Die Erzählung >Ein Geschenk des Himmels< erschien in der Ausgabe der Sports Illustrated zum Kentucky Derby 1973, allerdings unter dem von der Zeitschrift geänderten Titel >Der Tag von Wein und Rosen<, einem Titel, der sich sowohl auf die reale Blumendecke bezog, die man dem DerbySieger über den Widerrist wirft, als auch auf den frei erfundenen Alkohol, der in der Erzählung reichlich fließt.
>Ein Geschenk des Himmels<, das Fred Collyer zuteil wurde, war jedoch weit mehr wert als Rosen.
ls der Morgenflug von La Guardia noch zwanzig Mi-
nuten vor Louisville war, holte Fred Collyer einen Block mit vorgedruckten Formularen hervor und begann seine Unkosten aufzuschreiben.
Taxi zum Flughafen, vierzig Dollar.
Unerheblich, daß sein Nachbar, der auf Long Island arbeitete, ihn kostenlos mitgenommen und am Flughafen abgesetzt hatte: Ein wenig Phantasie in Sachen Spesen bescherte ihm (steuerfrei) noch mal die Hälfte von dem, was ihm der Manhattan Star für die Artikel zahlte, die er jeden Montag in seiner Rennspalte brachte.
Erfrischungen auf der Reise, schrieb er. Fünfundzwanzig Dollar.
Bewirtung zum Zwecke der Informationsbeschaffung, dreißig Dollar fünfzig.
Wie um diesen Posten zu rechtfertigen, bestellte er bei der Stewardeß einen zweiten doppelten Bourbon und prostete schweigend einem Mann zu, der auf der anderen Seite des Ganges schlief — dem Besitzer einer drittklassigen Stute, die sich vor zwei Wochen die Schienbeine aufgeschlagen hatte.
Wieder ein Kentucky Derby. Seine Gedanken flackerten wie die zerkratzte Kopie eines alten Kinofilms über die vor ihm liegenden Tage. Immer dieselbe Plackerei, morgens raus zu den Ställen, dann endlose Sitzungen über Rennberichten der Vergangenheit und die Suche nach einem Fingerzeig, was die Zukunft betraf. Die wenig aufschlußreiche Trainingsarbeit auf der Bahn, die verleumderischen Gerüchte, das Geschwätz, die dummen Jockeys, die dummen Trainer, die ihre gottverdammten dummen Klappen aufrissen — immer dasselbe.
Der glühende Enthusiasmus, einst das Markenzeichen seiner auch von anderen Zeitungen übernommenen Beiträge, gehörte lange der Vergangenheit an. Die gehobene Stimmung an den großen Renntagen, das feine Gespür, mit dem er eine Story gewittert hatte, wo kein anderer etwas vermutet hätte, der scharfe Instinkt, der Wahrheit von Täuschung zu unterscheiden vermochte, all diese Dinge hatte er einmal besessen. All diese Dinge hatte er verloren. An ihrer Stelle dehnten sich endlose Langeweile und immerwährende, zynische Müdigkeit. Anstelle von Exklusivbeiträgen erhielt seine Zeitung die wiedergekäuten Ideen anderer Rennsportreporter, und in letzter Zeit war ihm einige Male nicht einmal mehr das gelungen.
Er war sechsundvierzig.
Er trank.
Daheim in seinem zweckmäßigen New Yorker Büro schürzte der Sportreporter des Manhattan Star die Lippen. Vor ihm lag Fred Collyers Bericht über die Everglades in
Hialeah, und er fragte sich, ob es klug gewesen war, ihn wie gewöhnlich zum Derby zu schicken.
Dieser Bursche, dachte er bedauernd, war fix und fertig. Wirklich schade. Wirklich schade, daß er nicht die Finger vom Alkohol lassen konnte. Niemand konnte trinken und schreiben, nicht gleichzeitig. Erst schreiben, dann trinken; okay. Vielleicht sogar trinken bis zum Abwinken, bis zum Umfallen. Aber danach.
Lange würde es nicht mehr dauern, dachte er, bis er Fred gehen lassen mußte, und wahrscheinlich hätte er sich schon seit jenem Tag vor einigen Monaten nach Ersatz umschauen sollen, als Fred zum ersten Mal so besoffen ins Büro gekommen war, daß er nicht mehr die richtigen Tasten auf seiner Schreibmaschine erwischte. Aber dieser Säufer hatte alles gehabt, dachte er. Eine Nase für eine Story, wie ein Journalist sie brauchte, und die Gabe, sein Zeug so lebhaft rüberzubringen, daß die Worte geradezu von den Seiten sprangen und sich einem ins Gehirn rammten.
Alles, was davon heute noch übrig war, war ein guter Ruf und ein Echo: Er funktionierte nur noch mechanisch, die Persönlichkeit dahinter war im Suff versunken.
Der Sportreporter legte den Hialeah-Artikel kopfschüttelnd beiseite. Zweimal in den letzten sechs Wochen hatte Fred es nicht fertiggebracht, überhaupt eine Story zu schreiben. Beide Male hatten sie sich im Büro einen Artikel zusammengestoppelt und den Namen Collyer draufgesetzt, aber zweimal den Abgabetermin zu verschlafen war einmal mehr, als man verzeihen konnte. Ein drittes Mal, und die Sache war gelaufen. Die Chefs murrten lauter denn je über die überzogenen Spesenabrechnungen, und wenn sie rausfanden, daß sie dafür zweimal keine müde Zeile bekommen hatten, würde ihn kein noch so heftiges Pochen auf das Motto» Um der alten Zeiten willen «retten.
Ich habe ihn gewarnt, dachte der Sportreporter mit Unbehagen. Ich habe ihm gesagt, er soll diesmal zusehen, daß er eine wirklich gute Story abliefert. Einen brandheißen Knüller, wie man das früher von ihm kannte. Ich habe ihm gesagt, dieses Derby muß einer seiner größten Erfolge werden.
Fred Collyer meldete sich in dem Motel an, in dem die Zeitung ihm ein Zimmer reserviert hatte. Dort genehmigte er sich drei schnelle Vormittagsstärkungen aus der Flasche, die er in seiner Aktentasche mitgebracht hatte. Die Warnung des Sportreporters schob er in den hintersten Winkel seines Bewußtseins, denn er war sich immer noch sicher, daß er, betrunken oder nüchtern, bessere Artikel schreiben konnte als jeder andere Kommentator in dem Geschäft, wenn er nur eine Story hatte, die der Mühe wert war. Es gab nur einfach keine guten Storys mehr.
Er nahm ein Taxi zu den Churchill Downs. (Taxi, vierundzwanzig Dollar fünfzig, schrieb er unterwegs und zahlte dem Fahrer achtzehn.)
Drei Tage vor dem Derby wirkte die Rennbahn sauber, frisch und erwartungsvoll. Leuchtend rote Tulpen richteten in säuberlichen Kolonnen ihre Blütenblätter einheitlich dem blauen Himmel entgegen, und Flecken grünen Rasens leuchteten wie shampoonierte Teppiche. Ohne sie zu beachten, nahm Fred Collyer den Aufzug zum Dach und trottete die letzten windigen Stufen zu dem großen, verglasten Presseraum über der Tribüne. Dort saßen einige Männer an ihren Schreibmaschinen und hackten die Nachrichten für den kommenden Tag in die Tasten. Draußen standen noch andere, die sich das erste Rennen ansahen, aber die meisten waren in das wichtigste Tagesgeschäft vertieft: zu schwatzen.
Fred Collyer holte sich an der einfachen Bar eine Dose Bier, trug sie an den mit seinem Namen bezeichneten Platz und tauschte mit den Gesichtern, die er von den Bahnen zwischen Saratoga und Hollywood Park kannte, ein paar Hallos. Da er ständig von einem Hotel zum anderen zog und endgültig entwurzelt war, seit Sylvie von seiner Abwesenheit und seiner Trinkerei die Nase so voll gehabt hatte, daß sie mit den Kindern zurück zu ihrer Mutter nach Nebraska gezogen war, betrachtete er die Pressezimmer der Rennbahnen als sein einziges wirkliches Zuhause. Dort fühlte er sich entspannt und wußte, daß man ihn respektierte. Er bemerkte gar nicht, daß die Bewunderung, die ihm die anderen einst gezollt hatten, langsam einem toleranten Mitleid Platz machte.
Er ließ sich ungezwungen auf seinen Stuhl fallen und las eine der vervielfältigten Pressenotizen vom Tage.
«Trainer Harbourne Cressie berichtet, daß Pincer Movements linkes Vorderbein nach einem Spritzer über 800 Meter heute morgen nicht entzündet sei.«
«Nichts dran an dem Gerücht, daß Salad Bowl gestern abend Temperatur hatte, bestätigt Tierarzt John Brewer im Auftrag der Besitzerin Mrs. L. (Loretta) Hicks.«
Na wunderbar, dachte er sarkastisch. Negative Nachrichten waren keine Nachrichten, Derbystarter eingeschlossen.
Er blieb den ganzen Nachmittag im Pressezimmer, trank Bier, diskutierte mit Schreibern, Fotografen, Publizisten und Radioleuten über alles und nichts, hielt unachtsam die Fernsehübertragungen der Rennen im Auge und trat gelegentlich hinaus auf den Balkon, um auf den Ameisenhaufen der Menschenmenge weit unter sich hinabzublicken. Nicht nötig, sich da hinunterzukämpfen, wie er das früher getan hatte, dachte er. Nicht nötig zu versuchen, Leute zu treffen, sie unter vier Augen zu interviewen. Alles und je-der, der irgendwie von Interesse war, kam irgendwann ins Pressezimmer rauf und teilte alles Wissenswerte in leicht verdaulichen Bröckchen mit.
Am Ende des Tages nahm er dankend das Angebot eines Kollegen an, in dessen Mietwagen mit in die Stadt zurückzufahren (Taxi, vierundzwanzig Dollar fünfzig), und am Abend besuchte er, nachdem er in seinem eigenen Zimmer für eine beachtliche Whisky-Grundlage gesorgt hatte, das alljährliche Dinner der Turfwriter’s Association. Die Menschenmenge in dem großen Empfangsraum war durchaus erfreut, ihn zu sehen, und er bewegte sich zwischen der Ansammlung von Presseleuten, Trainern, Jockeys, Züchtern, Besitzern mit Ehefrauen und Freundinnen wie ein Fisch in seinem heimischen Tümpel. Automatisch kippte er vorm Abendessen vier Doppelte on the Rocks und hielt während des Essens und der langen Reden danach einen stetigen Konsum aufrecht. Als er um halb zwölf versuchte, sich von der Tafel zurückzuziehen, hatte er keine Kontrolle mehr über seine Beine.
Das überraschte ihn. Er setzte sich wieder. Er hatte gar nicht bemerkt, daß er betrunken war. Seine Zunge funktionierte immer noch genausogut wie die der meisten um ihn herum, und für ihn selbst schienen seine Gedanken bestens organisiert zu sein. Aber seine Beine gaben unter ihm nach, als er ihnen sein Gewicht anvertraute, und er war schwerfällig auf seinen Stuhl zurückgeplumpst. Es war schon um einiges später — der große Raum hatte sich beinahe geleert, und die meisten Gäste waren auf dem Heimweg —, als es ihm endlich gelang, genug Kraft aufzubringen, um sich zu erheben.
«Ich scheine ganz schön geladen zu haben«, murmelte er und entschuldigte sich mit einem Lächeln vor sich selbst.
Auf die Rücklehnen der hie und da an den Wänden aufgereihten Stühle gestützt, schwankte er der Tür entgegen.
Von dort taumelte er in den Flur und weiter bis zur Lobby, von wo aus er durch die hin- und herschwingenden Glastüren hinaus in die Nacht stapfte, als steige er imaginäre Stufen hinunter.
Die Abendluft eines kühlen Maitags machte alles noch sehr viel schlimmer. Die Erde schien sich buchstäblich unter seinen Füßen zu drehen. Mit schwerer Schlagseite vollführte er einen Halbkreis, und statt sich auf die geparkten Autos und die wartenden Taxis zuzubewegen, stolperte er kopfüber in die dunkle Steinfront der Mauer neben dem Eingang. Der Aufprall schmerzte und steigerte seine Verwirrung noch. Er legte beide Hände flach auf die rauhe Oberfläche vor sich, preßte dann das Gesicht darauf und konnte doch nicht herausfinden, wo er war.
Marius Tollman und Piper Boles hatten nicht gesehen, daß Fred Collyer vor ihnen gegangen war. Beide schlenderten denselben Weg entlang und plauderten Belangloses — zwei Männer, die der Zufall am Ende eines Abends zusammengeführt hatte. Mit keiner Miene verrieten sie, daß sie einander schon seit Stunden quer durch den Raum bedeutungsvolle Blicke zugeworfen und fast an nichts anderes gedacht hatten als an das vor ihnen liegende Gespräch.
In einem Land, in dem das Buchmachergewerbe gesetzlich zugelassen war, wäre Marius Tollman vielleicht als angesehener, gesetzestreuer Bürger aufgewachsen. Wie die Dinge lagen, hatten seine natürliche Neigung und sein einziges Talent ihn zu einem Leben schneller Beinarbeit geführt, wie sie Muhammad Ali zur Ehre gereicht hätte. Mit Hilfe der einfachen Maßnahme, für zukünftige Rennautoritäten Wetten zu plazieren, solange diese noch jung und töricht waren, blieb er, sobald sie zu Status und Macht gekommen waren, von ihnen unbehelligt; und unter den Junghengsten, die in Richtung Vorstandsetage stürmten, erkannte der gewiefte alte Marius mit noch schärferem Blick den Gewinner als unter den Pferden auf dem Turf.
Die beiden Männer gingen durch die Glastüren und blieben direkt dahinter stehen, wo das Licht aus der Lobby sie voll erfaßte. Marius pflegte niemanden in irgendwelche Ecken zu ziehen, weil das zu verdächtig ausgesehen hätte.
«Dann ist es Ihnen also gelungen, die Jungs für unsere Sache zu gewinnen?«fragte er. Er stand auf den Absätzen, während er die Hände in den Taschen hielt und sein Bauch ihm über den Gürtel quoll.
Piper Boles zündete sich mit langsamen Bewegungen eine Zigarette an, ließ seinen Blick dann beiläufig über den sternenübersäten Himmel wandern und sog genüßlich den Rauch in seine Lungen.
«Ja«, sagte er.
«Und für wen haben Sie sich entschieden?«
«Amberezzio.«
«Nein«, protestierte Marius.»Der ist nicht gut genug.«
Piper Boles zog abermals an seiner Zigarette. Er hatte Hunger. Hundertelf mußte er morgen auf die Waage bringen, und er hatte nur hundertfünfzig Gramm Steak im Magen. Er hatte etwas gegen dicke Menschen, vor allem gegen reiche dicke Menschen. Seinen eigenen kleinen Vorrat an Fett steckte er in Immobilien und Wachstumsfonds, aber mit achtunddreißig Jahren drohte ihn der körperliche Kampf beinahe zu überwältigen. Er konnte nicht mehr viele dieser Hungerjahre verkraften, denn je älter sein Körper wurde, um so schwerer fiel ihm das Fasten. Das Gefühl, daß die Zeit drängte, hatte ihn jüngst über Möglichkeiten nachdenken lassen, schnelle Zehntausender zu machen, die ihm früher nur ein höhnisches Lächeln entlockt hätten.
Er sagte:»Es muß Amberezzio sein. Er ist sauber.«
Marius dachte darüber nach. Es gefiel ihm nicht, aber schließlich nickte er doch.
«Na gut. Dann also Amberezzio.«
Piper Boles nickte und machte Anstalten zu gehen. Als Jockey konnte er sich nicht allzu lange mit Marius Tollman sehen lassen, nicht, wenn er weiter zweites Lot für die angesehene Somerset Farm reiten wollte, was ganz eindeutig der Fall war.
Marius bemerkte den Impuls des anderen und sagte glatt:
«Haben Sie noch mal über ein kleines Ablenkungsmanöver auf Crinkle Cut nachgedacht?«
Piper Boles zögerte.
«Das wird Sie was kosten«, sagte er.
«Klar«, stimmte Marius ihm achselzuckend zu.»Wie wär’s mit noch mal zehntausend obendrauf?«
«Benutzte Scheine. Die Hälfte im voraus.«
«Gut.«
Piper Boles schüttelte sein Gewissen ab und entledigte sich des letzten Restes seiner Integrität.
«Okay«, sagte er und schlenderte zu seinem Wagen, ganz als wären seine Nerven nicht zum Zerreißen gespannt und in höchste Alarmstufe versetzt.
Fred Collyer hatte jedes Wort mitgehört, und er wußte, ohne hinsehen zu müssen, daß eine der Stimmen Marius Tollman gehörte. An diesem asthmatischen Bostoner Akzent kam niemand vorbei, der sich eine Weile im Rennsport bewegte. Ihm war klar, daß Marius eine Gaunerei eingefädelt hatte, und ihm war auch klar, daß diese schöne kleine Gaunerei sich sehr erfreulich in seiner Spalte ausnehmen würde. Benebelt dachte er darüber nach, daß er herausfinden mußte, mit wem Marius geredet hatte, und daß er sich, da er die Stimme hinter sich gehört hatte, besser umdrehen und der Sache auf den Grund gehen sollte.
Die Zeit verlief für ihn jedoch nicht kontinuierlich, sondern in Sprüngen, und als er sich von der Wand abstieß und auf die Anstrengung einließ, die richtige Richtung zu finden, waren beide Männer bereits fort.
«Mistkerle«, sagte er laut in die leere Nacht hinein, und ein anderer später Gast, der gerade das Hotel verließ, nahm ihn mitleidig am Ellbogen und führte ihn zu einem Taxi. Er schaffte es gerade noch bis in sein eigenes Zimmer, bevor er ohnmächtig wurde.
Seit dem Abflug von La Guardia an diesem Morgen hatte er sechs Bier getrunken, vier Brandys, einen doppelten Scotch (aus Versehen) und fast drei Liter Bourbon.
Er wachte am nächsten Morgen um elf Uhr auf und konnte es nicht glauben. Er starrte die Uhr auf dem Nachttisch an.
Elf.
Er hatte die Inspektion der Ställe und das ganze morgendliche Tamtam auf der Bahn verpaßt. Ein Schauder überlief ihn, als er sich dessen bewußt wurde, und ließ ihn frösteln, aber es sollte noch schlimmer kommen. Als er versuchte, sich aufzusetzen, drehte sich das Zimmer um ihn, und in seinem Kopf hämmerte es gewaltig. Als er die Decke zurückschlug, stellte er fest, daß er voll bekleidet und mit Schuhen geschlafen hatte. Er versuchte, sich an seine Heimkehr am vergangenen Abend zu erinnern, doch vergebens.
Er trottete ins Badezimmer. Sein Gesicht blickte ihm wie ein Alptraum aus dem Spiegel entgegen, zerknittert und rotäugig, über Nacht um zehn Jahre gealtert. Er war schon x-mal verkatert aufgewacht, aber dies hier fühlte sich ganz anders an als der gewohnte Morgen danach. Ein Gefühl nicht wiedergutzumachender Katastrophe lauerte irgendwo hinter dem akuten körperlichen Elend in seinem Kopf und seinem Magen, aber erst, als er seinen Mantel, sein Hemd und seine Hose ausgezogen, sich von seinen Schuhen befreit und schwach wieder auf das zerwühlte Bett gelegt hatte, erst da wurde er sich der Natur dieser Katastrophe bewußt.
Schlagartig ging ihm auf, daß er sich nicht nur an den Rückweg zu seinem Motel nicht erinnerte, sondern praktisch den gesamten vergangenen Abend vergessen hatte. Bruchstücke von Gesprächen aus den ersten Stunden blitzten in seinem Hirn auf, und er erinnerte sich, daß er am Tisch zwischen einem ungehaltenen alten Schreiber von der Baltimore Sun und einer ernsthaften Züchterin aus Lexington gesessen hatte, beides Leute, die er nicht mochte; aber ungefähr in der Mitte des Brathuhns setzte eine flächendeckende Gedächtnislücke ein.
Er hatte schon von alkoholbedingten Blackouts gehört, aber vermutet, daß so etwas nur Alkoholikern passierte; und das traf auf ihn, Fred Collyer, nicht zu. Natürlich trank er ein wenig, das räumte er ein. Na gut, eine Menge. Aber wenn er wollte, konnte er jederzeit aufhören. Natürlich konnte er.
Er lag auf dem Bett und schwitzte und sah dem grausamen Gedanken ins Auge, daß ein Blackout zum nächsten führen konnte, bis die Blackouts weißen Mäusen wichen. Der Sportchef seiner Zeitung hatte ihm eingeschärft, daß er diesmal einen Reißer von ihm erwartete, und zum ersten Mal verspürte er bei dem unbehaglichen Gedanken an die zwei Mal, da er seinen Artikel nicht geliefert hatte, eine Spur von Angst um seinen Job. Binnen fünf Minuten hatte er sich dahingehend beruhigt, daß sie Fred Collyer niemals feuern würden, aber trotzdem würde er um der Zeitung willen den Drink aufschieben, bis er seine Zeilen über das Derby geschrieben hatte. Dieser Entschluß bescherte ihm ein strahlendes Gefühl selbstloser Tugendhaftigkeit, das ihm zumindest über die Zitteranfälle und den pulsierenden Kopfschmerz dieses extrem elenden Tages hinweghalf.
Draußen auf den Churchill Downs waren drei andere Männer nicht minder besorgt. Piper Boles trat sein Pferd vorwärts in die Startboxen und machte sich Sorgen über das, was George Highbury, der Trainer der Somerset Farm, gesagt hatte, als er mit zwei Pfund Übergewicht aus der Waage kam. George Highbury hielt sich allen Jockeys für überlegen und nahm kein Blatt vor den Mund.
«Erzählen Sie mir keinen Scheiß«, sagte er auf Boles’ Entschuldigungen.»Sie waren gestern abend beim Turfw-riter’s Dinner, also was erwarten Sie?«
Piper Boles erinnerte sich deprimiert noch einmal an den hungrigen Abend mit dem einen Martini und sagte, er sei am Morgen schon im Schwitzkasten gewesen.
Highbury runzelte die Stirn.»Wenn Sie Crinkle Cut im Derby reiten wollen, bleiben Sie heute abend und morgen mit ihrem dicken Arsch vom Tisch weg.«
Piper Boles mußte Crinkle Cut im Derby unbedingt reiten. Er nickte Highbury mit gesenktem Blick demütig zu und schwang sich unglücklich in den Sattel.
Statt ihn anzustacheln, raubte ihm die Angst, Crinkle Cut vielleicht nicht reiten zu dürfen, seine Konzentration, so daß er zu langsam aus der Startbox kam, das erste Viertel zu schnell anging, um an die dritte Stelle zu kommen, in der Kurve zu weit abkam und auf der Geraden wieder alles verlor. Er ging als Sechster ins Ziel. Er war ein absolut erfahrener Jockey von überdurchschnittlichen Fähigkeiten. Es war nicht sein Tag.
Auf der Tribüne ließ Marius Tollman kopfschüttelnd sein Fernglas sinken und schnalzte mit der Zunge. Falls Piper Boles kein besseres Rennen hinlegen konnte, wenn er auf Gewinn ritt, was mußte es dann erst für eine Pleite werden, wenn er auf Crinkle Cut verlieren sollte?
Marius dachte an die Zehntausend, die er in die kleine Gaunerei am Samstag investierte. Er hatte noch nicht entschieden, ob er gewissen Leuten im organisierten Verbrechen einen Tip geben sollte, in welchem Falle sie den Einsatz decken würden, ohne daß er selbst noch irgendein Risiko trug, oder ob er auf den größeren Profit setzen sollte, den ihm ein Alleingang einbringen würde. Er ließ seinen asthmatischen Körper auf seinen Platz sinken, besorgt darüber, wie leicht aus einem abgemachten Rennen wieder ein offenes werden konnte.
Blisters Schultz sorgte sich um den Zustand seines Gewerbes, das unter einer schweren Rezession litt.
Blisters Schultz verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit Taschendiebstahl, und er hatte die Nase voll von Kreditkarten. In der guten alten Zeit, als er auf dem Schoß seines Großvaters seine Fertigkeiten erlernt hatte, trugen die Männer ihre Portemonnaies in den Gesäßtaschen, so daß die deutlichen Ausbuchtungen für jedermann sichtbar waren. Heutzutage machten diese elenden Hau-Ruck-Diebe den ganzen Markt kaputt: Kaum jemand trug noch mehr als eine Handvoll Dollar mit sich rum, und die, die es doch taten, hatten die Neigung, ihren Mammon in zwei Hälften zu teilen und die größere Portion hinter Reißverschlüssen zu verstecken.
Dreiundfünfzig Jahre hatte Blisters überlebt: fünfundvierzig davon mit Hilfe des Diebstahls. Mehrere kurze Sitzungen hinter Gittern hatte er als Pech verbucht, aber das war noch lange kein Grund, nicht die erstbeste Brieftasche zu stehlen, wenn er wieder draußen war. Er hatte einmal versucht, ehrlich zu werden, aber es hatte ihm nicht gefallen: Er konnte den regelmäßigen Tagesablauf und das schreckliche Gefühl des Arbeitens nicht ertragen. Nach sechs Wochen hatte er seinem gutbezahlten Job den Rük-ken gekehrt und sich dankbar wieder der Unsicherheit zugewandt. Wenn er zehn Dollar stehlen konnte, war er glücklicher, als wenn er fünfzig verdiente.
Um bei Rennveranstaltungen den besten Fang zu machen, mußte man entweder die großen Scheine erspähen, bevor sie verspielt wurden, oder dem großen Gewinner vom Auszahlschalter aus folgen. In beiden Fällen galt es, mit offenen Augen am Totalisator rumzuhängen. Das Problem war, daß zu viele Rennplatzpolizisten diesen modus operandi durchblickt hatten und nun ebenfalls dort herumstanden und nach Leuten Ausschau hielten, die einfach nur rumstanden und Ausschau hielten.
Blisters hatte eine schlechte Woche hinter sich. Bei der vielversprechendsten dicken Brieftasche hatte sich nach einer halben Stunde vorsichtigen Pirschens erwiesen, daß sie wenig Geld, aber viel Pornographie enthielt. Blisters, dessen Geschlechtstrieb nicht übermäßig ausgeprägt war, hatte beides gleichermaßen angewidert.
Seine ersten beiden Arbeitstage hatten ihm lediglich dreiundzwanzig Dollar eingebracht, und fünf davon hatte er auf einer Treppe gefunden. Sein erbärmliches Hintergassenzimmer in Louisville kostete ihn vierzig Dollar pro Nacht, und wenn er Fahrkosten und Mahlzeiten in Rechnung stellte, mußte er seiner Schätzung nach achthundert machen, damit die Reise sich überhaupt lohnte.
Doch er war ein Optimist, und seine Laune hob sich bei dem Gedanken an das Derby. Wenn erst die richtigen Massen strömten, würden seine Geschäfte sicher wieder besser laufen.
Fred Collyers private Prohibition hielt sich bis Freitag. Er fühlte sich besser, als er erwachte, fuhr um halb acht mit dem Taxi raus in die Churchill Downs und schrieb unterwegs seine Unkosten auf. Sie schlossen viele mystische Gegenstände für den vergangenen Tag ein; dem lag die Vermutung zugrunde, daß es für die Redaktion besser war, nicht zu erfahren, daß er Mittwoch nacht sternhagelvoll gewesen war. Er legte auf die angeschwollene Gesamtsumme noch einen Batzen drauf; Bourbon war schließlich teuer, und spätestens Sonntag konnte er wieder tun, was er wollte. Der ursprüngliche Schock über den Blackout hatte sich gelegt, denn während seines im Bett verbrachten Tags waren ihm hie und da Einzelheiten eingefallen, die mit Sicherheit aus der Zeit nach dem Brathuhn stammten. Der Weg vom Dinner ins Bett stellte immer noch eine Lücke dar, aber die Lücke machte ihm keine Angst mehr. Manchmal hatte er das Gefühl, als gäbe es da etwas Wichtiges, an das er sich erinnern sollte, aber er redete sich ein, daß es nicht wirklich wichtig gewesen sein konnte, sonst hätte er es nicht vergessen.
Draußen bei den Ställen hatten sich die Presseleute bereits in Gruppen um die Trainer der höchstgehandelten Derbystarter geschart. Fred Collyer schlenderte auf das Grüppchen um Harbourne Cressie zu, und seine Kollegen machten ihm Platz, ohne auf seine Abwesenheit am vergangenen Tag zu sprechen zu kommen. Das beruhigte ihn: Was auch immer er Mittwoch nacht getan hatte, es konnte nichts Skandalöses gewesen sein.
Die Notizbücher waren gezückt. Harbourne Cressie, ein alter Hase im Geschäft und ein Freund jeglicher Publicity, machte nach jedem Satz eine Pause, um ihnen Zeit zu geben, alles mitzuschreiben.
«Pincer Movement hat gestern abend gut gefressen und ist heute morgen ruhig und gelassen. Wie es aussieht, soll-
ten wir Salad Bowl schlagen, es sei denn, das Geläuf wäre sehr weich am Samstag.«
Allenthalben lächelnde Gesichter. Der Himmel war blau, die Wettervorhersage gut.
Fred Collyer hörte unaufmerksam zu. Er hatte das alles schon mal gehört. Sie alle hatten das alles schon mal gehört. Und wen zum Teufel interessierte das schon?
In einer Konkurrenzgruppe zwei Ställe weiter entfernt bemerkte der Trainer von Salad Bowl gerade, daß sein Hengst nach den Ergebnissen von Hialeah durchaus in der Lage sei, Pincer Movement zu schlagen, und daß er mit jedem Geläuf fertig würde, ob weich oder nicht.
George Highbury zog weniger Presseleute an, da er über Crinkle Cut nicht viel zu sagen hatte. Der Dreijährige war bei verschiedenen Rennveranstaltungen sowohl von Pincer Movement als auch von Salad Bowl geschlagen worden, und niemand erwartete, daß er das Blatt wenden konnte.
Am Freitagnachmittag verbrachte Fred Collyer seine Zeit oben im Pressezimmer und lehnte mannhaft ein paar angebotene Biere ab. (Bewirtung verschiedener Besitzer auf der Bahn, zweiundfünfzig Dollar.)
Piper Boles ritt im sechsten Rennen ein hartes Finish, verlor um einen kurzen Kopf und wäre nachher beinahe vor Hunger ohnmächtig geworden. George Highbury, der davon nichts wußte, bemerkte lediglich mürrisch, daß Boles das Gewicht gemacht hatte, und bestätigte, daß er am nächsten Tag Crinkle Cut reiten würde.
Verschiedene Freunde von Piper Boles flüsterten ihm die nervöse Frage ins Ohr, ob der Plan für morgen immer noch aktuell sei. Piper Boles nickte.»Klar«, sagte er schwach.»In allen Punkten.«
Marius Tollman war erleichtert, Boles besser reiten zu sehen, beschloß aber dennoch, seine Wette abzuwerfen und statt dessen das Syndikat mit einzubeziehen.
Blisters Schultz stahl zwei Brieftaschen mit jeweils vierzehn beziehungsweise zweiundzwanzig Dollar. Zehn davon verlor er bei der Wette auf einen sicheren Tip im letzten Rennen.
Pincer Movement, Salad Bowl und Crinkle Cut, die von Uniformierten mit Pistolen am Gürtel bewacht wurden, blickten über die Stalltüren und sahen mit leichten Zuk-kungen in ihren angespannten Muskeln zu, wie andere Pferde auf die Bahn gingen. Alle drei wären ebenfalls gern gegangen. Alle drei wußten genau, wozu die Trompete drüben auf der Bahn geblasen wurde.
Samstag morgen, schön und klar.
Die Menschen versammelten sich zu Tausenden auf den Churchill Downs. Neugierig, erwartungsvoll, schwatzhaft, angetan mit leuchtenden Farben, kauften sie Julep in Souvenirfläschchen, ergossen sich durch die Tore und über das Innenfeld, lasen die letzten Sportartikel über Pincer Movement contra Salad Bowl und träumten von erfolgreichen Wetten auf Außenseiter, die mit fünfzig zu eins gehandelt wurden.
Blisters Schultz hatte gerade genug zusammengekratzt, um seine Motelrechnung zu bezahlen, aber seine Selbstachtung hing von mehr Glück beim Klauen ab. Sein kleines, zerfurchtes Gesicht mit den vielbeschäftigten Augen zeigte einen Ausdruck, der der Verzweiflung nahe kam, und die langen Raubvogelfinger ballten sich in seinen Taschen krampfhaft zu Fäusten.
Piper Boles, der auf Crinkle Cut ein Gewicht von hundertsechsundzwanzig bringen mußte, gestattete sich ein Ei zum Frühstück und entschied, was er mit dem Bündel unbenutzter Scheine, die man ihm am vorherigen Abend ausgehändigt hatte, anfangen würde; auch die Anlage der Gewinne (der legalen wie der illegalen), die er an diesem Tag noch erwartete, wollte wohlbedacht sein. Wenn er die Sache heute nachmittag sauber über die Bühne brachte, dachte er, gab es keinen offensichtlichen Grund, warum er dieselbe Idee nicht noch einmal verwenden sollte, selbst wenn er sich aus dem Reitsport zurückgezogen hatte. Seinen Geisteswandel vom Gelegenheitsgauner wider Willen zum gewohnheitsmäßigen Betrüger nahm er kaum wahr.
Marius Tollman verbrachte den Morgen damit, verschiedene Bekannte anzurufen und ihnen Gewinne anzubieten. Seine Angebote wurden akzeptiert. Marius Tollman spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel, und beförderte mit federnden Schritten seine zweihundertsechzig Pfund ein paar Häuserblocks weiter Richtung Stadtzentrum, wo ein vorsichtiger Gentleman zehntausend Dollar in nicht registrierten Scheinen abzählte. Marius Tollman gab ihm eine ordnungsgemäß unterzeichnete Quittung. Geschäft war Geschäft.
Fred Collyer wollte einen Drink. Einer, dachte er, würde nicht schaden. Er konnte ihn ein wenig aufpeppen, ihn wieder auf Vordermann bringen. Ein kleiner Drink am Morgen würde ihn gewiß nicht davon abhalten, am Abend eine flotte Story zu Papier zu bringen. Gegen einen einzigen Drink vor dem Rennen konnte der Star nichts einzuwenden haben, vor allem nicht, da er es geschafft hatte, sich am vergangenen Abend von der Bar fernzuhalten, indem er um neun zu Bett gegangen war. Seine Abstinenz hatte ihn große Willensanstrengung gekostet: Es war nur recht und billig, eine solche Leistung mit einem Drink zu belohnen, einem einzigen.
Allerdings hatte er am Mittwochabend die Flasche geleert, die er aus Louisville mitgebracht hatte. Er angelte nach seiner Brieftasche, um festzustellen, wieviel er noch drin hatte: dreiundachtzig Dollar, immer noch genug für eine Flasche für später und einen schnellen Drink an der Bar, bevor er ging.
Er lief die Treppe hinunter. In der Lobby bot ihm sein Kollege Clay Petrovitch jedoch abermals freie Mitfahrt zu den Churchill Downs in seinem Mietwagen an, daher beschloß er, seinen Drink für eine halbe Stunde aufzuschieben. Den ganzen Weg zur Rennbahn schlug er sich im Geiste immer wieder auf die Schulter.
Blisters Schultz, der im Gedränge der Leute hinter der Tribüne kreiste, sah Marius Tollman im Sonnenschein hereinkommen; der Mann lehnte sich zurück, um sein Gewicht vorne besser tragen zu können, und keuchte hörbar in der zunehmenden Hitze.
Blisters Schultz leckte sich die Lippen. Er kannte den dicken Mann vom Sehen, wußte, daß irgendwo an diesem fetten Körper genug Mammon versteckt sein mußte, um ihn durch den Sommer zu bringen. Marius Tollman würde niemals mit leeren Taschen beim Derby erscheinen.
Zwei Gedanken ließen Blisters zögern, während er wie ein Aal im Kielwasser des dicken Mannes schwamm. Erstens war Tollman ein zu alter Hase, um sich ausrauben zu lassen. Zweitens wußte man, daß er wohlorganisierte Freunde hatte, und wenn Tollman Syndikatsgelder bei sich hatte, wollte Blisters sich nicht die Finger verbrennen, indem er sie stahl; einer solchen Aktion hatte er nämlich seinen Spitznamen Blisters — Brandblasen — zu verdanken.
Bedauernd löste Blisters sich von seiner Beute und kehrte zu der Menschenmenge in der tröstlichen Dunkelheit unter der Tribüne zurück.
Um zwölf Uhr siebzehn mischte er sich in eine Traube dicht an dicht stehender Leute, die auf einen Aufzug warteten.
Um zwölf Uhr achtzehn stahl er Fred Collyers Brieftasche.
Marius Tollman trug sein Geld in raffinierten Unterarmtaschen, die er sich in der Menschenmenge aus Angst vor Taschendieben an den Leib preßte. Zur gegebenen Zeit suchte er dann so viele verschiedene Verkaufsschalter wie nur möglich auf, um den Einsatz unauffällig zu verteilen. Fast die Hälfte der Wettscheine würde er Piper Boles geben (zusammen mit dem zweiten Bündel benutzter Scheine), die andere Hälfte würde er für sich behalten.
Ein hübsches, sauberes, kleines Ding, dachte er selbstzufrieden. Und kein Grund, warum er etwas Derartiges nicht irgendwann wieder einfädeln sollte.
Er gönnte sich einen Julep und schenkte einem Mädchen, das mehr Busen als Scheu zeigte, ein freundliches Lächeln.
Die Sonne heizte den Tag auf. Die Vorrennen folgten eins auf das andere mit Wogen des Beifalls, obwohl jedes hart gerittene Finish lediglich eine Episode am Rande war, die dem großen Ereignis voranging, dem Derby, dem Höhepunkt, dem neunten Rennen, das man» The Roses «nannte wegen der Decke aus roten Blüten, die dem Siegerpferd im Triumph über den Widerrist gelegt werden würde.
Im Jockeyraum zog Piper Boles das Renndreß für Crinkle Cut an und begann zu schwitzen. Je näher das Rennen kam, um so mehr wünschte er, es handle sich um einen gewöhnlichen Derbytag. Er beruhigte seine Nerven mit der Lektüre der Financial Times.
Fred Collyer bemerkte den Verlust seiner Brieftasche oben im Pressezimmer, als er ein Bier bezahlen wollte. Er fluchte, durchsuchte all seine Taschen, kehrte im Pressezimmer das Unterste zuoberst, ließ sich von Clay Petrovitch die Schlüssel für den Mietwagen geben und ging den ganzen Weg zurück zum Parkplatz ab. Nach einer fruchtlosen Suche marschierte er wütend zur Tribüne zurück und erwürgte im Geiste gnadenlos den lausigen, stinkenden Hurensohn, der ihm sein Geld gestohlen hatte. Er vermutete, daß es sich um einen erfahrenen Gauner handelte, wahrscheinlich sogar um einen alten Mann. Die jungen Schurken verließen sich mehr auf Muskeln denn auf Köpfchen.
Seine praktischen Probleme waren nicht allzu groß. Er brauchte wenig Bares. Clay Petrovitch würde ihn wieder mit in die Stadt nehmen, die Motelrechnung ging direkt an den Manhattan Star, und sein Flugzeugticket lag sicher verwahrt auf der Kommode in seinem Zimmer. Um das Nötigste bezahlen zu können, konnte er sich vielleicht zwanzig Mäuse von Clay oder anderen Leuten im Pressezimmer leihen.
Als er im Aufzug nach oben fuhr, dachte er, daß der Verlust seines Geldes wie ein himmlisches Zeichen war; kein Geld, kein Drink.
Blisters Schultz sorgte dafür, daß Fred Collyer den ganzen Nachmittag nüchtern blieb.
Pincer Movement, Salad Bowl und Crinkle Cut wurden aus ihren Ställen gebracht und durch die Unterführung unter den Autos und den Menschenmassen auf die Bahn vor der Tribüne geschleust. Sie gingen locker und unverkrampft, als wäre das alles nichts Besonderes; sie waren an das Rampenlicht gewöhnt, wußten aber aus Erfahrung, daß dies nur ein Vorgeschmack war. Der erste Anblick der Stars des Tages trieb die Menge wie einen Schwarm vielfarbiger Fische zum Totalisator.
Piper Boles ging mit den anderen Jockeys zu dem mit Maschendraht eingezäunten Führring, wo Pferde, Trainer und Besitzer aller Ställe in Grüppchen zusammenstanden. Er litt unter den ersten Auswirkungen eines Gefühls des Losgelöstseins und der Unwirklichkeit: Er konnte nicht glauben, daß er, ein im Grunde ehrlicher Jockey, drauf und dran war, das Kentucky Derby zu versauen.
George Highbury wiederholte ungefähr zum vierzigsten Mal die Taktik, auf die sie sich geeinigt hatten. Piper Boles nickte ernsthaft, als hätte er die Absicht, die Anweisungen zu befolgen. In Wahrheit hatte er kaum ein Wort davon mitbekommen; und er war ebenfalls taub für die lautstarken Bands und den Gesang, als die Derbystarter auf die Bahn geführt wurden. My Old Kentucky Home brachte die Gefühle der Menge in Wallung und ungezählte Taschentücher zum Vorschein, mit denen tränenfeuchte Augen abgetupft wurden, aber bei Piper Boles bewirkten die anrührenden Töne nicht mal einen Wimpernschlag.
Während der Parade, dem Kanter zum Start, ja sogar auf dem Weg in die Startboxen hielt das Gefühl der Losgelöstheit an. Erst dann, als sich die Anspannung auf den Gesichtern der anderen Reiter deutlich zeigte, kehrte Piper Boles ruckartig in die Wirklichkeit zurück. Seine Herzfrequenz verdoppelte sich fast, und die Energie flutete in sein Gehirn zurück.
Jetzt, dachte er. Genau jetzt, in der nächsten halben Minute, werde ich mir zehntausend Dollar extra verdienen und danach den Rest.
Er zog seine Brille herunter und nahm Zügel und Peitsche in die Hand. Er hatte Pincer Movement zur Rechten und Salad Bowl zur Linken, und als die Boxen aufsprangen, schoß er mit ihnen hinaus, verlagerte sein Gewicht augenblicklich nach vorne über den Widerrist und stand in den Steigbügeln, den Kopf beinahe so weit vorn wie Crinkle Cut selbst.
Den ganzen Weg vorbei an der Tribüne konzentrierte er sich darauf, in der Mitte des Hauptfeldes zu bleiben, so unauffällig wie möglich, und als es dann in die Kurve ging, war er immer noch mittendrin, ohne viel zu tun. Aber auf der Gegengerade, als er ungefähr an zehnter Stelle in einem Feld von sechsundzwanzig Tieren lag, verdiente er sich sein kleines Vermögen.
Niemand außer Piper Boles wußte genau, was wirklich geschehen war; nur er wußte, daß er seinen linken Zügel mit einer scharfen Wendung des Handgelenks verkürzt und Crinkle Cut den rechten Fuß in die Rippen gepreßt hatte. Das schnell galoppierende Pferd gehorchte diesen Anweisungen, schwenkte abrupt nach links und rammte das Pferd neben ihm.
Das Pferd neben ihm war immer noch Salad Bowl. Unter der Wucht des Aufpralls rammte Salad Bowl das Pferd zu seiner eigenen Linken, schwankte zurück, strauchelte, verlor komplett den Halt und stürzte. Die beiden Pferde direkt dahinter stürzten über ihn.
Piper Boles blickte nicht zurück. Das Ausschwenken und der Zusammenstoß hatten ihn um mehrere Plätze zurückgeworfen, die Crinkle Cut selbst im günstigsten Falle niemals würde aufholen können. Den Rest des Rennens ritt er streng seinen Anweisungen gemäß und ging an zwölfter Stelle durchs Ziel.
Von den einhundertvierzigtausend Zuschauern in Churchill Downs hatte nur eine Handvoll einen klaren Blick auf die Katastrophe auf der anderen Seite der Bahn. Die im Innenfeld gelegenen Bauten hatten den Zusammenstoß vor fast allen verborgen, die nicht erhöht standen, und vor den meisten auf der Tribüne. Nur die Presse von ihrem
Ausguck hoch oben aus hatte etwas gesehen. Augenblicklich wurden einige Reporter ausgesandt, um die Tatsachen zu ermitteln, und im Pressezimmer summte es wie in einem aufgescheuchten Bienenstock.
Fred Collyer beobachtete vom Balkon aus, wie die Fotografen herbeiliefen, um Pincer Movements Ruhm festzuhalten, und überlegte mürrisch, daß nicht einer von ihnen Nahaufnahmen von dem zweiten Favoriten machte, von Salad Bowl, der da unten im Schmutz lag. Er sah zu, wie die Decke aus dunklen Rosen dem Gewinner übergelegt wurde, und beobachtete die triumphale Darbietung der Trophäen, dann ging er hinein, um sich die Wiederholung des Rennens im Fernsehen anzusehen. Der Zwischenfall mit Salad Bowl wurde von vorn, von hinten und von der Seite gezeigt und dann in eine Reihe von Standbildern zerlegt.
«Haben Sie das gesehen«, sagte Clay Petrovitch und zeigte über Fred Collyers Schulter auf den Bildschirm.
«Crinkle Cut hat den Zusammenstoß verursacht. Man kann sehen, wie er Salad Bowl rammt… da!.. Crinkle Cut, das ist der Joker.«
Fred Collyer schlenderte zu seinem Platz, setzte sich und starrte seine Schreibmaschine an. Crinkle Cut. Er wußte etwas über Crinkle Cut. Er dachte fünf Minuten lang angestrengt nach, konnte sich aber nicht erinnern, was er wußte.
Einzelheiten und Zitate drangen ins Pressezimmer hinauf. Alle gestürzten Jockeys erschüttert, aber unverletzt. Alle Pferde dito; die Stewards, in heller Aufregung, stellten augenblickliche Nachforschungen an und ließen den Film der Überwachungskamera wieder und wieder ablaufen. Sperre für Piper Boles unwahrscheinlich, da man für gewöhnlich bei rauhen Ritten im Derby ein Auge zudrück-te. Piper Boles hatte dazu erklärt:»Crinkle Cut ist einfach plötzlich zur Seite ausgebrochen. Ich habe nicht damit gerechnet und konnte nicht verhindern, daß er Salad Bowl rammte. «Eine Vielzahl von Leuten glaubte ihm.
Fred Collyer überlegte, daß er ruhig erst mal ein paar Fakten zu Papier bringen konnte. Es würde den ersten Drink in greifbarere Nähe rücken — o Mann, wie er diesen Drink brauchte. Während er mit einem Ohr weiter auf neuere Informationen lauschte, tippte er einen mühsamen Ich-war-dabei-Bericht über einen Zwischenfall, den er kaum gesehen hatte. Als er ihn noch einmal durchlas, sah er, daß die ersten Worte, die er geschrieben hatte, wie folgt lauteten:»Das Ablenkungsmanöver auf Crinkle Cut stahl dem Sieger nach dem Rennen die wohlverdiente…«
Ablenkungsmanöver auf Crinkle Cut? Das hatte er gar nicht schreiben wollen… oder jedenfalls nicht direkt. Er runzelte die Stirn. Und da waren noch andere Worte in seinen Gedanken, die genauso töricht klangen. Er legte die Hände wieder auf die Tasten und tippte drauflos.
«Das wird Sie was kosten… zehntausend in gebrauchten Scheinen… die Hälfte im voraus.«
Er starrte die Worte, die er geschrieben hatte, an. Die Phantasie ging offenbar mit ihm durch. Oder er hatte geträumt. Das eine oder das andere.
Ein Traum. Das war es. Jetzt erinnerte er sich wieder. Er hatte einen Traum von zwei Männern gehabt, die ein manipuliertes Rennen planten, und einer von ihnen war Marius Tollman gewesen, der schnaufend von einem Ablenkungsmanöver auf Crinkle Cut sprach.
Fred Collyer entspannte sich und lächelte bei dem Gedanken, und im nächsten Augenblick wußte er ganz plötzlich, daß es doch kein Traum gewesen war. Er hatte Marius Tollman und Piper Boles gehört, wie sie ein Ablenkungsmanöver auf Crinkle Cut planten, und er hatte es vergessen, weil er betrunken gewesen war. Na schön, beruhigte er sich mit einem gewissen Gefühl des Unbehagens, es war ja nichts passiert, es war ihm ja wieder eingefallen, nicht wahr?
Nicht ganz. Wenn Crinkle Cut eine Ablenkung war, wovon sollte er dann ablenken? Vielleicht würde er, wenn er ein wenig wartete, herausfinden, daß er auch das wußte.
Blisters Schultz gab Fred Collyers Geld für zwei Hot dogs, einen Julep und fünf erfolglose Wetten aus. Auf der Habenseite hatte er drei weitere Brieftaschen und eine Frauenhandtasche zu verbuchen: Nettogewinn einhundertvierundneunzig Dollar. Trübsinnig beschloß er, es für den Tag gut sein zu lassen und nächstes Jahr nicht wieder herzukommen.
Marius Tollman schleppte sich von einem Totoschalter zum anderen, und die Stewards baten die Jockeys, die in die Massenkarambolage um Salad Bowl verwickelt gewesen waren, zum Gespräch.
Die an den Rändern ausfransende Menschenmenge machte sich erhitzt und müde in dem vergilbenden Sonnenschein auf den Heimweg. Die Bands marschierten davon. In den Souvenirbuden packte man die Ware zusammen. Pincer Movement ließ sich zum tausendsten Mal fotografieren, und die Starter für das zehnte, letzte und uninteressanteste Rennen des Tages wurden von den Ställen hergeführt.
Piper Boles wartete darauf, daß er zu den Stewards hineingerufen wurde, während Marius Tollman, der über die höchstrangigsten Boten verfügte, ein Päckchen auf den Weg schickte, das ordnungsgemäß ausgeliefert wurde. Piper Boles nickte, ließ es in seine Tasche gleiten und lieferte den Stewards eine hollywoodreife Vorstellung.
Fred Collyer stützte den Kopf in die Hände und versuchte sich zu erinnern. Ein Drink, dachte er, würde vielleicht helfen. Ablenkung. Crinkle Cut. Amberezzio.
Er setzte sich ruckartig auf. Amberezzio. Und was zum Teufel sollte das nun wieder heißen? Es muß Amberezzio sein.
«Clay«, sagte er und beugte sich über die Lehne seines Stuhls nach hinten.»Kennst du ein Pferd namens Ambe-rezzio?«
Clay Petrovitch schüttelte seinen kahlen Kopf.»Nie gehört.«
Fred Collyer fragte in dem allgemeinen Getöse noch mehrere andere:»Kennt ihr ein Pferd namens Amberezzio?«
Und schließlich bekam er eine Antwort.»Amberezzio ist kein Pferd, sondern ein Lehrling.«
«Es muß Amberezzio sein. Er ist sauber.«
Fred Collyer warf beim Aufstehen seinen Stuhl um. Man hatte bereits das letzte Rennen ausgerufen.
«Leih mir hundert Dollar, sei so lieb«, sagte er zu Clay.
Clay, der von der verlorenen Brieftasche wußte, fand sich mit einem liebenswürdigen Lächeln bereit und machte sich langsam daran, seine Geldbörse hervorzuholen.
«Mach um Himmels willen schnell«, sagte Fred Collyer drängend.
«Okay, okay. «Er reichte ihm die hundert Dollar und wandte sich wieder seiner Schreibmaschine zu.
Fred Collyer schnappte sich sein Rennprogramm und drängte sich durch das Post-Derby-Geschnatter zum Totalisator ein Stück weiter den Presseflur hinunter. Er blätterte die Seiten um… zehntes Rennen, Homeward Bound, Verkaufsrennen, acht Starter. Sein Blick überflog die Liste und fand schließlich, was er suchte.
Philip Amberezzio, der ein Pferd ritt, von dem Fred Col-lyer noch nie etwas gehört hatte.
«Zwanzig auf Sieg für Nummer sechs«, sagte er schnell und nahm seinen Schein in Empfang, kurz bevor der Schalter dichtmachte. Mit einem leichten Zittern drängte er sich abermals durch die Menge und auf den Balkon hinaus. Er war der einzige Pressemann, der das Rennen beobachtete.
Diese Jockeys machten das wirklich erstklassig, dachte er bewundernd. Sie umringten Amberezzio und führten ihn über die Bahn und wählten schließlich den perfekten Augenblick, um ihm plötzlich eine klare Öffnung zu geben. Das war wahre Kunst. Man wäre nie drauf gekommen, wenn man es nicht gewußt hätte. Amberezzio gewann um eine halbe Länge, während alle anderen mit ihren Peitschen fuchtelten, als schlügen sie den letzten Zentimeter Boden aus ihren Reittieren heraus.
Fred Collyer lachte. Dieser arme kleine Niemand dachte wahrscheinlich, Wunders was für ein Kerl er war, einen völligen Außenseiter als Sieger durchs Ziel zu bringen, während ihm all die großen Jungs dicht auf den Fersen folgten.
Fred Collyer ging wieder ins Pressezimmer, wo sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf Harbourne Cressie richtete, der den Besitzer und den Jockey von Pincer Movement mitgebracht hatte. Fred Collyer machte sich pflichtschuldigst ein paar Notizen, um das Thema abzudecken, aber in Gedanken war er bei der anderen Story, der großen, dem Geschenk des Himmels.
Man mußte die Sache vorsichtig angehen, dachte er. Er würde sein Bestes geben und gleichzeitig vorsichtig sein müssen, keine direkten Anschuldigungen zu erheben, während er jedoch unmißverständlich klarmachte, daß die Sache eine Untersuchung erforderte. Ein Teil seiner alten Instinkte erwachte wieder zum Leben. Er war sogar aufgeregt. Er würde seinen Artikel in der Stille und Abgeschiedenheit seines Motelzimmers schreiben. Hier auf der Rennbahn ging das nicht, wo jeder Rennjournalist ihm über die Schulter blickte.
Unten im Umkleideraum der Jockeys verteilte Piper Boles gelassen die Wettscheine, die Marius Tollman ihm hatte überbringen lassen: Sie hatten jeweils einen Wert von dreitausend Dollar für jeden der sieben» erfolglosen «Reiter im zehnten Rennen; seiner war zehntausend Dollar wert. Jeder Jockey bat anschließend eine Ehefrau oder Freundin, die Gewinne abzuholen, und eine jede dieser Frauen hätte für Blisters Schultz, wäre der nicht bereits nach Hause gefahren, eine leichte Beute abgegeben.
Marius Tollmans Geld hatte die Quoten für Amberezzio verkürzt, aber er kassierte trotzdem noch mit zwölf zu eins ab. Marius Tollman schnaufte und keuchte von einem Schalter zum nächsten und sammelte seine Gewinne Stück um Stück ein. Er hatte in seinen Unterarmtaschen nicht genug Platz für das ganze Bargeld und verstaute einen Teil davon schließlich oberflächlich an leichter zugänglichen Stellen. Wirklich Pech für Blisters Schultz.
Fred Collyer holte sich eine gute Handvoll Geld am Auszahlschalter ab und zahlte Clay Petrovitch seine hundert Dollar zurück.
«Wenn du einen heißen Tip hattest, hättest du ihn ruhig weitergeben können«, brummte Petrovitch, der an all die Spesen dachte, die der alte Fred zweifellos für seine kostenlosen Fahrten zur Rennbahn in Rechnung stellen würde.
«Es war kein Tip, nur so eine Ahnung. «Er konnte Clay nicht sagen, worin die Ahnung bestanden hatte, da er für eine rivalisierende Zeitung schrieb.»Ich spendiere dir auf dem Heimweg einen Drink.«
«Das will ich dir aber auch geraten haben.«
Augenblicklich bereute Fred Collyer sein Angebot, das er aus einem Instinkt heraus gemacht hatte. Er erinnerte sich, daß er erst nach dem Schreiben wieder etwas hatte trinken wollen. Nun ja, vielleicht einen… und er brauchte wirklich dringend einen Drink. Seit dem letzten am Mittwoch abend schien ein Jahrhundert vergangen zu sein.
Sie brachen gemeinsam auf, zusammen mit den letzten Überbleibseln der Menschenmenge. Die Rennbahn sah am Ende des Tages zerschunden und mitgenommen aus, und die scharlachroten Blätter der Tulpen lagen auf dem Boden verstreut, so daß die Narben verloren in die Luft ragten, und die leuchtenden Grasteppiche waren von staubigem Grau und bedeckt mit Abfall. Fred Collyer dachte nur an den Zaster in seiner Tasche und die Geschichte in seinem Kopf, und beide erfüllten ihn mit einem angenehm warmen Leuchten.
Ein Drink zur Feier des Tages, dachte er. Einen Dankeschöndrink für Clay und vielleicht noch einen einzigen darüber hinaus zur Feier des Tages. Es kam schließlich nicht oft vor, daß die Dinge sich auf so wunderbare Weise von selbst regelten.
Sie machten auf einen Drink halt. Der erste Doppelte schoß wie Feuer in einem verdorrten Wald durch Fred Collyers Adern. Beim zweiten fühlte er sich großartig.
«Zeit zu gehen«, sagte er zu Clay.»Ich muß meinen Artikel schreiben.«
«Nur noch einen«, sagte Clay.»Der geht auf meine Kappe.«
«Besser nicht. «Er kam sich sehr tugendhaft vor.
«Na, komm schon«, sagte Clay und bestellte. Mit einem Hauch von Unbehagen kippte Fred Collyer seinen dritten:
Aber konnte er nicht immer noch jeden Rennjournalisten im Geschäft an die Wand schreiben? Natürlich konnte er das.
Nach dem dritten brachen sie auf. Fred Collyer kaufte sich noch eine Literflasche für später, wenn er mit seiner Geschichte zu Ende war. In seinem Motelzimmer nahm er nur einen ganz winzigen Schluck davon, bevor er sich zum Schreiben hinsetzte.
Die Worte wollten einfach nicht kommen. Er knüllte nacheinander sechs Versuche zusammen und goß sich etwas Bourbon in ein Zahnputzglas.
Marius Tollman, Crinkle Cut, Piper Boles, Amberezzio. so einfach war das gar nicht.
Er nahm einen Drink. Er schien nicht dagegen anzukommen.
Der Sportchef würde ihm für eine solche Story eine Gehaltserhöhung geben, oder zumindest würde niemand mehr über irgendwelche Spesen meckern.
Er nahm einen Drink.
Piper Boles hatte sich zehntausend Dollar dafür verdient, daß er Salad Bowl gerammt hatte. Nur, wie zum Teufel schrieb man das auf, ohne sich eine Verleumdungsklage einzuhandeln?
Er nahm einen Drink.
Die Jockeys im zehnten Rennen hatten sich zusammengetan, um den einzig Ehrlichen unter ihnen gewinnen zu lassen. Wie zum Teufel konnte man das formulieren.
Er nahm einen Drink.
Die Stewards und die Presse hatten ihre gesamte Aufmerksamkeit auf den Zusammenstoß im Derby gerichtet und das zehnte Rennen buchstäblich ignoriert. Das zehnte Rennen war manipuliert worden. Von den Stewards hatte er keinen Dank zu erwarten, wenn er sie darauf hinwies.
Er nahm noch einen Drink. Und noch einen. Und so weiter.
Sein Termin für die telefonische Durchgabe seiner Story an das Büro lief um zehn Uhr am folgenden Morgen ab. Als diese Stunde schlug, lag er schlafend, schnarchend und voll bekleidet auf seinem Bett. Die leere Bourbonflasche lag auf dem Boden neben ihm, und seine Gewinne, die er zu zählen versucht hatte, waren über seine Brust verstreut.