Bombenalarm in Kingdom Hill

Die Zeit macht sich auf unheimliche Weise über das Ersonnene und Erzählte lustig. Die Ereignisse im Zusammenhang mit einer Bombendrohung in Kingdom Hill — einer imaginären Rennbahn — wurden im Jahre 1975 zur sommerlichen Unterhaltung der Leser der Times erfunden. Jahre später sollte dann die Grundidee der Erzählung Wirklichkeit werden: Aufgrund eines falschen Bombenalarms wurde 1997 das Grand National Steeplechase in Aintree abgesagt.

Seit Tricksy Wilcox’ Geistesblitz hat sich bei den Sicherheitsvorkehrungen vieles geändert, und auch der Wert des Geldes ist nicht mehr der alte. In Kingdom Hill wie auch in den übrigen Erzählungen dieses Bandes habe ich Geldbeträge und mancherlei anderes den Verhältnissen der Jahrtausendwende angeglichen.

Am Donnerstagnachmittag kratzte Tricksy Wilcox sich geistesabwesend unter den Achseln und kam zu dem Schluß, daß es sich nicht lohnte, im Zwei-Uhr-dreißig-Rennen auf Claypits zu setzen. Tricksy Wilcox räkelte sich in einem ausgeleierten Sessel, eine halb ausgetrunkene Bierdose in bequemer Reichweite, und ein großer Farbfernseher lieferte ihm die genauen Einzelheiten des Eröffnungslaufs der drei Renntage von Kingdom Hill. Nur Schwachköpfe, dachte er selbstzufrieden, legten bei einer solchen Julihitzewelle, die der Sahara alle Ehre gemacht hätte, eine volle Schicht von neun bis fünf hin. Vernünftige Burschen wie er saßen mit geöffneten Fenstern und bloßem Oberkörper zu Hause und ließen sich Bärte wach-sen, während der schwüle Nachmittag dem Abend entgegendämmerte.

Im Winter, fand Tricksy, mühten sich nur Schwachköpfe durch Schnee und Graupel zur Arbeit, während vernünftige Burschen vorm Fernseher in der warmen Stube blieben und auf die Springer wetteten; im Frühling hatte man mit dem Regen zu tun und im Herbst mit dem Nebel. Mit vierunddreißig Jahren hatte Tricksy die Arbeitslosigkeit zu einer hohen Kunst entwickelt und hielt den Gedanken an ein volles, ehrliches Tagewerk für absurd. Es war Tricksys Frau, die bei jedem Wetter zu ihrer Arbeitsstelle im Supermarkt ging, Tricksys Frau, die die Miete für die Sozialwohnung aufbrachte und das abgezählte Geld für den Milchmann daließ. Nach elf Jahren Tricksy war sie immer noch fröhlich, unverdrossen und pragmatisch. Sie hatte während seiner beiden neunmonatigen Gefängnisstrafen ungerührt ausgeharrt und akzeptiert, daß er sich eines Tages wieder einfinden würde. Ihr Dad war ihre ganze Kindheit über mal drinnen und mal draußen gewesen. Die kleinkriminelle Gesinnung war ihr vertraut.

Tricksy sah zu, wie Claypits das Zwei-Uhr-dreißig-Rennen mit beleidigender Leichtigkeit gewann, und spülte sein angeschlagenes Selbstbewußtsein mit dem letzten Bier herunter. In letzter Zeit ging aber auch verdammt noch mal alles, was er anfaßte, in die verdammte Hose, dachte er düster. Er war entschieden knapp bei Kasse und hatte sich sogar ein- oder zweimal beim Nötigsten wie Alkohol und Zigaretten einschränken müssen. Jetzt brauchte er einen netten kleinen Dreh, einen netten kleinen Kitzel, um ein paar arglose Trottel dazu zu bringen, ihre Brieftaschen zu öffnen. Zum Beispiel so was wie die Masche mit den knappen Eintrittskarten, auf die er jahrelang stolz gewesen war, bis die Bullen ihn in Wimbledon mit einem Stoß gefälschter Karten hoppgenommen hatten. Und die

Touristen waren heutzutage so gerissen wie nur was; man konnte ihnen keine Abos mehr für nichtexistente Pornozeitschriften andrehen, ganz zu schweigen von der London Bridge.

Er konnte hinterher selbst nicht mehr sagen, was ihn auf die großartige Idee mit der Trittbrettfahrerei gebracht hatte. Eben sah er sich noch friedlich das Drei-Uhr-Rennen in Kingdom Hill an, und im nächsten Augenblick raubte ihm eine wilde, überschwengliche und unheilige Ausgelassenheit schier den Atem.

Er lachte laut. Er klatschte sich auf die Schenkel. Er stand auf und tanzte durchs Zimmer, denn die Kühnheit seiner Gedanken war im Sitzen kaum zu ertragen.»O Moses«, sagte er und schnappte nach Luft.»So einfach geht das. Kingdom Hill, ich komme.«

Tricksy Wilcox gehörte nicht zu den hellsten Köpfen.

Am Freitagmorgen begab sich Major Kevin Cawdor-Jones, der Geschäftsführer der Rennbahn von Kingdom Hill, mit seiner Aktentasche zu der turnusmäßigen Sitzung seines Vorstands, dessen Mitglieder einander größtenteils verabscheuten. Die Rennbahn, deren Eigner und Betreiber eine kleine, ständig in Vorstandskriege verstrickte Privatgesellschaft war, litt unter den Konsequenzen von haßdiktierten, destruktiven Entscheidungen und warf daher nie den Profit ab, den sie hätte hergeben können.

Die Anstellung von Cawdor-Jones war ein typisches Beispiel der Mißwirtschaft. Als Nummer drei auf der Liste möglicher Kandidaten und mit weit geringeren Fähigkeiten als Nummer eins und zwei war er nur deswegen gewählt worden, weil irgendein Ausweg aus der Pattsituation gefunden werden mußte, in die sich die Parteien der Kandidaten eins und zwei gebracht hatten. So war Kingdom Hill zu einem nur mittelmäßigen Geschäftsführer gekom-men, dessen vernünftigere Vorschläge zudem gewöhnlich von den zerstrittenen Vorständen vereitelt wurden.

Als Soldat war Cawdor-Jones impulsiv, unbeschwert und von überstürzter Tapferkeit gewesen, Eigenschaften, die sichergestellt hatten, daß ihm die wichtige Beförderung zum Oberst versagt blieb. Als Mensch war er faul und liebenswert, als Geschäftsführer ein Weichling.

Bei der Freitagssitzung dauerte es für gewöhnlich nicht lange, bis der Schlagabtausch in vollem Gange war.

«Massiver Ausbau der Sicherheitsvorkehrungen«, wiederholte Bellamy rechthaberisch.»Allerhöchste Priorität. Muß sofort in Angriff genommen werden. Heute.«

Der dünne Bellamy mit den scharfen Gesichtszügen sah sich aggressiv in der Runde um, und wie gewöhnlich schickte Roskin sich mit gedehnter Stimme an, ihm zu widersprechen.

«Sicherheit kostet Geld, mein lieber Bellamy.«

Roskin bediente sich eines herablassenden Tonfalls, denn er wußte, daß nichts Bellamy mehr erzürnte. Bellamys Gesicht wurde dunkel vor Zorn, und die Sicherheit der Rennbahn wurde wie so vieles andere zum Spielball eines persönlichen Zwistes.

Bellamy ließ nicht locker:»Wir brauchen größere Absperrungen, zusätzliche Spezialschlösser an allen Innentüren und die doppelte Anzahl von Polizisten. Das muß sofort in Angriff genommen werden.«

«Die Besucher von Rennbahnen sind keine Hooligans, mein lieber Bellamy.«

Cawdor-Jones stöhnte innerlich auf. Ihm waren seine Inspektionsrundgänge an den rennfreien Tagen wahrlich schon lästig genug, und er neigte ohnehin dazu, sich nicht peinlich genau an die bereits bestehenden Sicherheitsvor-kehrungen zu halten. Größere Absperrungen zwischen den einzelnen Bereichen würden bedeuten, daß er nicht mehr darüb erklettern oder sich hindurchzwängen konnte, sondern einen langen Umweg in Kauf nehmen mußte. Mehr Schlösser bedeuteten mehr Schlüssel, mehr Zeitverschwendung, mehr lästigen Ballast. Und das alles wahrscheinlich nur, um den wenigen Schnorrern das Handwerk zu legen, die versuchten, auf bessere Plätze zu kommen, ohne dafür zu bezahlen. Er zog da den Status quo bei weitem vor.

Um ihn herum erhitzten sich die Gemüter, und die Stimmen wurden lauter. Resigniert wartete er darauf, einmal zu Wort zu kommen.»Ehm…«, sagte er und räusperte sich.

Sowohl die erhitzte Pro-Bellamy-Fraktion als auch die höhnische Pro-Roskin-Clique wandte sich ihm hoffnungsvoll zu. Cawdor-Jones war ihrer beider Ausweg — es sei denn, muß eingeschränkt werden, seine Lösungsvorschläge waren wirklich konstruktiv. In diesem Falle erhoben beide Gruppen Einspruch, weil sie wünschten, sie wären selbst auf die Idee gekommen.

«Viele zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen würden mehr Arbeit für unser Personal bedeuten«, sagte er zaghaft.»Sie müßten vielleicht ein oder zwei zusätzliche Leute einstellen, um damit fertig zu werden. und nach den großen Anschaffungskosten wäre da immer noch die Wartung zu bedenken. und. ehm. also, welchen echten Schaden kann man schon einer Rennbahn zufügen?«

Dieses dünne Öl glättete die Wogen immerhin so weit, daß beide Seiten den Rückzug antraten, ohne dabei ihre Positionen oder Meinungen aufzugeben.

«Sie haben da mit dem Personal nicht ganz unrecht«, räumte Bellamy widerwillig ein, denn er wußte, daß zwei zusätzliche Leute erheblich mehr kosten würden als Schlösser und daß die Rennbahn sie sich nicht leisten konnte.

«Aber ich bleibe dabei, daß strengere Sicherheitsmaßnahmen notwendig und mehr als überfällig sind.«

Cawdor-Jones war in seiner unbekümmerten Art insgeheim anderer Meinung. Bisher war nie etwas passiert. Warum sollte in Zukunft etwas passieren?

Die Diskussion grollte noch eine halbe Stunde aus, und es wurde nicht das Geringste unternommen.

Am Freitagnachmittag ging Tricksy Wilcox zum Rennen; er hatte die Ferienkasse seiner Frau — die sie in ihrer besten Teekanne aufbewahrte — halb leergeräumt. Es war eine Erkundungsfahrt mit dem Ziel, die Lage zu peilen, und Tricksy, der seine gierigen Augen weit aufgerissen hatte, kicherte unwillkürlich vor sich hin. Ein- oder zweimal ging es ihm durch den Sinn, daß sein unbekümmerter Alleingang reine Verschwendung war: Professionelle Gauner hätten alles gewiß minutiös geplant und auf ihre humorlose Art und Weise alle Eventualitäten bedacht. Aber Tricksy war ein Einzelgänger, der sich nie einer Bande angeschlossen hatte, weil das zu sehr nach harter Arbeit aussah; man wurde die ganze Zeit herumgeschubst und hatte obendrein nicht mal Pensionsansprüche.

Er gönnte sich an verschiedenen Theken ein kleines Bier und setzte unbedeutende Beträge am Toto. Er sah sich die Pferde im Führring an, erkannte Jockeys, deren Gesichter ihm vom Fernsehen vertraut waren, und beobachtete aufmerksam die Rennen. Gegen Ende des Nachmittags machte er sich kichernd und dank einiger bescheidener Gewinne immer noch flüssig auf den Heimweg.

Am Freitagnachmittag verkaufte Mrs. Angelisa Ludville zwei Totoscheine an Tricksy Wilcox — und an hundert andere Leute, die sie genausowenig kannte. Sie war in Gedanken nicht bei ihrer Arbeit, sondern bei dem beängstigenden Stapel unbezahlter Rechnungen auf ihrem Bücherregal zu Hause. Das Leben hatte sie seit ihrem fünfzigsten Geburtstag unfreundlich behandelt; die Sorgen hatten sie unansehnlich gemacht, und eine Blondine hatte sich ihren Ehemann geschnappt. Sitzengelassen, geschieden und kinderlos hätte sie sich trotzdem zufrieden an ein Leben allein gewöhnen können, wenn damit nicht drastische Einschränkungen verbunden gewesen wären. Der unablässige, aufreibende Kampf, den es bedeutete, jeden Pfennig umdrehen zu müssen, fraß ihren natürlichen Optimismus und ihre gute Laune allmählich auf.

Angelisa Ludville warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf das Geld, das sie durch ihr Totofenster in Empfang nahm. Bündelweise ging das Zeug jeden Arbeitstag durch ihre Hände, und schon ein kleiner Bruchteil dessen, was das Publikum auf das Spiel verschwendete, würde all ihre Probleme wunderbar lösen, fand sie. Aber Ehrlichkeit war ihr zu einer eingefleischten Gewohnheit geworden, und außerdem war es unmöglich, den Toto zu bestehlen. Die Einnahmen für jedes Rennen wurden sofort eingesammelt und überprüft. Jeder Diebstahl wäre augenblicklich aufgeflogen. Angelisa seufzte und versuchte, sich mit der bevorstehenden Sperrung ihres Telefons abzufinden.

Am Samstagmorgen kleidete Tricksy Wilcox sich mit großer Sorgfalt für den vor ihm liegenden Job an. Seine Frau hätte ihm, wäre sie nicht im Supermarkt mit dem Aufstapeln gebackener Bohnen beschäftigt gewesen, von den fluoreszierenden, orangefarbenen Socken abgeraten. Tricksy, der sich im Schlafzimmerspiegel nur bis zu den Knien hinunter sehen konnte, war felsenfest davon überzeugt, daß der dunkle Anzug, die gedämpfte Krawatte und der braune Filzhut ihm das Aussehen eines ordentlichen, vornehmen Rennbesuchers gaben. Er hatte sich sogar ohne Widerstreben sein Haar um fünf Zentimeter gekürzt und seinen üppigen Schnurrbart entfernt. Mit einem übergroßen Fernglasfutteral über der Schulter betrachtete er mit beifälligem Grinsen seine Verwandlung und machte sich leichten Schritts auf den Weg zum Zug nach Kingdom Hill.

Auf dem Rennplatz drehte Major Kevin Cawdor-Jones wie an jedem Renntag und mit dem gewohnten Mangel an Gründlichkeit seine Inspektionsrunde. Die Schluderigkeit seiner Geschäftsführung hatte außerdem zur Folge, daß das Polizeiaufgebot eine halbe Stunde zu spät und nicht in notwendiger Stärke auf dem Rennplatz erschien; außerdem waren beim Drucker nicht genug Rennkarten bestellt worden.

«Macht doch nichts«, wehrte Cawdor-Jones das Ganze mit einem Achselzucken ab.

Mrs. Angelisa Ludville fuhr mit fünfzig Kollegen in dem totoeigenen Bus zum Rennplatz. Sie sah sich durchs Fenster die vorbeifliegenden Vororte an und dachte trübsinnig über den Preis für Elektrizität nach.

Am Samstagnachmittag um halb drei war sie ganz in das Einerlei ihrer Arbeit versunken, gab Wettscheine aus, nahm Geld entgegen, konzentrierte sich auf ihre Tätigkeit und war einigermaßen glücklich. Sie ordnete ihre Kasse für das Drei-Uhr-Rennen, das größte Rennen des Tages. Schon bald würden sich die besonders langen Schlangen draußen bilden, und Geschwindigkeit und Geschicklichkeit beim Abfertigen der Wetten waren nicht nur ihre Aufgabe, sondern in der Tat ihr Stolz.

Um 14.55 Uhr befand sich Cawdor-Jones in seinem Büro neben der Waage und versuchte, das Durcheinander der

Löhne für die Aushilfsarbeiter zu entwirren. Um 14.57 Uhr klingelte sein Telefon ungefähr zum zwanzigsten Mal seit zwei Stunden. Als er den Hörer aufnahm, waren seine Gedanken immer noch bei den fraglichen Stundenlöhnen für die Leute, die die herausgerissenen Grasplacken wieder in die Bahn steckten.

«Cawdor-Jones«, sagte er automatisch.

Ein Mann mit irischem Akzent begann mit leiser Stimme zu sprechen.

«Was?«sagte Cawdor-Jones.»Sprechen Sie doch bitte lauter. Es ist hier drin so laut… ich verstehe Sie nicht.«

Der Mann mit dem irischen Akzent wiederholte seine Botschaft in demselben leisen, fast flüsternden Tonfall.

«Was?« sagte Cawdor-Jones. Aber sein Anrufer hatte bereits aufgelegt.

«O mein Gott«, sagte Cawdor-Jones und streckte die Hand nach dem Schalter aus, der ihn mit der rennbahneigenen Lautsprecheranlage verband. Er blickte gehetzt auf die Uhr. Ihre Zeiger tickten auf 14.59 Uhr zu, und in diesem Augenblick wurden die vierzehn Starter für das DreiUhr-Rennen in die Startboxen geführt.

«Ladies und Gentlemen«, sagte Cawdor-Jones, dessen Stimme aus jedem Lautsprecher auf der Rennbahn schallte.

«Wir haben eine Warnung bekommen, daß irgendwo auf der Tribüne eine Bombe versteckt worden sei. Würden Sie sich bitte alle sofort von Ihren Plätzen erheben und in die Mitte der Bahn begeben, die Polizei wird eine Durchsuchung in die Wege leiten.«

Der Augenblick ungläubigen Schreckens dauerte weniger als eine Sekunde: Dann strömte die gewaltige Menge der Zuschauer wie ein Fluß die Treppen hinunter, aus den Unterführungen herauf, durch die Türen hinaus, rannte, stürmte und kämpfte sich mit Ellbogen der Sicherheit des freien Raumes auf der tribünenfernen Seite der Rennbahn zu.

Die Bars leerten sich dramatisch, halbvolle Gläser wurden in der Panik umgeworfen und zerbarsten. Die Menschenschlangen am Toto schmolzen augenblicklich dahin, und die Wettscheinverkäufer liefen ihnen Hals über Kopf hinterher. Die Rennaufsicht verließ ihr abgelegenes Büro in würdevollem Laufschritt hügelabwärts, und die Journalisten eilten holterdiepolter den Ausgängen zu, ohne sich die Zeit zu nehmen, ihre Zeitungen zu verständigen. Die Redaktionsbüros zu Hause konnten eine halbe Stunde warten. Bomben warteten nicht.

Binnen zwei Minuten hatten die wogenden Menschenmengen sämtliche Gebäude der Rennbahn verlassen. Nur sehr wenige blieben zurück, zuvorderst Kevin Cawdor-Jones, dem es noch nie an persönlichem Mut gemangelt hatte und der es nun als seine soldatische Pflicht ansah, auf seinem Posten zu bleiben.

Die unterbesetzte Polizeitruppe sammelte sich nach und nach vor der Waage — keiner unter ihnen, der nicht seine natürliche Angst hinter einer zuversichtlichen Miene verborgen hätte. Vielleicht wieder so ein dämlicher Scherz, meinte man untereinander. Es war immer ein Scherz. Oder fast immer. Ihr Vorgesetzter übernahm die Organisation der Durchsuchung und wies den Zivilisten Cawdor-Jones an, sich in Sicherheit zu bringen.

«Nein, nein«, sagte Cawdor-Jones.»Während Sie nach der Bombe suchen, werde ich feststellen, ob auch wirklich alle gegangen sind. «Er lächelte ein wenig nervös und verschwand mit energischem Schritt in der Waage.

Alles in Ordnung hier, dachte er und warf noch einen hastigen Blick in den Waschraum der Jockeys. Alles in Ordnung im Richterturm, der Dunkelkammer für die Entwick-lung der Zielfotos, den Küchen, dem Boilerraum, dem Toto, den Büros, den Lagerräumen. Er hetzte von Gebäude zu Gebäude, denn er kannte alle Hinterzimmer, kannte jeden Winkel, in dem ein tauber Mitarbeiter der Rennbahn oder ein betrunkener Besucher ahnungslos herumsitzen konnte.

Er sah keinen Menschen. Er sah keine Bombe. Er kam etwas außer Atem wieder vor der Waage an und wartete auf einen Bericht der langsameren Polizei.

Währenddessen setzte Tricksy Wilcox seine erstklassige Idee nachlässig in die Tat um. Er grinste bei der Erinnerung an den irischen Akzent, der gut genug für einen Eintritt in die Schauspielergewerkschaft gewesen war, und eilte mit schnellem Schritt von Bar zu Bar, von Tür zu Tür, und füllte sein großes, leeres Fernglasfutteral mit Futter. Es war doch erstaunlich, dachte er kichernd, wie sorglos die Leute sich in Panik verhielten.

Zweimal fand er sich Auge in Auge mit einem Polizisten wieder.

«Alles in Ordnung da drin, Officer«, sagte er bestimmt und zeigte jedesmal auf den Raum, aus dem er gekommen war. Jedesmal glitt der Polizeiblick arglos über die Melone, den dunklen Anzug, die gedämpfte Krawatte und hielt ihn für einen Mitarbeiter der Rennbahn.

Nur die orangefarbenen Socken verhinderten, daß er ungeschoren davonkam. Ein Polizist, der seinem entschwindenden Rücken nachsah, runzelte unsicher die Stirn, als ihm die leuchtenden Abschnitte zwischen Hosenbein und Schuh auffielen, und ging langsam hinter ihm her.

«He…«, sagte er.

Tricksy drehte sich um, sah das Gesetz in Gestalt des Polizisten auf sich zukommen, verlor die Nerven und stürmte los. Tricksy gehörte eben nicht zu den hellsten Köpfen.

Am Samstagnachmittag um vier Uhr machte Cawdor-Jones eine weitere Durchsage.

«Es sieht so aus, als sei die Bombendrohung nur ein Scherz gewesen. Sie können sich jetzt gefahrlos wieder zurück zur Tribüne begeben.«

Die Menge strömte wieder zurück und strebte in die Bars. Die Barmädchen kehrten auf ihre Posten zurück und erhoben augenblicklich Hände und Stimmen zu einem kreischend schrillen Refrain beleidigten Entsetzens.

«Jemand hat sämtliche Einnahmen geklaut!«

«Was für eine Unverschämtheit! Alles weg, auch unsere Trinkgelder!«

In den verschiedenen Totogebäuden standen die Wettscheinverkäufer entgeistert da. Der größte Teil der gewaltigen Einnahmen für das wichtigste Rennen des Tages war einfach verschwunden.

Angelisa Ludville betrachtete ihre geplünderte Bargeldkasse mit fassungslosem Staunen. Weiß und zitternd stimmte sie in das Getöse der Stimmen ein.»Das Geld ist weg.«

Cawdor-Jones nahm mit dem Ausdruck ängstlicher Verzweiflung Bericht um Bericht entgegen. Er wußte, daß nach der Massenflucht Richtung Rasen keine einzige Tür abgesperrt worden war. Er wußte, daß keinerlei Sicherheitsmaßnahmen ergriffen worden waren. Der Rennplatz war für eine solche Situation nicht gerüstet. Das Komitee würde zweifellos ihm die Schuld geben. Würde ihm vielleicht sogar kündigen.

Um sechzehn Uhr dreißig hörte er sich mit erstaunter Erleichterung an, was die Polizei Neues zu berichten hatte — ein Mann war festgenommen worden und versuchte zu erklären, wieso sein Fernglasfutteral überquoll von benutzten Banknoten, die vielfach noch das frische, von der Benutzung eines feuchten Bierglases als Briefbeschwerer herrührende Wasserzeichen trugen.

Am Montagmorgen erschien Tricksy Wilcox mit düsterer Miene vor einem Richter und wurde für sieben Tage in Untersuchungshaft geschickt. Die große Idee war doch nicht so toll gewesen, und diesmal würden sie ihn zweifellos für mehr als neun Monate in den Bau schik-ken.

Nur ein einziger Gedanke hellte seine Zukunft auf. Die Polizei hatte das ganze Wochenende versucht, eine Information aus ihm herauszubekommen, und er hatte den Mund fest geschlossen gehalten. Wo, wollten sie wissen, hatte er den größten Teil seiner Beute versteckt?

Tricksy sagte nichts.

In dem Fernglasfutteral war nur für ein Zehntel des gestohlenen Geldes Platz gewesen. Wo hatte er den Hauptteil versteckt?

Tricksy sagte es ihnen nicht.

Er würde besser wegkommen, hieß es, wenn er den Rest dem Gericht aushändigte.

Tricksy glaubte es nicht. Er grinste hämisch und schüttelte den Kopf. Tricksy wußte aus Erfahrung, daß es ihm als dem Besitzer eines großen, versteckten Schatzes in nächster Zeit weit besser gehen würde. Man würde ihn respektieren. Mit geziemender Ehrfurcht behandeln. Er würde einen gewissen Status haben. Nichts auf Erden hätte ihn dazu bewegen können, alles auszuplaudern.

Am Montagmorgen ging Major Cawdor-Jones mit hochrotem Kopf zu einer Krisensitzung seines Vorstandes und stimmte hilflos Bellamys in scharfem Tonfall wiederholter

Meinung zu, daß die Sicherheitsvorkehrungen der Rennbahn eine Schande waren.

«Ich habe Sie gewarnt«, bemerkte Bellamy zum zehnten selbstgerechten Mal.»Ich habe Sie alle gewarnt. Wir brauchen mehr Schlösser. Es gibt hervorragende Schnappschlösser für die Bargeldkassen im Toto zu kaufen. Ich habe mir sagen lassen, daß man das ganze Geld binnen fünf Sekunden sicher verschließen kann. Ich schlage vor, daß diese Vorrichtungen umgehend überall auf der Rennbahn angebracht werden.«

Er blickte streitlustig vom einen zum anderen. Roskin hielt den Blick gesenkt und schürzte lediglich die Lippen, und Kingdom Hill traf jetzt, da das Kind in den Brunnen gefallen war, den Entschluß, alles sicher zu verriegeln.

Am Montagabend schenkte Angelisa Ludville sich einen doppelten Gin ein, schaltete den Fernseher ein und legte die Füße hoch. Neben ihr lag ein Stapel abgestempelter und adressierter Umschläge, deren jeder einen Scheck für eine der gefürchteten Rechnungen enthielt. Sie seufzte zufrieden. Nie, dachte sie, würde sie den Schock beim Anblick ihrer leeren Kasse vergessen. Nie würde sie den Schrecken verwinden, den sie ausgestanden hatte. Nie würde sie die Woge der Erleichterung vergessen, als ihr klar wurde, daß alle ausgeraubt worden waren, nicht nur sie allein. Weil sie nämlich ganz genau wußte, daß es eine der anderen Kassen gewesen war, deren Einnahmen sie hatte mitgehen lassen, als alle zum Ausgang gerannt waren. Es wäre schlicht und einfach dumm gewesen, das Geld aus ihrer eigenen Kasse zu stehlen. Sie konnte ja nicht wissen, daß es noch einen anderen, ehrgeizigeren Dieb gegeben hatte. Es wäre schlicht und einfach töricht gewesen, ihre eigene Kasse zu bestehlen. Außerdem war an dem anderen Schalter viel mehr Bargeld zu holen gewesen.

Am Montagabend saß Kevin Cawdor-Jones in seiner Junggesellenwohnung und dachte über die zweite Durchsuchung von Kingdom Hill nach. Den ganzen Sonntag lang hatte die Polizei noch einmal jede Ecke und jeden Winkel untersucht, aber langsam diesmal und ohne Furcht, weil sie nicht Zunder, sondern Zaster suchten. Cawdor-Jones hatte ihnen willig seine Unterstützung angeboten, aber man hatte nicht das Geringste gefunden. Das Geld war spurlos verschwunden.

«Tricksy muß einen Partner gehabt haben«, sagte der mit dem Fall betraute Polizeibeamte verdrossen.»Aber wir kriegen kein Sterbenswort aus ihm raus.«

Cawdor-Jones, ungekündigt in seinem Verwaltungsposten, lächelte sanft bei der Erinnerung an diese letzten Tage. Er war ein impulsiver Mensch, mutig und von schnellem Entschluß, und er hatte das Beste aus der Gelegenheit gemacht, mit der Tricksy Wilcox ihn versorgt hatte.

Cawdor-Jones, an dessen Nervenkraft nie gezweifelt werden konnte, war am Samstagabend ungehindert mit dem Jackpot vom Toto im Wagen heimgefahren.

Er beugte sich über die Armlehne seines Sessels und fuhr mit einer zärtlichen Geste über seine prall gefüllte Aktentasche.

Загрузка...