Zum Grand National geht man, um zu gewinnen: Jockeys, Spieler und, in unserem Fall, die Polizei.
Wenn es der Glückstag der Verlierer ist, dann haben vielleicht gerade die gewonnen, die verloren zu haben glauben, und diejenigen verloren, die gewonnen haben.
Es kommt ganz auf den Einsatz an.
Austin Dartmouth Glenn machte sich mit einem dicken Bündel neuer Banknoten in der Tasche und einer Mischung aus schlechtem Gewissen und gespielter Tapferkeit auf den Weg zum Grand National.
Austin Dartmouth Glenn war sich bewußt, daß er geschworen hatte, die Banknoten nicht vorzeitig in Umlauf zu bringen. Nicht in den nächsten fünf Jahren, hatte man ihm eingeschärft. In fünf Jahren würde sich der Wirbel gelegt haben und der Millionenraub Geschichte sein. Die Polizei würde mit der Aufklärung neuerer Verbrechen zu tun haben, und die heißen Seriennummern würden auf überholten Listen zu fliegendreckgesprenkelter Bedeutungslosigkeit verblaßt sein. In fünf Jahren konnte er gefahrlos das kleine Vermögen ausgeben, das er für seine Rolle bei der Befreiung des Chefs der Bankräuber aus dem Gefängnis erhalten hatte.
Das war ja alles gut und schön, überlegte Austin störrisch, während er aus dem Zugfenster blickte. Aber was war mit der Inflation? In fünf Jahren war sein kleines
Vermögen in Scheinen vielleicht nicht mal mehr das Papier wert, auf dem diese gedruckt waren. Vielleicht hatte sich auch die Farbe und Größe der Banknoten bis dahin verändert. Er hatte von einem verzweifelten Safeknacker gehört, der nach zwölf abgesessenen Jahren nur noch einen Haufen alter Fetzchen vorgefunden hatte. All diese Zeit abgesessen für einen Haufen veralteten, uneinlösbaren Mülls. Austin Glenns Lippen zuckten mitleidig bei diesem Gedanken. Ihm würde das nicht passieren, o nein, ihm nicht.
Austin hatte seinen Zugfahrschein mit gewöhnlicher Währung bezahlt, ebenso wie die Bierdosen, die zellophanverpackten Sandwiches und die Ausgabe einer Rennzeitung. Die heißen neuen Scheine, die sicher in einer Innentasche verstaut waren, würde er nicht ausgeben, bevor er in der hektischen Anonymität der großen Menschenmenge auf dem Rennplatz Aintree untergetaucht war. Er war kein Narr, natürlich nicht, dachte er selbstgefällig. Ein sauberer Stapel von Banknoten, druckfrisch und fortlaufend numeriert, mochte selbst den Arglosesten neugierig machen. Aber niemand würde jetzt, nachdem er sie mit eigens zu diesem Zweck beschmutzten Händen gerieben und zerknittert hatte, einen zweiten Blick darauf werfen.
Er wischte sich mit dem Handrücken das Bier vom Mund; ein knochiger Mann von zirka vierzig Jahren mit ordentlich gekämmtem, dünnem, grauschwarzem Haar und rastlosen Augen, der ein unerschütterliches Selbstbewußtsein zur Schau stellte. Ein Leben an der Peripherie des Verbrechens hatte ihm Hunderte zweifelhafter Bekanntschaften beschert, einen weitverzweigten Fundus an Informationen und profunde Kenntnisse, wie man Bestechungsgelder kassierte, ohne unfein die Hand danach auszustrecken. Niemand mochte ihn Besonders, aber Austin war nicht feinfühlig genug, um das zu bemerken.
Etwas weiter vorne im selben Zug saß Jerry Springwood und schwitzte aus drei Gründen. Zum einen war er den Aufenthalt im Freien gewohnt und fand die Hitze im Abteil erdrückend; zum anderen war er wegen übermäßigen Alkohol- und Sexkonsums schon sehr spät dran, und er würde sehr wahrscheinlich seinen Job verlieren, wenn er tatsächlich zu spät kam; aber vor allem schwitzte er aus Angst.
Jerry Springwood hatte mit seinen zweiunddreißig Jahren seinen Schneid verloren und versuchte das Gewerbe eines Jagdrennjockeys weiter zu Betreiben, ohne irgend jemanden etwas davon merken zu lassen. Die alten Tage, da er mit kühlem Verstand zu reiten pflegte und gelegentliche Stürze ihm schlimmstenfalls lästig waren, lagen lange zurück. Seit Monaten reiste er jetzt mit lähmender Angst zu den Rennveranstaltungen, sah im Geiste scharfe Knochenenden aus seiner Haut ragen, ein zerschmettertes Gesicht oder ein verletztes Rückgrat… und erlebte die Schmerzen im Geiste. Seit Monaten war es ihm nicht mehr möglich, Risiken einzugehen, die ihm früher überhaupt nicht als Risiken erschienen wären. Seit Monaten war er außerstande, seine Pferde in Lücken zu führen, auch wenn nur das ihm den Sieg eintragen konnte; und seit Monaten konnte er sich einfach nicht mehr zurückhalten, seine Pferde vorm Sprung zu beruhigen, auch wenn nur ein Tritt das Richtige war.
Die Sorgfalt, die ihn an die Spitze gebracht hatte, verwandte er nun darauf, seine Unzulänglichkeiten zu verbergen, und sein seit langem bestehender, guter Ruf verhalf den Erklärungen, die er Besitzern und Trainern für seine Niederlagen lieferte, zu Glaubwürdigkeit. Nur die Scharfsichtigsten sahen die verhohlenen Zeichen des Nachlassens, und nur wenige von ihnen hatten ihre privaten Zweifel bisher in private Worte gefaßt. Für die breite Öffent-lichkeit, die in der Teilnehmerliste des Grand National nach Anhaltspunkten für ihre Wetten suchte, war der alte Jerry Springwood als Jockey ein zusätzliches Plus zugunsten des dritten Favoriten Haunted House.
Vor einem Jahr, überlegte er düster, während er die vorbeifliegenden Felder betrachtete, wäre er nicht so dumm gewesen, in der Nacht vor dem großen Rennen in London eine Party zu besuchen. Vor einem Jahr wäre er irgendwo in der Nähe der Rennbahn geblieben und hätte vielleicht ein paar Bier getrunken, bevor er früh — und allein — zu Bett gegangen wäre. Er hätte nicht mal im Traum daran gedacht, nach dem Freitagsrennen eine Vier-StundenFahrt nach Süden zu machen oder sich zu betrinken oder um zwei Uhr morgens mit einem Mädchen, das er erst drei Stunden kannte, ins Bett zu gehen.
Er hätte den Gedanken an die Anstrengung vom Samstagnachmittag nicht zu verdrängen brauchen, hätte ihr vielmehr entgegengefiebert, voller Eifer, Erregung und unauslöschlicher Hoffnung. O Gott, dachte er verzweifelt, was ist nur aus mir geworden? Er war klein und stark, mit drahtigem, mittelbraunem Haar, tiefliegenden Augen und einer Nase, die von zu häufigem und zu schnellem Kontakt mit dem Boden flach geworden war. Ein Bauernsohn, natürlich im Umgang mit Tieren und mit dem gesellschaftlichen Schliff, den der Erfolg bringt. Die Leute mochten Jerry Springwood für gewöhnlich, aber er war zu bescheiden, um es zu bemerken.
Das Publikum strömte fröhlich auf die Rennbahn Aintree, wohlausgestattet mit Hoffnung, Vertrauen und Bargeld. Austin blätterte den ersten der heißen Scheine am Drehkreuz hin und sah selbstzufrieden zu, wie er in der Anonymität der Eintrittsgelder versank. Für den nächsten bekam er in einer überfüllten Bar problemlos Wechselgeld, und genauso ging es mit einem dritten, für den er Rennberichte kaufte. Ein Kinderspiel, dachte er hämisch. Es war doch sinnlos, das Zeug fünf Jahre festzuhalten.
Der Toto hatte wie gewöhnlich seine Schalter eine Stunde vorm ersten Rennen geöffnet, um Wetten für das Grand National entgegenzunehmen, denn nach dem zweiten Rennen blieb nicht mehr genug Zeit, um die Nachfrage nach Wettscheinen für das große dritte Rennen zu befriedigen. Es hatten sich bereits lange Schlangen gebildet, als Austin zum Toto ging, um auf seinen Favoriten zu setzen. Genau wie er wußten auch die anderen aus Erfahrung, daß es am besten war, früh zu wetten, wenn man einen guten Platz auf der Tribüne haben wollte.
Er wartete in der Schlange eines Toto-Schalters und notierte seinen Tip auf seinem Rennprogramm. Als er an die Reihe kam, sagte er:»Einhundert auf Sieg, Nummer zwölf — im National«, und zählte ohne Gewissensbisse die sorgfältig zerknitterten Scheine ab. Die vielbeschäftigte Frau hinter dem Schalter gab ihm seine Wettscheine, ohne ihm größere Beachtung zu schenken.»Der Nächste?«sagte sie und sah schon über seine Schulter hinweg den Mann hinter ihm an. Kinderleicht, dachte Austin selbstgefällig, während er seine Scheine in der Jackentasche verstaute. Einhundert auf Nummer zwölf, auf Sieg. Es hatte keinen Sinn, sich mit Platzgeldern abzugeben, sagte er immer. Und man durfte schließlich nicht vergessen, daß er ein ziemlich gutes Auge für die Form eines Pferdes hatte: Das war eine Fähigkeit, auf die er stets stolz gewesen war. Niemand in dem Rennen hatte bessere Chancen als der dritte Favorit, Haunted House, und einen besseren Jockey als Springwood konnte man sich nicht wünschen, oder? Selbstzufrieden schlenderte er wieder zur Bar und genehmigte sich noch ein Bier.
In der Umkleidekabine hatte Jerry Springwood keine Mühe, sowohl seinen Kater als auch seine Angst zu verbergen. Die anderen Jockeys litten wie gewohnt unter der nervösen Anspannung vorm National und stellten fest, daß ihre Münder ein wenig trocken waren, ihre Gedanken ein wenig zerstreut und daß der Strom ihrer zotigen Scherze zu einem Rinnsal vertröpfelte.
Zweimal über Becher’s Brook, dachte Jerry hoffnungslos, dann der Kanal mit der Kehre, dann der Chair, wie in Gottes Namen soll ich das nur schaffen?
Während Jerry schwitzte, versuchte Chief Superintendent Crispin, Chef der Ortspolizei, sich in aller Eile über die Bedeutung einer Information klarzuwerden, die er soeben erhalten hatte. Er mußte sich, so stellte er schließlich fest, an den ersten Mann der Rennbahn wenden, wenn er ein möglichst befriedigendes Ergebnis erreichen wollte.
Der erste Mann der Rennbahn, der Senior-Steward des Jockey Clubs, hatte in einem privaten Speisezimmer eine Reihe wichtiger Besucher aus Übersee zum Mittagessen zu Gast, als Chief Superintendent Crispin ihnen in den gebratenen Lammrücken platzte.
«Ich muß Sie dringend sprechen, Sir«, sagte der Polizist und beugte sich über das höchste Ohr des Renngeschehens.
Sir William Westerlands ausdrucksloser Blick ruhte kurz auf der beträchtlichen Menge Messing auf der marineblauen Uniform.»Sie sind hier zuständig?«
«Ja, Sir. Können wir unter vier Augen sprechen?«
«Ich denke doch, wenn es denn so wichtig ist. «Sir William erhob sich, warf einen bedauernden Blick auf die noch übrige Hälfte seines Mittagessens und führte den Polizisten in den offenen Teil seiner Privatloge hoch oben auf der Tribüne. Die beiden Männer standen gebeugt in der kühlen Luft und unterhielten sich vor dem Hintergrundlärm der anschwellenden Menschenmenge und den Rufen der Buchmacher, die ihre Wetten für das bevorstehende erste Rennen feilboten.
Crispin sagte:»Es geht um den Bankraub von Birmingham, Sir.«
«Aber der liegt doch schon mehr als ein Jahr zurück«, protestierte Westerland.
«Einige der gestohlenen Geldscheine sind heute hier auf der Rennbahn aufgetaucht.«
Westerland runzelte die Stirn; es war überflüssig, ihm Einzelheiten zu erzählen. Die Sprengung des angeblich uneinnehmbaren Tresors, der Diebstahl von mehr als dreieinhalb Millionen Pfund, die gewaltsame Flucht der Diebe: Es war ein noch größeres Spektakel gewesen als seinerzeit der Tod Nelsons.
Vier Männer und ein kleiner Junge waren bei der Explosion außerhalb der Mauern der Bank getötet worden, und zwei Hausfrauen und zwei junge Polizisten waren später niedergeschossen worden. Die Diebe waren, noch bevor das Echo der einstürzenden Wände verklungen war, in einem Feuerwehrwagen vorgefahren und in den Ruinen verschwunden, um den Inhalt des Tresors in» Sicherheitsverwahrung «zu nehmen; dann waren sie einfach mit der Beute davongefahren. Im allerletzten Augenblick schöpfte ein verwirrter Constable Verdacht; seine Aufforderung anzuhalten war mit einem Hagel von Maschinengewehrkugeln beantwortet worden. Nur ein Mitglied der Bande hatte man identifiziert, gefangengenommen, vor Gericht gestellt und zu dreißig Jahren verurteilt; und von diesen hatte der Gangster genau dreißig Tage abgesessen, bevor ihm eine spektakuläre Flucht gelang. Ihn wieder einzufangen und seine Komplizen ebenfalls dingfest zu machen hatte bei der Polizei Dringlichkeitsstufe eins.
«Es ist die erste Spur seit Monaten«, sagte Crispin ernst.
«Wenn wir denjenigen verhaften können, der mit dem heißen Geld hierhergekommen ist…«
Westerland blickte auf die brodelnde, aus Tausenden Menschen bestehende Menge hinab.»Ziemlich hoffnungslos, würde ich meinen«, sagte er.
«Nein, Sir. «Crispin schüttelte seinen ordentlich frisierten, ergrauenden Kopf.»Ein besonders scharfsichtiger Prüfer beim Toto hat einen der Geldscheine entdeckt, und jetzt haben sie noch neun weitere gefunden. Eine der Verkäuferinnen des Fünf-Pfund-Schalters erinnert sich daran, daß sie Wettscheine im Wert von hundert Pfund an einen Mann verkauft hat, der mit Scheinen bezahlte, die sich neu anfühlten, obwohl sie stark zerknittert und zerknautscht waren.«
«Aber trotzdem.«
«Sie erinnert sich daran, daß er nur auf ein Pferd gesetzt hat, und zwar auf Sieg, was beim Grand National ungewöhnlich ist.«
«Welches Pferd?«
«Haunted House, Sir. Und daher, Sir, wird unser Mann, wenn Haunted House gewinnt, mit seinem Bündel Wettscheine für hundert Pfund zum Zahlschalter kommen, und dann haben wir ihn.«
«Aber«, wandte Westerland ein,»was ist, wenn Haunted House nicht gewinnt?«
Crispin sah ihn mit ruhiger Miene an.»Wir möchten, daß Sie dafür sorgen, daß Haunted House gewinnt. Wir wollen, daß Sie das Grand National manipulieren.«
Unten im Tattersall reichte Austin Dartmouth Glenn einem Buchmacher zwei heiße Banknoten; dieser stopfte sie eifrig und ohne sie näher zu betrachten in seine Tasche. Einen Zehner auf Sieg für Spotted Tulip zu einem Kurs von acht zu eins. In dem Lärm, der Hast und der Aufregung der letzten fünf Minuten vor dem ersten Rennen kämpfte Austin sich zur Tribüne hinauf, um sich den besten Ausblick auf sein Geld auf vier Hufen zu sichern. Aber diese vier Hufe schienen lahm zu sein und waren die letzten im Ziel. Angewidert zerriß Austin seinen Wettschein und warf die Schnipsel in den Wind.
Im Umkleideraum stieg Jerry Springwood widerstrebend in seine dünne, weiße Reithose und mühte sich mit den Knöpfen seiner leuchtenden, rot-weiß gestreiften Rennfarben ab.
Sein Kopf füllte sich wie ein Brunnen mit Panik, und der furchtbare Wunsch, Hals über Kopf zu fliehen, wurde mit jeder Minute, die verging, tiefer und tödlicher. Er hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, und nahm nicht wahr, daß jemand ihn ansprach.
Seine Hände zitterten. Ihm war kalt. Es mußte noch eine ganze Stunde überstanden werden, bevor er sich würde zwingen müssen, in den Führring zu treten, aufs Pferd zu steigen, zu den Startboxen zu reiten und dann weiter über diese schwierigen sechs Kilometer und über dreißig gewaltige Hindernisse.
Ich schaff’s nicht, dachte er wie betäubt. Ich halte es einfach nicht aus. Wo kann ich mich nur verstecken?
Die vier Stewards, die für die Veranstaltung verantwortlich waren, saßen mit düsteren Mienen um ihren großen Tisch und reagierten mit verschiedenen Abstufungen der Ungläubigkeit und Beklommenheit auf das Drängen von Chief Superintendent Crispin.
«So etwas ist noch nie dagewesen«, sagte einer.»Es kommt gar nicht in Frage. Wir haben nicht mehr genug Zeit«, sagte ein anderer. Ein dritter sagte:»Sie werden die Trainer nie dazu kriegen, sich mit etwas Derartigem einverstanden zu erklären.«
«Und was ist mit den Besitzern?«fragte der vierte.
Crispin hatte vor dem Rennsport genausowenig Achtung wie vor schurkischen Politikern und fand, daß die Verhaftung dieses Abschaums aus Birmingham von weit größerer gesellschaftlicher Bedeutung war als die Frage, welches spezielle Pferd als erstes durchs Ziel ging.
Seine innere Empörung angesichts der sturen Haltung der Stewards nahm unmißverständlich von seiner Stimme Besitz.
«Die Diebe von Birmingham haben neun Menschen ermordet«, sagte er mit Nachdruck.»Jeder hat die öffentliche Pflicht, der Polizei zu helfen, diese Leute dingfest zu machen.«
Aber die gehe doch gewiß nicht so weit, dafür das Grand National zu ruinieren, beharrten die Stewards.
«Ich habe mir sagen lassen«, bemerkte Crispin,»daß es bei Jagdrennen im allgemeinen kaum um Zuchtwerte geht, und in dem diesjährigen National sind die Teilnehmer allesamt Wallache. Es ist nicht so, als bäten wir Sie darum, mit der Manipulation des Derbys das Zuchtbuch zu verderben.«
«Trotzdem, es wäre unfair gegenüber der wettenden Öffentlichkeit«, sagten die Stewards.
«Die Leute, die in Birmingham gestorben sind, waren Teil der wettenden Öffentlichkeit. Die nächsten, die bei dem nächsten gewalttätigen Banküberfall sterben, werden ebenfalls zur wettenden Öffentlichkeit gehören.«
Sir William Westerland lauschte den Argumenten mit unverändert ausdrucksloser Miene. Er hatte es im Leben weit gebracht, indem er mit seiner Meinung hinterm Berg hielt, bis alle anderen ihre Herzen, ihre Ansichten und ihre Schwächen bloßgelegt hatten. Die milden Bemerkungen, die er dann schließlich abzugeben pflegte, wurden meist als eine Art göttliche Offenbarung aufgenommen, obwohl es sich im Grunde genommen nur um gesunden, von Gefühlen unbeeinträchtigten Menschenverstand handelte. Er beobachtete Crispin und seine Kollegen, die anderen Stewards, die sich langsam in Rage redeten und in Vorbehalt und Feindseligkeit zu verfallen drohten. Er seufzte innerlich, warf einen Blick auf seine Uhr und räusperte sich vernehmlich.
«Meine Herren«, sagte er gelassen und deutlich.»Bevor wir zu einer Entscheidung kommen, meine ich, sollten wir die folgenden Punkte bedenken. Erstens Möglichkeit. Zweitens Geheimhaltung. Drittens Konsequenzen.«
Die Stewards und die Polizisten sahen ihn gleichermaßen erleichtert an.
«Springjockeys«, sagte Westerland,»sind Individualisten. Was glauben Sie, wie man die davon überzeugen kann, daß sie das Rennen manipulieren sollen?«
Keine Antwort.
«Wer kann garantieren, daß Haunted House nicht stürzen wird?«
Keine Antwort.
«Was glauben Sie, wie lange es dauern würde, bis jemand die Presse verständigt? Wollen wir wirklich den Aufruhr, der daraus entstehen würde?«
Keine Antwort, aber gewaltiges Kopfschütteln auf seiten der Stewards.
«Aber wenn wir Chief Superintendent Crispin seine Bitte abschlügen, wie würden wir uns fühlen, wenn wieder eine Bank in die Luft gesprengt würde, wenn weitere unschuldige Menschen getötet würden und wir wüßten, daß wir nichts getan haben, um es zu verhindern?«
Die ganze Versammlung sah ihn schweigend und in Erwartung seiner Führung an.
Jerry Springwoods Kopf fühlte sich an wie ein Ballon, der irgendwo oberhalb seines unkoordinierten Körpers schwebte. Der Ruf:»Die Jockeys bitte auf die Bahn«, hatte ihn ereilt, während er immer noch außerstande war, einen Fluchtweg zu ersinnen. Zu viele Leute kannten ihn. Wie kann ich weglaufen, dachte er; wie kann ich zum Tor taumeln und mir ein Taxi suchen, wo alle wissen, daß ich rausgehen sollte, um Haunted House zu reiten? Kann ich in Ohnmacht fallen, dachte er? Kann ich sagen, ich wäre krank? Ohne sein eigenes Zutun, wie es schien, ging er mit den anderen hinaus; seine bleiernen Beine stapften automatisch weiter, während sein Geist in sich zusammensank. Er stand mit trockenem Mund im Führring, und seine Augen fühlten sich wie griesige Löcher in seinem Schädel an. Das auf nervöse Art herzliche Geplapper, in das Besitzer und Trainer vor jedem Rennen verfielen, hörte er nicht. Ich kann nicht, dachte er. Ich kann nicht.
Der Senior Steward des Jockey Clubs, Sir William Westerland, trat neben ihn, während er stocksteif in seiner Hölle ohne Hoffnung steckte.
«Jerry, eine Kleinigkeit unter uns«, sagte er.
Jerry Springwood sah ihn ausdruckslos an, und seine Augen waren wie glatte, graue Kieselsteine. Westerland, der diesen Ausdruck auf anderen Gesichtern gesehen hatte und wußte, was er bedeutete, wurde jäh von böse-sten Ahnungen heimgesucht. Trotz Chief Superintendent Crispins Einwänden hatte er die einträchtige Meinung der Stewards bestätigt. Das National konnte nicht manipuliert werden — nicht einmal, um Mörder zu fangen. Er kam zu dem Schluß, daß dies sowohl praktisch wie auch moralisch unmöglich war. Die Polizei mußte eben in Zukunft die Rennveranstaltungen schärfer im Auge behalten, und eines nicht mehr allzu fernen Tages würden sie vielleicht ihren Fisch fangen, wenn er wieder zum Toto schwamm.
Aber dennoch fand Westerland, daß es nicht schaden konnte, wenn er Jerry Springwood Erfolg wünschte; aber jetzt wurde ihm klar, daß Crispin keine Chance hatte, heute seinen Mann zu schnappen. In diesem Zustand starrer Angst konnte kein Jockey das National gewinnen. Die Leute, die auf Haunted House gesetzt hatten, würden von Glück sagen können, wenn ihr Pferd sich einen halben Kilometer im Rennen hielt, bevor es einfach haltmachte, die Bahn verließ oder sich unter dem starren Würgegriff seiner Zügel weigerte zu springen.
«Viel Glück«, sagte Westerland lahm und mit Bedauern.
Jerry gab keine Antwort; selbst ganz gewöhnliche Höflichkeit überstieg heute seine Kräfte.
Oben auf seinem Ausguck auf der Tribüne sah Austin Glenn zu, wie die lange Reihe von Startern die Bahn hinunterging. Noch zehn Minuten bis zum Rennen, die Buchmacher schrien sich die Kehlen wund, und die gedrängte Menschenmenge summte vor Erregung. Austin, der sein im ersten Rennen auf Spotted Tulip gesetztes Geld und einen weiteren, noch dickeren Batzen im zweiten Rennen an Buchmacher verloren hatte, biß sich wegen Haunted House auf die Knöchel.
Jerry Springwood saß mit zusammengesunkenen Schultern wie ein Sack im Sattel. Das Pferd, das empfänglich für die Stimmung seines Reiters war, stampfte verwirrt weiter und wußte nicht recht, ob es statt dessen auf die Menge reagieren sollte. Für Austin und viele andere sahen Pferd und Reiter aus, als hätten sich hier zwei zusammengefunden, die beide gar nicht anders konnten als verlieren. William Westerland schüttelte bedauernd den Kopf, und Crispin fragte sich gereizt, warum ausgerechnet dieses spezielle Pferd aussah, als schliefe es gleich ein.
Jerry Springwood stellte sich zum Start auf, indem er jeden anderen Gedanken ausblendete. Der Brunnen der Panik war voll und wollte überlaufen. Jerry, bleich und von klebrigem Schweiß überzogen, wußte, daß er in ein paar Minuten würde absteigen und weglaufen müssen. Müssen.
Als der Starter ihn freigab, stand Haunted House zuerst wie angewurzelt da. Da er kein Zeichen aus dem Sattel bekam, lief er nur zögernd hinter dem entschwindenden Feld her. Das Pferd kannte seinen Job — es war hier, um zu laufen und zu springen und seinen Kopf vor den des nächsten Pferdes zu bringen. Aber der Wallach fühlte sich ruderlos ohne die Hilfe und die Anweisungen, an die er gewöhnt war. Sein Jockey blieb instinktiv oben, die Praxis langer Jahre kam ihm zu Hilfe, die trainierten Muskeln arbeiteten nach einem Schema, das keines bewußten Gedankens bedurfte.
Haunted House sprang als letzter über das erste Hindernis und war fünf Hindernisse später, als sie sich Becher’s Brook näherten, immer noch letzter. Jerry Springwood sah das Pferd direkt vor sich stürzen und erinnerte sich dumpf, daß er genau auf ihm landen würde, wenn er geradeaus weiterritt. Fast ohne nachzudenken, schnippte er mit der rechten Hand am Zügel, und Haunted House, der von diesem winzigsten Lebenszeichen Feuer fing, schwenkte ei-nen Meter zur Seite, ließ die Hufe trommeln und widmete seine großartige Pferdeseele der Aufgabe, sich und seinen Reiter außer Gefahr zu bringen. Haunted House kannte das Geläuf: Es hatte dort gewonnen, mit Jerry Springwood im Sattel, bei kürzeren Rennen. Sein plötzlicher Satz über Becher’s Brook erfüllte die scheinbar unwandelbare innere Leere seines Jockeys erneut mit frischer, lebhafter Angst.
O Gott, dachte Jerry, während Haunted House ihn unausweichlich dem Kanal und der Kehre näherbrachte, wie soll ich das schaffen? Wie soll ich das schaffen? Er saß da und kämpfte gegen seine Panik, während Haunted House ihn trittsicher um die Kehre trug, dann über Valentine’s Brook und den ganzen Weg bis zum Chair. Später glaubte Jerry felsenfest, daß er die Augen geschlossen hatte, als sein Reittier die letzten Meter auf das schwierigste Hindernis der Welt zu galoppierte, aber Haunted House nahm das Hindernis perfekt, ohne auch nur im mindesten zu straucheln. Über das Wasserhindernis und vorbei an der Tribüne, dann wieder raus Richtung Becher’s Brook — das ganze Geläuf mit allen Sprüngen noch einmal von vorn. Wenn ich es jetzt anhalte, dachte Jerry, habe ich genug erreicht. Neben ihm wurden Pferde müde, blieben stehen oder glitten aus und stürzten, aber Haunted House galoppierte mit stetigen fünfzig Stundenkilometern voran, ohne sich im geringsten um das Schicksal seines Reiters zu scheren.
Austin Glenn auf der Tribüne und William Westerland in seiner Privatloge und Chief Superintendent Crispin, der angespannt vor einem Fernsehbildschirm saß — sie alle sahen mit beschleunigtem Pulsschlag zu, wie Haunted House sich durch das Feld nach vorn kämpfte. Als er Becher’s Brook im zweiten Durchgang erreichte, lag er an zehnter Stelle, an der Kanalkehre an siebter und nach dem drittletzten Hindernis zwei Kilometer vorm Ziel an fünfter Stelle.
Jerry Springwood sah eine Lücke am Innenrail und stieß nicht hinein. Er zügelte sein Pferd vor dem vorletzten Hindernis, so daß sie sicher hinüberkamen, aber zwei Längen einbüßten. Auf der Tribüne stieß William Westerland ein lautes Stöhnen aus, und auf Haunted House krampften sich Jerrys Gedärme zusammen angesichts seiner eigenen jämmerlichen Feigheit. Es ist sinnlos, dachte er. Ich wünschte, ich wäre tot.
Der Anführer des Feldes war ein gutes Stück vorausgegangen, und als Jerry ihn über das letzte Hindernis setzen sah, lag Haunted House gute vierzig Längen zurück. Noch eines, dachte Jerry. Nur noch ein Hindernis. Ich werde nie wieder ein Rennen reiten. Nie wieder. Er biß die Zähne zusammen, und Haunted House spannte die Muskeln an und warf seine halbe Tonne Gewicht dem grün gestrichenen Birkenholz entgegen. Wenn er mich unter sich begräbt, dachte Jerry. wenn ich stürze und er in mich hineindonnert. o Gott, dachte er, bring mich sicher über dieses Hindernis.
Das Pferd an der Spitze, das hoch im Kurs stand und mit hohem Handicap ritt, nahm den letzten flachen Kilometer in scharfem Galopp. Jerry Springwood und Haunted House, die immer noch auf den Beinen waren, hatten für einen ernsthaften Versuch, es einzuholen, zu lange gezögert, aber mit einem gewaltigen Kraftakt, der, wie Jerry sehr wohl wußte, nichts anderes als die Erlösung aus dem Fegefeuer war, stürmten sie an allen anderen vorbei dem Zielpfosten entgegen.
Austin Glenn sah, daß Haunted House mit zwanzig Längen als zweiter ins Ziel ging. Er haderte ein wenig mit sich, daß er sich nicht mit Platzgeldern abgegeben hatte, nahm seine Wettscheine aus der Tasche, riß sie mit philosophischer Miene entzwei und ließ die einzelnen Stücke in alle vier Himmelsrichtungen davonflattern. William Westerland rieb sich das Kinn und fragte sich, ob Jerry Springwood hätte gewinnen können, wenn er es früher versucht hätte. Chief Superintendent verfluchte voller Verbitterung die zwanzig Längen, um die ihm seine Beute entfliehen würde.
Sir William nahm seine berühmten ausländischen Besucher mit hinunter, damit sie sich die Szenen des Jubels, die den Gewinner im Absattelring umgaben, ansehen konnten, und wurde von aufgescheuchten Funktionären mit entsetzten Gesichtern in Empfang genommen.
«Der Sieger kommt nicht durch die Waage«, sagten sie.
«Was soll das heißen?«fragte Westerland.
«Der Sieger hat nicht das richtige Gewicht getragen! Der Trainer hat die Bleidecke in der Sattelbox hängenlassen, als er den Sattel auf sein Pferd legte. Der Sieger hat das ganze Rennen mit zehn Pfund weniger Gewicht bestritten, als er hätte tragen müssen… und wir werden ihn disqualifizieren müssen.«
Es geschah gar nicht so selten, daß die Bleidecke vergessen wurde — aber im National! William Westerland holte tief Luft und wies die entsetzten Funktionäre an, die Öffentlichkeit über Lautsprecher von den Tatsachen in Kenntnis zu setzen. Jerry Springwood hörte die Neuigkeit, während er auf der Waage saß und zusah, wie der Zeiger auf die richtige Markierung zuschwang. Er empfand keine Freude, sondern überwältigende Scham, als hätte er den Preis durch einen Betrug gewonnen.
Crispin stationierte seine Männer an den strategisch wichtigen Stellen und verständigte sämtliche Auszahlschalter des Totos. Oben auf der Tribüne suchte Austin Glenn in einem Wutanfall nach den Papierfetzen und hob jedes abgerissene und zertrampelte Stückchen Papier auf und beäugte es ängstlich.
Der Boden war mit ganzen Wagenladungen zerrissenen Papiers bedeckt. Zwischen den grellen Farben der Wettscheine der Buchmacher war das Gelbbraun der Totoscheine schlecht auszumachen, so daß die Suche der nach einer Nähnadel im Heuhaufen glich; Austin Glenn hatte es mit dem Bodensatz nicht nur der Verlierer des Grand National, sondern auch der Vorrennen zu tun. Irgendwo lagen beispielsweise auch die Schnipsel seines Wettscheins auf Spotted Tulip. Seinen Wettschein zu zerreißen und die Fetzen dem Wind zu überlassen war alles, was ein geschlagener Spieler dem Schicksal entgegenzusetzen hatte.
Austin Glenn suchte und fluchte, bis ihm der Rücken vom Bücken schmerzte. Er war nicht der einzige, der die eherne Regel der Wetter, keinen Wettschein fortzuwerfen, bis die Ergebnisse durch das Zurückwiegen bestätigt waren, verletzt hatte, aber es machte ihm durchaus keine Freude, daß andere ebenso verzweifelt suchten wie er selbst. Wenn nun jemand anders die Fetzen seines Wettscheins aufhöbe und seinen Gewinn damit einstrich? Der Gedanke erzürnte ihn. Und was noch schlimmer war: Er konnte nicht unbegrenzt auf der Bahn bleiben, weil er seinen Zug bekommen mußte. Eine Verspätung konnte er sich nicht leisten; er hatte in dieser Nacht Dienst.
Crispins Männer traten von einem Fuß auf den anderen, während die Zeit verstrich, und wurden immer auffälliger, während die Menschenmenge sich verlief und durch die Tore zwängte. Als der Toto für den Tag dichtmachte, rief der Chief Superintendent sie in frustriertem Zorn ab und mußte einräumen, daß sie wohl doch auf eine andere Gelegenheit würden warten müssen, daß sie aber kaum wieder auf eine so gute rechnen konnten.
Im Waageraum nahm Jerry Springwood, so gut er konnte, die Glückwünsche entgegen und erklärte den überraschten Millionen vor den Fernsehschirmen, daß er seine
Stiefel nach diesem Höhepunkt seiner Laufbahn umgehend an den Nagel hängen würde.
Er begriff nicht, daß er das tapferste Rennen seines Lebens geritten hatte. Als der Applaus verklungen war, schloß er sich im Waschraum ein und weinte um den Verlust seines Mutes.
Austin Dartmouth Glenn fuhr mit leeren Händen und übelster Stimmung nach Hause. Er beschimpfte seine Frau und trat die Katze, und nach einem hastigen Abendessen zog er seine ordentliche marineblaue Uniform an.
Dann ging er mit Zornesfalten auf der Stirn aus dem Haus, um seine gewohnte Nachtschicht als Wärter in dem nahegelegenen Hochsicherheitsgefängnis anzutreten.