Alptraum

>Alptraum< wurde im April 1974 von der Times in Auftrag gegeben. (Dreitausend Worte, bitte.)

>Alptraum< — Schauplatz: Irgendwo in der Pferdewelt der USA — erläutert, wie man eine wertvolle Zuchtstute mitsamt ihrem Fohlen stehlen kann.

Tun Sie’s nicht!

ach dem Tod seines Vaters entsagte Martin Retsov

drei volle Jahre lang seiner Berufung. Um erfolgreich zu sein, brauchte er einen Partner, und ein so tüchtiger Partner wie sein Vater war schwer zu finden. Martin Ret-sov machte eine Bestandsaufnahme seines Sparbuchs, listete seine Geldanlagen auf und kam zu dem Schluß, daß er mit ein wenig nützlicher, bezahlter Arbeit — um seine Tage auszufüllen — behaglich in Warteposition gehen konnte, bis das Leben einen passenden Ersatz ausspie.

Eine Tagesreise brachte ihm den willkommenen Abstand von dem Schauplatz seiner unglücklicheren Erinnerungen, obwohl diese so unabweislich wie alte Gewohnheiten mit ihm reisten. Die Thoroughbred Foodstuffs Ltd. stellte ihn für eine einmonatige Probezeit als Vertreter ein, und als überall in seinem Kielwasser die Aufträge anschwollen, erhielt er einen festen Vertrag. Martin Ret-sov entspannte sich hinter dem Steuerrad des Firmenwagens und fuhr kreuz und quer durch sein neues Gebiet, besuchte Gestüte und Rennställe und überredete ihre Verwalter, daß Thoroughbred Foodstuffs vielleicht nicht besser war als die Konkurrenz, aber zumindest auch nicht schlechter.

Die Kunden von Thoroughbred Foodstuffs sahen einen großen Mann von Ende Dreißig mit zerfurchtem, etwas abweisendem Gesicht und der Angewohnheit, die Augen zu dunkel bewimperten Schlitzen zusammenzukneifen. Von der offenen, ehrlichen und ernsthaften Miene, die zum Rüstzeug eines Vertreters gehörte, keine Spur; auch aus seiner Stimme war nie offenkundige Schmeichelei herauszuhören. Der einzige Faktor, der den Handschlag besiegelte und Füllfederhalter und Scheckbücher zum Vorschein brachte, war sein beträchtliches Wissen über Pferde. Er konnte ein Pferd mit einem Blick abschätzen und mit einer beiläufigen Geste hilfsbereit konstruktive Vorschläge machen, ohne etwas dafür zu verlangen.

«Ich nehme an, mit einem orthopädischen Hufbeschlag haben Sie es gewiß schon probiert«, sagte er zum Beispiel nebenhin, oder:»Meinen Sie nicht auch, daß Vitamin-B-12-Injektionen für den Knochenaufbau gut wären?«Bei seinem zweiten Besuch wurde er wie ein vertrauter Freund begrüßt.

Er kam vorwärts.

Trotzdem steckte er in Schwierigkeiten. Sein Schlaf schenkte ihm keinen Frieden. Er wurde andauernd von Alpträumen geplagt; sein Herz hämmerte, und seine Haut begann sofort unter einer kalten Schweißschicht zu prik-keln. Immer waren es Variationen über dasselbe Thema — den gewaltsamen, vorzeitigen Tod seines Vaters. Manchmal sah er das Gesicht tot, aber immer noch der Sprache mächtig, und Blut strömte aus dem Mund. Manchmal sah er das Rad, den großen, dicken, schwarzen Reifen mit dem scharfen Profil, der sich in den weichen, leicht vortretenden Bauch drückte.

Manchmal hatte er das Gefühl, als stecke er in dem Körper seines Vaters; er glitt aus und fiel hinter dem beladenen Pferdetransporter zu Boden, und das Leben wurde ihm mit einer einzigen riesigen, unvorstellbaren Explosion von Qual aus dem Leib gepreßt. Manchmal, aber nicht so häufig sah er das Gesicht des anderen Mannes, der dabeigewesen war, des gefühllosen Mannes in den dunklen Kleidern, der kalt auf seinen sterbenden Vater hinabblickte und ihm keinen Trost schenkte, kein Wort sagte.

Jeden Morgen stand Martin Retsov müde unter der Dusche, wusch sich den klebrigen Schweiß vom Leib und wünschte, er könnte auch sein Unterbewußtsein so mühelos ausspülen. Jeden Tag, wenn er in seinen Wagen stieg, warf er sein nächtliches Selbst ab und blickte in die Zukunft. Er sah Fohlen zur Welt kommen, beobachtete sie, während sie älter wurden, verfolgte ihr Schicksal bei der Auktion und darüber hinaus. Er hätte den Trainern besser, als sie selbst es vermochten, Auskunft über die Abstammung, Geschichte, Laufbahn und das Talent eines jeden Pferdes geben können, das er durch Thoroughbred Foodstuffs zu sehen bekam.

Nach annähernd drei Jahren hatte er viele Bekanntschaften gemacht — er war kein Mann, der Freundschaften schloß. Er kannte jedes Pferd in seinem weiten Umkreis und Hunderte, die aus seinem Gebiet verkauft worden waren. Er war der tüchtigste Vertreter seiner Firma. Und sogar seine Alpträume wurden endlich seltener.

Eines Abends zu Anfang des Frühlings nahm er Johnnie Duke mit. Einen Anhalter, einen großen, dünnen, blonden Jungen, der kaum älter als zwanzig zu sein schien. Er trug ausgewaschene Jeans und eine alte Lederjacke und hatte eine Reisetasche aus Segeltuch mit ein paar Kleidungsstücken zum Wechseln bei sich. Martin Retsov, der ausnahmsweise einmal mitteilsam war, hielt ihn für einen

Collegestudenten und fand sich bereit, ihn sechzig Kilometer bis zur nächsten Stadt mitzunehmen.

«Habe ich Sie schon mal gesehen?«fragte er halb verwirrt, als der junge Mann sich neben ihn auf den Beifahrersitz setzte.

«Glaub’ ich nicht.«

«Hm. «Er dachte darüber nach.

«Doch, ich habe Sie schon mal gesehen. Vor ein oder zwei Tagen. Wo könnte das gewesen sein?«

Der junge Mann ließ sich Zeit mit der Antwort. Dann sagte er:»Ich stehe ziemlich regelmäßig hier an der Straße. Vielleicht haben Sie mich gesehen, als ich den Daumen hob.«

Martin Retsov nickte mehrmals.»Ja, ja. Das ist es. «Er entspannte sich in seinem Sitz, froh darüber, das kleine Rätsel gelöst zu haben. Er hatte die Dinge gern geregelt.»Da habe ich Sie also gesehen. Am Straßenrand. Mehr als einmal.«

Der junge Mann nickte kurz und sagte, er sei froh, daß Martin für ihn angehalten hätte, weil er eine Verabredung mit seiner Freundin habe.

«Ich nehme nicht oft Anhalter mit«, sagte Retsov und dachte mit einiger Erheiterung, daß drei ruhige Jahre ihn weich gemacht haben mußten.

Sie fuhren in freundschaftlicher Stimmung acht Kilometer weit und kamen an den weiß eingezäunten Koppeln eines florierenden Gestüts vorbei. Martin Retsov warf einen schnellen, taxierenden Blick auf die kleine Gruppe von Tieren, die sich an dem frischen Frühlingsgras gütlich tat, behielt seine Gedanken aber für sich.

Es war Johnnie Duke, der sagte:»Schon merkwürdig, daß man nie ein geschecktes Vollblut zu Gesicht bekommt.«

«Sie verstehen etwas von Pferden?«fragte Martin Retsov überrascht.

«Klar doch. Bin mit Pferden groß geworden.«

Martin Retsov fragte ihn, wo das gewesen sei, aber der junge Mann antwortete ausweichend, er hätte Schwierigkeiten zu Hause gehabt und wäre Hals über Kopf weggegangen, und er wolle nicht darüber reden. Martin Retsov lächelte. Er setzte Johnnie Duke in der nächsten Stadt ab und fuhr weiter seinem Ziel entgegen, und erst, als er anhielt, um zu tanken, verschwand sein Lächeln so abrupt wie die Investoren in einer Rezession.

Johnnie Duke hatte seine Brieftasche gestohlen. Retsov hatte sie immer in der Innentasche seines Jacketts, und dieses Jackett hatte dank der Leistungsfähigkeit der Heizung auf dem Rücksitz des Wagens gelegen. Er erinnerte sich daran, daß Johnnie Duke seine Reisetasche auf dem Boden hinter den Vordersitzen verstaut hatte, und er erinnerte sich daran, wie er sich zurücklehnte, um sie dahinter hervorzuholen. Sein zerfurchtes Gesicht verhärtete sich zu etwas, das seine Kunden nie zu Gesicht bekommen hatten, und die Augen glitzerten so schmal und gleißend wie Eisbröckchen. Der Betrag, den er verloren hatte, war gering im Vergleich zu der Kränkung seines Selbstbewußtseins.

Mehrere Tage lang fuhr er durch sein Gebiet und suchte aktiv nach Johnnie Duke, versuchte sich an die Einzelheiten ihrer gemeinsamen Fahrt zu erinnern. Das Zögern, mit dem Martin gesagt hatte, er habe ihn schon einmal gesehen. Die Weigerung zu sagen, woher er kam. Die Gewandtheit, mit der er die Brieftasche erspäht und an sich gebracht hatte. Martin Retsov suchte ihn entschlossen, aber erfolglos, und nach zwei oder drei Wochen akzeptierte er schließlich die Tatsache, daß sich der junge Mann in einen anderen Bezirk abgesetzt haben mußte, wo keine erzürnten Opfer mit ihren Autos herumkurvten und ihn mit scharfen Augen erspähen konnten.

Regelmäßig einmal im Monat fuhr Retsov zu dem entlegensten Gestüt in seinem Gebiet, und eines Abends, noch früh, als er gerade von dort wieder losfuhr, sah er Johnnie Duke wieder. Der junge Mann stand am Straßenrand, hob den Daumen und wurde sichtlich stutzig, als er Retsovs Wagen sah.

Martin fuhr sofort neben ihn, bremste, daß die Räder blockierten, öffnete die Tür und stieg mit ruhigen Bewegungen aus. Für einen großen Mann bewegte er sich wie eine gut geölte Maschine, präzise und effektiv; und er hielt eine Waffe in der Hand.»Steig ein«, sagte er.

Johnnie Duke blickte auf den Lauf, der direkt auf seinen Magen zielte, und wurde bleich. Er schluckte, sein Adamsapfel zuckte krampfhaft, und langsam tat er, was ihm befohlen worden war.

«Ich zahle das Geld zurück«, sagte er ängstlich, während Martin Retsov auf den Sitz neben ihm glitt. Er hatte die Waffe jetzt locker in der Hand und zielte zu Boden, aber sie waren sich beide der Tatsache bewußt, daß sich das ändern konnte.

«Ich sollte dich der Polizei übergeben«, sagte Martin Retsov.

Der junge Mann schüttelte bedrückt den Kopf.

«Oder du erledigst statt dessen einen kleinen Job für mich.«

Der junge Mann sah in Martin Retsovs zu Schlitzen zusammengekniffene Augen und zitterte sichtbar.

«Ist das eine Erpressung?«fragte er.

«Ich werde dich bezahlen, wenn du was taugst.«

«Was muß ich machen?«

«Pferde stehlen«, sagte Martin Retsov.

Er legte sich seinen Plan so sorgfältig zurecht wie in den alten Zeiten mit seinem Vater. Er kaufte einen Anhänger für zwei Pferde und einen Wagen, um ihn zu ziehen, beides, ohne daß man die Käufe zu ihm zurückverfolgen konnte. Dann brachte er Wagen und Anhänger in einer Garage in der Stadt unter. Er entschied sich gegen den großen Typ von Pferdetransporter, den er mit seinem Vater benutzt hatte, vor allem wegen der Alpträume mit diesen Rädern. Außerdem war er sich nicht sicher, ob sein neuer Lehrling für langfristige Projekte taugte. Sie würden einen Probelauf machen — einen Test, dachte Martin Retsov, bevor er eine feste Partnerschaft für die Zukunft anbot.

Johnnie Duke hatte Martin Retsovs Offenlegung seiner Berufung mit einem breiten, erleichterten Grinsen quittiert.

«Klar doch«, sagte er.»Ich kann Pferde stehlen. Welche?«

«Hier in der Gegend ist das gar nicht so einfach«, sagte Martin Retsov.»Trainingsställe und Gestüte haben gute Sicherheitsvorkehrungen. «Aber er kannte sie alle; er hatte sie drei Jahre lang eingehend studiert.

Er gab Johnnie Duke eine Liste von Dingen, die er kaufen sollte, und etwas Geld für sich selbst, und zwei Tage später inspizierten sie gemeinsam die Schraubenschlüssel und die Stahlsäge.

«Wir dürfen keine Zeit verlieren«, sagte Martin Retsov.

«Die Sache steigt morgen nacht.«

«So bald schon?«

Martin Retsov lächelte.»Wir holen uns zwei Zuchtstuten. Eine steht kurz vor dem Abfohlen. Wir wollen sie in Sicherheit wissen, bevor es soweit ist.«

Johnnie Duke sah ihn völlig überrascht an.»Warum holen wir uns nicht gute, schnelle Rennpferde?«wollte er wissen.

«Sie lassen sich zu leicht identifizieren. Dafür sorgen Tätowierung und Registrierung. Aber Fohlen! Neugeborene Fohlen. Wer will da sagen, welches welches ist? Also nehmen wir uns eine erstklassige Stute, die von dem besten Deckhengst tragend ist, und wir bringen sie ein ganzes Stück weit weg und verkaufen sie am Ende der Reise an einen Besitzer oder Trainer, der froh ist, ein fabelhaftes Vollblutfohlen für den Bruchteil dessen zu bekommen, was es ihn bei einer Auktion gekostet hätte.

Das hochkarätige Fohlen wird bald nach der Geburt mit irgendeinem anderen vertauscht, das gerade zur Hand ist, eingetragen und unter seiner neuen Identität tätowiert. Sein neuer Besitzer weiß, was er bekommen hat. Also wird er es, wenn es für die Rennen zu alt ist, zur Zucht behalten. In der Vergangenheit haben einige meiner Klienten Millionen an diesen Fohlen verdient. Ich bin immer mit einem kleinen Prozentsatz beteiligt.«

Johnnie Duke hörte ihm mit offenem Mund zu.

«Das ist kein normaler Diebstahl«, sagte Martin Retsov mit einem gewissen Stolz.»Das ist, als würde man die Mona Lisa stehlen.«

«Aber was passiert anschließend mit der Zuchtstute? Und mit dem anderen Fohlen?«

«Einige meiner Klienten haben ein Gewissen. Bei denen hole ich gegen ein kleines Entgelt die Stute und das Fohlen ab und setze sie auf irgendeinem geeigneten Feld ab. Wenn der Besitzer des Feldes ehrlich ist, wird die Stute identifiziert und nach Hause geschickt.«

Johnnie Duke fragte nicht, was passierte, wenn der Klient kein Gewissen hatte. Er schluckte.

«Haben Sie bereits einen Käufer für die zwei, die wir morgen holen?«fragte er.

«Natürlich. Man stiehlt nicht aufs Geratewohl einen Leonardo da Vinci. «Martin Retsov lachte über den Gedanken und entblößte eine Reihe kräftiger Zähne.»Wenn wir die Stuten haben, sage ich dir, wo du sie hinbringst. Du wirst allein fahren. Und du wirst mit dem Geld zurückkommen.«

Wieder war Johnnie Duke überrascht.»Können Sie mir vertrauen?«fragte er.

«Das will ich herausfinden.«

Als es am nächsten Abend dämmerte, holten sie den kürzlich gekauften Wagen und koppelten den Anhänger an. Martin Retsov hatte Schwierigkeiten, das Gespann in dem kleinen Garagenhof zu parken, und Johnnie Duke trat hinter den Anhänger, um ihm zu zeigen, wieviel Platz er hinter sich noch hatte.

«Verschwinde da hinten!«sagte Martin Retsov scharf.

«Geh sofort da weg. «Er stieg aus, und Johnnie Duke sah, daß er zitterte.

«Ich wollte nur…«:, begann er.

«Du wirst nie wieder hinter den Anhänger gehen. Verstanden? Niemals.«

«Ist ja schon gut. Wenn Sie es sagen.«

Martin Retsov holte mehrmals tief Luft und wischte sich die Handinnenflächen an seiner Hose ab. Die Wucht seiner eigenen Reaktion entsetzte ihn. Drei Jahre, dachte er, hatten das Grauen keineswegs abgemildert. Er fragte sich, ob er nicht das Projekt abblasen sollte, wenn seine Nerven so bloß lagen. Er fragte sich, ob die Tatsache, daß er drei Jahre gebraucht hatte, um wieder ins Geschäft zu kommen, vielleicht bedeutete, daß er tief im Innern Angst davor hatte.

Er leckte sich die Lippen. Sein Herzschlag beruhigte sich. Diesmal würde es keinen Hinterhalt geben, wenn er die Pferde holte. Das letzte Mal hatte sein angeblicher Kunde ihn an die Polizei verraten, aber diesmal war die Sache absolut sicher. Dieser Kunde hatte in der Vergangenheit drei erstklassige Fohlen gekauft und war hocherfreut gewesen zu erfahren, daß er noch zwei weitere bekommen könnte. Martin Retsov schob sich wieder in den Wagen, und Johnnie Duke stieg neben ihm ein.

«Was ist los?«fragte Johnnie.

«Ich habe einmal einen Unfall mit angesehen. Ein Mann ist hinter einem Pferdeanhänger gestürzt.«

«Oh.«

Martin Retsov schloß den Mund vor den unbeschreiblichen Einzelheiten, aber sie spulten sich unausweichlich in seinen Gedanken ab. Der Hinterhalt. Polizeischeinwerfer, die plötzlich aufleuchteten, bevor sein Vater wieder sicher neben ihm in der Fahrerkabine des Pferdetransporters saß. Er hatte ein oder zwei Meter zurücksetzen müssen, um durch die einzige Stelle zwischen den Polizeiwagen und dem Zaun durchbrechen zu können. Er hatte den Schalthebel nach vorne gestoßen, mit voller Wucht auf das Gaspedal getreten und war zurückgeschossen — er würde niemals den Schrei seines Vaters vergessen. Niemals.

Nur ein einziger Schrei, der jäh verstummte. Er war aus dem Wagen gesprungen und hatte den Reifen gesehen, der sich in den Bauch drückte, das Blut, das aus dem Mund des Sterbenden sickerte… und den anderen Mann, den Polizisten, der daneben stand und hinunterblickte und nichts tat, um zu helfen.

«Helfen Sie ihm!«hatte Retsov verzweifelt gesagt.

«Helfen Sie ihm doch selbst.«

Er rannte zurück zum Wagen, stieg, von Panik überwältigt, auf den Fahrersitz und wußte, noch während er mit einer körperlosen Hand den Schalthebel durchdrückte, daß sein Vater tot war.

Tot. Jenseits aller Hoffnung auf Hilfe, auf Rettung, auf irgend etwas.

Er ließ den Pferdetransporter von dem zerquetschten Körper herunterrollen und fuhr einfach weiter. Das überraschte die Polizei. Er fuhr den Pferdetransporter mit hundert Stundenkilometern zwei Kilometer weit, und lange bevor sie ihn eingeholt hatten, hatte er ihn stehengelassen und war im Wald verschwunden.

Die Polizei kannte seinen Namen nicht, da er ihn seinen Kunden klugerweise niemals offenbarte. Alles, was die Polizei hatte, war ein einziger kurzer Eindruck von ihm in extremis, was nicht ausreichte, und zu guter Letzt hatten sich Ausweichmanöver und Flucht als die geringsten seiner persönlichen Probleme erwiesen.

Er hatte nie das Gesicht des Polizisten vergessen, der auf seinen Vater hinunterblickte. Ein ranghöherer Polizist mit Autorität und Abzeichen. Er sah ihn nur allzu oft in seinen beklommenen Träumen.

Martin Retsov schüttelte die furchtbare Vergangenheit ab und wandte seine Konzentration dem bevorstehenden Diebstahl zu. Er hatte erwartet, die alte prickelnde Vorfreude zu verspüren, die alte Erregung, das angenehme Rasen des Pulses. Er fühlte nichts von alledem. Er fühlte sich alt.

«Kommen Sie schon«, sagte Johnnie Duke.»Sonst ist es schon wieder hell, bevor ich die Ware ausliefere.«

Martin Retsov nickte unwillig und überantwortete sie beide dem Abenteuer. Eine halbe Stunde später, als sie in einer dunklen Nebenstraße stehenblieben, war es ihm ge-lungen, die Schatten auf seiner Seele in ihr Verlies zurückzudrängen, so daß er der vor ihm liegenden halben Stunde mit kühler, ruhiger Nüchternheit entgegensah.

Leise stiegen sie aus dem Wagen und ließen die Rampe des Anhängers herunter. Die Nacht umschloß sie — kleine Geräusche, ein leiser, seufzender Wind, Sterne, die in funkelnden Gruppen zwischen grau dahintreibenden Wolken aufblitzten. Gelegentlich fuhr auf der einen Kilometer entfernten Hauptstraße ein Wagen vorbei, eher ein Aufblitzen von Lichtern als ein Geräusch. Martin Retsov wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann legte er dem jungen Mann ganz leicht eine Hand auf den Arm.

«Hier entlang«, sagte er. Seine Stimme war ein sanftes Flüstern, und als er sich bewegte, machten seine Füße nicht das leiseste Geräusch auf dem Grasstreifen. Johnnie Duke folgte ihm und staunte über die Lautlosigkeit und die mühelose Schnelligkeit des großen Mannes.

«Wo sind wir?«flüsterte Johnnie.»Wessen Pferde holen wir uns?«

«Nicht deine Sache.«

Sie kamen an ein Tor mit einem Vorhängeschloß. Die Schraubenschlüssel und die Säge machten ihnen die Arbeit leicht. Sie schlüpften hindurch auf die Weide. Martin Retsov pfiff in der Dunkelheit leise zwischen den Zähnen eine verführerische Zigeunermelodie.

Dann zog er eine Handvoll Thoroughbred-Pferdenüsse aus der Tasche und rief schmeichelnd in die Schwärze vor ihnen.

«Na komm schon, Mädchen. Komm schon.«

Ein leises, erfreutes Wiehern ertönte, und irgendwo außer Sichtweite bewegte sich etwas. Dann kamen sie langsam und fragend heran, bewegten sich auf die menschliche

Stimme zu. Sie fraßen die Nüsse, die man ihnen hinhielt, und machten keine Probleme, als die beiden Männer nach ihren Halftern griffen.

«Du gehst vor«, sagte Martin Retsov leise zu Johnnie Duke.»Ich bin gleich hinter dir.«

Sie gingen lammfromm mit, die beiden großen Stuten, die dick waren von dem vierbeinigen Vermögen, das sie trugen. Durch das Tor und die Straße hinunter zum Transporter. So leicht wie eh und je, dachte Martin Retsov, man mußte nur wissen, wonach man Ausschau hielt. Johnnie Duke führte seine Stute in den Pferdeanhänger und machte sie dort fest.

Und das war der Augenblick, in dem der Alptraum von neuem begann. Der Augenblick, in dem die Lichter aufflammten und Martin Retsovs ans Dunkle gewöhnte Augen blendeten. Der Augenblick, als der Mann sich vor ihm aufbaute. Derselbe Mann. Das Gesicht aus den Träumen. Dasselbe gefühllose Gesicht, dieselben dunklen Kleider, die ranghohen Abzeichen.

«Martin Retsov«, sagte er,»ich verhafte Sie.«

Martin Retsov hörte nicht zu. Ihm schoß nur immer wieder der eine wilde Gedanke durch den Kopf, daß dies einfach nicht wahr sein konnte. Dieser spezielle Kunde würde ihn nie verraten. Nie.

Die Polizei nahm ihm die Stute ab, ohne daß er Widerstand leistete, und legte Martin Retsov Handschellen an.

«Wieso sind Sie hier?«fragte er tonlos.

«Wir suchen schon seit drei Jahren nach Ihnen«, sagte der Polizist mit blasierter Selbstgefälligkeit.»Vor ein paar Wochen haben wir Sie gefunden. Aber wir hatten keine schlüssigen Beweise gegen Sie, also haben wir Sie seither im Auge behalten.«

Johnnie Duke stieg aus dem Anhänger, und Martin Retsov dachte, wie hart es für den Jungen sein mußte, gleich beim ersten Job erwischt zu werden. Der kalte Polizist ging mit befriedigter Miene auf ihn zu.

Er zog keine Handschellen aus der Tasche. Er schlug Johnnie auf die Schulter.

«Gut gemacht, Sergeant Duke«, sagte er.

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