Rot, rot, tot

Obwohl die Erzählung an dieser Stelle das erste Mal veröffentlicht wird, spielt >Rot, rot, tot< in der Vergangenheit (in den Jahren 1986 und 1987, um genau zu sein), zum Teil deshalb, weil die Vorschriften zur Mitnahme von Handfeuerwaffen vom europäischen Festland nach England durch das Feuerwaffengesetz von 1988 verschärft wurden.

Emile Jacques Guirlande, ein Franzose, fürchtete sich Eauf eine Weise vorm Fliegen, die an Phobie grenzte. Selbst Werbeplakate, auf denen Flugzeuge zu sehen waren, und insbesondere laufende Flugzeugmotoren, führten bei ihm zu unangenehm beschleunigtem Herzschlag und trieben ihm winzige Tröpfchen kalten Schweißes auf die Stirn. Infolgedessen reiste er zu Land und zu See, wenn seine weltweiten unternehmerischen Aufgaben ihn aus seinem Pariser Haus fortriefen. Überdies paßte diese geruhsamere Art des Reisens auch besser zu seinem vorsichtigen Wesen. Er ging seine Arbeit gern mit Bedacht an und plante für jede Eventualität voraus. Panikreaktionen auf unvorhergesehene Schwierigkeiten waren für einen Mann von seinem methodischen Denken die Torheit von Amateuren.

Emile Jacques Guirlande war Mörder von Beruf, ein Killer, der weder verdächtigt noch gefangen wurde, ein ruhiger, gesitteter Mann, der jede Aufmerksamkeit mied, der aber im Alter von siebenunddreißig Jahren erfolgreich sechzehn Zielpersonen aus dem Weg geräumt hatte, genauer: sieben Geschäftsmänner, acht Ehefrauen und ein Kind.

Er war natürlich teuer. Und auch verläßlich, einfallsreich und herzlos.

Mit sieben verwaist und nie adoptiert, aufgewachsen in Institutionen, war er selbst nie von Herzen geliebt worden, noch hatte er jemals für ein lebendes Wesen (mit Ausnahme eines Hundes) freundschaftliche Zuneigung empfunden. Beim Militärdienst in der Armee hatte er schießen gelernt, und eine angeborene Sachkundigkeit im Umgang mit Feuerwaffen, vereint mit einem wachsenden Hunger nach Macht, hatten ihn anschließend veranlaßt, eine Stelle als Teilzeitlehrer in einem Schießsportverein anzunehmen, wo Gespräche über den Tod wie Kordit in der Luft schwelten.

>Gelegenheiten< wurden Emile Jacques per Post über einen nicht identifizierten Mittelsmann angetragen, den er nie kennengelernt hatte. Bevor er einen Auftrag annahm, unterzog er ihn einer gründlichen Untersuchung. Emile hielt sich für erste Klasse. Der amerikanische Ausdruck» Totschläger «war für einen Mann von seiner Gesinnung unbedingt vulgär. Emile nahm einen Auftrag erst dann an, wenn er sich sicher war, daß sein Kunde zahlen konnte, zahlen würde und nicht nachher von weinerlicher Reue überwältigt zusammenbrach. Überdies bestand Emile auf der Konstruktion wasserdichter Alibis für jeden Kunden, auf den ein überwältigender Verdacht fallen mußte. Und obwohl das durchaus einfach klang, war dies bisweilen der Faktor gewesen, der allein über Tun oder Lassen entschieden hatte.

So war es auch an einem bestimmten Dienstag im Dezember 1986. Das unentbehrliche Alibi schien perfekt zu sein, so daß Emile den Auftrag annahm und sorgfältig seine Taschen für eine kurze Reise nach England packte.

Emiles Englisch, das eher zweckmäßig als kunstvoll war, hatte ihn bisher drei englische Morde in vier Jahren unbeschadet überstehen lassen. Die Paradestücke der Touristenwörterbücher — (»Mon auto ne marche pas«;»Mein Wagen ist stehengeblieben«) — hatte ihn nicht nur vor der gefährlichen Neugier anderer bewahrt, sondern es ihm auch ermöglicht, seine Mission vorausschauend zu verwerfen, wenn ihn vor der Tat ein Gefühl der Unsicherheit plagte. Tatsächlich hatte er schon zweimal in einem späten Stadium den bereits begonnenen Job abgebrochen: einmal wegen schlechten Wetters, ein anderes Mal aus Unzufriedenheit über die Erbärmlichkeit des vorgeschlagenen Alibis.

«Pas bon«, sagte er sich.»Nicht gut.«

Sein Klient, der ein halbes Vermögen im voraus gezahlt hatte, wurde angesichts der Verzögerungen immer ungeduldiger.

An jenem Dienstag im Dezember 1986 jedoch war Emile Jacques, das Alibi betreffend, so zufrieden, wie er es nur sein konnte. Er hatte seine Koffer gepackt und sich beim Schießsportverein für die nächsten Tage abgemeldet und machte sich nun in seinem unauffälligen weißen Wagen auf den Weg nach Calais, um von dort aus die winterliche See des Ärmelkanals zu überqueren.

Wie gewöhnlich führte er die Werkzeuge seines Gewerbes offen mit sich: Handfeuerwaffen, Ohrenschützer sowie mannigfache Zertifikate, die seine Anerkennung als zugelassener Lehrer in einem hochklassigen Pariser Club bewiesen. Das Ganze hatte er in einem verschlossenen, mit Schaumgummi ausgepolsterten Koffer aus Metall, wie Fotografen ihn besaßen. Es sollte noch zwei Jahre dauern, bis Handfeuerwaffen in England verboten wurden, so daß seine Geschichte von einer beabsichtigten Teilnahme an einem Wettbewerb nicht in Frage gestellt wurde. Hätte man ihm bei der Einreise Schwierigkeiten gemacht, hätte er nur resigniert gelächelt und wäre nach Hause gefahren.

Emile Jacques Guirlande, von Beruf Mörder, bekam an jenem Dienstag im Dezember 1986 keine Schwierigkeiten. Nachdem er die Hürde Dover mühelos genommen hatte, fuhr er zufrieden durch die im Winterschlaf liegenden Felder Südenglands und ging im Geiste friedlich noch einmal seinen bösen Plan durch.

In diesem Jahr knisterte es in der Jagdrennszene der britischen Rennplätze. Grund für dieses Knistern war die unmögliche Trainer-Jockey-Allianz zwischen einem langhaarigen Abkömmling echter Zigeuner und dem aristokratischen Neffen aus einem historischen Haus.

Gypsy Joe (genauer gesagt, John Smith) verspürte und zeigte jene beinahe magische Verbundenheit mit Tieren, wie sie bei seinem Volk schon seit Urzeiten existiert. Gypsy Joe zuliebe gruben Vollblüter in ihrem eigenen archaischen Stammesgedächtnis und begriffen, daß die Führung der Herde das Ziel des Lebens war. Der Anführer der Herde gewann das Rennen.

Gypsy Joe gab seinen Pferden mit großer Umsicht das Futter und das Training, das ihren Herzen die größtmögliche Kraft verlieh, und flüsterte ihnen, während er sie für ein Rennen sattelte, rätselhafte Worte der Ermutigung zu. An üblichen Maßstäben gemessen war er durchaus erfolgreich und erfreute sich der widerwilligen Bewunderung der meisten seiner Kollegen, aber für Joe war das nie genug. Er war stets — und vielleicht unrealistischerweise — auf der Suche nach einem Reiter, dessen psychische Schwingungen genau zu dem paßten, was er von seinen Pferden wußte. Er suchte nach Jugend, Mut, Talent und einer unverdorbenen Seele.

Jedes Jahr, während er sich mit den Pferden aus seinem Stall beschäftigte, beobachtete und analysierte er die Rennreiter, die neu auf der Bahn waren. Nach fünf Jahren fand er endlich, wonach er suchte, und verschwendete keine Zeit, es sich öffentlich zu sichern.

Und so erschütterte Gypsy Joe im Spätfrühling des Jahres 1986 die Bruderschaft der Jagdrennjockeys, indem er einem unbeschwerten Amateur — der genau eine Saison lang Rennen geritten und keine bemerkenswerten Siege errungen hatte — einen Jockeyvertrag anbot. Der Amateur brauchte sich, um diesen ungewöhnlichen Vorschlag annehmen zu können, lediglich unverzüglich eine Lizenz als Berufsjockey zu verschaffen.

Red Millbrook (Red für rot; er hatte rotes Haar) hatte dem telefonischen Angebot von Gypsy Joe mit derselben allgemeinen Verwirrung gelauscht, die schon bald etliche andere befallen sollte, angefangen von den Mandarinen des Jockeyclubs bis hin zu kritischen Scharen von Stalljungen in den heimischen Pubs.

Erstens wurden für Jagdrennen nur wenige Reiter fest verpflichtet. Zweitens ritten bereits (wenn auch ohne Verträge) zwei Profis, beides alte Hasen, regelmäßig für Gypsy Joe; beider Resultate wurden weithin als zufriedenstellend betrachtet, da Gypsy Joe auf der Siegertafel der Trainer an fünfter Stelle stand. Drittens konnte man Red Millbrook, der die Schule noch nicht lange hinter sich hatte, als unbedarften Neuling einstufen.

Mit der Selbstsicherheit der Jugend bewarb sich der >un-bedarfte Neuling< unverzüglich um eine Lizenz.

Red Millbrook, soeben zum professionellen Jockey aufgestiegen, sah Gypsy Joe zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht, als er vor dem April Gold Cup in Sandown Park voller Neugier in den Führring trat. Gypsy Joe, vierzig und ebenso dickköpfig wie selbstbewußt, wußte, daß er den Spott der Rennszene herausforderte, wenn er diesen beinahe unerprobten Adelssproß in einem großen Rennen zum ersten Mal testete, noch dazu auf einem Pferd, auf dem er nie zuvor gesessen hatte. Kritische Kommentare in verschiedenen Rennzeitungen hatten Joe bereits öffentlich Schelte dafür erteilt, daß er seine beiden nützlichen, getreuen — und wutschnaubenden — Stalljockeys übergangen hatte und» die Hoffnung auf den Gold Cup um eines Publicitygags willen hatte fahren lassen«. Gypsy Joe vertraute seinem Instinkt und ließ sich nicht beirren.

Der junge Red Millbrook sah in Gypsy Joe, als er ihn im Führring traf, einen großen, ungepflegten, langmähnigen Kerl von einem Mann und bedauerte schon die spontan eingegangene Verpflichtung zu reiten, wann immer und wo immer der Trainer es ihm auftrug.

Die beiden so schlecht zusammenpassenden zukünftigen Verbündeten schüttelten einander zaghaft und unter den Augen von Tausenden von Fernsehzuschauern die Hände, und Red Millbrook dachte, der Schauder, der ihn durchlief, sei nur auf die Erregung des Augenblicks zurückzuführen. Gypsy Joe lächelte jedoch zufrieden vor sich hin und war vielleicht der einzige Zuschauer, den es nicht überraschte, als sein Starter sich mit einer halben Länge Vorsprung das Gold sicherte.

Nicht daß Red Millbrook in seinem kurzen Leben je schlecht geritten wäre: In der Tat hatte er alle freien Stunden seiner Jugend auf dem Pferderücken zugebracht, obwohl diese freien Stunden zielgerichtet von elterlicherseits aufgenötigter Schulbildung begrenzt worden waren. Seine mit Adelstiteln geschmückten Eltern konnten durchaus Stolz für ihren Sohn als Amateur aufbringen, schraken aber entsetzt vor dem Wort >professionell< zurück. Wie eine Nutte, stöhnte seine Mutter.

Red Millbrook sah in seinem neuen Profistatus einen Schritt nach oben, nicht nach unten. Ängstlich bestrebt, in Sandown eine gute Figur zu machen, ging er mit grimmiger Entschlossenheit zur Startmaschine und entdeckte über dem ersten Hindernis eine unerwartete geistige Verbundenheit mit dem Pferd in sich. Noch nie in seinem Leben hatte er etwas Ähnliches empfunden. Sein ganzer Körper reagierte. Er und das Pferd erhoben sich wie ein einziges Wesen über sämtliche Hindernisse, die dazu ersonnen und aufgestellt waren, den Schnellsten unter ihnen zu bestimmen. Red Millbrook, eins mit dem Pferd, flog um die letzte Kurve und reckte sich nach vorn über den letzten Hügel. Er teilte den Willen und die Entschlossenheit seines tierischen Partners. Als er siegte, war es nicht Staunen, das ihn erfüllte, sondern das Gefühl, sein gottgegebenes Königreich betreten zu haben.

Im Absattelring des Siegers lächelten Gypsy Joe und Red Millbrook einander leise zu, als seien sie einer privaten Bruderschaft beigetreten. Gypsy Joe wußte, daß er seinen Reiter gefunden hatte. Red Millbrook sah voller Freude seiner Zukunft entgegen.

Oben auf der Tribüne beobachteten die beiden übergangenen Stalljockeys mit wachsendem Zorn das Rennen und den Sieg. Normalerweise hätte einer von ihnen auf dem Pferd gesessen.

Davey Rockman fühlte sich in seiner Wut durch und durch gerechtfertigt. Mit Gypsy Joe war nicht gut Kirschen essen für jene, die für ihn arbeiteten (fand Davey Rockman), aber seine Pferde starteten häufig, waren gut trainiert und hatten ihn — Davey — während der letzten fünf Jahre mit Luxus und Mädchen versorgt. Davey Rockmans Appetit auf Frauen, einst der Skandal der Rennbahnen, war inzwischen lange als normal akzeptiert worden; man wußte eben, daß >Rock<, ein dunkler Typ, mit seinem guten Aussehen alles, was Röcke trug, in seinen Bann schlug. Davey Rockmans Ärger über das Geld, das der Sieg in diesem großen, angesehenen Rennen ihm eingetragen hätte, war eine Nichtigkeit im Vergleich zu der Kränkung seines sexuellen Egos.

Nicht ein einziges Mal kam ihm der Gedanke, daß das Pferd, wenn er es geritten hätte und nicht der Thronräuber Red Millbrook, vielleicht gar nicht gewonnen hätte.

Nigel Tape, der zweite Stalljockey, verzehrte sich in treuem Groll um Rocks willen. Nigel Tape, vom Schicksal nicht dazu auserkoren, selbst als Star zu glänzen, sonnte sich gewohnheitsmäßig in seiner Stellung als Kumpan von Rock. Er pflegte dieselben Enttäuschungen zu beklagen, dieselben Triumphe zu feiern, erging sich in denselben unrealistischen Nörgeleien. Als hätte es ihn selbst getroffen, war er wie Davey Rockman empört darüber, durch einen anderen ersetzt worden zu sein, und blähte das Ärgernis zu Dimensionen auf, die nach Rache verlangten. Davey the Rock fühlte sich geschmeichelt von Nigel Tapes geradezu fanatischer Hingabe und erkannte ihre Gefahren nicht.

Am Montag nach dem April Gold Cup betrachtete Gypsy Joe die finsteren Mienen seiner beiden langjährigen Jockeys, als diese zum Morgentraining in seinen Stallhof kamen.

Ungerührt und mit geschäftsmäßigem Tonfall erklärte er ihnen:»Wie ihr wahrscheinlich schon gemerkt habt, wird von jetzt an Red Millbrook mein erster Jockey sein. Sie, Davey, haben die Möglichkeit, als ausbildender Jockey hierzubleiben, ein Job, in dem Sie sehr gut sind, und gelegentlich ein Rennen zu reiten. Wenn es Ihnen lieber ist, können Sie natürlich versuchen, bei einem anderen Trainer wieder erster Jockey zu werden.«

Davey Rockman lauschte in erbittertem Schweigen. Sein Status als Gypsy Joes erster Jockey hatte ihm in der Jagdrennwelt zu angenehm hohem Ansehen verholfen. Die Degradierung, die ihm soeben durch den Trainer zuteil geworden war, bedeutete nicht nur einen ernsten Verlust, was Gesicht und Einkommen betraf, sondern auch das buchstäbliche Ende seiner Anziehungskraft auf die Damenwelt. Er war es gewohnt, die Macht seiner Stellung auszunutzen, um Frauen zu beherrschen. Es gefiel ihm, sie ein wenig herumzustoßen, bis sie um Gnade bettelten. Er fühlte sich überlegen. Er stolzierte häufig in seinen Jok-keystiefeln herum, die er als Symbol der Manneskraft betrachtete.

Sich einen Job mit vergleichbarem Ansehen zu suchen war kaum eine ernsthafte Möglichkeit: Es gab einfach nicht genug gute Anstellungen für Stalljockeys auf dem Markt. Davey Rockman sah Gypsy Joes unbekümmerter Entschlossenheit, ihn zu degradieren, direkt in die Augen und spürte das erste Aufwallen von mörderischem Haß.

Nigel Tape fragte mit aggressivem Unterton:»Und was ist mit mir?«

«Sie können weitermachen wie bisher«, antwortete der Trainer ihm.

«Und die Brosamen aufsammeln? Das ist nicht fair.«

«Das Leben ist niemals fair«, entgegnete Gypsy Joe.»Ist Ihnen das noch nicht aufgefallen?«

Gypsy Joes archaische Instinkte erwiesen sich auf spektakuläre Weise als richtig. Red Millbrook und Gypsy Joes Pferde verschmolzen miteinander, elektrisierten einander auf einer Rennbahn nach der anderen, während sonst das Jagdrennprogramm gegen Sommer immer unspektakulärer wurde. Der Applaus für den einen Sieg war kaum ver-klungen, wenn schon der nächste anschwoll. Die Besitzer waren außer sich vor Begeisterung: Jeden Tag boten neue Besitzer ihre Pferde an. Als die nächste zehnmonatige Saison im August langsam anfing, hatte der Trainer etliche weitere Ställe angemietet, und der Jockey pfiff in glücklicher Selbsterfüllung vor sich hin, während er seinen Wagen von einem Erfolg zum anderen fuhr. Im September, im Oktober und im November sah es so aus, als könne er nichts falsch machen. Er war die Nummer eins auf der Jockeyliste.

Seine Eltern söhnten sich langsam mit seiner» Nutten-haftigkeit «aus und prahlten statt dessen mit ihm, aber seine beiden älteren, unverheirateten Schwestern neideten ihm seinen Ruhm. Er wohnte noch immer in seinem Elternhaus in London, das seine anspruchsvolle Mutter so sehr dem Dasein in einem feuchten alten Landhaus vorzog. Red begnügte sich mit ihrem Londoner Luxus, während er gleichzeitig plante, sich von seinen Sieggeldern ein eigenes Haus zu kaufen, das im übrigen nicht unbedingt auf Gypsy Joes Schwelle stehen mußte. Das Leben von Jockey und Trainer verlief in verschiedenen Bahnen, genauso wie es gewesen war, bevor ihre Partnerschaft in Sandown besiegelt worden war, aber die Schwingungen zwischen den beiden Männern blieben unverändert. Sie lächelten stets dasselbe verstehende Lächeln, setzten sich aber niemals auf ein Glas Wein zusammen.

Red Millbrook — freundlich, unkompliziert, von großzügigem Naturell — verkehrte kaum mit den anderen Jok-keys, die sein atemberaubendes Talent in der Regel mit Ehrfurcht erfüllte. Die Mißgunst, die er in Davey Rock-mans Augen brennen sah und die ihr Spiegelbild in der grollenden Miene Nigel Tapes fand, ignorierte er frohen Mutes. Da jetzt viel mehr Pferde im Stall waren als zuvor, ritt Davey Rockman, so überlegte Red Millbrook unbekümmert, immer noch ziemlich viele Rennen, auch wenn es sich dabei nicht um die siegverheißende Spitzenklasse handelte und auch wenn ihm nicht dieselbe staunende und kniefällige Aufmerksamkeit der Presse zuteil wurde. Es war nicht seine Schuld, beruhigte er sich, daß Gypsy Joe ihn auserkoren und ihm eine solch großartige und befriedigende Chance gegeben hatte.

Er hatte keine Ahnung, daß es der katastrophale Zusammenbruch seines ausgiebigen Sexuallebens war, der Rock am meisten erzürnte; und Rock seinerseits war blind gegen die Erkenntnis, daß es sein ständiges, verbittertes Murren war, das die Frauen abstieß. Zum ersten Mal in seinem Leben scharten sich die Mädchen um Red Millbrook, der ihre Annäherungsversuche eher komisch fand: Und seine Belustigung erzürnte seinen brodelnden, entthronten Rivalen nur um so mehr.

Als Davey Rockman im Dezember bei einem Rennen stürzte und sich einige kleine Knochen in seinem Fuß brach, schickte Red Millbrook ihm ein paar freundliche Zeilen, in denen er sein Mitleid bekundete. Rock betrachtete das als Beleidigung und antwortete ihm nicht.

Red Millbrook hatte seinen Wagen in der Londoner Straße draußen vor seinem Elternhaus stehen und fuhr von dort aus jeden Tag dorthin, wo er gerade zum Rennen eingeteilt war. Normalerweise brach er Richtung Norden auf, über eine Straße, die ihn durch hohe schwarze Geländer in die rasenbedeckte Weite des Hyde Parks führte. Dort gab es Fußwege und immergrüne Büsche und Bänke für die Rast ermüdeter Spaziergänger. Daneben fanden sich dort mehrere Verkehrsampeln, die einerseits den Fußgängern die Überquerung der Straße erleichtern und es andererseits dem Verkehr ermöglichen sollten, einem komplizierten Muster folgend nach rechts abzubiegen. Eine der Ampeln sprang fast immer auf Rot, sobald Red Millbrook sich näherte. Geduldig wartete er dann auf Grün, während sein Radio den Wagen mit Musik erfüllte.

An einem Freitagmorgen im Dezember trat, während Red vor sich hinsummend an der Ampel wartete, ein Mann an seinen stehenden Wagen heran und klopfte an der Beifahrerseite ans Fenster. Er war gekleidet wie ein Tourist und hatte einen großen Stadtplan bei sich, auf den er mit hoffnungsvoller Gebärde aufmerksam machte.

Red Millbrook drückte auf einen Knopf und öffnete zuvorkommend das elektrisch bediente Fenster. Der Tourist beugte sich mit dem Plan in Händen höflich in den Wagen.

«Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Tourist,»wie komme ich am besten zum Buckingham Palace, bitte?«

Er hatte einen ausländischen Akzent, ging es Red Mill-brook flüchtig durch den Kopf. Ein Franzose vielleicht. Der Jockey drehte sich zum Fenster um und beugte den Kopf über den Stadtplan.

«Sie gehen…«:, sagte er.

Emile Jacques Guirlande erschoß ihn.

Um die Wahrheit zu sagen, Emile Jacques genoß das Töten. Es erfüllte ihn mit Stolz, in der Lage zu sein, den Tod so sauber und schnell herbeizuführen, daß sein Opfer nicht einmal den Verdacht schöpfte, es könne angebracht sein, sich zu fürchten. Emile Jacques fand, daß er seinen eigenen hohen Ansprüchen untreu würde, falls er jemals Augen sich in verzweifelter Angst weiten sehen oder auch nur die ersten Silben eines jämmerlichen Flehens hören würde. So mancher bezahlte Mörder mochte Gefallen finden am Entsetzen seiner Opfer: Emile Jacques war, für einen Mörder, ein gütiger Mensch.

Red Millbrook hatte ausschließlich auf den Stadtplan gesehen, den Emile Jacques ihm mit der linken Hand halb geöffnet hingehalten hatte. Er hatte keine Zeit gehabt, die neun Millimeter Browning zu sehen, wie sie mit ihrem wirksamen, langen Schalldämpfer anmutig unter dem Stadtplan hervorglitt. Emiles rechte Hand war, wenn er eine Waffe hielt, von einer Schnelligkeit und Eleganz, wie kein Magier sie hätte übertreffen können.

Die glutheiße Kugel zerstörte Red Millbrooks Gehirn binnen eines Augenblicks. Er fühlte nichts, wußte nichts, gab keinen Laut von sich. Das schwache» Plop «der Browning verlor sich im Rhythmus der Radiomusik.

Ohne zu zögern nahm Emile Jacques seinen Stadtplan wieder an sich, und die Pistole verschwand darin. Er machte eine Gebärde des Dankes, für den Fall, daß sie Zuschauer hatten, und ging beiläufig davon.

Er schritt ohne Hast einen Fußweg entlang und umrundete ein Gebüsch, und er war schon ein ganzes Stück entfernt, als er hinter sich lautstarkes Hupen hörte. Die Ampel war, wie er wußte, auf Grün gesprungen, aber ein Auto bewegte sich nicht von der Stelle und behinderte den Verkehr. Als schließlich erzürnte Autofahrer das Blut und die Schädelknochensplitter entdeckten und hysterisch aufschrien, wandte Emile Jacques dem Park bereits den Rücken zu, um wieder in seinen Wagen zu steigen; und als die Metropolitan Police in aller Eile ein Sonderkommando einrichtete, um ihre Ermittlungen anzustellen, war Emile Jacques mit bedächtiger Fahrweise bereits auf dem Rückweg nach Frankreich und auf halber Strecke nach Dover.

Nicht schlecht, dachte er. Am Ende war es nicht schlecht gelaufen, obwohl es schwierig gewesen war, die Sache einzufädeln.

Als man ihm den Job Ende Oktober angeboten hatte, hatte er wie gewohnt unbewaffnet das Terrain sondiert, hatte die Lebensgewohnheiten seines Opfers studiert und die günstige Gelegenheit bemerkt, die die zahlreichen Ampeln an einem bestimmten Eingang des Hyde Parks darstellten. Mit einer Stoppuhr war er die normale tägliche Route seines Opfers wieder und wieder abgefahren, bis er auf die Sekunde genau die maximale und die minimale Zeitspanne kannte, die ein Wagen warten mußte, bis die Ampel von Rot auf Grün sprang. Red Millbrook verließ sein Haus zu unterschiedlichen Zeiten, nahm aber so gut wie immer den Weg über den Park, um allzu dichten Verkehr zu meiden. Alle vier Tage oder häufiger mußte er an der Ampel stehenbleiben. Jedes Mal, wenn die Ampel ihn aufhielt, saß er schutzlos in seinem Auto. Dort konnte er ihn durchaus töten, befand Emile Jacques, wenn er es nur schnell machte.

Zu Hause übte er dann mit einem Stadtplan und einer Pistole an seinem eigenen Autofenster, bis er wußte, daß er den Überfall binnen Sekunden würde ausführen können. Dann nahm er das Angebot, das man ihm gemacht hatte, an, und als er im November die vereinbarte Vorauszahlung erhalten hatte, setzte er von Dieppe nach Newhaven über (zur Abwechslung) und fuhr mit seinem deklarierten Waffenkoffer durch den Zoll.

Von da an ging fast sofort alles mögliche schief. Red Millbrook verließ London und fuhr zu einer zweitägigen Rennveranstaltung in Ayr nach Schottland; von dort aus fuhr er in aller Seelenruhe Richtung Süden, machte bei Freunden und Besitzern Station, um ihnen im ganzen Norden des Landes einen Sieg nach dem anderen einzuheimsen, Emile Jacques saß nervös und hilflos in London und fühlte sich angreifbar, und als Red Millbrook endlich in das Haus seiner Eltern zurückkehrte, kam es zu einem Wettereinbruch mit stürmischem Wind, Hagelschlag und ausgiebigen Regengüssen; die Art von Wetter, bei der kein

Tourist herumspazieren und sich mit einem Stadtplan nach dem Weg erkundigen würde.

Zu guter Letzt studierte Emile Jacques mit großer Sorgfalt eine Rennzeitung und fand mit Hilfe seines englischfranzösischen Wörterbuchs heraus, daß das ihm versprochene, auf mangelnder Gesundheit fußende Alibi seines Kunden keine Gültigkeit mehr hatte. Da ihm überdies unangenehm bewußt war, daß die Empfangsdame seines kleinen Hotels langsam den Wunsch entwickelte, mit dem ruhigen Gast mit dem französischen Akzent zu flirten, wandte Emile Jacques sich gänzlich von seiner Mission ab und fuhr vorsichtigerweise nach Hause.

Es war drei Wochen später, als das Wetter an einem Freitagmorgen im Dezember kalt, aber sonnig war, daß Red Millbrook an der Ampel stehenblieb und starb.

Die Empörung, die die Rennwelt erschütterte, überraschte Emile Jacques in Frankreich. Ihm war nicht bewußt gewesen, mit welcher Inbrunst die Briten ihren Sporthelden huldigten, und er war ungemein bestürzt zu hören, daß er (der Attentäter) gelyncht werden würde (mindestens), falls man ihn fand. Es wurde ein Fonds eingerichtet, dem in einer Flut von Gefühlen von jeder Rennbahn Gelder zuflossen und aus dessen Quelle ein verlockender Preis auf den Kopf des Mörders ausgesetzt wurde.

Emile Jacques Guirlande saß an seinem gewohnten, unauffälligen Ecktisch in dem Cafe in der Nähe seiner Wohnung und übersetzte sorgfältig, Wort für Wort, die Nachrufe, die die englische Rennpresse zum Ruhm des toten Wunderkindes veröffentlichte. Emile Jacques schürzte die Lippen und unterdrückte ein Gefühl des Bedauerns.

Der Wirt, ein vierschrötiger Mann mit einer gewaltigen Schürze und einem schweren Schnurrbart, blieb neben Emile Jacques stehen und gab seine Meinung zum besten.

«Nur ein Teufel«, sagte er und zeigte auf Red Mill-brooks attraktives Foto,»kann einen solchen Prachtburschen töten. «Er seufzte über die Bosheit der Welt und fügte hinzu:

«Da ist ein Brief für Sie, Monsieur. «Er bedachte Emile Jacques mit einem verschwörerischen, lüsternen Grinsen und einem Rippenstoß und hielt ihm einen Umschlag hin, der neben der Kasse gelegen hatte. Der Wirt glaubte, die Briefe, die er seinem beständigsten Kunden gelegentlich überreichte, kämen von sexhungrigen Damen, die sich auf diesem Wege heimlich mit ihm verabredeten.

Emile Jacques nahm die Briefe stets mit einem Augenzwinkern entgegen, und niemals raubte er seinem Gastgeber seine Illusionen: Auf diese Weise bekam er am Ende einer Zwischenträgerkette seine Nachrichten, und auf diese Weise verschickte er seine Antworten. An jenem Abend enthielt der Umschlag den pflichtschuldigst gezahlten Rest des vereinbarten Preises für den Millbrook-Job: Kein kluger Mann und keine kluge Frau hätten es je riskiert, einem Killer vorzuenthalten, was ihm zustand.

Man hätte erwarten können, daß der scharfsinnige Superintendent von der Metropolitan Police, der mit der Aufklärung von Red Millbrooks Mord beauftragt war, es nie zu einer Seelenfreundschaft mit Gypsy Joe Smith bringen würde. Gypsy Joe war ein Mann mit Instinkt und einem großartigen Buchhalter. Mit seinem Instinkt gewann er die Rennen, sein Buchhalter machte ihn reich. Gypsy Joe tat, was er tat, aus tiefer Intuition heraus. Der Polizist und der Buchhalter stützten sich bei ihrer Arbeit auf Fakten und logische Schlußfolgerungen.

Der Superintendent glaubte, in der Welt des Rennsports seien alle Leute halbe Betrüger, und Gypsy Joe hatte dieselbe Meinung von der Polizei. Der Superintendent betrachtete Gypsy Joes inbrünstige und echte Trauer mit Argwohn. Gypsy Joe fragte sich, wie ein derart begriffsstutziger Kerl es bis zum Superintendent hatte bringen können.

Sie gingen in Gypsy Joes Stallbüro wie die Bullen aufeinander los, ingrimmig unterstützt von einem hochrangigen einheimischen Polizeibeamten, dessen Hauptsorge die Frage der» Zuständigkeit «zu sein schien.

«Wen schert es, in wessen Bezirk er gestorben ist«, brüllte Gypsy Joe.»Steckt eure dämlichen Köpfe zusammen und findet den Schuldigen.«

Das taten die beiden hohen Polizeitiere denn auch, aber es ging ihnen auch dann kein Licht auf. Sie verhörten ausgiebig die beiden Frauen, die hinter Red Millbrooks Wagen an der Ampel gestanden und, als es Grün wurde, gehupt hatten, anschließend ausgestiegen waren, um ihn anzuschreien, die seinen in sich zusammengesunkenen, blutigen Leichnam gefunden hatten und nie wieder traumlos würden schlafen können.

Sie hatten niemanden gesehen, erklärten sie. Sie hätten sich miteinander unterhalten. Es seien nicht viele Leute im Hyde Park gewesen. Es sei schließlich Winter.

Emile Jacques hatte in Red Millbrooks Wagen keine Anhaltspunkte hinterlassen: keine Fingerabdrücke, keine Fasern, keine Haare. Die hoffnungsvoll aus dem Chassis ausgegrabene Kugel paßte zu niemandes Vorstrafenregister und würde es auch niemals tun. Der vorsichtige Emile Jacques tötete niemals mit einer Waffe, die er für sein vorheriges Opfer benutzt hatte. So sehr sie sich alle auch bemühten, der Fall blieb ungelöst.

Der Superintendent von der Metropolitan Police änderte seine Meinung über Gypsy Joe und begegnete ihm nunmehr mit widerwilligem Respekt. Der Mann, der neben ihm in seinem windigen Stallhof stand, so ging es dem Superintendent durch den Kopf, war der letzte Mensch auf der Welt, der dem toten Jockey auch nur ein Haar gekrümmt hätte, und da dem so war, konnte er ihn um Hilfe bitten. Er glaubte nicht an das zweite Gesicht oder an Wahrsagerei, aber man konnte ja nie wissen… Und Gypsy Joe hatte Red Millbrook praktisch aus der Luft herausgepflückt, hatte sein unentwickeltes Talent erkannt und diesem Talent blühendes Leben eingehaucht. Angenommen. nun, nur mal angenommen, die Intuition des Zigeuners könnte Erfolg haben, wo Polizeimethoden keinen hatten.

Der Superintendent schüttelte den Kopf, um sich von solchen Hirngespinsten zu befreien, und sagte nüchtern:

«Ich habe mich umgehört. Es sieht so aus, als wären die meisten Jockeys grün vor Neid auf Red Millbrook gewesen, und die Buchmacher scheinen gehofft zu haben, daß er sich den Hals brechen würde, aber von da ist es ja noch weit bis zu einem Mord. «Er hielt inne.»Man erzählt mir, der Mensch, der ihn am meisten gehaßt hätte, sei die zweite Geige gewesen, Davey Rockman, ihre ehemalige Nummer eins.«

«Er kann es nicht gewesen sein«, erwiderte Gypsy Joe düster.»Er hat ein perfektes Alibi.«

«Er kann es nicht getan haben«, meinte der Superintendent nickend,»weil er zu dem fraglichen Zeitpunkt durch das hiesige Krankenhaus humpelte und Physiotherapie für seinen gebrochenen Fuß bekam.«

«Und sein siamesischer Zwilling, Nigel Tape, kann es auch nicht gewesen sein, weil er hier vor meiner Nase war und meine Pferde beim Trainingsgalopp geritten hat, als

Red…«Gypsy Joe brach ab, weil seine Kehle plötzlich wie zugeschnürt war. Die Vergeudung und Zerstörung des himmelstürmenden Talents, das er auf seinen Pferden zur Entfaltung gebracht hatte, brachte Gypsy Joe tagtäglich den Tränen näher, als er es je für möglich gehalten hätte. Er wußte, daß er niemals einen zweiten Red Millbrook finden würde; ein Jockey, der sich auf solche Weise mit seinen Pferden ergänzte, begegnete einem Trainer nur einmal im Leben.

Als der Superintendent gegangen war, brannte Gypsy Joes Haß auf Red Millbrooks Mörder immer weiter in seinem Innern, wie ein beharrliches, unbarmherziges Feuer. Er würde es herausfinden, dachte er. Eines Tages würde er auf jenem unerklärlichen Wege, auf dem sich die Dinge ihm zeigten, herausfinden, wer Red Millbrook getötet hatte, und er würde wissen, was zu tun war.

Seine Pferde mußten in der Zwischenzeit bei den Rennen starten, bei denen sie gemeldet waren. Die Besitzer verlangten das. Das Leben mußte weitergehen. Davey Rockmans gebrochener Fuß heilte wie von Zauberhand, und Gypsy Joe erlaubte seiner Nummer eins mit einem Unbehagen, das er selbst nicht ganz verstand, seinen früheren Platz wieder einzunehmen.

Die Pferde vermißten Red Millbrook. Sie errangen Siege, aber nicht freudvoll und in Scharen. Die Tage des Ruhms waren vorüber. Einige Rennbesucher jubelten, andere weinten. Gypsy Joe verzweifelte.

Es geschah während des Gedenkgottesdienstes für Red Millbrook, daß Rock sich verriet. In der Kirche, nicht ahnend, daß Gypsy Joe grimmig hinter ihm stand, drehte Davey Rockman sich zu Nigel Tape um und grinste.

Gypsy Joe sah die erste bösartige Wölbung der hohnverzerrten Lippen und verspürte zunächst nur einfachen Abscheu. Aber am Abend und während der Nacht kamen ihm die tieferen Erkenntnisse, nach denen er gesucht hatte.

Am Morgen rief er den Superintendent der Metropolitan Police an.

«Ein bezahlter Mörder?«wiederholte der Polizeibeamte zweifelnd.»Berufsmörder sind dünn gesät, wissen Sie. Es ist unwahrscheinlich, daß wir es in diesem Fall mit so jemandem zu tun haben. «Er dachte bei sich, daß die meisten Mordfälle einen häuslichen Hintergrund hatten — Familienangelegenheiten, impulsive Taten —, und er wußte, daß die meisten Mörder gefaßt wurden. Häufig hatten ungeklärte Todesfälle auch mit Drogen zu tun, aber nicht diesmal, das glaubte er nicht. Die Sache roch einfach nicht danach. Und es gab auch keinerlei Hinweise auf ein politisches Attentat, das normalerweise hohe Wellen schlug und zu einer Verhaftung führte, entweder auf dem Schauplatz selbst oder kurz danach.

«Und wohin führt Sie das?«fragte Gypsy Joe.

«Zu der Notwendigkeit, mir die Unterströmungen in der Familie Millbrook einmal anzusehen. Wir glauben, daß der junge Mann seinen Mörder kannte. Derjenige, der ihn erschossen hat, hat unserer Meinung nach zuvor ans Fenster geklopft, und der junge Mann, der den Betreffenden erkannte, kurbelte die Scheibe runter, um sich mit ihm zu unterhalten. Die Schwestern sind keine Unschuldslämmer.«

«Ich glaube nicht. «Gypsy Joe war seiner Sache sicher.

«Er wurde nicht von einem Mitglied der Familie Millbrook getötet. Ich habe gestern beim Gedenkgottesdienst gewalttätigen, zerstörerischen Haß in Davey Rockmans Augen gesehen. Sie unterschätzen die Gewalt von Haß. Das tut fast jeder. Ich habe den Triumph gesehen, mit dem Reds Tod ihn erfüllt. Ich bin davon überzeugt, daß er ihn töten ließ. Ich werde mich ihm auf die Fersen setzen und die Dinge ein wenig in Schwung bringen.«

Der Superintendent, der abwechselnd an Gypsy Joes Auffassung zweifelte und ihr Glauben schenkte, war keineswegs überzeugt davon, daß man sich auf seine Zigeunerintuition verlassen konnte, und daher gab er seinem Informanten lahm den Rat:»Dann passen Sie gut auf sich auf, da läuft ein Mörder frei herum.«

Gypsy Joe nahm die Warnung ernst, stellte sich aber dennoch mit seinem gewaltigen Torso und seiner übergroßen Persönlichkeit jedem in den Weg, von dem er glaubte, er könne ihn vielleicht in die Welt des Verbrechens führen. Niemand sagte ihm direkt, wo er einen Attentäter finden könne, aber als seine Nachfragen schließlich zum Tagesgespräch jeder Rennbahn geworden waren, meinte irgend jemand, er solle doch am besten einmal sehen, was unter seiner eigenen Nase vorging. Nigel Tape, so fand er schließlich heraus, hatte einen Bruder, der einmal wegen Autodiebstahls gesessen hatte. Kaum sehr hilfreich, dachte er. Ein Schmusekätzchen, wo er Ausschau nach einem Löwen hielt.

Ohne daher mehr in der Hand zu haben als einen unverwüstlichen Verdacht, der ihn antrieb, begann Gypsy Joe, Davey the Rock Fragen zu stellen. Endlose, nadelstichspitze Fragen, eine nach der anderen, Tag um Tag.

«Wie hast du einen Killer gefunden? Bei wem hast du dich erkundigt?«

«Wie hast du ihn bezahlt? Hast du ihm einen Scheck geschickt?«

«Er wird dich erpressen, was? Er wird immer mehr und mehr wollen.«

Und so weiter und so weiter.

Er zerfetzte Davey Rockmans Nerven, bot ihm aber nach wie vor Ritte in Rennen an. Die Fragen peinigten den Jok-key, aber er brauchte die Honorare. Seine Hände begannen zu zittern. Überall flüsterte ihm Gypsy Joe seine Anklage ins Ohr:»Mörder.«

«Ich bin es nicht gewesen«, schrie Rock verzweifelt.

Gypsy Joe wiederholte es dennoch:»Mörder«, wieder und wieder, und er gönnte seinem Jockey keinen Frieden.

Nigel Tape fuhr zusammen mit Davey Rockman zu den Rennen in Warwick, in seinem geleasten Wagen, und hoffte, Rock würde seinen Anteil am Benzin bezahlen. Vergangen waren jene Tage, so schien es, da Rock mit grandioser Geste ganz selbstverständlich die gesamte Summe ihrer gemeinsamen Unkosten hinblätterte. Rock, überlegte Nigel Tape mürrisch, war nicht länger der Held, dem er in all diesen Jahren gehuldigt hatte.

Die dunkle Attraktivität Davey Rockmans hatte ihre geballte Anziehungskraft schnell verloren, seit die glatte, gebräunte Haut über seinem Kinn und seinen Wangenknochen erschlafft und grau geworden war. Der Gockel in Reitstiefeln stolzierte nicht länger mit an Arroganz grenzendem Selbstbewußtsein von der Waage zum Führring. Der Maestro schlug sich nicht mehr mannhaft mit seiner Reitpeitsche auf die Wade. Zuschauer, die noch allzugut den breitbeinigen Gang aus den Tagen vor Red Millbrook in Erinnerung hatten, erkannten in dem verblaßten Mann, der mit gekrümmten Schultern einherschlurfte, kaum mehr den Wolf der Rennbahnen wieder, dieses lüsterne Raubtier, das aufgeschreckte Hennen veranlaßt hatte, schützend hinter ihren Küken herzueilen.

Davey the Rock war unter Gypsy Joes mitleidlosem Sperrfeuer schon mehr als zur Hälfte zusammengebrochen.

«Er ist davon überzeugt, daß ich es getan habe«, stöhnte er.»Keine fünf Minuten läßt er mich in Ruhe. Er will wis-sen, wer seinen Goldjungen getötet hat, und ich kann mir die Lungen heiser schreien, daß ich es nicht wüßte, aber er fragt einfach immer weiter.«

Nigel Tape bedachte das Wrack seines Freundes mit einem Seitenblick. Er — und mit ihm jedes Augenpaar auf der Rennbahn — konnte deutlich sehen, wie es mit dem kraftvollen Charakter und erst recht mit den Reitkünsten Davey Rockmans bergab ging. Die Pferde taugten nichts mehr unter seiner Hand.

«Du kannst ihm nicht sagen, wer Red Millbrook umgebracht hat, weil du es nicht weißt. «Nigel Tapes Tonfall wandelte sich unmerklich von Beschwichtigung zu Groll. Er hatte dasselbe schon ein dutzendmal gesagt.

«Ich erkläre ihm wieder und wieder, daß ich es nicht weiß«, jammerte Rock.»Er glaubt, ich wäre einfach zu jemandem hingelaufen, der eine Waffe hat, und hätte gesagt: >Erschießen Sie Red Millbrook für mich.< Er ist so einfältig, daß es zum Gotterbarmen ist.«

Gypsy Joe, der weder einfältig noch zum Gotterbarmen war, beobachtete die rückgratlosen Darbietungen seines Jockeys an jenem Nachmittag und sah sich genötigt, sich bei seinen Besitzern zu entschuldigen.

Trotz der beharrlichen Inquisition, der er Rock unterzogen hatte, wußte Gypsy Joe immer noch nicht, wer Red Millbrook getötet hatte. Er begann zu glauben, daß der Jockey wirklich keine Ahnung hatte, wessen Hand die Waffe führte. Das änderte aber nichts an seiner Überzeugung, daß Davey Rockman die eigentliche Schuld traf.

Am Ende von drei unproduktiven Stunden, in denen er immer nur unter ferner liefen über die Ziellinie gegangen war, eröffnete der Trainer seinem Jockey, daß gute Besitzer schwerer zu ersetzen seien als gute Reiter (mit Ausnahme von Red Millbrook). Er habe, so sagte er, Davey

Rockman jede Chance gegeben, aber die Besitzer beschwerten sich bitterlich, und genug sei genug, also auf Wiedersehen.»The Rock «war sprachlos, und in seinen Augen schwelte weißglühender Groll. Er konnte noch immer keinen Fehler bei sich entdecken.

«Was ist mit mir?«fragte Nigel Tape.»Bekomme ich Daveys Job? Als erster Stalljockey?«

«Nein, den bekommst du nicht. Du hast nicht den Elan. Wenn du willst, kannst du weitermachen wie zuvor.«

«Das ist nicht fair«, sagte Nigel Tape.

Während der Heimfahrt vom Rennen fluchte Rock heftig, um sich für die öffentliche Schande, seinen Job verloren zu haben, zu rächen.

«Besorg mir diesen Killer«, meinte er.»Sag ihm, daß ich ihn noch einmal brauche.«

Nigel Tape fuhr ruckartig und in besorgtem Schweigen. Blond und mit sonnengebleichten Augenbrauen nahm er sich aus wie der fahle Schatten von Davey the Rock. Nigel spürte schmerzlich, wie seine lange bestehende Verbundenheit schwächer wurde. Er hatte Red Millbrook eigentlich ganz gern gemocht, ging es ihm mit Verspätung auf, und Gypsy Joe war während all der Jahre eigentlich kein schlechter Arbeitgeber gewesen. Ein sicherer Job, besser als die meisten…

«Tu es«, beharrte Rock.»Sag deinem Bruder, er soll die Sache noch einmal einfädeln.«

«Das wird dich was kosten«, erwiderte Nigel Tape lahm.

«Und schieb es nicht auf die lange Bank«, bekam er zur Antwort.

Nigel Tapes Exknacki-Autodieb-Bruder kannte einen Mann, der einen Mann kannte, der Kontakt zu einem Mann hatte, der jemanden kannte, der im Eliminationsgeschäft tätig war. Anfang Februar 1987 holte der Wirt von Emile Jacques’ Stammcafe neben seiner Kasse einen hellrosafarbenen Umschlag hervor, der süß nach Nelken duftete.

Der Wirt grinste breit und stieß Emile Jacques in die Rippen. Emile Jacques nahm den Duft wahr und verstaute das billet-doux unter ausgiebigem Augengezwinker in seiner Tasche, um es unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu lesen.

Später stand Emile Jacques am Fenster seiner wunderschönen, hochgelegenen Wohnung und beobachtete gedankenvoll die kleinen Boote, die geschäftig über die Seine trieben. Der rosa Umschlag hatte nur eine postkartengroße Schwarzweißfotografie von Gypsy Joe enthalten, zusammen mit dessen Namen, Adresse, Alter und Beruf, alles Angaben, die mit Bleistift auf die Rückseite geschrieben waren. Darunter las er in DruckschriftKleinbuchstaben:»Davey Rockman, Jockey«.

Dank seiner sorgsamen und erfolgreichen Ermordung des vielversprechendsten Jungen der britischen Jagdrennszene hatte Emile Jacques begonnen, diese Sportart mit einem flüchtigen Interesse zu verfolgen. Gelegentlich erstand er am Nachrichtenkiosk britische Rennzeitungen und vertiefte sich so weit in diese Lektüre, daß er immer seltener zu einem französisch-englischen Wörterbuch greifen mußte. Sein Englisch wurde, soweit es den Rennjargon betraf, zunehmend idiomatisch.

Das Angebot, Gypsy Joe zu töten, fand er ziemlich verführerisch.

Normalerweise lehnte er zwei Abschlüsse innerhalb desselben beschränkten gesellschaftlichen oder geschäftlichen

Zirkels ab, weil er der Auffassung war, eine solche Doppelung würde auch sein Risiko verdoppeln. Außerdem sandten zwei in solch kurzer Zeit vom selben Klienten in Auftrag gegebene Ermordungen ihm heftige, warnende Schauer den Rücken hinunter. Davey Rockman, Jockey seines Zeichens, hatte ihn jedoch für Red Millbrooks Tod prompt bezahlt und wußte wahrscheinlich, daß im Wiederholungsfalle mindestens eine entsprechende Summe fällig sein würde.

Emile Jacques interessierte sich nicht für die Motive oder die inneren psychologischen Triebkräfte seiner Klienten, die sich seiner Meinung nach grob unterteilen ließen in Habgier, Wollust oder Haß. Ihn interessierte vielmehr, daß er seinen Job sauber erledigte, unbeschadet davonkam und die Erträge später auf seine verschwiegene Art und Weise bei der Bank einzahlen konnte. Er interessierte sich nicht persönlich für Red Millbrook oder für Gypsy Joe Smith. Emile Jacques Guirlande war stets ein wahrer Söldner, ein kalter Soldat, der seine Dienste feilbot.

Er befand, daß er den Fall Gypsy Joe zumindest ohne Gefahr auskundschaften konnte. Infolgedessen überquerte er mit einer kleinen Reisetasche (ohne Waffen) den Kanal, wobei ihn ausnahmsweise eine unangenehme Seekrankheit befiel, die auf einen plötzlichen Wintersturm zurückzuführen war. Anfang Februar schneite es, und der Schnee legte sich hartnäckig über das südliche England und brachte die Rennwelt somit zu einem Stillstand. Wieder verschwor sich das Wetter, das Leben von Emile Jacques’ Zielperson zu verlängern.

Emile Jacques konnte Gypsy Joes Alltag nur sporadisch in Augenschein nehmen, ohne sich irgendwelchem Gerede auszusetzen, aber er machte sich mit der morgendlichen Routine des Trainers vertraut, der mit einem Landrover in die weißbestäubten Downs fuhr und sich ansah, wie die lange Reihe von Pferden beim Training über eine Allwettersandbahn galoppierte. Abends hörte er den Stallburschen in den einheimischen Pubs zu und saugte, neben dem allgemeinen Geplapper über das Stalleben, auch ihre plastische Ausdrucksweise in sich auf.

Er erfuhr, daß Gypsy Joes liebende Fürsorge für seine Pferde einen spätabendlichen Besuch im Stall beinhaltete. Er pflegte sich davon zu überzeugen, daß all seine Tiere aufs beste versorgt und zufrieden waren, und eines Abends näherte Emile Jacques sich auf leisen Sohlen selbst dem Stallhof, um unbemerkt und aus einiger Entfernung das Geschehen zu beobachten.

Gypsy Joe kam um zehn Uhr aus seinem Haus, allein, und machte seine Runden, bevor er seine vielgeliebten Pferde bis zum Morgen allein ließ. Um zehn Uhr am nächsten Abend machte er abermals seine Runden und am darauffolgenden Abend um zehn Uhr wieder.

Dort, auf dem stillen Stallhof, beschloß Emile Jacques, würde eines nicht mehr allzuweit entfernten Abends ein lautloser Tod aus der Dunkelheit hervorbrechen.

An dem Abend, an dem Emile Jacques seine Entscheidung traf, ließ ein Tauwetter England wieder braun und grün werden, und am nächsten Tag begleitete Gypsy Joe seine Starter zu den Rennen in Sandown Park.

Die beiden Monate, die seit Red Millbrooks Ermordung verstrichen waren, hatten Gypsy Joes zornige Trauer keineswegs gedämpft, und er mußte daran denken, daß hier, auf eben jener Übungsbahn, der schlafende Genius des rothaarigen Jungen zum ersten Mal voll erwacht war. Während er zusah, wie seine Februarstarter mit einem Ersatzjockey bescheidene Erfolge erzielten, beweinte Gypsy Joe die Vergangenheit und schwor, von der Verfolgung Davey Rockmans nicht abzulassen. Wie lange er auch brauchen würde, er würde den schuldigen Schurken so weit bringen, daß er schließlich zusammenbrach und gestand.

Davey war am betreffenden Nachmittag von einem unbedeutenderen Trainer für genau ein einziges Rennen eingesetzt worden. Er ging, in Gedanken nicht bei der Arbeit, sondern anderswo, als Zweitletzter durchs Ziel. Er verwandte seine Zeit darauf, Gypsy Joe mit unvermindertem Haß anzustarren und voller Nervosität auf eine Antwort auf den Auftrag zu warten, den er über Nigel Tapes Bruder erteilt hatte.

Emile Jacques Guirlande ging in der festen Überzeugung, daß niemand ihn erkennen würde, und mit verborgener Belustigung zu den Rennen in Sandown Park und suchte die Nähe beider Männer.

Gypsy Joe, sein Opfer, bedachte den gepflegten, relativ jungen und unauffälligen Rennbesucher, der sechs Fuß von ihm entfernt sein Rennprogramm las, mit einem flüchtigen Blick und verspürte nichts von den übernatürlichen Schaudern böser Ahnung, die seine Vorfahren wohl gewarnt hätten. Gypsy Joe sah Red Millbrooks Mörder und erkannte ihn nicht.

Eine Stunde später, vor dem fünften Rennen, hatte Emile Jacques auf der Tribüne Tuchfühlung mit Davey the Rock und hörte zu, wie er sich mit bissigen Bemerkungen bei Nigel Tape über unbarmherzige Trainer, die langsame Post und die Gehässigkeit undankbarer Huren beklagte.

Emile Jacques, dem der Mann mißfiel, beschloß, sein Honorar drastisch zu erhöhen.

Als Davey the Rock drei Tage später das Angebot erhielt, brodelte er vor Zorn; die erhöhte Vorauszahlung würde den Rest seiner Ersparnisse verschlingen. Aber Gypsy Joes Anklagefeldzug trieb ihn in Trunksucht und

Wahnsinn, und er würde alles — alles — tun, dachte er, um das gnadenlose Wispern in seinen Ohren loszuwerden:»Mörder. Mörder. Gib zu, daß du einen Mörder auf ihn angesetzt hast.«

Davey Rockman schickte jeden Cent Vorschuß, der verlangt worden war, und hatte keinerlei Reserve mehr. Er wußte, daß er damit ein Risiko einging und daß der Mörder, wenn die Tat getan war, kommen würde, um sich den Rest zu holen.

Eine Woche später, Anfang März, reichte der Wirt des Cafes unter ausgiebigen Rippenstößen zwei Briefe weiter, die an seinen vom Glück gesegneten Kunden mit dem bewegten Sexualleben adressiert waren. Der Gast zwinkerte und lächelte und faßte den Gedanken, sich einen anderen Briefkasten zu suchen, ernsthaft ins Auge.

Emile Jacques ging mit seinen Briefen nach Hause. Einer, eine Art dickes Päckchen, enthielt den gesamten Rest von Rocks hartverdienten Ersparnissen. Der andere trug ihm die beinahe unverzügliche Ermordung eines Politikers in Brüssel an, dessen Tod binnen zehn Tagen — noch vor einer entscheidenden Wahl — eintreten müsse.

Emile Jacques stand an seinem hohen Fenster und blickte auf die Seine herab. Etwas sagte ihm, daß der Brüsselauftrag zu früh kam. Seine Anonymität hing seiner Meinung nach teilweise davon ab, daß er seine Operationen in unregelmäßigen Abständen durchführte.

Er hatte Red Millbrooks Ermordung unbeschadet überstanden, aber nach Gypsy Joes Tod würde man mit verdoppelten Kräften Jagd auf ihn machen. Wegen des hohen Honorars mochte dieses Angebot besonders lohnend sein, aber ein weiterer Mord in Brüssel, sein dritter in kaum mehr als drei Monaten, ein solcher Mord auf die Schnelle würde ihm im Bewußtsein der Polizei vielleicht eine Identität verschaffen. Das letzte, was er wollte, dachte er grimmig, war sein Konterfei auf einem Stück Papier und darunter das Wort» Wanted«.

Aber dennoch, das Angebot aus Brüssel beinhaltete ein mehr als ansehnliches Honorar für prompte Erledigung. Und er war nun einmal, so fand er, der Beste.

Am folgenden Tag zahlte er daher Davey Rockmans Ersparnisse auf der Bank ein, zeigte sich für einen Vormittag im Schießsportverein, wo er den Umgang mit neuen Waffen erklärte, und fuhr am Nachmittag und am Abend quer durch Belgien nach Brüssel. Er würde den Brüsseler Job auskundschaften, beschloß er, und seine Antwort geben, bevor er nach England übersetzte, um Gypsy Joe zu erledigen. Er würde sehr vorsichtig sein und die Sache Schritt für Schritt angehen.

Er verbrachte drei allzu zähe Tage in Brüssel, während derer er seinem Politiker durch die Basare des Europaparlaments hinterherschlich und zu seinem wachsenden Befremden feststellte, daß seine Beute nur selten allein war und selbst auf der Herrentoilette noch gründlich bewacht wurde. Und schlimmer noch, er hatte eine liebevolle Ehefrau und einen Haufen intelligenter Kinder mit scharfen kleinen Augen im Schlepptau. Kinder waren ein Risiko, um das jeder vernünftige Mörder einen weiten Bogen machte.

Emile Jacques, der ungeduldig war und unter Druck stand, nahm das Brüsseler Angebot an und schickte seine Antwort untypischerweise, ohne seinen Hinterhalt minutiös und im voraus geplant zu haben, im festen Vertrauen darauf, daß er genug Zeit hatte, um eine gute Gelegenheit ausfindig zu machen. Während er darauf wartete, daß der Brüsseler Vorschuß kam, wollte er dann Gypsy Joe beseitigen: Er würde das Wochenende in England verbringen und sich das Rockman-Honorar verdienen. Diesem Plan folgend machte er sich auf den Weg, aber fast von Anfang an ging alles mögliche schief. Noch bevor er auch nur die Stadt verlassen hatte, hatte er eine Autopanne. (»Mon auto ne marchepas.«) Emile fluchte.

Es war Freitagmorgen. Man sagte ihm, sein Wagen würde bis Montagmittag repariert sein. Emile Jacques stieß eine gotteslästerliche Verwünschung aus.

Er ging in ein Reisebüro, um seine verschiedenen Möglichkeiten zu erwägen, und fand sich am Schalter einer lächelnden, mütterlichen Madame in mittleren Jahren gegenüber, die Gefallen an ihrem noch relativ jungen Kunden fand und endlose hilfreiche Vorschläge machte.

Monsieur wolle das Wochenende in England verbringen? Nun, dann müsse er natürlich fliegen.

Sabena, die belgische Luftlinie, böte jeden Tag regelmäßige Flüge nach Heathrow an.

Madame deutete auf ein Poster an der Wand, das eine Schwadron riesiger, allesamt gerade vom Boden abhebender Flugzeuge darstellte.

Emile Jacques Guirlande schauderte und begann zu schwitzen.

Monsieur könne in Heathrow einen Wagen mieten. Sie, Madame, würde alles Notwendige veranlassen.

Emile Jacques bezwang heroisch seine Neurose und sagte, er wolle übers Meer reisen, mit der Wagenfähre, wie er es beabsichtigt hatte. Madame sagte, auf Grund der Verzögerung werde er zweifellos das Boot verpassen, das er ursprünglich hatte nehmen wollen, aber er könne später über eine andere Route fahren, und sie, Madame, könne veranlassen, daß ihn in Dover ein Mietwagen erwarten würde.

Emile Jacques erklärte sich einverstanden.

Strahlend erledigte Madame einige Telefongespräche, während ihr Kunde sich die Stirn abtupfte.

Sie erklärte ihm freundlich, daß man schon bald durch den Tunnel nach England würde reisen können. Die Bohrarbeiten würden noch in diesem Jahr beginnen. Ob das nicht ganz wunderbar sei? Binnen eines Augenblicks wuchs sich Emile Jacques’ Flugangst zu einer Tunnelklaustrophobie aus.

Madame gab ihm Tickets und Reservierungen und einen Bordpaß, die seiner Vorliebe für das Wasser Rechnung trugen.

Sie sagte:»Ich fürchte, die Überfahrt dauert viereinhalb Stunden, aber ich habe Ihnen einen Mietwagen gebucht, der in Dover für Sie bereitstehen wird. Tut mir wirklich leid, daß Sie solche Probleme mit Ihrem eigenen Wagen hatten.«

Emile Jacques, der noch immer sein Zittern zu unterdrük-ken suchte, bezahlte sie mit schwachem Lächeln und, aus Gründen der Vorsicht, in bar und fuhr dann, ihren Anweisungen folgend, mit dem Zug zur Kanalküste. Bei sich hatte er seinen Metallkoffer und eine Reisetasche, und die ganze Zeit über redete er sich selbst gut zu. Wenn diese beunruhigende Abweichung von seiner normalen Tötungsroutine auch nur das geringste Risiko zu bergen schien, würde er noch einmal nach England fahren und sich zu einem späteren, ruhigeren Zeitpunkt um Gypsy Joe kümmern.

Er ging an Bord der Fähre, zusammen mit etwa vierhundertfünfzig anderen Passagieren, von denen viele zum Einkaufen für einen Tag aufs Festland gefahren waren und jetzt mit» Duty-Free-Tüten «beladen nach Hause zurückkehrten. Emile Jacques suchte sich einen Sitzplatz an der Bar, bestellte Mineralwasser und hielt seinen Metallkoffer fest zwischen seine Füße geklemmt.

Die Fähre legte am Freitag, dem sechsten März 1987, abends um fünf nach sechs von ihrem Ankerplatz ab. Um sechs Uhr vierundzwanzig passierte das Schiff die Außenmole des Hafens und steuerte mit beschleunigtem Tempo das offene Meer an.

Vier Minuten später sank es.

Auszug aus dem offiziellen Unfallbericht, veröffentlicht vom Königlichen Amt für Drucksachen.

Am sechsten März 1987 fuhr die Roll-on-roll-off-Passagier- und Frachtfähre Herald of Free Enterprise um 18.05 MEZ von Liegeplatz Nummer zwölf im inneren Hafen von Zeebrügge ab. Die Herald war mit einer achtzigköpfigen Besatzung bemannt und hatte 81 PKWs, 47 LKWs und 3 andere Fahrzeuge geladen.

Es waren ungefähr 459 Passagiere für die Überfahrt nach Dover an Bord gegangen. Die Herald passierte die Außenmole um 18.24. Vier Minuten später kenterte sie. Während der letzten Sekunden drehte die Herald sich mit großer Geschwindigkeit nach steuerbord und ist nur deshalb nicht ganz gesunken, weil sie backbord in flachem Wasser auf Grund lief. Die Herald blieb mit der Steuerbordseite über Wasser liegen. Unter der Wasserlinie füllte sich die Fähre so schnell mit Wasser, daß 150 Passagiere und 38 Mann Besatzung ums Leben kamen.

Die Herald kenterte, weil sie sowohl mit geöffneten inneren als auch äußeren Bugtoren in See stach.

Die Bugtore standen offen, weil man sie nicht geschlossen hatte, nachdem die Kraftwagen und andere Fahrzeuge für die Überfahrt nach Dover an Bord gefahren worden waren. Niemand hatte nachgeprüft, ob die Tore geschlossen waren.

Die Fähre füllte sich mit Wasser und kenterte binnen dreißig Sekunden.

Der Rumpf, der über die Oberfläche des Meeres hinausragte, war leuchtend rot gestrichen.

Rot wie eine Ampel.

Rot wie Red Millbrooks Haar.

Rot.

In England lieh sich Davey the Rock unter Tränen des Selbstmitleids am sechsten März um sechs Uhr fünfundzwanzig von Nigel Tape genug Geld, um sich zu betrinken. Pleite, ohne Arbeit, ausgehungert, was Sex betraf, und halb wahnsinnig vor Angst vor einem nur zur Hälfte bezahlten Mörder, gab Rock allen anderen die Schuld.

Als die Herald kenterte, rutschte Emile Jacques’ mit Waffen beladener Metallkoffer unausweichlich zwischen seinen Füßen weg. Er reckte sich, um den Koffer festzuhalten, und stürzte ein Stockwerk nach unten; das letzte, was der Mörder, der vorm Fliegen Angst hatte, sah, war die Wand aus Wasser, die ihn ertränkte.

Um zehn Uhr an jenem Abend, während die kalte Nordsee noch immer durch das Wrack wirbelte, das sich auf den Meeresgrund gesenkt hatte, verließ Gypsy Joe sein Haus und machte seine stille, normale Runde durch seinen Stall voller dösender Pferde; so wie er es ungefährdet am nächsten Abend tun würde und am übernächsten und am überübernächsten.

Die Sterne funkelten.

Ohne zu wissen warum, war Gypsy Joe mit sich selbst im reinen.

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