Eine Provinzzeitschrift, Cheshire Life, schickte mir einen Brief.
«Schreiben Sie eine Story für uns«, bat man mich.
Ich fragte:»Was soll sie beinhalten?«
«Dreitausend Worte«, lautete die Antwort.
Es war gerade Winter, und ich fuhr mit dem Wagen regelmäßig über einen Hügel, auf dem einst, in einer Höhle, ein Landstreicher gelebt hatte. Also schrieb ich über einen Landstreicher im Winter.
Diese Story beschreibt, wie man bei einer Auktion ein Pferd stehlen kann.
Tun Sie’s nicht!
Der Landstreicher war bis auf die Knochen durchgefroren. Luft- und Bodentemperatur lagen um den Gefrierpunkt, und eine schwere Decke gelblicher Schneewolken hing wie eine Drohung über dem Nachmittag. Schwarze Äste kahler Bäume knarrten im Wind, und die gepflügten Felder lagen nackt, dunkel und wartend da.
Der frierende Landstreicher, der die schmale Straße hinunterschlurfte, hatte Hunger und war von einem starken, diffusen Groll erfüllt. In diesem Stadium des Winters hatte er sich normalerweise sein Nest eingerichtet, in irgendeiner Kuhle im Boden, im Windschatten eines bewaldeten Hügels, unter einem üppigen Dach aus dem Geflecht starker Äste und dicken braunen Pappkartons. Er lag dann auf einem warmen, behaglichen Bett aus trockenen, toten
Blättern, Styropor und Säcken, und das Holzfeuer in der Nähe seiner Türschwelle brannte den ganzen Tag, so daß die Asche die ganze Nacht hindurch rot glühte. Er brachte die Zeit des Frosts und des Schnees und der Regenstürme jeweils in einem behaglichen Heim hinter sich, das er, wenn er im Frühling weiterzog, wieder zertrampelte.
Dagegen gefiel es ihm überhaupt nicht, wenn jemand anderes sein Nest zertrat, wie diese Leute es heute morgen getan hatten. Drei Leute. der Mann, dem das Land gehörte, auf dem er sich niedergelassen hatte, und zwei Leute von der Gemeinde, ein Mann in mittleren Jahren und mit harten Augen und eine steife, herrische Frau mit einem Klemmblock. Ihre lauten Stimmen, ihre dummen Bemerkungen hallten in seinen Gedanken wider und schürten seinen Zorn.
«Ich habe ihm letzte Woche jeden Tag gesagt, daß ich ihn nicht länger auf meinem Land dulden werde…«
«Diese Hütte stellt eine dauerhafte Unterkunft dar und erfordert als solche eine Baugenehmigung…«
«In der Stadt gibt es eine Herberge mit einem Schlafsaal, in dem Obdachlose für eine Nacht unterkommen können.«
Der Mann von der Gemeinde hatte begonnen, sein Zweig- und Pappkartondach in Stücke zu reißen, und die anderen hatten ihm geholfen. Er sah ihnen an, daß sein Geruch sie abstieß, und an der Art, wie sie mit spitzen Fingern zu Werke gingen, merkte er, daß sie nicht gern berührten, was er berührt hatte. Da hatte der langsam brennende Zorn sich in seine Gedanken eingenistet, aber ihm war der Kontakt mit anderen Menschen zuwider, weshalb er niemals sprach, wenn es sich vermeiden ließ. So hatte er sich lediglich abgewandt und war davongegangen, formlos, in seinen zusammengeschnürten Kleidern, schlurfend in seinen zu großen Stiefeln, bärtig und grollend und stinkend.
Dann war er zehn Kilometer weit gegangen, ganz langsam.
Er brauchte etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf, wo er vor dem nächsten Schneefall sicher war. Er brauchte ein Nest und Feuer. Seine Wut auf die Menschheit bohrte sich mit jedem bleiernen Schritt tiefer in sein Herz.
Am selben Nachmittag stand in London der Direktor des Sicherheitsdienstes der Rennbahn am Fenster seines Büros im Jockey Club und betrachtete griesgrämig den Verkehr auf dem Portman Square. Hinter ihm in dem behaglichen, hell erleuchteten Raum saß Mr. Melbourne Smith und lag ihm in den Ohren, wie er es jeden einzelnen Tag der vergangenen zwei Wochen entweder persönlich oder telefonisch getan hatte. Es ging um die laxen Sicherheitsvorkehrungen bei der Jährlingsauktion im November, bei der jemand ihm seinen gerade erst gekauften und extrem teuren Hengst gestohlen hatte.
Melbourne Smith ließ so viel Geld in die britische Vollblutindustrie fließen, daß man seine Klagen nicht ignorieren konnte, auch wenn das Ganze streng genommen eine Angelegenheit der Polizei und der Auktionatoren war und nicht des Jockey Clubs. Melbourne Smith, fünfzig, energisch, ein Mann, der gern die Fäden in der Hand hielt, war ebenso erzürnt über die Tatsache, daß jemand es wagte, ihn zu bestehlen, wie über den Diebstahl selbst.
«Sie sind einfach mit ihm rausspaziert«, sagte er zum fünfzigsten Mal gekränkt.»Und Sie haben verdammt wenig getan, um ihn zurückzubekommen.«
Der Direktor seufzte. Melbourne Smith war ihm zutiefst unsympathisch, aber er wußte dies geschickt hinter einer rauhen Herzlichkeit zu verbergen. Der Direktor mit seinem scharfen, erfinderischen Verstand hinter dem schnurrbärtigen, tweedverpackten Äußeren fragte sich, was er, abgesehen von einem Gebet um ein Wunder, wohl sonst noch tun konnte, um den verschwundenen Hengst aufzuspüren.
Erstens war die Spur erkaltet, da Melbourne Smith seinen Verlust erst gut einen Monat nach der Auktion bemerkt hatte. Er hatte wie gewöhnlich ungefähr zehn der hochbeinigen jungen Tiere gekauft, die im folgenden Sommer als Zweijährige an den Start gehen würden. Er hatte wie gewöhnlich veranlaßt, daß sie zu dem Trainer gebracht wurden, der sie zureiten, trainieren, satteln, reiten und daran gewöhnen würde, in die Startboxen hineinzugehen. Und wie gewöhnlich war er nach einer entsprechenden Zeit hergekommen, um festzustellen, wie seine Einkäufe sich machten.
Zuerst hatte ihn sein angeblich erstklassiger Junghengst verwirrt. Erst verwirrt, dann argwöhnisch gemacht und dann fuchsteufelswild. Er hatte ein Vermögen für einen gutgewachsenen, aristokratischen Jährling ausgegeben und hatte statt dessen eine spindeldürre Niete mit einem schwachen Hals im Stall stehen. Seine Neuerwerbung und dieser Wechselbalg hatten nur zwei Dinge gemeinsam: die Körperfarbe, ein dunkles Braun, und den großen weißen Stern auf der Stirn.
«Es ist ein Skandal«, sagte Melbourne Smith.»Ich werde nächstes Jahr mein Geld in Frankreich ausgeben.«
Der Direktor überlegte, daß Diebstähle auf Rennbahnen äußerst selten waren und daß Sicherheit bei Auktionen eher von Papieren abhing als von Riegeln und Gitterstäben: Und normalerweise war der Papierkram Sicherheit genug.
Jedes Vollblutfohlen mußte kurz nach der Geburt eingetragen werden, und das Zertifikat» Eintragungsbescheinigung «gab nicht nur Auskunft über Abstammung und Geburtsdatum, sondern auch über Hauptfarbe und Merkmale und darüber, wo genau am Körper die Haare des Fells Wirbel bildeten. Die Merkmale und Wirbel mußten sorgfältig auf vorschriftsmäßigen Diagrammen von Seiten-, Front- und Hinteransicht der Pferde eingezeichnet werden.
Später, wenn das Fohlen aufgezogen und fürs Rennen bereit war, mußte ein Tierarzt eine zweite Karte mit seinen Merkmalen anfertigen und sie ins Registrationsbüro schik-ken. Wenn das Fohlenzertifikat und das spätere Zertifikat übereinstimmten, war alles in Ordnung. Wenn nicht, wurde das Pferd gesperrt.
Das Fohlenzertifikat des Jährlings, den Melbourne Smith gekauft hatte, paßte eindeutig nicht zu dem Wechselbalg, den man ihm untergeschoben hatte. Die Farbe und der weiße Stern stimmten, aber die Wirbel saßen an vollkommen anderen Stellen.
Der Direktor hatte seinen Assistenten vor die Mammutaufgabe gestellt, den Wechselbalg mit zwanzigtausend Fohlenzertifikaten in der diesjährigen Registratur zu vergleichen, aber bisher hatten sie keine übereinstimmenden Papiere gefunden. Der Direktor, der den Hengst mittlerweile gesehen hatte, glaubte, daß es sich bei dem Wechselbalg höchstwahrscheinlich um ein Halbblut-Jagdpferd handelte, das von Anfang an keine Qualifikation für einen Eintrag im Zuchtbuch gehabt hatte und von dem sie nirgendwo offizielle Unterlagen finden würden.
«Diese Torkontrolle ist ja zum Lachen«, murrte Melbourne Smith.
Die Männer an den Toren der Versteigerungsringe hatten, das mußte sich der Direktor eingestehen, lediglich den
Auftrag zu kontrollieren, daß es für jedes Pferd ein Ausgangszeugnis der Auktionatoren gab und daß die Ziffer, die am Rumpf des Pferdes klebte, mit der auf dem Zeugnis übereinstimmte. Sie hatten nicht den Auftrag zu überprüfen, ob irgend jemand heimlich die Ziffern der Pferde vertauscht hatte. Sie traf keine Schuld daran, daß die Nummer eins-acht-neun, die in Begleitung von Zeugnis eins-achtneun herausgebracht wurde, eine Niete mit schmächtigem Hals gewesen war und nicht Melbourne Smiths teurer Aristokrat. Es hatte keinen Sinn, sie zu fragen (obwohl der Direktor es getan hatte), unter welcher Nummer genau der teure Aristokrat denn tatsächlich seinen Abgang gemacht hatte. Das konnten sie unmöglich wissen, und sie wußten es auch tatsächlich nicht.
Der Direktor hatte zum Teil herausgefunden, wie der Austausch vonstatten gegangen war, und sich den Rest dazugedacht.
Bei der Auktion wurden die zum Verkauf stehenden Pferde in Stallblocks untergebracht. Pferd Nummer eins im Katalog wurde Box Nummer eins zugeteilt, und es hatte die Nummer eins an der Hüfte kleben. Nummer einsacht-neun wäre in Box eins-acht-neun zu finden gewesen und hätte die eins-acht-neun an der Hüfte haben müssen. Entlang der Boxen herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Interessenten, die taxierten und betasteten und beschlossen, ob sie mitbieten würden oder nicht. Wenn ein Pferd verkauft wurde, brachten seine früheren Besitzer es in seine Box zurück, und von dort holten die neuen Besitzer es dann ab. Auf diese Weise kam es ziemlich häufig vor, daß Käufer und Verkäufer einander nie begegneten.
Der Junge, der mit Nummer eins-acht-neun gekommen war, hatte es vom Verkaufsring zurück in seine Box geführt und dort gelassen. Melbourne Smiths Stallbursche hatte das Pferd aus Box eins-acht-neun abgeholt und es zum Trainer geschickt, und es war der Wechselbalg gewesen.
Der Austausch konnte in dem dort herrschenden Gedränge unbemerkt vorgenommen werden (was ja auch der Fall gewesen war).
Der Direktor vermutete, daß die Diebe ihren Wechselbalg für die Auktion eingetragen hatten, und zwar mit einem so lächerlich hohen Reservepreis, daß es niemand kaufen würde. Wahrscheinlich war der Wechselbalg eins von den unverkauften Tieren zwischen den Auktionsnummern 1 und 188 gewesen, aber die Auktionatoren hatten den Direktor nur verständnislos angesehen, als er sie gefragt hatte, ob sie sich noch an eines der vielen Tiere erinnerten. Sie verkauften jede Woche Hunderte von Pferden. Sie stellten keine Fragen, sagten sie, woher die Ware kam oder wohin sie ging; sie führten zwar Buch über Pferde, die keine Käufer gefunden hatten, gingen aber grundsätzlich davon aus, daß ihre Besitzer sie wieder mit nach Hause nahmen.
«Und diese öffentliche Kampagne, die Sie da gestartet haben«, höhnte Melbourne Smith,»lauter heiße Luft und keine Ergebnisse.«
Der Direktor wandte sich müde vom Fenster ab und blickte auf die Zeitung, die aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch lag. In einer Woche ohne besondere Schlagzeilen war den Redakteuren die Geschichte willkommen gewesen, die er ihnen mit großer Überzeugungskraft vorgekaut hatte. Kein Leser konnte die Wo-ist-er? — Bilder von dem verschwundenen Wertstück übersehen. Die Regenbogenpresse hatte ein Rührstück daraus gemacht. Die» ernstzunehmenden «Tageszeitungen hatten das Fohlenzertifikat selbst veröffentlicht. In den Fernsehnachrichten war beides gebracht worden. Aber auch zwei Tage flächendek-kender, landesweiter Publicity hatten keine Ergebnisse gebracht. Seine» allzeit erreichbare Telefonnummer «blieb ungenutzt.
«Bringen Sie ihn mir zurück«, sagte Melbourne Smith wütend, bevor er endgültig ging.»Oder ich schicke all meine Pferde nach Frankreich.«
Der Direktor dachte an seine Frau und seine Kinder, die an jenem Abend eine Party vorbereiteten und ihn bei seiner Rückkehr mit aufgeregten Gesichtern und lächelnden Augen begrüßen würden. Ich werde zwei Tage lang nicht an diesen verdammten Jährling denken, dachte er. Doch bis dahin gab er klein bei und betete mit Inbrunst um ein Wunder.
«Was ich brauche«, sagte er laut zu seinem friedlichen, leeren Büro,»ist ein weißer Stern. Ein leuchtend weißer Stern, geostationär am Himmel, der bei einem Stall aufscheint und sagt: >Hier bin ich. Komm her zu mir. Komm her und finde mich.<«
Gott vergebe mir meine Lästerung, dachte er; und ging um vier Uhr nach Hause.
Draußen auf dem Land breiteten an diesem Nachmittag Jim und Vivi Turner vier Zeitungen auf dem Küchentisch aus und vertieften sich, mit einem Becher Tee ausgerüstet, in die Lektüre.
«Sie werden ihn doch nicht finden, oder?«fragte Jim.
Vivi schüttelte den Kopf.»Einen Braunen mit einem weißen Stern… was Alltäglicheres gibt’s doch gar nicht.«
Ihre Gedanken wanderten zu dem aristokratischen Jährling, der draußen gut eingedeckt in ihrem baufälligen Zwanzig-Boxen-Stall stand. Es war fünf Wochen oder länger her, seit sie ihn gestohlen hatten, und die Zeit hatte ihnen ein gewisses Gefühl der Sicherheit gegeben.
«Und außerdem«, sagte Vivi,»sind diese Zeitungen zwei Tage alt, und nichts ist passiert.«
Jim Turner nickte beruhigt. Er hätte das niemals ohne Vivi durchziehen können, das wußte er. Sie war diejenige, die gesagt hatte, wenn sie ihn als Trainer auf die Beine bringen wollten, brauchten sie dringender als irgend etwas anderes ein wirklich gutes Pferd. Die Art Pferd, die — sehen wir den Tatsachen ins Auge (sagte sie) — niemand einem frisch abgedankten Hindernisjockey anvertrauen würde, der nie mehr als Mittelmaß erreicht hatte und zweimal gesperrt worden war, weil er sich hatte bestechen lassen.
Da Jim Turner sich jederzeit von jedem bestechen lassen würde, war er mit zwei Sperren noch glimpflich davongekommen. Persönlich hätte er gar nichts dagegen gehabt, sich mit einem Job als Futtermeister in einem großen Stall zufriedenzugeben, wo die Gelegenheiten, Bestechungsgelder zu kassieren, wie pflückreife Beeren wuchsen; aber Vivi wollte die Frau eines Trainers sein, nicht die eines Futtermeisters, und, das mußte man ihr lassen, das Mädchen hatte Grips.
Es war Vivi mit ihren scharfen Augen, die eine Möglichkeit gesehen hatte, wie man bei der Auktion einen hochkarätigen Jährling stehlen konnte. Es war Vivi, eine richtige kleine Lady Macbeth, die Jim weitergetrieben hatte, wenn dieser zauderte, Vivi, die persönlich den Austausch in Box eins-acht-neun vorgenommen hatte. Sie hatte den Aristokraten genommen, und Jim hatte den Wechselbalg dagelassen.
Vivi hatte beschlossen, irgendeinen nicht eingetragenen Ausschuß von Halbblut als ihr Entree zu der Auktion zu benutzen, und hatte für einen Apfel und ein Ei einen beim Abdecker gekauft; einen Braunen mit einem weißen Stern, so alltäglich wie nur was. Bei der Auktion mußte es einfach einen wie ihn geben, hatte sie gesagt. Sie würden ihn gegen irgend etwas Großes eintauschen, das nach ihm im Katalog auftauchte; und tatsächlich, die Nummer einsacht-neun war perfekt gewesen.
Vivi, eine vorausschauende Natur, wollte Jim im Frühjahr mit all ihren Ersparnissen nach Norden schicken, um ein billiges zweijähriges Vollblut zu kaufen, einen Braunen mit einem weißen Stern, der zumindest passabel aussah.
Dann sollte Jim vom Tierarzt das neue Merkmalzertifikat des Pferdes ausfüllen lassen, das genau mit seinem Fohlenzertifikat im Register übereinstimmen würde; und Jim Turner, Renntrainer, würde in seinem Stall einen Braunen mit einem weißen Stern haben, überprüft, registriert und für Rennen zugelassen.
Jim und Vivi wußten genau wie der Direktor, daß junge Pferde sich veränderten, wenn sie älter wurden, so wie Kinder zu Männern wurden; schon bald würde kaum noch eine Chance bestehen, daß irgend jemand den Aristokraten an äußerlichen Merkmalen erkannte. Er konnte mit seiner neuen Identität bis in alle Ewigkeit Rennen bestreiten, und niemand würde ihn je erkennen. Vivi konnte sich nicht vorstellen, was jetzt noch schiefgehen sollte, und rechnete keine Sekunde lang mit der Zähigkeit des Direktors, der bereits über lästige, gelegentliche Überprüfungen der Haarwirbel bei Braunen mit weißem Stern für die nächsten Jahre nachdachte.
«Im Sommer«, sagte Vivi,»werden wir den Stall ein bißchen aufpeppen. Ein bißchen Farbe. Blumenkübel. Im Herbst, wenn der Hengst die ersten Siege nach Hause bringt und die Leute aufmerksam werden, haben wir dann einen Stall, den die neuen Besitzer ohne weiteres annehmbar finden.«
Jim nickte. Vivi konnte es schaffen. Sie war wirklich klug, Vivi.
«Und dann bist du mittendrin, Jim Turner, und keine von diesen hochnäsigen Kühen von Trainerfrauen wird jemals wieder die Nase über uns rümpfen.«
Direkt vor der Hintertür erklang ein jähes, metallisches Klappern, und sie beide standen, sofort und zutiefst erschreckt, ruckartig auf und gingen nachsehen.
Draußen stand eine schlurfende, unordentliche Gestalt, ein Mann, der seine Hände im Mülleimer hatte und ihren Haushaltsmüll durchwühlte. Er war bereits hochgeschreckt, um sich hastig zurückzuziehen.
«Es ist ein Landstreicher!«rief Vivi ungläubig.»Der will unseren Abfall stehlen.«
«Verschwinde«, sagte Jim und ging drohend auf den Mann zu.»Los, weg mit dir.«
Der Landstreicher ging ganz langsam ein paar Schritte zurück.
Jim Turner verschwand wieder in seiner Küche und packte die Schrotflinte, mit der er Kaninchen vertrieb.
«Los«, schrie er, als er wieder herauskam und den Lauf auf den Landstreicher richtete.»Verschwinde und komm ja nicht wieder. Ich will keinen Abschaum wie dich hier auf dem Grundstück. Verpiß dich.«
Der Landstreicher ging langsam zurück Richtung Straße, und die Turners kehrten in gerechter Empörung in ihre warme Küche zurück.
Der Landbesitzer bedauerte schon am Nachmittag, was er am Morgen getan hatte. Es war, wie ihm verspätet aufging, kein guter Tag, um einen Mann aus seinem Heim zu vertreiben, selbst wenn sein Heim ein Loch im Erdboden war. Als sie das Nest in Stücke gerissen hatten, die beiden
Gemeindeangestellten und er, hatte er in den Ruinen einen Plastikbeutel voller Zigarettenkippen gefunden. Er war kein phantasievoller Mensch, aber ihm drängte sich der Gedanke auf, daß er dem Landstreicher alles, was er hatte, sein Heim und seine Behaglichkeit, genommen hatte. Er hatte zu dem düsteren Himmel aufgeblickt und geschaudert.
Am Nachmittag unternahm er einen ausgedehnten Spaziergang über sein Land — eine halbentschlossene Suche nach dem Landstreicher, um sein Gewissen zu beruhigen; dennoch war er schließlich beinahe überrascht, als er ihn über einen seiner Grenzwege auf sich zukommen sah.
Der Landstreicher schlenderte langsam weiter; er war nicht allein. Neben ihm ging, genauso langsam wie er, ein Pferd.
Er blieb stehen und das Pferd ebenfalls. Der Landstreicher hielt dem Pferd auf einer schmutzigen Hand ein Zuk-kerstück hin, und das Pferd fraß es.
Der Landbesitzer betrachtete die beiden voller Verwirrung, den schmutzigen Mann und das gut gepflegte Pferd mit seiner ordentlichen Decke.
«Wo haben Sie den denn her?«fragte der Landbesitzer und zeigte auf den Hengst.
«Gefunden. Auf der Straße. «Die Stimme des Landstreichers war heiser von zu seltener Benutzung, aber die Worte waren klar und deutlich. Und gelogen.
«Hören Sie«, sagte der Landbesitzer verlegen,»Sie können sich dieses Haus da wieder aufbauen, wenn Sie wollen. Bleiben Sie noch ein paar Tage. Wie wär’ das?«
Der Landstreicher dachte darüber nach, schüttelte aber den Kopf, denn er wußte, er konnte nicht bleiben, schon wegen des Pferdes nicht. Er hatte das Pferd aus seinem Stall geholt und mitgenommen. Sie würden sagen, er habe es gestohlen, und ihn verhaften. In der Vergangenheit war er zwanghaft aus Institutionen geflohen, aus Kinderheimen und dann von der Armee, und wenn ihm der Gedanke an die Mauern des Obdachlosenasyls schon unerträglich war, fand er den Gedanken an eine Zelle im Kittchen erst recht furchtbar. Kälte und Hunger und Freiheit, ja. Wärme und Essen und eine verschlossene Tür, nein.
Er wandte sich ab, bedeutete dem Landbesitzer unmißverständlich, das Pferd in Empfang zu nehmen, seine Hand auf das Halfter zu legen und zu tun, was recht war. Beinahe automatisch tat es der Landbesitzer.
«Warten Sie«, sagte er, als der Landstreicher sich zum Gehen wandte.»Hm… nehmen Sie das da. «Er zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche und hielt sie ihm hin.
«Nehmen Sie… bitte.«
Zögernd kam der Landstreicher zurück und nahm das Geschenk an, nickte zur Bestätigung, daß etwas gegeben, etwas erhalten worden war. Dann wandte er sich abermals ab und ging die Straße hinunter, und der lang befürchtete Schnee begann in großen, einzelnen, schwebenden Flok-ken zu fallen und löschte seine verschwommenen Umrisse in dem ersterbenden Nachmittag aus.
Wo wird er hingehen? fragte sich der Landbesitzer unbehaglich. Und der Landstreicher dachte ohne Angst, daß er die ganze Nacht durch den Schnee wandern würde, um sich warm zu halten. Und am Morgen würde er eine Zuflucht finden und wie gewöhnlich essen, was andere in ihrem Überfluß weggeworfen hatten. Sein glühender Zorn vom Morgen, der aufgelodert war und sich auf Jim Turner konzentriert hatte, war mittlerweile zu Asche heruntergebrannt, und alles, was er empfand, während er sicheren Abstand zwischen sich und diesen Ort legte, war sein normaler, überwältigender Drang, allein zu sein.
Der Landbesitzer sah das Pferd an und den Stern auf seiner Stirn und schüttelte bei dem Gedanken, der ihm kam, hämisch den Kopf. Dennoch, als er das Pferd in eine Scheune hinter seinem Haus gesperrt hatte, fischte er die Zeitung vom Vortag aus dem Papierkorb und betrachtete die Schlagzeile des Revolverblatts —»Suchen Sie den strahlend weißen Stern«- und auch das Faksimile des Fohlenzertifikats in der seriösen Tageszeitung. Dann rief er zögernd bei der Polizei an.
«Sie haben ein Pferd gefunden, ja, Sir?«sagte eine fröhliche Polizistenstimme mit markigem Tonfall.»Da sind Sie nicht der einzige, das kann ich Ihnen versichern. Hier gibt es im ganzen Dorf Pferde. Irgendein Narr hat bei Jim Turner sämtliche Boxen geöffnet und sie alle rausgelassen. Es könnte ein Landstreicher gewesen sein. Turner sagt, er hätte vor ein paar Stunden einen von seinem Hof gejagt. Wir suchen nach dem Kerl, der sich auf Ihrem Land niedergelassen hat. Aber es ist dunkel, und es schneit, und ich habe natürlich viel zu wenig Männer, wo doch Heiligabend ist!«
Heiligabend!
Der Landbesitzer war plötzlich maßlos wütend auf den Landstreicher, dann durchzuckte ihn mit einem Mal die Erkenntnis, daß der Landstreicher das Pferd nicht freigelassen hätte, wäre er nicht zuvor aus seinem Heim vertrieben worden. Er beschloß, dem Sergeant nicht zu sagen, daß der Landstreicher mit dem Pferd auf seinem Hof gewesen war. Und von ihm würde er auch nicht erfahren, in welche Richtung der Mann weitergezogen war.
«Ich rufe Jim Turner an, daß er das Pferd abholen kommt, Sir«, sagte der Sergeant.»Er wird froh sein, es wiederzuhaben. Der ist ganz schön aus dem Häuschen.«
«Ähm«, sagte der Landbesitzer langsam, da es ihm widerstrebte, als Narr dazustehen,»ich weiß nicht, ob Sie in der Zeitung von diesem gestohlenen Pferd gelesen haben, Sergeant, aber statt das Tier sofort an Jim Turner zurückzugeben, könnten wir vielleicht unter dieser >allzeit erreichbaren Telefonnummer< den Direktor des Sicherheitsdienstes der Rennbahn kontaktieren. «Er hielt inne.»Ich nehme nicht an, daß der Direktor an Weihnachtswunder glaubt, aber das Pferd, das ich hier habe, ist ein junger brauner Hengst mit einem weißen Stern auf der Stirn… und Wirbeln an genau den richtigen Stellen.«