eine Frau Ehre in eine Ehe mitbringen musste? Was hatte ein Lehrling schon zu bieten? Wollte er, dass sie als Untergebene zu ihm kam? Das zu tun hätte sie auf schreckliche Weise entehrt!
Es gab nur eine Erklärung - er hatte es einfach nicht verstanden. Sie hielt ihn nicht für grausam, lediglich für begriffsstutzig. Sie würde zu ihm kommen, wenn sie bereit war, und ihm dann das Brautgebinde zu Füßen legen. Und das konnte sie nicht tun, bevor sie wusste, wer sie war.
Die Wege des Ji'e'toh waren kompliziert. Aviendha wusste, wie man als Tochter die Ehre maß, aber Weise Frauen waren da eine ganz andere Kategorie. Sie hatte geglaubt, bei ihnen eine gewisse Anerkennung und Ehre zu finden. Zum Beispiel hatten sie ihr erlaubt, viel Zeit mit ihrer Erstschwester in Caemlyn zu verbringen. Aber dann waren Dorindha und Nadere dahergekommen und hatten ihr mitgeteilt, dass sie ihre Ausbildung vernachlässigte. Sie hatten sie wie ein Kind gepackt, das heimlich vor einem Schweißzelt lauschte, und sie zu ihrem Clan geschleppt, der gerade nach Arad Doman aufbrach.
Und jetzt ... und jetzt behandelten die Weisen Frauen sie mit weniger Respekt als je zuvor! Sie boten ihr nicht an, sie zu unterrichten. Irgendwie hatte sie in ihren Augen einen Fehler begangen. Bei dem Gedanken verkrampfte sich ihr Magen. Sich vor den anderen Weisen Frauen zu blamieren war beinahe genauso schlimm, wie vor jemandem, der so mutig wie Elayne war, Furcht zu zeigen!
Bis jetzt hatten die Weisen Frauen ihr eine gewisse Ehre zugestanden, indem sie ihr Strafen auferlegten, aber sie wusste nicht, was sie getan hatte, um sich selbst Schande zu bereiten. Danach zu fragen würde natürlich nur noch mehr Schande bringen. Erst wenn sie dieses Durcheinander entwirrt hatte, konnte sie ihr Toh wieder erfüllen. Schlimmer noch, es bestand die Gefahr, dass sie denselben Fehler noch einmal beging. Bis sie dieses Problem gelöst hatte, würde sie ein Lehrling bleiben, und sie würde Rand al'Thor nie ein ehrenhaftes Brautgebinde übergeben können.
Aviendha knirschte mit den Zähnen. Eine andere Frau hätte vielleicht geweint, aber was hätte das gebracht? Welche Fehler sie auch immer begangen hatte, das hatte sie sich selbst eingebrockt, und es war ihre Pflicht, es wieder zu richten. Sie würde ihre Ehre zurückerlangen, und sie würde Rand al'Thor heiraten, bevor er in der Letzten Schlacht starb.
Also musste sie das, was sie unbedingt wissen musste, schnell in Erfahrung bringen. Sehr schnell.
Auf einer kleinen, von Kiefern umgebenen Lichtung trafen sie sich mit einer anderen Gruppe Aiel. Ein dicker brauner Nadelteppich bedeckte den Boden, die gewaltigen Baumstämme versperrten den Blick zum Himmel. Nach den Maßstäben von Clans und Septimen war es eine kleine Gruppe, kaum zweihundert Personen. In der Mitte der Lichtung standen vier Weise Frauen. Jede von ihnen trug den charakteristischen braunen Rock und die weiße Bluse. Aviendha trug ähnliche Kleidung, die ihr mittlerweile so natürlich vorkam wie einst der Cadin'sor. Die Spähergruppe löste sich auf, Männer und Töchter gesellten sich zu den Mitgliedern ihrer eigenen Clans oder Gemeinschaften. Rhuarc ging zu den Weisen Frauen, und Aviendha folgte ihm.
Jede der Weisen Frauen - Amys, Bair, Melaine und Nadere - warf ihr einen Blick zu. Bair, die einzige Aiel in der Gruppe, die keine Taardad oder Goshien war, war erst vor kurzem eingetroffen, vielleicht um sich mit den anderen abzusprechen. Was aber auch der Grund war, keine von ihnen schien erfreut. Aviendha zögerte. Wenn sie jetzt ging, würde es dann so aussehen, als wollte sie sich ihrer Aufmerksamkeit entziehen? Sollte sie es wagen, stattdessen zu bleiben und das Risiko eingehen, weiteren Unmut hervorzurufen?
»Nun?«, sagte Amys zu Rhuarc. Auch wenn Amys weiße Haare hatte, sah sie doch ziemlich jung aus. In ihrem Fall lag das nicht an der Macht - ihre Haare waren schon als Kind ergraut.
»Es war, wie die Späher beschrieben haben, Schatten meines Herzens«, sagte Rhuarc. »Noch eine traurige Gruppe Feuchtländerflüchtlinge. Ich habe in ihnen keine verborgene Gefahr erkannt.«
Die Weise Frau nickte, als hätte sie damit gerechnet. »Das ist die zehnte Flüchtlingsgruppe in weniger als einer Woche«, sagte die ältere Bair; in ihren wässrigen blauen Augen lag ein nachdenklicher Ausdruck.
Rhuarc nickte. »Es gibt Gerüchte, dass die Seanchaner im Westen Häfen angreifen. Vielleicht ziehen die Menschen ins Landesinnere, um den Angriffen zu entgehen.« Er sah Amys an. »Dieses Land brodelt wie auf dem Herd verschüttetes Wasser. Die Clans sind sich unsicher, was sich Rand al'Thor von ihnen erwünscht.«
»Er hat sich sehr klar ausgedrückt«, meinte Bair. »Er wird sehr erfreut sein, dass Ihr und Dobraine Taborwin Bandar Eban gesichert habt, worum er gebeten hatte.«
Rhuarc nickte. »Trotzdem sind seine Absichten nicht klar. Er hat uns gebeten, die Ordnung wiederherzustellen. Sollen wir denn wie Stadtwächter der Feuchtländer sein? Das ist kein Ort für einen Aiel. Wir sollen nicht erobern, also erhalten wir auch kein Fünftel. Und doch erscheint das, was wir tun, sehr wie eine Eroberung. Die Befehle des Car'a'carns können zugleich klar und verwirrend sein. Ich glaube, was das angeht, hat er ein echtes Talent.«
Bair lächelte und nickte. »Vielleicht will er, dass wir etwas mit diesen Flüchtlingen machen.«
»Und was sollten wir tun?«, fragte Amys und schüttelte den Kopf. »Sind wir Shaido, erwartet man von uns, aus Feuchtländern Gai'schain zu machen?« Ihr Ton ließ keinen Zweifel, was sie sowohl von den Shaido wie auch von der Idee hielt, Feuchtländer zu Gai'schain zu machen.
Aviendha nickte zustimmend. Wie Rhuarc schon gesagt hatte, der Car'a'carn hatte sie nach Arad Doman geschickt, um »die Ordnung wiederherzustellen«. Aber das war ein typisches Feuchtländer-Konzept; Aiel brachten ihre eigene Ordnung mit sich. Krieg und Schlachten waren voller Chaos, sicher, aber jeder Aiel kannte seinen Platz und würde auch dementsprechend handeln. Kleine Kinder verstanden Ehre und Toh, und ein Haushalt funktionierte auch dann noch, sollten alle Anführer und Weise Frauen getötet worden sein.
Bei den Feuchtländern war das völlig anders. Sie rannten herum wie ein Korb wilder Echsen, den man auf heiße Steine hatte fallen lassen, kümmerten sich nicht um Vorräte, wenn sie flohen. Sobald ihre Anführer beschäftigt und abgelenkt waren, herrschte Banditentum und Chaos. Die Starken beraubten die Schwachen, und nicht einmal Schmiede waren sicher.
Was erwartete Rand al'Thor von den Aiel? Sie konnten doch keiner ganzen Nation das Ji'e'toh beibringen. Rand al'Thor hatte ihnen befohlen, nach Möglichkeit keine Soldaten der Domani zu töten. Aber diese Truppen - die oft korrupt und selbst zu Banditen geworden waren - waren Teil des Problems.
»Vielleicht wird er es genauer erklären, wenn wir bei seinem Herrenhaus eintreffen«, sagte Melaine und schüttelte den Kopf. Ihr rotblondes Haar fing das Licht ein. Unter ihrer Bluse waren die ersten Anzeichen ihrer Schwangerschaft zu sehen. »Und wenn nicht, dann ist es sicherlich besser für uns, hier in Arad Doman zu sein, als noch mehr Zeit im Land der Baummörder verbringen zu müssen.«
»Da habt Ihr recht«, meinte Rhuarc. »Dann lasst uns aufbrechen.« Er ging los, um mit Bael zu sprechen. Aviendha trat einen Schritt zur Seite, aber Amys warf ihr einen bösen Blick zu, und sie erstarrte.
»Aviendha«, sagte die harte, weißhaarige Frau. »Wie viele Weise Frauen sind mit Rhuarc aufgebrochen, um sich diesen Flüchtlingstreck anzusehen?«
»Nur ich«, gab Aviendha zu.
»Ach, und du bist jetzt eine Weise Frau?«, fragte Bair.
»Nein«, erwiderte Aviendha schnell und häufte noch mehr Schande auf sich, weil sie errötete. »Das war eine dumme Bemerkung.«
»Dann sollst du bestraft werden«, sagte Bair. »Aviendha, du bist keine Tochter mehr. Es steht dir nicht zu, mit den Spähern zu ziehen. Diese Aufgabe haben andere zu erledigen.«
»Ja, Weise Frau«, sagte Aviendha und schaute zu Boden. Ihr war nicht in den Sinn gekommen, dass es ihr Schande einbringen würde, wenn sie Rhuarc begleitete - andere Weise Frauen hatten ähnliche Aufgaben verrichtet.
Aber ich bin keine Weise Frau, rief sie sich ins Gedächtnis zurück. Ich bin nur ein Lehrling. Bair hatte nicht gesagt, dass eine Weise Frau keinen Spähtrupp begleiten durfte; nur dass ihr nicht zustand, das zu tun. Hier ging es allein um sie. Und um das, was auch immer sie getan hatte, um die Weisen Frauen zu provozieren. Oder möglicherweise noch immer tat.
Glaubten sie vielleicht, die Zeit bei Elayne hätte sie verweichlicht? Aviendha sorgte sich selbst, dass das möglicherweise der Fall war. Während ihres Aufenthalts in Caemlyn hatte sie gelernt, Seide und Bäder zu schätzen. Am Ende hatte sie nur kraftlos protestiert, wenn Elayne einen neuen Vorwand gefunden hatte, um sie in ein unpraktisches und frivoles Gewand mit Stickereien und Spitze zu kleiden. Es war gut, dass man sie abgeholt hatte.
Die anderen standen einfach da und sahen sie erwartungsvoll an, ihre Gesichter waren wie rote Wüstensteine, reglos und streng. Aviendha biss wieder die Zähne zusammen. Sie würde ihre Lehrlingszeit beenden und Ehre erringen. Das würde sie.
Der Ruf, sich in Bewegung zu setzen, erscholl, und Männer und Frauen im Cadin'sor liefen in kleinen Gruppen zusammen los. Die Weisen Frauen bewegten sich trotz ihrer ausladenden Röcke genauso mühelos wie die Soldaten. Amys berührte Aviendhas Arm. »Du wirst mit mir laufen, damit wir deine Strafe besprechen können.«
Aviendha verfiel neben der Weisen Frau in einen schnellen Trab. Diese Geschwindigkeit konnte jeder Aiel eine fast uneingeschränkte Zeit durchhalten. Ihre Gruppe aus Caemlyn war zu Rhuarc gestoßen, als er aus Bandar Eban kam, um sich im westlichen Teil des Landes mit Rand al'Thor zu treffen. Dobraine Taborwin, ein Cairhiener, sorgte in der Hauptstadt noch immer für Ordnung, wo er angeblich ein Mitglied der Domani-Regierung aufgespürt hatte.
Natürlich hätten die Aiel den Rest des Weges durch ein Wegetor zurücklegen können. Aber es war nicht weit - nur ein paar Tage zu Fuß -, und sie waren früh genug aufgebrochen, um zur vereinbarten Zeit einzutreffen, ohne die Eine Macht benutzen zu müssen. Rhuarc wollte selbst einen Teil der Gegend um das Herrenhaus erforschen, das Rand al'Thor als Basis benutzte. Falls nötig, würden weitere Goshien oder Taardad Aiel mithilfe von Wegetoren sich dort zu ihnen gesellen.
»Wie denkst du über das, was der Car'a'carn von uns hier in Arad Doman verlangt, Aviendha?«, fragte Amys, während sie liefen.
Aviendha unterdrückte ein Stirnrunzeln. Was war denn aus ihrer Strafe geworden? »Diese Bitte verstößt gegen die Regeln«, sagte sie, »aber Rand al'Thor hat viele seltsame Ideen, selbst für einen Feuchtländer. Das wird nicht die ungewöhnlichste Pflicht sein, die er sich für uns einfallen lassen wird.«
»Und die Tatsache, dass Rhuarc diese Pflicht Unbehagen bereitet?«
»Ich bezweifle, dass dem Clanhäuptling unbehaglich zumute ist. Ich denke, dass Rhuarc das ausspricht, was andere gesagt haben, und er diese Information auf diese Weise an die Weisen Frauen weitergibt. Er will andere nicht entehren, indem er enthüllt, wer seine Befürchtungen ausgesprochen hat.«
Amys nickte. Was sollten diese Fragen? Sicherlich war die Frau zu dem gleichen Schluss gelangt. Sie würde bestimmt nicht zu ihr kommen, um sich Rat zu holen.
Eine Weile liefen sie schweigend, ohne dass Strafen erwähnt wurden. Hatten die Weisen Frauen ihr ihre unbeabsichtigte Beleidigung verziehen? Sicherlich würden sie sie nicht auf diese Weise entehren. Man musste ihr Zeit geben, damit sie selbst darauf kam, was sie getan hatte, andernfalls würde ihre Schande unerträglich sein. Möglicherweise würde sie wieder das Falsche tun, dieses Mal nur noch viel schlimmer.
Amys verriet durch nichts, was sie dachte. Die Weise Frau war genau wie Aviendha einst eine Tochter gewesen. Sie war hart, selbst für eine Aiel. »Und al'Thor?«, fragte sie. »Was hältst du von ihm?«
»Ich liebe ihn«, sagte Aviendha.
»Ich habe nicht Aviendha das dumme Mädchen gefragt«, sagte Amys barsch. »Ich habe Aviendha die Weise Frau gefragt.«
»Er ist ein Mann, der viele Bürden trägt.« Aviendha wählte ihre Worte sorgfältig. »Ich fürchte, dass er viele dieser Bürden schwerer macht, als sie sein müssten. Einst war ich der Meinung, dass man nur auf eine Weise stark sein kann, aber von meiner Erstschwester habe ich gelernt, dass ich da im Irrtum war. Rand al'Thor ... ich glaube nicht, dass er das schon gelernt hat. Ich sorge mich, dass er Härte mit Stärke verwechselt.«
Amys nickte wieder, als würde sie ihr zustimmen. Sollten diese Fragen eine Art Prüfung sein?
»Du würdest ihn heiraten?«, fragte Amys.
Wir wollten doch nicht über Aviendha »das dumme Mädchen« reden, dachte Aviendha, aber natürlich sprach sie das nicht aus. So etwas sagte man nicht zu Amys.
»Ich werde ihn heiraten«, sagte sie stattdessen. »Das ist keine Möglichkeit, sondern eine Tatsache.« Der Tonfall brachte ihr einen Seitenblick von Amys ein, aber sie knickte nicht ein. Jede Weise Frau, die sich versprach, hatte es verdient, dass man sie korrigierte.
»Und die Feuchtländerin Min Farshaw? Offensichtlich liebt sie ihn. Was wirst du wegen ihr unternehmen?«
»Das ist meine Angelegenheit. Wir werden eine Übereinkunft finden. Ich habe mit Min Farshaw gesprochen, und ich glaube, sie wird sich nicht widersetzen.«
»Du würdest auch sie zur Erstschwester nehmen?« Irgendwie klang Amys amüsiert.
»Wir werden eine Übereinkunft finden, Weise Frau.«
»Und wenn nicht?«
»Das werden wir«, sagte Aviendha energisch.
»Und wieso bist du dir da so sicher?«
Aviendha zögerte. Ein Teil von ihr wollte auf diese Frage nur mit Schweigen reagieren, wollte die blattlosen Dickichte passieren und Amys keine Antwort geben. Aber sie war nur ein Lehrling, und auch wenn man sie nicht zu einer Antwort zwingen konnte, wusste sie doch genau, dass Amys so lange nachhaken würde, bis die Antwort kam. Sie hoffte bloß, dass sie durch ihre Erwiderung nicht zu viel Toh auf sich laden würde.
»Ihr habt von Mins Sichten gehört?«, fragte sie.
Amys nickte.
»Eine dieser Vorhersagen hatte mit Rand al'Thor und den drei Frauen zu tun, die er lieben wird. Eine weitere drehte sich um die Kinder, die ich vom Car'a'carn bekommen werde.«
Sie führte das nicht weiter aus, und Amys setzte sie auch nicht weiter unter Druck. Sie wussten beide, dass man eher einen Steinhund finden würde, der bei einem Kampf den Rückzug antrat, als eine von Mins Vorhersagen, die nicht in Erfüllung gegangen war.
Einerseits war es gut zu wissen, dass Rand al'Thor ihr gehören würde, auch wenn sie ihn teilen musste. Natürlich verspürte sie keinen Neid auf Elayne, aber Min ... nun, eigentlich kannte sie sie ja gar nicht. Trotzdem war die Vorhersage ein Trost. Aber sie war auch ärgerlich. Sie liebte Rand al'Thor, weil sie sich dazu entschieden hatte, und nicht weil es das Schicksal so wollte. Natürlich bot Mins Sicht keine Gewähr, dass sie Rand auch tatsächlich heiratete, also hatte sie sich möglicherweise falsch ausgedrückt. Ja, er würde drei Frauen lieben, und drei Frauen würden ihn lieben, aber würde sie eine Möglichkeit finden, ihn zu heiraten?
Nein, die Zukunft stand nicht fest, und aus irgendeinem Grund fand sie das tröstlich. Vielleicht hätte sie sich Sorgen machen sollen, aber das tat sie nicht. Sie würde ihre Ehre zurückgewinnen, und dann würde sie Rand al'Thor heiraten. Vielleicht würde er kurz darauf sterben, aber genauso gut konnte sie heute in einen Hinterhalt geraten und durch einen Pfeilschuss sterben. Sich zu sorgen brachte gar nichts.
Toh war jedoch eine ganz andere Sache.
»Ich habe mich falsch ausgedrückt, Weise Frau«, sagte sie. »Ich habe gesagt, dass ich Rand al'Thor laut dieser Vorhersage heiraten werde. Das stimmt nicht. Wir drei werden ihn lieben, und auch wenn man da selbstredend an Ehe denkt, weiß ich es dennoch nicht mit Sicherheit.«
Amys nickte. Es gab kein Toh; sie hatte sich schnell genug korrigiert. Das war gut. Sie würde nicht noch mehr zusätzliche Schande zu der anhäufen, die sie bereits auf sich geladen hatte.
»Also gut«, sagte Amys und betrachtete den Pfad vor ihr. »Lass uns über die heutige Strafe sprechen.«
Aviendha entspannte sich etwas. Also blieb ihr noch genug Zeit, um herauszufinden, was sie falsch gemacht hatte. Feuchtländer schienen die Strafmethoden der Aiel oft zu verwirren, aber Feuchtländer verstanden ja auch wenig von Ehre. Ehre erwarb man nicht, weil man bestraft wurde, sondern die Strafe akzeptierte, und sie zu erdulden stellte die Ehre wieder her. Das war die Seele des Toh - sich freiwillig zu beugen, um das zurückzugewinnen, was verloren gegangen war. Sie konnte nicht verstehen, warum die Feuchtländer das nicht begriffen; in der Tat war es seltsam, dass sie Ji'e'toh nicht instinktiv folgten. Was war ein Leben ohne Ehre?
Amys würde ihr zu Recht nicht sagen, was sie falsch gemacht hatte. Aber sie kam einfach nicht auf die richtige Antwort, und sie würde weniger Schande auf sich laden, wenn sie sie bei einer Unterhaltung herausfand. »Ja«, sagte sie vorsichtig. »Ich sollte bestraft werden. Mein Aufenthalt in Caemlyn drohte mich schwach zu machen.«
Amys schnaubte. »Du bist genauso wenig schwach wie zu der Zeit, als du die Speere getragen hast, Mädchen. Sogar etwas stärker, wie ich finde. Deine Zeit mit deiner Erstschwester war wichtig für dich.«
Also war es das nicht. Als Dorindha und Nadere sie geholt hatten, hatten sie gesagt, sie müsste ihre Ausbildung als Lehrling fortführen. Aber seit die Aiel nach Arad Doman aufgebrochen waren, hatte sie keinen Unterricht bekommen. Sie hatte Wasser tragen, Schultertücher flicken und Tee servieren müssen. Alle möglichen Strafen hatte man ihr auferlegt, ohne ihr dabei zu erklären, was sie falsch gemacht hatte. Und wenn sie etwas Offensichtliches tat - so wie auf einen Spähtrupp gehen, was sie nicht hätte tun sollen -, war die Strenge der Strafe stets größer, als das Vergehen eigentlich gerechtfertigt hätte.
Es war beinahe so, als wollten die Weisen Frauen, dass sie lernte, was eine Strafe zu bedeuten hatte, aber das konnte nicht sein. Sie war keine Feuchtländerin, der man beibringen musste, wie Ehre funktionierte. Was sollten ständige und unerklärte Strafen anderes erreichen, als sie auf einen ernsten Fehler hinzuweisen, den sie begangen hatte?
Amys griff sich an die Seite und band dort etwas los. Der Wollbeutel, den sie hochhielt, war etwa von Faustgröße. »Wir haben entschieden, dass wir in deinem Unterricht zu nachlässig waren. Zeit ist kostbar, und Feinheiten sind nicht möglich.«
Aviendha verbarg ihre Überraschung. Ihre vorherigen Strafen waren subtil gewesen?
»Und darum«, fuhr Amys fort und übergab ihr den kleinen Beutel, »wirst du das hier nehmen. Darin sind Samen. Manche sind schwarz, andere braun, andere weiß. Heute Abend, bevor wir schlafen, wirst du die Farben voneinander trennen und dann zählen, wie viele es von jeder Farbe gibt. Wenn du dich irrst, werden wir sie wieder vermischen, und du fängst von vorn an.«
Aviendha ertappte sich dabei, dass sie starrte, und beinahe wäre sie gestolpert. Wasser zu tragen war eine nötige Arbeit. Kleider zu flicken war eine nötige Arbeit. Mahlzeiten zu kochen war eine wichtige Arbeit, vor allem wenn die kleine Vorhut keine Gai'schain mitgebracht hatte.
Aber das ... das war sinnlose Arbeit! Nicht nur hatte sie keine Bedeutung, sie war frivol. Es war die Art von Strafe, die nur für die stursten oder schändlichsten Leute reserviert war. Es machte beinahe den Eindruck, als würden die Weisen Frauen sie Da'tsang schimpfen!
»Bei den Augen des Sichtblenders«, flüsterte sie, als sie sich zwang, das Tempo aufrechtzuerhalten. »Was habe ich denn getan?«
Amys warf ihr einen Blick zu, und sie wich ihm aus. Sie wussten beide, dass sie keine Antwort auf diese Frage wollte. Stumm nahm sie den Beutel entgegen. Es war die demütigendste Strafe, die sie je erhalten hatte.
Amys lief zu den anderen Weisen Frauen. Aviendha schüttelte ihre Lähmung ab, ihre Entschlossenheit kehrte zurück. Ihr Fehler musste gravierender gewesen sein als gedacht. Amys' Strafe deutete es zumindest an.
Sie öffnete den Beutel und schaute hinein. Drei kleine leere Algode-Beutel lagen darin, die beim Sortieren helfen sollten, fast vollständig von Tausenden von Samen begraben. Diese Strafe sollte gesehen werden, sollte ihr Schande bringen. Was auch immer sie getan hatte, es hatte nicht nur die Weisen Frauen beleidigt, sondern alle in ihrer Umgebung, selbst wenn sie - wie Aviendha - gar nicht wussten, dass es geschehen war.
Das bedeutete bloß, dass sie nur noch entschlossener sein musste.