Der Tod von Christopher Haig

Was wäre, wenn? — Das ist der Beginn allen Erzählens.

Was, wenn Haig in einem Augenblick sterben würde, da er nicht sterben durfte?

Es hätten sich hunderterlei miteinander verquickter Wellen kräuseln können; hier waren es drei.

Ohne zu wissen, daß es das letzte Mal war, lenkte Christopher Haig seinen summenden Elektrorasierer über die Konturen seines Kinns und beobachtete im Badezimmerspiegel gleichgültig das Ergebnis.

Christopher Haigs Bart war starkwüchsig und schwarz; übertrieben männlich, überlegte er, während zugleich sein Scheitel gnadenlos lichter wurde.

Seufzend begradigte er die Linie zwischen Bart und Kopfhaar vor beiden Ohren und pustete die abrasierten Enden der Barthaare sorgfältig in einen Plastikbeutel, den er stets zu diesem Zweck bereithielt.

Mit zweiundvierzig Jahren, nachdem das mittlere Alter und ein moderater Bauch sich zuerst angeschlichen und dann vollends von ihm Besitz ergriffen hatten, war in Christopher Haig zum ersten Mal der Wunsch erwacht, er hätte mehr gewagt. Er hätte zum Beispiel in einem Heißluftballon um die Welt fliegen wollen, oder er hätte gerne einen Sommer damit zugebracht, in der Antarktis Pinguine zu fotografieren oder mit einem Kanu den Orinoko bis zu den Angel Falls hinaufzufahren. Aber statt dessen hatte er

Tag für Tag verläßlich seine Arbeit als Berater für Tierernährung getan und seine Abenteuerlust allerhöchstens als Zielrichter bei Pferderennen ausgelebt.

An diesem Freitagmorgen erfüllte ihn tiefe Vorfreude auf das bunte Treiben des ersten Tags der Frühjahrsrennen in Winchester. Er genoß die Fahrt dorthin — sein Heim erschien ihm, seit seine Frau mit einem zigeunerhaften Fernsehtechniker durchgegangen war, immer etwas leer. Voll Freude sah er den Sonnenschein auf den frischgrünen Knospen der sich wiederbelebenden Bäume glänzen. Recht zufrieden ohne seine Frau (erleichtert, um die Wahrheit zu sagen) überlegte er, wie man es eigentlich anstellte, zum Hundeschlittenfahren nach Alaska zu kommen oder eine Fahrt quer durch die wüsten, staubig roten Ödflächen Australiens zu unternehmen: Würde ein ganz normales Reisebüro so etwas arrangieren?

Da er von Natur aus pedantisch war, begann er, imaginäre Koffer für seine Phantasiereisen zu packen, und fragte sich, ob Schneeschuhe wohl auch für feinpudrigen Wüstensand geeignet wären, und bedachte auch die Frage, welche Hörbücher er für die langen Nächte mitnehmen würde. Träume und Tagträume füllten die leeren Stellen seines verdienstvollen Arbeitslebens aus.

Er war einer von den fünfzehn Zielrichtern, die regelmäßig in Anspruch genommen wurden, um den Sieger bei den Rennen zu ermitteln. Da es fünfzehn Zielrichter, aber nicht jeden Tag fünfzehn Rennen gab (es gab selten mehr als vier, außer an den allgemeinen Feiertagen), war die Tätigkeit als Zielrichter für Chris Haig eher ein sporadisches, unvorhersagbares Vergnügen als eine Beschäftigung. Er wußte nie lange im voraus, zu welchem Rennen er geschickt wurde: Keiner der Zielrichter amtierte immer auf der gleichen Rennbahn.

Christopher Haig trauerte einer Vergangenheit nach, in der das Wort des Zielrichters Gesetz gewesen war: Wenn der Richter sagte, der und der habe das Rennen gewonnen, dann hatte er es verdammt noch eins gewonnen, selbst wenn die Hälfte der Besucher es anders gesehen hatten. Heutzutage waren durch die Zielkamera auch die knappen Ergebnisse unstrittig entscheidbar; der Zielrichter brauchte sie dann eigentlich nur noch bekanntzugeben. Gerechter, das erkannte Chris Haig an, aber nicht mehr so unterhaltsam.

Die Zielkamera der Rennbahn von Winchester war beim letzten Mal defekt gewesen; allerdings hatte sich mit diesem Problem (man hatte vornehm von einer Fehlfunktion gesprochen) ein anderer Zielrichter herumschlagen müssen, nicht Christopher Haig. Inzwischen war die Zielkamera, wie man hörte, nicht nur repariert, sondern auch umfangreichen Tests unterzogen worden. Wirklich schade, dachte Haig.

Er parkte seinen Wagen (zum letzten Mal) auf dem Parkplatz» Nur für Mitarbeiter «und ging von da aus frohgemut zur Waage; auf dem Weg bedachte er im Vorbeigehen Türsteher und hereinkommende Jockeys mit einem» Guten Morgen«.

Der Zielrichter fühlte sich an diesem Tag besonders wohl.

In ihm wie um ihn herum war Frühling, und er beschloß wie so oft — aber dieses Mal doch entschiedener —, angesichts der noch vor ihm liegenden dreißig oder mehr Lebensjahre, auf die er sich realistischerweise freuen konnte, seinen Weg recht bald zu ändern. Der Drang war deutlich, das Ziel lag noch im Nebel. Er wäre sehr erstaunt gewesen zu erfahren, daß es bereits zu spät war.

Christopher Haig wurde wie immer mit einem Lächeln von den Stewards begrüßt, vom Rennvereinsekretär, vom

Starter, vom Abwieger und von allen anderen, die mit der Organisation des Rennens zu tun hatten und irgendwann in der Waage auftauchten. Der Richter war beliebt, nicht nur, weil er seine Aufgabe fehlerfrei erfüllte, sondern auch wegen seiner ungezwungenen Großzügigkeit, seiner Gutmütigkeit und seiner Ruhe in Krisensituationen. Denjenigen, die ihn für langweilig hielten, fehlte jeder Einblick in den Schmelzofen seiner inneren Leidenschaft. Was zum Beispiel, überlegte er, wenn ich mich einer Löschtruppe für Ölquellenbrände anschließen würde?

Vor jedem Rennen saß der Richter an einem Tisch in der Nähe der Waage und prägte sich die Farben ein, die die Jockeys trugen, wenn sie abgewogen wurden. Er prägte sich außerdem die Namen der Pferde ein und überprüfte, ob die Jockeys auf ihrer Nummerndecke die auf der Rennkarte ausgewiesene Nummer trugen. Chris Haig versah diese Aufgabe nach jahrelanger Übung gut und schnell.

Die ersten drei Rennen stellten ihn vor keinerlei Probleme. Es gab keine Zieleinläufe, die knapp genug waren, um einen Entscheid durch Foto nötig zu machen, und so war es ihm möglich gewesen, jeweils den Sieger und die plazierten Pferde völlig sicher bekanntzugeben. Er genoß seine Tätigkeit.

Das vierte Rennen, das Cloister Handicap Hurdle, war das große Ereignis des Tages. Chris Haig versicherte sich sorgfältig, daß er jeden der elf Teilnehmer auf Anhieb identifizieren konnte. Es war immer entsetzlich peinlich, wenn ein Richter zögern mußte.

Nummer eins, notierte er sich: Lilyglit, Höchstgewicht.

Nummer zwei, Fable.

Nummer drei, Storm Cone.

So arbeitete er die Liste von oben nach unten ab. Die Namen der Pferde waren ihm alle von anderen Rennen her vertraut, aber die ersten drei auf der Karte für das Cloister Handicap waren auf eine Weise in seine nächste Zukunft verwoben, die er sich nicht hätte vorstellen können.

Nummer eins. Lilyglit Etwa zu derselben frühen Stunde am Freitagmorgen, als Christopher Haig sich noch vor seinem Badezimmerspiegel rasierte und seinen Träumen nachhing, saß Wendy Billington Innes auf dem niedrigen, bequemen Ankleideschemel und starrte ihr Spiegelbild in dem dreiteiligen Spiegel ihrer Ankleidekommode an. Sie sah nicht die blasse, reine Haut, das glatte, mittelbraune Haar und auch nicht die dunkleren Schatten unter ihren graublauen Augen; sie sah nur eine Katastrophe, die sie nicht verstand und mit der sie nicht zurechtkam. Vor einer Stunde noch, dachte sie, war ihr das Leben so einfach und sicher erschienen.

Ihre vier Kinder mit ihrer im Haus wohnenden Kinderfrau hatten ihre Zimmer oben, ein Stockwerk über ihr: drei Töchter und ein Sohn von einem Jahr. Das Erdgeschoß war das Reich ihres Koches, eines Hausmeisters und eines Butlers, und im Torhaus ihres Anwesens wohnte der Chauffeur, der gleichzeitig Gärtner war, mit seiner Frau, die als Hausmädchen bei ihnen arbeitete, und einer Tochter. Wendy Billington Innes leitete ihr Personal mit freundlicher Achtung, so daß sie alle ohne große Reibungen miteinander leben konnten. In ähnlich verwöhnter Sorglosigkeit aufgewachsen, war sie aufs Innigste vertraut damit, welche Anstrengung man von jedem einzelnen Bediensteten erwarten konnte und, was noch wichtiger war, welche Bitte von wem als unerhörte Beleidigung aufgefaßt werden würde.

Das Haus selbst war ein großartiges Relikt noch großartigerer Zeiten: Es bot für alle reichlich Platz, war aber unrettbar von Trockenfäule befallen. Eines nicht allzu fernen

Tages, hatte sie friedlich überlegt, würde sie mit allen zusammen ein neues Haus beziehen müssen.

Sie hatte eine schwere Börse von Aktien und Anleihen mit in die Ehe gebracht und, wie es ihre Mutter vor ihr getan hatte, die Verwaltung dieses Vermögens ihrem Mann überlassen.

Mit ihren siebenunddreißig Jahren hatte sie einen Zustand heiterer Gleichmut, wenn auch nicht überwältigenden Glücks erreicht. Sie konnte sich selbst eingestehen (aber niemandem sonst), daß Jasper, ihr Ehemann, ihr schon seit ihrer Hochzeit gelegentlich untreu gewesen war, aber da sie auf seine Freundschaft angewiesen war, hatte sie beschlossen, den wahren Grund für seine gelegentliche Abwesenheit über Nacht zu ignorieren — es waren Nächte, von denen er immer in blendender Laune zurückkehrte und sie zum Lachen brachte, sie mit Blumen oder anderen Geschenken überhäufte. Wenn er im Morgengrauen mit leeren Händen heimkehrte, was häufiger der Fall war, bedeutete das bloß, daß er die ganze Nacht über in dem von ihm bevorzugten Spielclub gespielt hatte. Er war ein fast überall gut gelittener, gutmütiger Nichtsnutz.

Um sieben Uhr fünfundvierzig am Morgen des Rennfreitags in Winchester nahm Wendy Billington Innes, die noch gemütlich im Bett lag und ihren Tag plante, das Telefon auf ihrem Nachttisch ab und hörte die Stimme des Steuer- und Finanzberaters der Familie, der dringend darum bat, Jasper sprechen zu dürfen.

Jaspers Hälfte des großen Himmelbettes war leer, aber da er oft in seinem Ankleideraum nebenan schlief, wenn er spät heimkam, ging seine Frau unbesorgt hinüber, um ihn zu wecken.

Unbenutzte Laken; kein Jasper.

«Er ist nicht hier«, teilte seine Frau mit, als sie wieder am Telefon war.»Er ist in der letzten Nacht nicht nach Hause gekommen. Sie wissen ja, wie er ist, wenn er Backgammon oder Black Jack spielt. Das geht dann die ganze Nacht durch. «Sie entschuldigte seine Abwesenheit leichthin, wie sie es immer tat.»Wenn er heimkommt, soll ich ihm dann etwas ausrichten?«

Der Finanzberater fragte matt, da er die Antwort im voraus kannte, ob Wendy — Mrs. Innes — schon die Finanznachrichten in der Zeitung gelesen habe. Nein, hatte sie nicht.

Hellhörig geworden, verlangte Wendy Billington Innes zu wissen, was eigentlich los sei, und wünschte, als sie die Antwort vernommen hatte, sie hätte nicht danach gefragt.

«Im Kern«, sagte der Finanzberater bekümmert,»geht es darum, daß über die Firma von Stemmer Peabody das Konkursverfahren eröffnet worden ist, das bedeutet… Es fällt mir schwer, es zu sagen…, aber es bedeutet, daß Jaspers Vermögen — und das einiger anderer — ernstlich gefährdet ist.«

Wendy sagte wie betäubt:»Was genau bedeutet ernstlich gefährdet

«Es bedeutet, daß der Finanzmanager, dem Jasper und andere ihre Angelegenheiten anvertraut haben, ihr ganzes Geld als Sicherheit für eine Unternehmung verpfändet und… eh… es verloren hat.«

«Das kann doch nicht sein!«protestierte Wendy.

«Ich hatte ihn gewarnt«, sagte der Finanzberater traurig,»aber Jasper traute diesem Experten und unterzeichnete Verträge, die ihm zuviel Verfügungsgewalt einräumten.«

«Aber wir haben ja immer noch mein Geld«, rief Wendy.

«Selbst wenn Jasper einiges von seinem verloren hat, können wir von meinem Geld durchaus gut leben.«

Auf eine bestürzende Pause folgte die schlimme, lähmende Nachricht.

«Mrs. Innes… Wendy… Sie haben Jasper Ihre Angelegenheiten ganz anvertraut. Auch Sie haben ihm vielleicht zu sehr freie Hand gelassen. Ihr Geld ist mit seinem dahin. Ich hoffe, daß es uns möglich sein wird, so viel zu retten, daß Sie noch recht gut davon leben können, obwohl natürlich nicht mehr so, wie Sie es jetzt können. Es sind ja noch die Treuhandvermögen der Kinder da und dergleichen. Ich muß mit ihm über seine Pläne sprechen.«

Als sie wieder ein Wort hervorbringen konnte, fragte Wendy:»Weiß Jasper davon?«

«Er hat es gestern erfahren, als die Neuigkeit in der Stadt die Runde machte. Er ist ein ehrenhafter Mann. Man sagt, daß er seitdem versuche, Geld auf zutreiben, um seine Spielschulden zurückzuzahlen. Ich weiß zum Beispiel, daß er versucht, sein Rennpferd Lilyglit zu verkaufen.«

«Lilyglit! Das wird er niemals tun! Er betet das Pferd an. Es läuft heute in Winchester.«

«Ich fürchte… daß Jasper in Zukunft nicht mehr in der Lage sein wird, Rennpferde trainieren zu lassen.«

Wendy Billington Innes brachte es nicht über sich zu fragen, was alles sonst er sich zu leisten nicht in der Lage sein würde.

Jasper Billington Innes hatte es bereits erfahren. Wie so viele andere in der Vergangenheit, die ohne eigene Schuld durch den Zusammenbruch des Versicherungssyndikats bei Lloyd’s of London furchtbar verarmt waren, war er zuerst nicht in der Lage, den Grund für seine Verluste und das Ausmaß derselben zu erfassen.

Er war nicht dumm, allerdings auch nicht besonders scharfsinnig. Er hatte ein bedeutendes Vermögen geerbt, hatte aber kein Talent fürs Geschäft.»All das «hatte er einem Burschen bei Stemmer Peabody überlassen, dem er vertraute — ein Vorgehen, das am Vorabend zu einer Krisensitzung zusammen mit anderen geführt hatte, die der Bankrott von Stemmer Peabody in den gleichen Abgrund gestürzt hatte. Frauen hatten gewütet und geweint, Männer hatten geschrien oder waren aschfahl geworden. Jasper Billington Innes war es übel geworden.

Ehrenhaft in fast allen Dingen, sah er es selbst in der Lawine dieses Unglücks als seine Pflicht an, sofort seine privaten Schulden zu begleichen. Er stellte seinem Schneider und seinem Weinhändler Schecks aus, auch seinem Klempner, nicht über Summen, die in jedem Fall die gesamten ausstehenden Beträge gedeckt hätten, aber doch mehr als genügend, um seine gute Absicht zu zeigen. Er konnte seine normalen Haushaltsausgaben noch für einen Monat bestreiten, wenn er dem gesamten Personal sofort kündigte. Übrig blieben die hohen Schulden bei seinem Buchmacher und dem Besitzer seines Spielclubs, dessen zur Zeit noch verständnisvolles Entgegenkommen sich in Luft auflösen würde, sobald die schlechten Neuigkeiten bekannt wurden.

Das einzig wirklich Wertvolle, was ihm noch blieb, dachte er in seinem Jammer, war sein ungemein schnelles Hindernisrennpferd Lilyglit. Seine anderen drei Hindernispferde waren inzwischen alt und nicht mehr viel wert. Am Donnerstag gegen Mitternacht hatte er beim glücklosen Versuch, sich durch Spiel aus der Katastrophe zu retten, ein weiteres kleines Vermögen am Spieltisch eingebüßt. Um vier Uhr am Morgen, nachdem er einen Teil seiner Verluste wieder zurückgewonnen hatte, schloß er mit seinen Spielgläubigern einen Handel über Lilyglit ab, den selbst die als das Ergebnis von unkluger Panik ansahen. Sie hatten inzwischen von seiner extremen Zwangslage gehört. Dennoch akzeptierten sie ernst seine Unterschrift und, da sie ihn mochten, wünschten sie ihm wirklich alles Gute.

Nummer zwei. Fable Während sich Christopher Haig am Freitagmorgen rasierte, befanden sich die Brüder Arkwright in ihren Stallungen hundert Kilometer weiter nördlich und widmeten sich Fable, dem Pferd, das für sie im Cloister Handicap Hurdle laufen sollte.

Im langsam zunehmenden Licht der Morgendämmerung flochten sie säuberlich die Mähne des Pferdes und bürsteten seinen Schwanz und umwickelten ihn dann sorgfältig mit Bandagen, damit er beim Rennen immer noch ordentlich und sauber wirkte. Sie strichen seine Hufe mit kosmetischem Öl ein und gaben ihm eine Schüssel mit Hafer zu fressen, um ihm Ausdauer und Wärme für die Fahrt nach Süden zu geben.

Vernon Arkwright, Jockey, und sein zehn Jahre älterer Bruder Villiers, Trainer, begrüßten den Hufschmied, der gekommen war, Fables Allzweckhufeisen gegen dünne, schnelle Renneisen auszuwechseln. Der Hufschmied gab acht, daß seine Nägel dem Pferd nicht in die Hufe stachen: Die Arkwrights waren bekannt dafür, daß sie einem jedes Mißgeschick mit derben Scherzen heimzahlten.

Die Brüder Arkwright, Vernon und Villiers, waren so aufrecht wie ein schiefer Winkel: Alle wußten es, aber Beweise waren Mangelware und pflegten sich stets zu verflüchtigen. Fable hatte die Nummer zwei für das Cloister Hurdle auf einem Zickzackweg verlorener und gewonnener Rennen erreicht, der so verdächtig war wie die Fußspuren eines Geistes. Beide Brüder waren vor die Ste-wards zitiert worden, um» Unstimmigkeiten bei den Rennen «zu erklären. Beide hatten engelgleich — die Hand auf dem Herzen — erklärt, daß Pferde eben keine Maschinen seien. Mehr aufgrund von Verdachtsmomenten als von Beweisen hatte man Villiers eine Geldstrafe auferlegt und Vernon in einen kurzen Zwangsurlaub geschickt. Beide hatten öffentlich protestiert und die verletzte Unschuld gespielt, privat aber vor Erleichterung Freudentänze aufgeführt. Die Stewards warteten nur darauf, sie einmal auf frischer Tat zu ertappen und dann von den Rennen auszuschließen.

Der Besitzer des Pferdes, ein Vetter der Arkwrights, hatte die Nachforschungen erschwert, indem er bei jedem der Rennen Wetten auf sein Pferd abgeschlossen hatte, und zwar stets den gleichen Betrag, ob es nun letzten Endes gewann oder verlor. Er hatte den Jockey und den Trainer gebeten, ihm nicht zu verraten, mit welchem Ergebnis sie rechneten, damit seine Freude oder seine Enttäuschung echt wäre und vor allem echt wirkte.

Im Laufe der Jahre hatte das verschworene Trio von Besitzer, Trainer und Jockey meistens mit schlechteren Pferden als Fable eine hübsche Ernte steuerfreien Einkommens eingefahren.

Am Freitag der Frühjahrsrennen von Winchester waren sie als Team immer noch für Vorschläge offen. Sie hatten noch nicht entschieden, ob Fable nun versuchen sollte, das Rennen zu gewinnen oder zu verlieren. Sie bezweifelten, daß das Pferd schnell genug war, Lilyglit überhaupt schlagen zu können, aber unangenehmerweise hatte ihnen bisher noch niemand Geld dafür geboten, es das Pferd überhaupt erst versuchen zu lassen. Es machte ganz den Anschein, als würde Fable sein Bestes geben müssen und versuchen, das Preisgeld für den zweiten oder dritten Platz heimzubringen.

Diese Geradlinigkeit lief allen Instinkten der Arkwrights zuwider.

Nummer drei. Storm Cone

Am Freitagmorgen der Frühjahrsrennen in Winchester, wenigstens zwei Stunden bevor Christopher Haig sich in seinem Badezimmer konzentriert zu rasieren begann und seine Träume träumte, löste sich Moggie Reilly von der schweißglänzenden Nacktheit der jungen Frau in seiner Umarmung und ließ seine Hand auf den Wecker fallen, um dessen Klingeln abzustellen.

Moggie Reillys Kopf dröhnte von einem mächtigen Kater, und sein Mund war trocken und klebrig als Folge einer allzu sorglosen Mischung alkoholischer Getränke. Moggie Reilly, Hindernisjockey, mußte am gleichen Nachmittag auf der Rennbahn in Winchester eine athletische Spitzenleistung vollbringen — zwei Hürdenrennen und ein Jagdrennen von fünf Kilometern. Aber zunächst einmal erwartete der Trainer, für den er ritt — John Chester —, lediglich, daß er zumindest nüchtern genug zum Morgentraining erschien, um aufrecht im Sattel zu sitzen.

Am Freitagmorgen wurde normal gearbeitet, und das bedeutete, daß die Pferde ihre Muskeln bei einem vollen Trainingsgalopp schulten. Erfahrene Kräfte wie Moggie Reilly — so geschmeidig wie eine Katze mit seinen vierundzwanzig Jahren — absolvierten solche Ritte auch im Halbschlaf. An diesem Freitag blinzelte er in seinen Badezimmerspiegel, während er versuchte, seinen Gaumen mit einer Zahnbürste wiederzubeleben, bis er schließlich ein schwaches Echo des leichtsinnigen Grinsens zuwege brachte, das die junge Frau in seinem Bett so hinreißend fand. Eigentlich hätte sie in der Sicherheit ihres eigenen Bettes am anderen Ende der Pferderennstadt Lambourn schlafen sollen…

Sarah Driffield. Ja, das war ein Mädchen. Und nun lag Sarah Driffield unzweifelhaft in seinem Bett. Und ebenso unzweifelhaft war er während der wenigen in horizontaler Lage zugebrachten Stunden dieser Nacht nicht völlig untätig gewesen. Was für eine Verschwendung, dachte er bekümmert, daß er sich an so wenig davon klar erinnern konnte.

Als er sein Reitzeug angezogen und sich eine Tasse starken Kaffees gekocht hatte, war Sarah Driffield ebenfalls aufgestanden, hatte sich angekleidet und fragte:»Was mache ich bloß hier? Mein Vater wird mich umbringen. Wie zum Teufel komme ich ungesehen nach Hause?«

Mit der Morgendämmerung erwachten auch die neugierigen Augen von Lambourn. Und am Abend brodelte die Gerüchteküche. Sarah Driffield konnte als Tochter der amtierenden Nummer eins der Hindernistrainer für ihre un-geplante Eskapade mit diesem so boshaft überzeugenden Jockey kein öffentliches Aufsehen gebrauchen. Denn er ritt für John Chester, den bedrohlichsten Rivalen ihres Vaters.

Grinsend, aber voller Verständnis für ihr Problem, gab Moggie Reilly ihr die Schlüssel seines Wagens und riet ihr, die Wohnung nicht zu verlassen, bevor die vierbeinigen Einwohner der Stadt alle zum Trainingsgelände bewegt worden seien. Er sagte ihr, wo sie den Wagen abstellen und die Autoschlüssel verstecken solle, und beschloß, durch die Stadt zu John Chesters Stallungen zu joggen. Ein wenig Bewegung und frische Luft konnten ihm bei seinem Kater nur guttun.

Sarah Driffield! Er bog sich innerlich vor Lachen.

Alles hatte angefangen am letzten Abend bei dieser Geburtstagsfeier in The Stag, einer der besten Kneipen in der Gegend. Sie waren beide als Gäste dort gewesen. Es hatte sich in der sorglos ausgelassenen Atmosphäre und vor allem nach der letzten Runde von Drinks so ergeben. Diese Drinks waren mit dem zuvor genossenen Lagerbier und Whisky eine katastrophale Verbindung eingegangen. Der Tequila-Hammer. Nie wieder, schwor sich Moggie Reilly. Er trank nur selten zuviel und haßte den Kater am nächsten Morgen. Er erinnerte sich noch, daß er Sarah Driffield angeboten hatte, sie nach Hause zu bringen. Aber wieso waren sie dann bei ihm zu Hause gelandet, fünf Kilometer von The Stag entfernt, und nicht bei ihr, deren Heimweg nur einen Kilometer lang war? Nach seinem Alkoholkonsum zu schließen, mußte Sarah Driffield gefahren sein.

Moggie Reilly gehörte zwar zu den zehn besten Hindernisjockeys, hätte aber dennoch normalerweise Sarah Driffield nicht als geeignetes Material zum Küssen und Knutschen angesehen — was, zugegebenermaßen, an der Macht, dem Status und den legendären Fäusten ihres Vaters lag. Percy Driffields Ansichten, welche Gesellschaft für seine sorgfältig erzogene, neunzehnjährige Tochter, sein einziges Kind, annehmbar sei, waren wohlbekannt. Sie schlossen jeden aus, der sich erhoffte, durch eine Heirat mit ihr seinen Rennstall zu erben. Man sagte, er habe bereits ganze Heerscharen von Verehrern abgeschreckt, und seine Tochter, die nicht dumm war, benutzte seine generelle Mißbilligung als Schutzschild gegen unwillkommene Annäherungsversuche. Wie hatte es angesichts all dessen nur geschehen können, daß die hinreißende Miss Driffield, die ungekrönte Miss Lambourn, die Stufen zum Hause Reilly ohne Widerspruch erklommen hatte? Dieses Rätsel ließ Moggie Reilly beim Joggen nicht los.

John Chester bemerkte wohl, daß seinem Jockey jeder Schritt weh tat, als er ankam, zuckte aber nur die Achseln. Die schnellen Galopps wurden zu seiner Zufriedenheit absolviert (nur darauf kam es an), und danach lud er zu einem Frühstück mit Besprechung der Taktik für die Rennen von Winchester ein.

Kurz nach acht Uhr dreißig, während Wendy Billington Innes dreißig Kilometer weit entfernt immer noch wie erstarrt und in hilfloser Ungläubigkeit auf ihrem Ankleide-schemel saß, erklärte der massige und aggressive John Chester seinem Jockey, daß Storm Cone das vierte Rennen, das Cloister Hurdle, um jeden Preis gewinnen müsse. Moggie müsse es irgendwie schaffen.

John Chester hatte genau nachgerechnet; das Preisgeld des Cloister Hurdle würde ihn auf der Liste der erfolgreichsten Hindernistrainer (nach der Summe gewonnener Preisgelder) an die erste Stelle bringen. Hohe Preisgelder waren zu dieser Jahreszeit rar, da die Hindernisrennsaison fast vorüber war: Das letzte Rennen fand am folgenden Tag, am Samstag, statt, aber dafür hatte Percy Driffield kein passendes Pferd. Mit etwas Glück konnte John Chester das Cloister gewinnen und würde ein paar Wochen lang vor Percy Driffield liegen.

John Chester lechzte förmlich danach, der beste Trainer zu sein und Percy Driffield zu demütigen.

«Finden Sie eine Möglichkeit«, sagte er seinem Jockey,»diesen verreckten Lilyglit zu schlagen. Er muß doch irgendeine Achillesferse haben.«

Moggie wußte alles über Lilyglit, denn er war dem hellen Fuchs zweimal bei anderen Gelegenheiten durch die Zielpfosten hinterhergeritten. Er bezweifelte, daß Storm Cone Lilyglit jemals schlagen würde, war aber taktvoll genug, keine diesbezügliche Bemerkung zu machen. Er aß trockenen Toast, um sein Gewicht niedrig zu halten, und ließ John Chesters Phantastereien über sich hinwegschwappen.

Sarah Driffield fuhr Moggie Reillys Wagen zurück, um ihn vor The Stag zu parken, wie er es erbeten hatte, und verstaute die Wagenschlüssel in einer versteckt angebrachten Magnethaftbox. Jetzt bei Tageslicht nahm sie den kürzeren Weg nach Hause, der durch die Felder führte und den sie in der vergangenen Nacht gescheut hatte. Als ihr Vater vom Trainingsgalopp der Pferde zurückkam, saß sie geduscht und umgezogen in der Küche und frühstückte gerade.

Percy Driffield legte sein Jackett und seinen Helm ab und fragte sie bloß, ob sie sich auf der Geburtstagsfeier gut amüsiert habe.

«Ja, danke«, antwortete sie.»Moggie Reilly war so freundlich, mich heimzufahren.«

Ihr Vater runzelte die Stirn.»Ermutige ihn nicht.«

«Nein.«

Der Tequila-Hammer, dachte sie. Eine Prise Salz auf die Zunge, darüber eine Meßkelle reinen Tequila und dann eine Limettenscheibe lutschen. Sie hatte sich befreit gefühlt. Mit Moggie Reilly zu schlafen war einfach ein Vergnügen nach dem Motto» Warum nicht?«gewesen. Sie forschte in ihrem Gewissen nach Schuldgefühlen, fand aber nichts als ein Lächeln.

Percy Driffield kam geradezu zwanghaft immer wieder auf Lilyglit zurück.»Dieser verdammte Trottel von Besitzer will ihn verkaufen. Ich habe ihm gesagt, er müsse ihn versichern, aber er will nichts davon wissen. Warum versichern die wirklich reichen Leute niemals etwas? Die Bewertung ist eine Einladung für Betrüger, sagte er. Jasper Billington Innes mag ja wirklich ein netter Kerl sein, aber er ist dämlich. Du hast ihn ja oft genug gesehen. Ich habe ihm gesagt, Lilyglit habe alle Aussichten, das beste Hürdenpferd zu werden, wenn wir ihm noch ein Jahr Zeit ge-ben. Ich begreife einfach nicht, was in den Mann gefahren ist. Er schien gestern abend am Telefon in heller Panik zu sein und sagte mir, ich solle mich sofort um einen Käufer bemühen. Warten Sie wenigstens, bis er das Cloister Hurdle gewonnen hat, riet ich ihm, aber er hat wegen dessen besseren Ausgleichs Angst vor Storm Cone. Er schien zu glauben, ich könnte Storm Cones Jockey eine Art Vorschlag machen. Nie im Leben. Ich habe ihm gesagt, er soll’s selbst versuchen.«

Seine Tochter zog über ihren Cornflakes die Augenbrauen hoch. Wenn Moggie sich bestechen ließ, war sie mit ihm fertig, dachte sie.

Moggie Reilly hielt sich wie viele andere Jockeys durch regelmäßiges Laufen fit, und viele ließen auch abends ihren Wagen lieber vor einem Pub stehen, als mit Alkohol am Steuer erwischt zu werden. Daher fiel es niemandem weiter auf, daß Moggie zu The Stag joggte, seine Schlüssel aus der Magnethaftbox nahm und dann mit seinem Wagen heimfuhr. Als er gerade durch die Tür kam, begann das Telefon zu läuten; er nahm ab und hoffte, daß es ein kurzes Gespräch werden würde. Ihm war kühl, die Wärme vom Laufen verflüchtigte sich langsam. Er wollte heiß duschen, sich dann einen warmen Wollpullover überziehen, in Ruhe Kaffee trinken und die Zeitung lesen.

Eine hochgradig nervöse, gehetzte Stimme sagte:»Ich möchte Reilly sprechen. Hier ist Billington Innes. Jasper… eh… Billington Innes. Mir gehört Lilyglit… eh… Wissen Sie, welches Pferd ich meine?«

Moggie Reilly wußte es genau. Er sagte, er selbst sei Reilly.

«Ja. Nun… eh… Ich verkaufe mein Pferd. «Billington Innes holte tief Luft und versuchte dann langsamer zu spre-chen.»Ich habe einen Verkauf eingefädelt. zu einem Höchstpreis natürlich… Wirklich ein exzellenter Verkauf…«

Moggie Reilly sagte kurz:»Meine Glückwünsche.«

«Ja, aber nun, wissen Sie, es ist ein Verkauf unter Vorbehalt.«

«Hm?«murmelte Moggie Reilly,»unter welchem Vorbehalt?«

«Nun. im Grunde unter dem Vorbehalt, daß er heute nachmittag gewinnt. Das Cloister Hurdle gewinnt, um genauer zu sein.«

«Ich verstehe«, sagte Moggie mit Bedacht, und in der Tat verstand er.

«Ja. nun, Percy Driffield hat sich geweigert, mit diesem Vorschlag an Sie heranzutreten, aber. «Er sprach wieder schneller.»Es ist keine Bestechung, die ich Ihnen anbiete, keinesfalls. So etwas würde ich nie tun, absolut nicht.«

«Nein«, sagte Moggie.

«Was ich Ihnen anbiete, sehen Sie«, kam Jasper Billington Innes endlich verlegen zur Sache,»ist eher etwas von der Art einer Kommission. Wenn mein Pferd Lilyglit das Cloister Hurdle gewinnt, kann ich den Verkauf zu besseren Bedingungen realisieren, und… eh, nun, wenn Sie und Storm Cone auf irgendeine Weise dazu haben beitragen können, dann hätten Sie sich doch eine Kommission verdient, sehen Sie?«

Was ich sehe, dachte Moggie Reilly im stillen, ist der kürzeste Weg zum Verlust meiner Lizenz. Jasper Billing-ton Innes erwiderte er beruhigend:»Ihr Pferd Lilyglit ist gut genug, um ohne Hilfe zu gewinnen.«

«Aber denken Sie doch an den Ausgleich. Das ändert alles. Und beim letzten Mal hat Lilyglit mit gleichem Gewicht Storm Cone um nur zwei Längen geschlagen…«

Seine Stimme wurde besorgt lauter.

«Mr. Billington Innes«, sagte Moggie Reilly geduldig — er zitterte jetzt beinahe —,»im Cloister laufen elf Pferde. Theoretisch kann jeder das Rennen machen, wegen des Ausgleichs, und wenn Storm Cone seinen Weg an die Spitze findet, dann sollte ich ihn nicht aufhalten.«

«Soll das heißen, daß Sie mir nicht helfen wollen?«

«Es soll heißen, daß ich Ihnen viel Glück wünsche.«

Plötzlich war die Leitung tot. Moggie Reilly zog sich aus, machte sich auf den Weg zur Dusche und dachte, daß Jasper Billington Innes wohl einer der letzten war, von denen er den Versuch, durch Betrug zum Sieg zu kommen, erwartet hätte.

Natürlich wußte Moggie auch nichts von dem Finanzmanager bei Stemmer Peabody.

Jasper Billington Innes saß am Telefon und starrte blicklos auf die Tapete des kleinen Hotelzimmers, das er sich direkt neben seinem Spielclub genommen hatte. Der Handel mit seinem Buchmacher und dem Clubbesitzer schien ihm jetzt nicht mehr so glänzend wie um vier Uhr in der Frühe, aber er mußte zugeben, daß sie fair und sogar freundlich gewesen waren. Allerdings hatte er zu spät begriffen, daß Lilyglit das Cloister Hurdle gewinnen mußte, damit für ihn genug übrigblieb, um in der Stadt noch den Kopf hochtragen zu können. Wenn Lilyglit gewann, würde das Preisgeld reichen, um seine Schulden zu bezahlen. Lilyglits Wert würde sich weiter gesteigert haben und sein Verkauf einen brauchbaren Überschuß erzielen. Falls Lilyglit verlor, würde das Ergebnis des Verkaufs von seinen Schulden aufgezehrt werden. Wenn der Hengst das Rennen verlor, würde er weniger wert sein, als er es im Moment war. Jasper stand so unter Druck, daß er sich damit einverstanden erklärt hatte, den Verkaufspreis mit jeder Länge, mit der das Pferd geschlagen wurde, zu reduzieren.

Jasper sah einen Ausweg darin, auf Lilyglits Sieg zu wetten, aber sein Buchmacher hatte abgewunken und sich geweigert, ihm noch größeren Kredit einzuräumen. Jasper In-nes stellte eine hoffnungslose Liste seiner anderen verkäuflichen Besitztümer auf — denen er allerdings die nicht gerade lebensnotwendigen Antiquitäten und Portraits der Familie nicht zurechnete. Er und Wendy waren beide umgeben von wertvollen Dingen aufgewachsen, die für alle Zeiten der nächsten Generation bestimmt waren. Selbst sein altes Haus, das langsam an Fäule zugrunde ging, gehörte seinem Sohn und dessen Sohn und dessen Sohn für alle Zeit.

Jasper Billington Innes wäre bis zu diesem Morgen niemals auf die Idee gekommen, einen Jockey zu bestechen. Er war sich auch nur vage bewußt, mit wieviel Takt Moggie ihn zurückgewiesen hatte; er konnte an nichts anderes denken als an seine eigene Verzweiflung.

Er las noch einmal, wie die fürs Cloister Hurdle gemeldeten Pferde von der Zeitung eingeschätzt wurden, die vor ihm auf seinem Frühstückstablett lag.

Nr. eins, Lilyglit. Würdiger Favorit, muß seinen Weg mit Höchstgewicht gehen.

Nr. zwei, Fable. Wird er in den guten, starken Händen Arkwrights in der Lage sein mitzumischen — oder nicht?

Nr. drei, Storm Cone. Jockey Mr. Reilly» mit den neun Leben«. Sie werden es auf alle Fälle versuchen, und der Ausgleich begünstigt sie; aber werden sie fürs Finish schnell genug sein?

Jasper schluckte und rief einen Freund an, der wissen mußte, wie er mit den Arkwrights in Verbindung treten konnte. Dann erreichte er schließlich Vernon Arkwright, der ihm unaufgeregt zuhörte.

Jasper fand es beim zweiten Mal leichter, eine Kommission anzubieten. Er glaubte es beinahe selbst.

«Ich soll für Sie also Storm Cone daran hindern, Lilyglit zu schlagen«, sagte Vernon, der die Dinge unverblümt klar aussprach.

«Eh.«

«Und ich bekomme nichts dafür, wenn nicht Lilyglit gewinnt und ich auf irgendeine Weise dazu beigetragen habe. Ist das richtig?«

«Eh. Ja.«

Vernon Arkwright seufzte. Es war kein großartiger Vorschlag, aber der einzige, den man ihnen gemacht hatte.

«Okay«, sagte er,»ich mache es. Aber wenn Sie sich nicht an die Vereinbarung halten, werde ich Ihr Angebot der Rennleitung melden.«

Jasper war nicht an Drohungen gewöhnt. Vernon Arkwrights direkte Art zwang ihn zu begreifen, wie weit er sich auf dem Weg zur blanken Unehrlichkeit vorgewagt hatte. Er fühlte sich gedemütigt, und ihm war jämmerlich zumute. Er zögerte. Aber er kehrte nicht um.

Er rief Percy Driffield an und bat ihn, für ihn eine große Summe auf Lilyglits Sieg zu setzen. Driffield, der dergleichen schon zuvor getan hatte, erklärte sich ohne Widerrede einverstanden und rief seinen eigenen Buchmacher an, der die Wette akzeptierte.

Christopher Haig lächelte jedem Jockey zu, während er an seinem Tisch in der Waage die Rennfarben und die Nummerndecken überprüfte.

Lilyglit, der Favorit, wurde wie gewöhnlich von dem schon lange amtierenden, besten Jagdrennjockey geritten: Er war verheiratet, hatte drei Kinder, sein Gesicht war überall bekannt. Trainer Percy Driffield war bei ihm, um bei irgendwelchen Problemen gleich zur Stelle zu sein.

Der nächste auf der Liste des Richters war Vernon Arkwright, der mit Fable ins Rennen gehen sollte. Vernon Arkwright war zwar ein Gauner vom Scheitel bis zur Sohle, aber dennoch gefiel er Christopher Haig, der sich bemühen mußte, sein Grinsen innerhalb der Grenzen des offiziell Zulässigen zu halten. Die Rennleitung hatte in Christopher Haigs Anhörung geschworen, im Cloister Hurdle jeden Schritt Fables per Bahnkamera aufzuzeichnen, um ihn so bei einer etwaigen Unregelmäßigkeit zu ertappen. Chris Haig überlegte, ob er den Jockey warnen solle, aber als er Arkwrights freche, siegesgewisse Miene sah, dachte er, daß er es wahrscheinlich schon wisse.

Der nächste war Storm Cones Jockey: Moggie,»die Katze«, Ire der zweiten Generation, schnell in Reaktion und Auffassungsgabe, eine angenehme Falle für gutaussehende Frauen und ebenso wahrscheinlich ein zukünftiger Botschafter seines Sports.

Als er sich alle Teilnehmer des Rennens eingeprägt und sie abgehakt hatte, stand Christopher Haig noch eine Weile im Führring, um sich völlig mit den Pferden und ihren Reitern vertraut zu machen. Er sah zu, wie die Jockeys hinaus auf die Bahn ritten; sah ihnen zu — jung, dünn, unbeschwert jeder Gefahr gegenüber — und beneidete sie sehr. Was wäre, dachte er, was wäre gewesen, wenn ich mit sechzehn zu einem Rennstall gegangen wäre statt zur Schule und auf die Universität? Was, wenn es noch nicht zu spät wäre, Stunt-Fliegen zu lernen? Es einmal mit einem Spaziergang auf einer Tragfläche zu versuchen?

Aber es war bereits zu spät.

Die Richterkammer befand sich auf der Rennbahn von Winchester im Hauptteil der Haupttribüne, ein Stockwerk über dem Raum der Rennleitung und (natürlich) in direkter Linie mit den Zielpfosten.

Auf manchen Bahnen, vor allem auf kleinen, ländlichen Bahnen, lag die Richterbox zu ebener Erde und markierte selbst die Ziellinie, aber Christopher Haig zog den hohen Platz auf einer Bahn wie Winchester vor, wo man auf die Bahn hinabschauen und die dahingaloppierenden Pferde leichter voneinander unterscheiden konnte.

Er erstieg seinen Aussichtsposten für das Cloister Hurdle und breitete seine Notizen auf dem Regalbrett aus, das eigens für diesen Zweck am Fenster angebracht war. Er hatte einen Feldstecher, um die weiter entfernten Strecken der anderthalb Kilometer langen Bahn einzusehen, und einen Assistenten, dessen Aufgabe darin bestand, über Lautsprecher» Zielfoto, Zielfoto «auszurufen, wenn der Richter ihm dazu die Anweisung gab; und der Richter gab ihm diese Anweisung immer dann, wenn die führenden Pferde mit einem Vorsprung von nur einer halben Länge oder weniger durchs Ziel gingen. Die Zielkamera in Winchester wurde von Technikern in einem über der Richterbox gelegenen Raum bedient.

Christopher Haig zählte die Pferde, während diese an den Start kanterten. Elf, alles korrekt. Durch seinen Feldstecher sah er, wie die Pferde im Kreis ritten und sich zum Start aufstellten. Lilyglit nahm die Position an den Innen-rails ein und setzte sich, als das Startband hochflog, mühelos mit weitem Abstand an die Spitze.

Percy Driffield und Sarah beobachteten Lilyglit von der Tribüne aus. Weder Jasper Billington Innes noch Wendy hatten den Mut aufgebracht, auf der Rennbahn zu erscheinen. Driffield hoffte, Moggie Reilly würde sich als so ehrlich erweisen, wie er es seinem Ruf nach war: Seine Tochter warf ihre Zukunft dafür in die Waagschale.

Wendy saß zu Hause vor dem Fernseher in ihrem kleinen persönlichen Wohnzimmer, die Fäuste geballt, das Haar zerrauft und Tränenflecken auf den Wangen. Jasper hatte sie noch nicht angerufen; sie wußte nicht, wo er war. Sie hatte es bei den Buchmachern versucht, beim Spielclub und im Hotel. Sie hatte versucht, ihn über sein Autotelefon zu erreichen. Jasper hatte nirgendwo eine Nachricht hinterlassen, und langsam bekam seine Frau Angst.

Lilyglit, der immer sofort die Führung übernahm, wenn er nur konnte, jagte über die erste Folge von Hürden, als gebe es für ihn wie für eine vor einem Löwen fliehende Impalaantilope keine Schwerkraft. Storm Cone lag an fünfter Stelle, Fable hinter ihm.

Von der Tribüne aus schauten die Arkwrights — der Trainer und dessen Vetter, der Besitzer — fröhlich zu, wie Vernon sich in Moggie Reillys Schatten ans Werk machte: Er hatte den Plan gefaßt, Storm Cones Chancen zunichte zu machen, indem er seinen Jockey über die Rails warf. Wenn Storm Cone aus dem Rennen war, hatte Lilyglit die besten Aussichten zu gewinnen. Vernon Arkwright hatte nicht die Absicht zuzulassen, daß irgend etwas anderes Li-lyglits Weg zum Ziel behinderte — außer vielleicht, wenn Fable selbst unerwarteterweise Flügel wachsen sollten… nun dann… Was das Preisgeld anbelangte, so war jeder sich selbst der nächste.

Storm Cones Besitzer stand zusammen mit John Chester, dem Trainer des Pferdes, auf dem Balkon der Besitzerloge oben im gleichen Stockwerk, in dem auch der Ausguck der Rennleitung lag, wo niemand ihren Ausblick behindern konnte. Der Besitzer, der fast so wohlhabend war wie Jasper noch vor ein paar Tagen, hatte mehrere Jahre lang versucht, sich in der Rangliste der erfolgreichsten Besitzer bis an die Spitze hochzukaufen, aber wie so viele vor ihm mußte er erkennen, daß man den ersten Platz dort mit Geld ebensowenig kaufen konnte wie in der Liebe.

John Chester hatte all sein Können darauf verwandt, Storm Cone in Bestform in diesen Wettbewerb zu schik-ken. Wenn Moggie Reilly unnötigerweise auch nur einen Zoll verschenkte und er, John Chester, seine beste und wahrscheinlich einzige Chance einbüßte, die Trainerliste anzuführen, dann, dachte er, würde er ihn wahrscheinlich umbringen.

Unten auf dem Turf waren die Emotionen weniger vielschichtig. Für den Jockey des Favoriten, der mit seinem regelmäßigen Partner Lilyglit gut vertraut war, war es lediglich ein weiteres Rennen, das er gewinnen würde, wenn alles gut ging. Er ritt gerne Pferde, die von Anfang an die Führung übernahmen. Lilyglit ging sauber über die Hürden.

Für Moggie Reilly war es ebenfalls ein Rennen wie jedes andere, obwohl er sich anstrengen würde, um John Chester zum erfolgreichsten Trainer der Saison zu machen, falls Lilyglit auch nur die geringste Schwäche zeigen sollte. Storm Cone ließ ihn über die Zügel seine Energie und seine Zuversicht spüren; das war das beste, was sein Reiter erwarten konnte. Die elf Pferde kamen zum ersten Mal an der Tribüne vorbei und gingen in die Kurve am Ausgang der Geraden, um den letzten Kilometer zu machen. Christopher Haig beobachtete sie, zählte sie und stellte fest, daß Lilyglit an der Innenseite immer noch führte.

In der Kurve an der Spitze des langen Bogens, wo die Pferde der Rennleitung die Hinterteile zuwenden und von den weißen Rails halb verdeckt sind, griff Vernon Arkwright unter Moggie Reillys Stiefel und hievte ihn mit aller Kraft nach oben.

Moggie Reilly verlor sofort die Balance und spürte, daß sein Fuß aus dem Steigbügel flog, während sein Kopf unaufhaltsam einen Bogen über den Widerrist des Pferdes und hinab in Richtung auf die stampfende Schulter und den Grund darunter beschrieb. Moggies Finger verkrampften sich in der Mähne des Pferdes. Sein Gewicht lag jetzt ganz auf einer Seite des großen Geschöpfes, das unter ihm dahinschoß. Er hatte seine Peitsche verloren. Vor ihnen, direkt hinter dem Ausgang der Kurve, lag eine Folge von Hürden.

Vernon Arkwright konnte es nicht glauben, daß Moggie Reilly technisch gesehen immer noch im Sattel saß, selbst wenn er sich mit den Fingernägeln festgekrallt hatte und sein Schwerpunkt fast einen Meter seitwärts verschoben war. Moggie, die Katze, überließ es Storm Cone, sich selbst soweit als möglich in die richtige Position zu bringen, um die vor ihnen liegenden Hürden zu nehmen, und fand sich schicksalsergeben damit ab, daß er wahrscheinlich abgeworfen und den anderen halbtonnenschweren Pferden direkt vor den Hufen landen würde, Pferden, die alle darum kämpften, bei fünfzig Stundenkilometern ihre Positionen zu behaupten.

Nachher sagte er, er habe sich nur dank der Angst, unter die mörderischen Hufe zu geraten, an Storm Cones Hals halten können, in seine Mähne gekrallt, an der jetzt buchstäblich sein Leben hing. Sie waren nur noch zehn Galoppsprünge von der tödlichen Reihe der Hürden aus Holz und Birkenflechtwerk entfernt, als sich plötzlich eine Hand nach ihm ausstreckte. Sie bekam das leuchtende Nylontuch seines scharlachrot und orange gestreiften Trikots zu fassen und zog ihn nach oben.

Moggie Reillys heldenhafter Retter, der einen der letztli-chen Verlierer ritt, tat seine Hilfe nachher mit den Worten ab:»Du hättest für mich das gleiche getan, Kumpel. «Jedenfalls verschaffte sein Eingreifen Moggie Reilly wertvolle Sekunden, in denen er den Sattelbaum umgreifen, sich wieder rittlings auf Storm Cone schwingen und taumelnd eine Art Gleichgewicht finden konnte. Dann spannte sein Pferd die Hinterbacken an und schoß wie von Raketen getrieben über die gefährlichen Hürden.

Moggie Reilly hatte keine Zügel in der Hand und seine Füße waren nicht in den Steigbügeln, aber sein Siegeswille war ungebrochen. Storm Cone hatte vielleicht zehn Längen auf Lilyglit verloren, aber sowohl das Pferd als auch sein Reiter mochten sich mit der Niederlage nicht abfinden, machten sich flach, um wenig Luftwiderstand zu bieten, und legten auf der Gegengeraden entschlossen an Tempo zu. Moggie bekam endlich wieder die Zügel in die Hände und nahm sie kurz, und das Pferd war dankbar für die Kontrolle. In der Zielkurve galoppierten sie beherzt in eine klare zweite Position; nur noch Lilyglit lag vor ihnen.

Vernon Arkwright fluchte gewaltig, da er keine Hoffnung mehr hatte, Storm Cone für eine weitere Schandtat noch einmal einzuholen. Oben im Raum der Rennleitung schlugen sich die drei wichtigen Herren gegenseitig auf die Schulter und hüpften vor Freude beinahe umher. Sie alle hatten Vernon Arkwrights Übergriff auf Moggie Reilly deutlich gesehen, obschon er am äußersten Ende der Bahn stattgefunden hatte. Die Bahnkamera mußte ihn gefilmt haben, die Bilder würden nicht lügen. Dieses Mal, dieses eine Mal hatten sie Vernon Arkwright bei einer für alle gut sichtbaren Missetat ertappt. Es würde eine weitere Anhörung geben, und dieses Mal würde man den Gauner ausschließen.

Ein Stockwerk über ihnen wunderte sich Christopher Haig, daß sich Moggie Reilly, ohne die Füße in den Steigbügeln zu haben, immer noch im Sattel hielt. Aber Lilyglit ging mit beruhigender Führung bereits die letzte Hürde an, so daß Storm Cone sich keine Hoffnung mehr auf einen Sieg machen konnte. Mit nachlassenden Kräften würde

Storm Cone es sogar schwer haben, seinen zweiten Platz zu behaupten, dachte Chris Haig aufgrund seiner langen Erfahrung als Richter. Die zwei Pferde, die er überholt hatte, kamen ihm wieder näher.

Diese klare Einschätzung war Christopher Haigs letzter zusammenhängender Gedanke.

Er sah Lilyglit auf die letzte Hürdenfolge zujagen. Er sah, daß das Pferd zu früh absprang, um die andere Seite ohne Straucheln zu erreichen — ein seltener Fehler. Er sah Lilyglits Nase sich im klassischen Muster eines stürzenden Pferdes nach unten neigen. Und bevor Lilyglit mit hoher Geschwindigkeit auf dem Boden aufschlug, hatte sein eigenes Herz aufgehört zu schlagen.

Der Assistent des Richters verfügte über keinerlei medizinische Kenntnisse und war auch nicht sonderlich schnell von Begriff. Als Christopher Haig neben ihm zu Boden sank, die Beine von sich gestreckt, beugte der Assistent sich entsetzt über ihn und wußte nicht, was er tun sollte.

Er hatte gehört, daß Chris Haigs Kopf auf den Dielenbrettern aufschlug, und er hörte auch das kurze Rasseln, mit dem die letzte Luft aus den Lungen entwich. Er sah, daß Chris Haigs Gesicht plötzlich ein gräuliches dunkles Blau annahm. Dann sah er die Dunkelfärbung verschwinden und die Haut zu einem fahlen Weiß erbleichen. Unter Schock und zitternd löste er Christopher Haigs abenteuerliche Krawatte und rief ihn wiederholt beim Namen.

Christopher Haigs Lider waren halb offen, aber weder er noch sein völlig aus der Fassung gebrachter Assistent nahmen den knappen Zieleinlauf des Cloister Hurdle wahr. Niemand rief:»Zielfoto, Zielfoto«, über den Lautsprecher. Und niemand gab den Sieger bekannt.

Der geistesgegenwärtigste der Stewards lief die Treppe zur Richterbox hinauf, um sich bitterböse über dieses Schweigen zu beschweren. Der Anblick von Chris Haigs reglosem Körper ließ ihm vorübergehend das Wort im Mund ersterben. Er hatte genug Erfahrung, um einen endgültigen Tod als solchen zu erkennen, wenn er ihm begeg-nete. Und nachdem er sich vergewissert hatte, daß an Haigs Hals kein Puls mehr zu fühlen war, schickte er den Assistenten fort, einen Arzt zu holen, und eilte dann mit der unglaublichen Nachricht wieder die Treppe hinunter.

«Wir, als Rennleitung«, erklärte er seinen Kollegen,»werden den Sieger anhand der Zielfotos ermitteln müssen. Wie Sie wissen, steht das in unserer Satzung.«Über die Gegensprechanlage forderte er von den Technikern einen Fotoabzug an, der denjenigen Augenblick festhielt, als das führende Pferd die Ziellinie überquerte, und er fügte hinzu, daß er ihn schnell benötige.

Ein Techniker erschien auch schnell, aber mit gerötetem Gesicht und leeren Händen. In äußerster Verlegenheit erklärte er, daß die früheren Schwierigkeiten sich wieder eingestellt hätten und die Fotoanlage sich selbst blockiert habe, noch bevor der führende Lilyglit die letzte Hürde erreicht hatte. Als er also noch etwa vierhundert Meter vom Ziel entfernt gewesen war.

Die verblüfften Stewards wurden von dem Stipendiary Steward — dem bei einem Renntag offiziell die Auslegung der Rennordnung oblag — belehrt, daß bei Abwesenheit des Richters (und Christopher Haig, der ja tot war, konnte als abwesend gelten) und bei Fehlen eines Beweises durch ein Zielfoto (die Anlage hatte nicht funktioniert) die Rennleitung selbst feststellen könne, wer gewonnen habe.

Die Stewards sahen einander an. Einer von ihnen war sich sicher, daß Storm Cone um eine Nase vorn gelegen habe. Ein anderer glaubte, Moggie Reilly hätte keine Kraft mehr gehabt, und Storm Cone sei mit den letzten beiden Galoppsprüngen zurückgefallen. Ein dritter hatte auf die Bahn geschaut, um festzustellen, ob Lilyglit sich das Genick gebrochen hatte.

In ihrer Verwirrung gaben sie über das Lautsprechersystem bekannt, daß es eine Untersuchung durch die Rennleitung geben werde.

Da kein Gewinner bekanntgegeben worden war, verweigerte der Toto jede Auszahlung. Die Buchmacher boten Wetten auf jeden Rennausgang außer auf den richtigen an. Die Fernseh- und Rundfunkleute eilten mit bereitgehaltenen Mikrophonen umher.

Die in der Nähe des Dachs der Tribüne angebrachten Fernsehkameras hatten leicht verschwommene Bilder gezeigt, die auf ein totes Rennen schließen ließen.

Die beiden anderen Jockeys, die an dem knappen Zieleinlauf beteiligt gewesen waren, glaubten, daß Storm Cone sie um ein paar Zentimeter besiegt hatte, aber nach ihrer Meinung fragte niemand.

Moggie hatte den größten Teil des Rennens bewältigt, ohne die Füße in den Steigbügeln zu haben (so wie es Tim Brookshaw einst im Grand National gemacht hatte). Er hatte auf Storm Cones Widerrist gekniet, sich mit den Waden festgeklammert und es geschafft, bei den Sprüngen über die Hürden sein gefährdetes Gleichgewicht zu wahren. Das war als Ritt eine Bravourleistung, und er verdiente den Jubel, mit dem er bei seiner Rückkehr begrüßt wurde. Er war sicher, trotz allem gewonnen zu haben, und er würde persönlich eines Tages, überlegte er, seine Rechnung mit diesem gefährlichen Irren Arkwright begleichen.

John Chester, Storm Cones Trainer, der sich nicht vorstellen konnte, warum die Richter kein Zielfoto verlangt hatten, hatte nicht die geringsten Zweifel, daß sein Pferd gewonnen hatte. Der Besitzer führte seinen erregten Sieger und dessen erschöpften Jockey stolz in den für den Sieger abgesperrten Bereich und nahm dort vorläufige Glückwünsche entgegen. John Chester genoß die exquisite Freude, endlich einmal Percy Driffield von seinem mit Arroganz behaupteten Gipfelplatz als Spitzentrainer verdrängt zu haben. John Chester spreizte sein Gefieder.

Percy Driffield selbst waren im Augenblick John Chester und sein Rang als Spitzentrainer völlig gleichgültig. Sein noch benommener Jockey war ohne Verletzungen vom Sanitätswagen aufgesammelt worden, aber Lilyglit lag immer noch unglücksverheißend flach auf der Aufsprungseite der letzten Hürdenflucht, und während der Trainer die Bahn entlang auf das Pferd zulief, erfüllte ihn nichts als Kummer. Kein Pferd in seinem Stall liebte er so wie den schnellen und eleganten Lilyglit.

Von der Tribüne aus sah Sarah, wie furchtbar es ihren Vater getroffen hatte, und war hin und her gerissen zwischen Mitleid für ihn und Bewunderung für Moggies Können. So wie alle anderen, die etwas von Pferderennen verstanden, hatte sie die leeren Steigbügel wild hin und her baumeln sehen, während Storm Cone über die Hürden ging und zum Endspurt ansetzte.

Percy Driffield erreichte den der Länge nach hingestreckten Lilyglit und ging neben ihm auf die Knie. Ihm stockte selbst der Atem, als er feststellte, daß der glänzende Fuchs noch lebte, und begriff, daß der Aufprall auf den Grund so heftig gewesen war, daß es dem Pferd praktisch die Luft aus den Lungen getrieben hatte. Der Ausdruck» Atemnot «klang relativ harmlos: Die dazugehörige Realität konnte jedoch erschreckend sein. Lilyglit brauchte etwas Zeit, bis seine geprellten Brustmuskeln wieder zu ihrem Atemrhythmus zurückfanden, und während Percy Driffield ihm den Hals streichelte, zog das Pferd plötzlich

Luft ein, und einen Augenblick später stand es bereits wieder auf den Füßen, unverletzt.

Es kam Beifall von der weit entfernten Tribüne. Lilyglit war beinahe eine Art Idol.

Wendy Billington Innes, die in ihrem Wohnzimmer ein nasses Taschentuch in der Faust zusammenknüllte, hatte Lilyglit bereits für tot gehalten, obwohl der Rennkommentator vom Fernsehen immer noch entschlossen die Sendezeit füllte und» Atemnot «als einen letzten möglichen Hoffnungsschimmer ins Feld führte. Als Lilyglit sich erhob, brach Wendy Billington Innes erneut in Tränen aus, diesmal vor Erleichterung. Wo immer Jasper steckte — sie hatte ihn noch nicht erreicht —, er würde sich freuen, daß sein vergöttertes Hürdenpferd überlebt hatte.

Vernon Arkwright dachte noch auf der Rennbahn voller Ärger darüber nach, daß die ganze Cloistersache reine Zeitverschwendung gewesen sei. Ja, er hatte Storm Cone daran gehindert, Lilyglit zu besiegen, aber Lilyglit hatte sowieso nicht gewonnen. Seine Chancen, seine» Kommission «von Jasper Billington Innes ausgezahlt zu bekommen, tendierten wohl gegen null, überlegte Vernon, und das war ungerecht, wenn man die damit verbundenen Risiken berücksichtigte.

Vernon hatte die Kurve für seinen Angriff ausgewählt, weil dort die Rails und die Pferde, die sich hinter ihm drängten, seinen raschen Angriff auf Moggie verdeckten. Er wußte nicht und hatte auch nicht damit rechnen können, daß die hinter ihm laufenden Pferde sich unerwarteterweise wie ein Vorhang geteilt und ihn ungeschützt der rührigen Linse der Bahnkamera ausgesetzt hatten.

Die Rennorganisatoren lechzten schon seit Jahren nach einem eindeutigen, klaren Beweis für Arkwrights Gaunereien. Jetzt hatten sie beinahe genug beisammen, um ihn wegen versuchten Totschlags hinter Gitter zu bringen. Sie konnten ihr Glück kaum fassen.

Bei der Rennleitung flimmerten Filme verschiedener anderer Bahnkameras über den Bildschirm. Eilig sahen die Stewards die Frontbilder durch, die die Rempeleien auf den letzten zweihundert Metern vor dem Ziel zeigen sollten. Bei diesem Rennen hatte es keine gegeben, aber ein brauchbares Indiz dafür, welches Pferd zuerst über die Ziellinie gegangen war, lieferte der Film auch nicht.

Die am nächsten am Zielpfosten angebrachte seitliche Bahnkamera zeigte Storm Cone wahrscheinlich einen kurzen Kopf in Führung, aber da diese Kamera einige Meter vor dem Ziel angebracht war, konnte man aufgrund dieser Bilder keine Entscheidung bezüglich des Zieldurchgangs treffen.

Anscheinend stand in der Rennordnung nichts, was den eigentlich für die Überwachung von Zwischenfällen gedachten Bahnkameras die letzte Autorität in der Feststellung des Siegers gegeben hätte.

Der Arzt, der auf die ängstliche Anforderung der Rennleitung hin herbeizitiert worden war, bestätigte Christopher Haigs Tod; er war nach Aussage des Richterassistenten gestorben, bevor Storm Cone oder irgendein anderes Pferd die Ziellinie erreicht hatte. Die genaue Todesursache würde eine Autopsie klären müssen.

Der Stipendiary Steward erklärte, nachdem er sowohl die hohen Tiere des Jockeyclubs in London als auch sein eigenes Gewissen gründlich befragt hatte, den drei amtierenden Stewards, daß sie das Rennen für ungültig erklären mußten.

Ungültig

Es wurde bekanntgegeben, daß das Rennen in erster Linie wegen des Todes des Zielrichters für ungültig erklärt.

worden sei. Alle Wetten seien ausgesetzt. Die eingezahlten Gelder würden zurückerstattet.

Das Wort» ungültig «hallte auf der Rennbahn wider; John Chester stürmte wütend wie ein Bulle in die Waage, bestand darauf, daß sein Pferd gewonnen habe, verlangte, Storm Cones Preisgeld angerechnet zu bekommen, und stellte dogmatisch fest, daß er Driffield von der Spitze der Trainerliste verdrängt habe.

Es tut uns leid, es tut uns leid, sagte man ihm. Ungültig hieß ungültig. Ungültig hieß, daß das Rennen als nicht stattgefunden galt. Niemand hatte irgendwelche Preisgelder gewonnen, und das bedeutete, daß Percy Driffield die Liste weiter anführte.

John Chester verlor die Selbstbeherrschung und brüllte vor Zorn.

Moggie Reilly, der glaubte, er habe mit Storm Cone am Ziel klar vorn gelegen, tat den Verlust seines Anteils am Preisgeld mit einem philosophischen Achselzucken ab und dachte an den armen, alten Christopher Haig. Er konnte an diesem Freitag nicht wissen, daß sein erstaunlicher Ritt und seine Vertrauenswürdigkeit ihn einen gewaltigen Schritt vorangebracht hatten — sowohl in seiner Berufslaufbahn als auch bei der göttlichen Sarah Driffield, der Königin von ganz Lambourn — seiner zukünftigen Frau.

Das übelste Zähneknirschen hörte man von der Rennleitung selbst. Es war ja nicht zu fassen! Man hielt einen klaren, scharfen Film in Händen, auf dem Vernon Arkwright mit der Hand unter die Hacke von Moggie Reillys Stiefel griff und ihn mit aller Kraft nach oben riß. Man sah, mit welcher Gewalt dies geschah. Man sah, wie sich Moggie Reilly in die Luft erhob und dann über die Schulter seines Pferdes abrutschte und mit aller Kraft kämpfte, um oben zu bleiben und sein Leben zu retten.

Alle konnten sie sehen… Und jetzt erklärte ihnen der Stipendiary Steward — der unanfechtbare Ausleger der Rennordnung —, daß sie weder die Filme der Bahnkameras noch das, was sie mit eigenen Augen gesehen hatten, verwerten konnten. Sie konnten Vernon Arkwright keiner wie immer gearteten Missetat anklagen, weil das Cloister Handicap Hurdle als niemals stattgefunden galt. Wenn das Rennen ungültig war, dann waren es auch seine Sünden.

Ungültig hieß ungültig, in jeder Hinsicht.

Böse Geschichte. Aber da konnte man nichts machen. Die Rennordnung war unumstößlich.

«Großer Gott, Christopher«, dachte der fähigste der Stewards und sprach damit seinen Freund, den Zielrichter, an,»warum konnte dein Herz nicht fünf Minuten länger schlagen?«

Haigs Tod verhinderte, daß John Chester Spitzentrainer wurde (für alle Zeiten).

Haigs Tod bewahrte Vernon Arkwright (in diesem Frühjahr) davor, von weiteren Rennen ausgeschlossen zu werden. Verblüfft über sein Glück» vergaß«er klugerweise den Grund für seinen (nun ja ungültigen) Angriff auf Moggie. Es war definitiv nicht der geeignete Augenblick, um zu melden, daß er sich habe bestechen lassen.

Durch seinen Tod rettete Christopher Haig Jasper Bil-lington Innes seinen makellosen Ruf.

Als das vierte Rennen von Winchester begann, stand Jasper selbst von tiefem Elend erfüllt vor einer ganzen Batterie rechteckiger Fernsehschirme in einem Geschäft, das Fernseher verkaufte. Ob klein, ob groß zeigten die Bildschirme die gleichen Bilder, aber alle waren sie stumm. Im Laden bevorzugte man Popmusik, um den Umsatz zu steigern: laute Musik, völlig ohne Bezug zu den kühlen Bildern der Pferde und Reiter im Führring, die ohne jeden Kommentar für sich sprechen mußten.

Jasper fragte einen Angestellten des Ladens, ob er den Ton für die Rennübertragung einstellen könne. Kein Problem, sagte man ihm, aber die Musik ging trotzdem weiter. Mit dem Gefühl, neben sich zu stehen, sah Jasper, wie die Pferde zum Cloister Handicap Hurdle an den Start gingen. Sein eigener schöner Lilyglit bewegte sich anmutig; er strotzte vor Kraft. Jasper wurde von seinen eigenen durcheinandergeratenen Gefühlen zerrissen. Wie hatte er jemals bezweifeln können, daß sein Pferd gewann? Wie hatte er auf den Gedanken verfallen können, ihn unehrlich gewinnen zu lassen? Jasper hätte sich gern eingeredet, daß es seinen Anruf bei Vernon Arkwright nie gegeben habe. Er versuchte, sich weiszumachen, daß Arkwright gar nicht in der Lage sein würde, irgend etwas zu unternehmen, um Storm Cone aufzuhalten. Weder Storm Cone noch irgendein anderes Pferd. Lilyglit würde ohne Hilfe gewinnen… Er mußte gewinnen, damit er, Jasper, die Schulden zurückzahlen konnte… Aber der Ausgleich begünstigte Storm Cone… Und wenn Moggie Reilly sich nicht kaufen ließ, dann mußte man ihn aufhalten… Jaspers Gedanken pendelten zwischen Selbstverachtung und Selbstrechtfertigung hin und her, zwischen Vertrauen in Lilyglit und einer Vision von Armut. Er hatte nie in seinem Leben auch nur das Geld für einen Busfahrschein verdient — er fuhr selten mit dem Bus —, und er war für nichts ausgebildet worden. Wie konnte er für eine Frau und vier Kinder sorgen? Und wie sehr konnte er auf seine eigene Ehrlichkeit bauen, wenn diese sich bei der ersten Bewährungsprobe in nichts aufgelöst hatte? Wenn seine erste Rettung aus einer finanziellen Zwangslage der Versuch gewesen war, einen Jockey zu bestechen?

Auf den zahlreichen stummen Bildschirmen stellten sich die Pferde am Start auf und liefen los — Lilyglit lag sofort weit vorn und bestimmte wie gewöhnlich das Tempo.

Nichts Böses würde geschehen, sagte sich Jasper. Lilyglit würde die ganze Strecke über in Führung bleiben. Er sah in Nahaufnahmen, wie sein Liebling in der ersten Runde an den Zielpfosten vorbeiflitzte und danach in die Kurve zum Ausgang der Geraden ging, so daß nur noch sein Hinterteil den Bildschirm füllte.

Die Fernsehkamera blieb auf Lilyglit gerichtet und zeigte daher nicht Vernon Arkwrights Übergriff auf Storm Cone, sondern — mit einem wilden Schwenk — erst den Augenblick, als Moggie Reilly aus dem Sattel flog. Obwohl die weißen Rails, Storm Cone selbst und andere Pferde ihn größtenteils verdeckten, konnte man doch erkennen, wie Moggie Reilly in seinem scharlachrot und orangefarbenen Trikot kämpfte und schließlich mit unverhoffter Hilfe seinen Kampf gegen die Schwerkraft gewann. Die Batterie von Fernsehschirmen zeigte, wie er, ohne Zügel in der Hand, ohne die Stiefel in den Steigbügeln zu haben, über die nächste Hürdenflucht ging. Dann — Ende der Geschichte — schwenkte die Kamera wieder zurück zum führenden Pferd, zu Lilyglit, der jetzt seine Führung um einige Längen ausgebaut hatte.

Jasper brach am ganzen Körper kalter Schweiß aus. Sein Bewußtsein wollte nicht akzeptieren, was seine Augen gesehen hatten. Er konnte doch nicht… Er konnte doch nicht veranlaßt haben, daß Moggie Reilly in furchtbare Gefahr gebracht und verletzt wurde… Das war unmöglich.

Aber Moggie Reilly hielt sich immer noch auf seinem Pferd, zwar nicht mit den Füßen in den Steigbügeln, aber immer noch entschlossen, verlorenes Terrain wiedergutzumachen, immer noch willens, die fünf oder sechs vor ihm liegenden Pferde einzuholen, auch wenn er sich keine Hoffnung mehr auf den Sieg machen konnte.

Vernon Arkwright war zurückgefallen und auf den Fernsehbildern nicht mehr zu sehen; er hatte seine Aufgabe erfüllt. Jetzt wurde wieder Lilyglit allein gezeigt, der dahingaloppierte und sich uneinholbar mit langen Galoppsprüngen der letzten Hürde näherte.

Ich habe gewonnen, dachte Jasper und empfand wenig Freude dabei.

Lilyglit stürzte.

Lilyglit lag schlaff auf dem grünen Gras.

Die Fernsehkamera schwenkte zum Zieleinlauf um. Storm Cones grelle Farben blitzten an der Linie auf, ohne daß man Genaueres hätte erkennen können, und einen Augenblick später wandte sich die Kamera wieder Lilyglit zu, der sich immer noch nicht bewegte, der wie tot dalag.

Jasper Billington Innes wäre in dem Laden beinahe bewußtlos geworden.

Irgendwo in den Tiefen des Geschäftes wurde ein Knopf gedrückt und wechselte vom Rennprogramm zu einer ausgelassenen Kindersendung. Auf drei Wänden krabbelten identische Zeichentrickfiguren simultan über die Bildschirme, gaben ungehört ihr Geschnatter, ihr Gequieke und ihre Platitüden von sich. Sie zogen ein lachendes Publikum an (was das Rennen nicht vermocht hatte), und das betäubende Bumm-bumm der Hintergrundmusik dröhnte weiter.

Benommen verließ Jasper den Laden und bewegte sich mit zuckenden Beinen auf das vielgeschossige Parkhaus zu, wo er seinen Wagen abgestellt hatte, nachdem er entschieden hatte, wo er sich das Cloister anschauen wollte.

Er schloß den Wagen auf, setzte sich wie betäubt auf den Fahrersitz und ließ noch einmal sein furchtbares Unglück vor seinem inneren Auge vorbeiziehen.

Lilyglit — er konnte es nicht ertragen — war tot. Tot und unversichert, nichts wert: Und er stand nun mit seiner letzten verzweifelten Wette schwer in der Schuld von Percy Driffield.

Vernon Arkwright würde vor die Stewards zitiert werden und bezeugen, daß Jasper ihn bestochen hatte, Moggie Reillys Leben in Gefahr zu bringen.

Jasper begriff, daß er vielleicht selbst Rennbahnverbot erteilt bekommen würde, daß dieser Gipfel der Erniedrigung ihm nicht erspart bleiben würde. Er versank in Schulden, die er nicht bezahlen konnte, und er hatte das Vermögen seiner Frau verloren. Aber es war das Bewußtsein seiner Unehrenhaftigkeit, das seiner Selbstachtung den schwersten Schlag versetzt hatte.

Nicht zum ersten Mal dachte er daran, sich umzubringen.

Wendy Billington Innes hatte ihre Tränen getrocknet und straffte beim Anblick von Lilyglit, der unverletzt von der Bahn kam, ihren Rücken. Kurze Zeit später hörte sie halb erleichtert und halb entsetzt Percy Driffield am Telefon zu.

«Sie verstehen doch, oder?«fragte er, als sie stumm blieb.

«Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie.

«Sagen Sie Jasper, daß alles an diesem Rennen ungültig ist. Alles. Einschließlich seiner Wette.«

«Gut.«

«Ein ungültiges Rennen dürfte Lilyglits Wert eigentlich nicht sehr beeinflussen… Und sagen Sie Jasper, daß ich unter den Besitzern, deren Pferde ich betreue, einen Käufer für Lilyglit gefunden habe. Ich möchte dieses Pferd einfach nicht verlieren.«

«Ich werde es ihm sagen«, sagte Wendy, beendete das Gespräch und versuchte zum dritten Mal, ihren Mann überall dort zu erreichen, wo er ihrer Meinung nach hätte sein können.

Niemand hatte ihn seit dem Frühstück gesehen. Die Angst, die sie den ganzen Tag über erstickt hatte, machte sich mit aller Schärfe bemerkbar und ließ sie beinahe in Panik geraten.

Sie kannte Jaspers unbeugsamen Stolz. Hinter seinem reizenden Äußeren verbarg sich ein ehrenhafter Mann. Schließlich war es gerade seine Aufrichtigkeit gewesen, die sie für ihn eingenommen hatte.

Stemmer Peabody hatte Jaspers Stolz zertrümmert. Dieser Bankrott würde Jasper schier unerträglich sein, gerade so, als hätte er selbst etwas Schändliches getan. Er würde vielleicht zu dem Schluß kommen, daß er das alles nicht ertragen konnte.

Sie hatte zweimal versucht, Jasper über sein Autotelefon zu erreichen, aber er hatte nicht zurückgerufen. Das Autotelefon gab hinterlassene Nachrichten automatisch über Lautsprecher wieder, sobald die Zündung eingeschaltet war. Trotzdem waren ihre flehentlichen Bitten an Jasper, sie zurückzurufen, unbeantwortet geblieben. Das hieß nicht unbedingt, daß er ihre Nachrichten nicht abgehört hatte. Sie fürchtete, er könne sie ignoriert und einfach abgetan haben.

Da es sonst nicht die geringste Hoffnung gab, versuchte sie es noch einmal über sein Autotelefon.

«Sie können eine Nachricht hinterlassen…«

Sie verfluchte die körperlose Stimme und ließ ihr Herz sprechen.

«Jasper, wenn du mich hören kannst, hör zu… Hör zu. Lilyglit lebt, er ist gestürzt, aber ihm war nur die Luft weggeblieben. Er ist unverletzt… Hör zu… Und Percy Driffield hat einen Käufer. Und das ganze Rennen wurde für ungültig erklärt, weil der Zielrichter vor dem Zieldurchgang gestorben ist. Nichts, was während des Rennens geschehen ist, zählt. Nichts, verstehst du? Percy Driffield meinte, das solle ich dir vor allem sagen. Alle Wetten sind ungültig. Also, Jasper… mein Liebling, mein Liebling, komm nach Hause… Wir kommen schon klar… Ich koche ganz gerne und kümmere mich um die Kinder. Aber wir brauchen dich… Komm nach Hause… Bitte, komm nach Hause…«Sie hielt jäh inne, weil sie das Gefühl hatte, ins Leere zu sprechen, sinnloserweise.

Jasper hörte sie in der Tat nicht. Da die Zündung des Wagens nicht eingestellt war, blieb das Autotelefon stumm.

Jasper konnte sich mit einem Anflug von schwarzem Humor nicht entscheiden, wie er sich umbringen sollte. Er hatte keinen Schlauch, um Kohlenmonoxyd ins Wageninnere zu lenken. Er kannte keine Felsen, von denen er sich stürzen konnte. Er hatte kein Messer, um sich die Handgelenke aufzuschneiden. Das Sterben schien nicht so leicht zu sein. Da er nie praktisch veranlagt gewesen war, stand er jetzt vor einem Problem und bemühte sich vergebens, einen Weg zu finden. Dabei fand er in einer Türablage des Wagens einen alten Briefumschlag und schrieb darauf völlig verzweifelt, aber ohne Eile seine Abschiedsbotschaft.

Ich schäme mich.

Vergebt mir.

Danach beschloß er, sich irgendwo einen guten, festen Baum zu suchen und dann zu einem tödlichen Frontalzusammenstoß zu beschleunigen.

Er steckte den Wagenschlüssel in die Zündung, um den Motor anzulassen… Und der Infoservice des Autotelefons spielte ihm laut Wendys Worte vor, so als säße sie neben ihm.

Völlig fassungslos hörte sich Jasper Billington Innes die Nachricht seiner Frau dreimal an.

Nach und nach begriff er, daß Lilyglit lebte, daß seine Wette, die er über Percy Driffield plaziert hatte, ungültig war und daß weder er noch Vernon Arkwright eines Bruchs der Rennordnung angeklagt werden würden.

Minutenlang zitterte er, bevor er sich langsam entspannte.

Er begriff, daß er, ohne es verdient zu haben, eine zweite Chance erhielt und daß es keine dritte geben würde.

Er zerriß den Umschlag und fuhr langsam nach Hause.

Offiziell war bei dem Cloister Handicap Hurdle nichts von alledem, was sich dort ereignet hatte, wirklich geschehen. Nichts. außer dem Tod von Christopher Haig.

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