Blindlings

Im Jahre 1979 ersann Julian Symons, Eminenz des Detection Club, eine neue Masche, um Geldströme in den gähnend leeren Tresor des Clubs zu lenken. Er als Herausgeber lud eine Handvoll Kriminalschriftsteller ein, sich mit einer Erzählung an einem Band mit dem Titel Verdict of Thirteen: A Detection Club Anthology (Der Urteilsspruch der Dreizehn: Eine Anthologie des Detection Club) zu beteiligen.

Da ich mich nicht auf Gerichtsszenen verstehe, steuerte ich statt dessen unter dem Titel >Twenty-one Good Men and True< — (Einundzwanzig rechtschaffene, ehrliche Männer<) — eine Rennbahngeschichte bei, die 1979 bei Faber in Großbritannien und bei Harper in den USA erschien. In England wurde die Erzählung auch von der Wochenzeitschrift Women’s Own unter dem hier übernommenen Titel >Blindlings< abgedruckt.

rnold Roper pfiff leise vor sich hin, während er sei-

nen Kessel zum Kochen brachte und Instantkaffee aus dem Sparpack in die alte blaue Souvenirtasse aus Brixham löffelte. Sein Pfeifen war unmelodisch und ohne Rhythmus, aber dennoch ein Ausdruck der Zufriedenheit — sowohl mit den Dingen im allgemeinen als auch mit den unmittelbaren Aussichten. Arnold Roper ging wie gewöhnlich zum Rennen: Und wie gewöhnlich würde er, wenn er eine Wette plazierte, auch gewinnen. Ordentlich, methodisch, professionell würde er sein unschlagbares System zur Anwendung bringen und reicher werden, wobei das eine aus dem anderen so sicher folgte wie Hühner und

Eier.

Arnold Roper war mit seinen fünfundvierzig Jahren ein eingefleischter Junggeselle, ein schlanker Mann, der es gewohnt war, für sich selbst zu sorgen, ein Mann, dem freundschaftliches Geplauder lästig war. Wie ein Matrose

— obwohl er nie auf See gewesen war — hielt er seine Siebensachen blankpoliert und blitzsauber, führte ein ordentliches Leben zwischen Plastikmüllbeuteln und aufgewärmten Speisen aus dem Schnellimbiß.

Das einzige, kleine Problem, das sich an Arnold Ropers Horizont abzeichnete, war sein Wohlstand. Die Beschaffung von Geld war sein größtes Vergnügen. Das Ausgeben desselben war etwas, das er auf eine ferne und traumgleiche Zukunft verschob, in der er seine sterile Wohnung gegen eine warme, niemals endende Idylle unter tropischen Palmen eintauschen würde. Es war die Zwischenlagerung des Geldes, die ihm gegenwärtig wenn nicht direkt Sorgen machte, so doch zumindest gelegentliche Anflüge von Zweifel verursachte. Möglicherweise würde er, ging es ihm durch den Kopf, während er getrocknete Milchkörner in die bräunliche Brühe rührte, Platz für einen weiteren Schrank in seinem bereits überfüllten Schlafzimmer finden müssen.

Hätte irgend jemand Arnold Roper gesagt, er sei ein Geizhals, so hätte er dies entrüstet abgestritten. Nun gut, er lebte spartanisch, aber das war eher Angewohnheit als Besessenheit. Und er holte niemals seinen Reichtum hervor, nur um ihn anzusehen und zu zählen und sich daran zu ergötzen. Nie hätte er das warme Gefühl als Geiz erachtet, das ihn jede Nacht überkam, wenn er sich lächelnd zum Schlafen niederlegte, im Wissen, daß überall um ihn herum in zwei eichenholzfurnierten Schlafzimmern — Sonderangeboten — ein oder zwei Tonnen übertragbarer Papiere lagerten.

Es war nicht so, daß Arnold Roper Banken mißtraut hätte. Er wußte auch, daß man durch Wetten gewonnenes

Geld nicht durch Steuern verlieren konnte. Er hätte seine wachsenden Gewinne nicht in seiner unmittelbaren Nähe aufbewahrt, wäre sein unschlagbares System nicht gleichzeitig auch ein prachtvoller Betrug gewesen.

Die besten Betrügereien können nur durch Zufall aufgedeckt werden, und Arnold konnte sich nicht vorstellen, daß ein solcher Zufall ihn treffen würde.

Jamie Finland erwachte in seiner gewohnten Dunkelheit, und binnen weniger Sekunden gingen ihm drei zusammenhanglose Gedanken durch den Sinn.»Die Sonne scheint. Es ist Mittwoch. Hier in Ascot findet heute ein Rennen statt.«

Er streckte die Hand aus und legte die Finger vorsichtig auf den Kassettenrecorder auf seinem Nachttisch. Dort lag eine Kassette. Jamie lächelte, schob die Kassette in den Recorder und drückte auf den Abspielknopf.

Die Stimme seiner Mutter sprach zu ihm.»Jamie, vergiß nicht, daß heute um halb elf der Mann kommt, der den Fernseher repariert, und bitte, sei so lieb und leg die Wäsche in die Maschine, da ich heute morgen sehr knapp dran bin. Und macht’s dir was aus, die Suppe von gestern heute mittag noch mal zu essen? Ich habe sie in einem Topf auf dem Herd stehenlassen. Außerdem hoffe ich, daß du heute nachmittag nicht das ganze Geld verlierst, sonst schneide ich dir den Stecker von deiner Stereoanlage ab. Ich bin dann kurz nach acht wieder zu Hause — also bis dahin.«

Jamie Finlands achtunddreißig Jahre alte Mutter brachte sie beide mit ihrem Verdienst als Krankenschwester bei einem Sozialdienst durch, und sie hatte, überlegte ihr Sohn, die Erziehung eines Kindes, das nicht sehen konnte, wirklich gut bewältigt. Er war fünfzehn. Er absolvierte ein

Heimstudium — in Blindenschrift — und bestand seine Prüfungen mit Auszeichnung.

Er erhob sich geschickt aus dem Bett und zog sich an: blaues Hemd, blaue Jeans.»Blau ist Jamies Lieblingsfarbe«, pflegte seine Mutter zu sagen, und ihre Freunde erwiderten darauf:»Ach ja?«Und sie konnte sehen, wie sie dachten: Woher wollte er das wohl wissen? Aber Jamie konnte die Farbe Blau genauso treffsicher identifizieren wie die Stimme seiner Mutter, und dasselbe galt für Rot und Gelb und jede andere Farbe im Spektrum, solange es Tag war.

«Ich kann im Dunkeln nichts sehen«, hatte er mit sechs Jahren gesagt, und nur seine Mutter, die beobachtete, wie sicher er sich tagsüber bewegte und wie unbeholfen er im Dunkeln wirkte, hatte ihn verstanden. Ein wandelndes Radargerät nannte sie ihn. Wie viele junge Blinde konnte er mühelos die Wellenlänge des Lichtes spüren und die unendlich winzigen Veränderungen von dessen Frequenz wahrnehmen, wenn es von farbigen Dingen in seiner Umgebung reflektiert wurde. Fremden war er unheimlich. Jamie war überzeugt, daß jeder so sehen konnte, wenn er wollte, und verstand nicht, was Augenlicht eigentlich bedeutete.

Er machte sich einen Toast zurecht, aß und öffnete schließlich dankbar dem Fernsehmonteur die Tür.»In meinem Zimmer«, sagte er und ging voran.»Wir haben Ton, aber kein Bild.«

Der Fernsehmonteur betrachtete die blinden Augen und zuckte die Achseln. Wenn der Junge ein Bild wollte, hatte er das Recht darauf, genauso wie jeder andere, der für sein Gerät bezahlte.»Ich muß den Apparat mit in die Werkstatt nehmen«, sagte er und drückte mit kritischer Miene auf ein paar Knöpfe.

«Heute finden die Rennen statt«, sagte Jamie.»Können Sie ihn bis dahin fertig haben?«

«Die Rennen? O ja. Hm… ich sag dir was, ich leihe dir einen anderen Apparat. Ich habe einen im Wagen…«Er taumelte mit dem defekten Apparat hinaus und kehrte mit dem Ersatzgerät zurück.»Zu wenig Radios hast du aber nicht, wie?«fragte er, während er sich um sah.»Wozu brauchst du sechs Stück?«

«Ich habe sie auf verschiedene Sender eingestellt«, sagte Jamie.»Das da…«:, er zeigte genau auf das richtige Gerät,»empfängt Flugfunk, das da die Polizei; die drei da drüben sind auf gewöhnliche Radiosender eingestellt, und das da… auf Lokalradio.«

«Was du brauchst, ist ein Transmitter. Der würde dir Kontakt mit der ganzen Welt verschaffen.«

«Ich werde mich drum kümmern«, sagte Jamie.

Er schloß die Tür hinter dem Monteur und fragte sich, ob es schon ein Verbrechen war, auf einen sicheren Tip zu setzen.

Greg Simpson hatte solche Bedenken nicht. Er löste den Eintritt zum Führring von Ascot und schlenderte drauflos, um seinen gemütlichen Schmerbauch mit einem Bier und einem Sandwich zu verwöhnen. Zwei Jahre war es jetzt her, dachte er schmatzend, seit er zum ersten Mal einen Fuß auf den Turf gesetzt hatte. Zwei Jahre, seit er seine Prinzipien gegen Wohlstand eingetauscht und sich aus einer lähmenden Depression befreit hatte.

Sie erschienen ihm jetzt als ferne Erinnerung, diese fünfzehn fürchterlichen Monate; der schreckliche, demütigende Zusammenbruch seiner scheinbar sicheren, pensionsberechtigten Welt. Was nutzte es ihm zu wissen, daß Fusionen und Rationalisierungen wie ihn selbst zahllose andere Manager aus gehobenen Positionen aufs Alteisen warfen?

Mit zweiundfünfzig Jahren, nach langer Berufserfahrung, mit viel Erfolg und echter administrativer Begabung, war er davon ausgegangen, daß er zumindest mühelos einen neuen, passenden Posten finden würde; aber eine geschlossene Tür nach der anderen und ein bedauernder Refrain von» Tut mir leid, Greg«,»Tut mir leid, alter Knabe«,»Tut mir leid, Mr. Simpson, wir brauchen jemand Jüngeres «hatten ihn zu guter Letzt in qualvolle Verzweiflung gestürzt. Und gerade, als es soweit war, daß seine Frau trotz ihrer extrem vorsichtigen Haushaltsführung ihren beiden Kindern auch noch das Geld fürs Schwimmbad abschlagen mußte, hatte er die merkwürdige Annonce gelesen:

«Jobs für reife, respektable Personen, die ohne eigenes Zutun seit mindestens zwölf Monaten arbeitslos sind.«

Eine leise Stimme flüsterte ihm zu, daß dies eine Aufforderung zu einem Verbrechen sein mußte, aber er war dennoch zu dem schließlich vereinbarten Gespräch in einem Londoner Pub gegangen, und er war erleichtert gewesen, den überaus gewöhnlichen Mann kennenzulernen, der ihm Rettung anbot — ein Mann wie er selbst, in mittleren Jahren, mit mittlerer Ausbildung, mit Anzug und Krawatte und blasser Bürohaut.

«Gehen Sie oft zum Pferderennen?«fragte Arnold Roper ihn rundheraus und bedachte ihn mit einem durchdringenden Blick.»Spielen Sie überhaupt jemals um Geld? Verfolgen Sie die Rennen? Spielen Sie, um zu gewinnen?«

«Nein«, sagte Greg Simpson spröde, sah seine Aussichten auf den Job schwinden und fühlte sich trotzdem überlegen.»Ich fürchte nein.«

«Wetten Sie auf Hunde? Gehen Sie zum Bingo? Spielen Sie Lotto? Fühlen Sie sich zum Roulette hingezogen?«hakte der Mann nach. Greg Simpson schüttelte schweigend, aber nachdrücklich den Kopf und schickte sich an zu gehen.

«Gut«, sagte Arnold Roper munter.»Spieler nutzen mir nämlich nichts, nicht für diesen Job.«

Greg Simpson entspannte sich und gratulierte sich im Geiste zu seiner eigenen Tugendhaftigkeit.»Was ist das für ein Job?«fragte er selbstgefällig.

Arnold Roper fegte Simpson das Grinsen vom Gesicht.

«Sie gehen zum Rennen«, sagte er barsch.»Sie setzen, wenn ich es Ihnen sage, und niemals sonst. Sie werden an fast allen Tagen der Woche zu Rennveranstaltungen gehen

— wie zu irgendeinem anderen Job. Sie setzen auf sichere Sieger, und nach jedem Gewinn erwarte ich, daß Sie mir meinen Anteil schicken. «Er nannte eine sehr bescheidene Summe.»Alles, was Sie darüber hinaus gewinnen, gehört Ihnen. Es ist narrensicher und ungefährlich. Wenn Sie es nüchtern und geschäftsmäßig betreiben und nicht in die Narretei verfallen, nach Ihren eigenen Neigungen zu wetten, werden Sie sehr gut dabei fahren. Denken Sie drüber nach. Wenn Sie interessiert sind, sehen wir uns morgen hier wieder.«

Auf sichere Sieger setzen… jeder einzelne ein Gewinner: Arnold Roper hatte Wort gehalten, und Greg Simpsons Lebensstil hatte sich wieder normalisiert. Seine Bedenken hatten sich in Luft aufgelöst, sobald er erfuhr, daß er persönlich mit der Sache nichts zu tun haben würde, falls der Betrug doch einmal aufgedeckt werden sollte. Er wußte nicht, wie sein Arbeitgeber an seine unfehlbaren Informationen herankam, und wenn er auch darüber spekulierte, er fragte nicht danach.

Er kannte ihn nur als Bob Smith und hatte ihn nach diesen ersten beiden Begegnungen nicht wiedergesehen; aber er nahm die Warnung ernst, daß das Füllhorn versiegen würde, falls er je einmal bei den genannten Rennveranstaltungen nicht auftauchen oder die vereinbarten fünfundzwanzig Pfund nicht entrichten sollte.

Er aß sein Sandwich auf und mischte sich unter die Buchmacher, während die Pferde fürs erste Rennen zum Startpfosten galoppierten.

Von hoch oben auf der Tribüne blickte Arnold Roper durch sein starkes Fernglas und inspizierte seine Truppe Mann für Mann. Die perfekte Belegschaft, dachte er. Kein Krankenstand, keine Gewerkschaftsprobleme, keine Klagen.

Augenblicklich standen einundzwanzig Männer auf seiner Liste, die alle zufrieden seine Informationen entgegennahmen, die alle pflichtschuldigst ihre bescheidenen Abgaben entrichteten, und keiner von ihnen wußte von der Existenz der anderen. In einer durchschnittlichen Woche fügte er nach Abzug der Unkosten seinem Schlafzimmerhort einen Tausender in bar hinzu.

In den fünf Jahren, seit er in kleinem Stil begonnen hatte, sein System zur Anwendung zu bringen, hatte er mit seinen Männern nicht eine einzige Niete gezogen. Die Zeit zum Nachdenken gab den Furchtsamen und den Ehrlichen eine einfache Möglichkeit zum Rückzug; und wenn Arnold selbst Zweifel hatte, tauchte er selbst am zweiten Tag nicht wieder auf.

Die übrigen, die er einen nach dem anderen seiner Herde hinzugefügt hatte, lebten behaglich und mit ruhigem Gewissen und beteten, daß ihr Wohltäter nie entlarvt würde.

Arnold selbst konnte sich nicht vorstellen, warum so etwas jemals passieren sollte. Er legte das Fernglas beiseite und machte sich auf seine methodische Art und Weise an sein Tagewerk. Es gab immer eine Menge zu tun; er mußte Formulare ausfüllen, seine Ausrüstung überprüfen und feststellen, ob das Telefon neben ihm auch tatsächlich funktionierte. Arnold überließ niemals etwas dem Zufall.

Unten am Starttor ließen sich sechzehn Zweijährige bok-kend und tänzelnd von den Trainern in die Startboxen führen. Zweijährige Hengste, dachte der Starter resigniert und mit einem Blick auf seine Armbanduhr, konnten sich benehmen wie eine Horde Primadonnen während einer Hitzewelle in Mailand. Wenn die sich mit diesem Fuchs nicht etwas beeilten, der im Augenblick wiehernd wieder einmal den Rückzug von der Startbox antrat, würde er die anderen ohne ihn loslaufen lassen.

Er war sich nur allzu deutlich der Tatsache bewußt, daß die Fernsehkameras auf ihn gerichtet waren und gnadenlos auf den kleinsten Fehler lauerten. Starter, die die Rennen mit Verspätung beginnen ließen, waren unbeliebt. Starter, die die Rennen zu früh beginnen ließen, forderten offiziellen Tadel und allenthalben Verwünschungen heraus, weil in der Vergangenheit oft genug aufgrund vorzeitiger Starts irgendwelche Schwindeleien eingefädelt worden waren.

Der Starter schloß den Fuchs vom Rennen aus und gab den Start mit einer Verspätung von drei Minuten und zwanzig Sekunden frei — eine Zahl, die er gewissenhaft in seine Unterlagen eintrug. Die Tore krachten auf, die fünfzehn noch verbliebenen Hengste schossen aus den Boxen, und die dicht geschlossenen Reihen der Ferngläser auf der Tribüne verfolgten ihren Lauf über tausend Meter.

Allein in seinem Turm beobachtete der Zielrichter das Rennen mit großer Aufmerksamkeit. Ein großes Feld von Zweijährigen über tausend Meter war immer schwierig und endete selbst für sein geübtes Auge gelegentlich als gleich mehrfach totes Rennen.

Er hatte die Namen aller Pferde auswendig gelernt — eine Pflicht, die er jeden Tag mit den Rennkommentatoren teil-te — und kannte sämtliche Rennfarben, und aufgrund seiner langen Bekanntschaft mit den Jockeys konnte er die meisten von ihnen allein an ihrem Reitstil erkennen. Und dennoch huschte die Furcht, einen Fehler zu machen, immer noch beklemmend durch seine Träume.

Oben auf seinem Ausguck blickte der Fernsehkommentator durch sein starkes Fernglas, das felsenfest wie ein Teleskop auf einem Sockel montiert war, und sprach ohne Eile in sein Mikrofon.

«An der Spitze jetzt Breakaway und Middle Park, dicht gefolgt von Pickup, Jetset, Darling Boy und Gumshoe… Am Zweihundertmeterpfosten drängen sich die Pferde an der Spitze dicht zusammen, man sieht sowohl Jetset als auch Darling Boy und Breakaway… Noch zweihundert Meter, und immer noch scheinen Darling Boy, Jetset, Gumshoe, Pickup direkt Kopf an Kopf zu liegen. Auf den letzten hundert Metern… Jetset, Darling Boy…«

Die Hengste reckten die Hälse, die Jockeys hieben mit ihren Peitschen, die Zuschauer stellten sich auf die Zehenspitzen und stießen ein Gebrüll aus, das die Kommentatoren übertönte, und dem Zielrichter brannten in seiner Loge die Augen vor Anstrengung. Darling Boy, Jetset, Gumshoe und Pickup schossen Brust an Brust am Zielpfosten vorbei, und eine unpersönliche Stimme verkündete aus den überall verteilten Lautsprechern:»Zielfoto, Zielfoto.«

Einen halben Kilometer entfernt lauschte Jamie Finland in seinem eigenen Zimmer dem Rennen am Fernsehgerät und versuchte sich die Bilder auf dem Schirm vorzustellen. Rennen hatten für ihn etwas Nebulöses. Er kannte die Form von Pferden, weil er Spielzeug in der Hand gehabt hatte und ein Schaukelpferd besaß, aber ihre Größe und ihre Geschwindigkeit waren ihm ein Rätsel; er hatte nicht die geringste Vorstellung von der Weite der Kurven einer eingezäunten Rennbahn oder von der Größe oder dem Aussehen von Bäumen.

Während er älter wurde, kam Jamie immer mehr zum Bewußtsein, daß seine Mutter ein Glücksfall war, und als Teenager hatte er eher einen Beschützerdrang entwickelt als rebellische Aufsässigkeit, was seine leidgeprüfte Mutter bisweilen zu Tränen rührte. Ihretwillen hatte er den Fernsehreparateur willkommen geheißen, da er wußte, daß für sie Ton ohne Bilder fast genauso schlimm war wie für ihn Bilder ohne Ton.

Soviel Mühe er sich auch gab, er konnte mit seinen hyperempfindsamen Fingerspitzen dem Bildschirm nur wenig entnehmen. Elektronisch produzierte Farben vermittelten ihm nichts von den Vibrationen natürlichen Lichts.

Er saß gekrümmt vor Anspannung an seinem Tisch, das Telefon neben seiner rechten Hand und eins seiner Radios neben seiner linken. Man konnte nicht sagen, überlegte er, ob sich dieses bizarre Ereignis wiederholen würde; aber wenn ja, würde er bereit sein.

«Noch zweihundert Meter, und immer noch scheinen…«, sagte der Fernsehkommentator, und seine Stimme schwoll vor Aufregung zu einem schrillen Crescendo an.»Auf den letzten hundert Metern Jetset, Darling Boy, Pik-kup und Gumshoe… am Pfosten alle gleichauf… vielleicht hat es Pickup gerade noch geschafft, aber wir werden auf das Foto warten müssen. In der Zwischenzeit sehen wir uns den Schluß des Rennens noch einmal an…«

Der Ton des Fernsehers normalisierte sich wieder, und Jamie wartete angespannt ab, die Finger auf den Ziffern des Telefons.

Auf der Rennbahn schwirrte die Menge wie ein Schwarm aufgeregter Bienen um die Buchmacher herum, die jetzt Geschäfte abschlossen, so schnell es nur ging. Entscheidungen nach Zielfotos erfreuten sich größter Beliebtheit bei echten Spielernaturen.

Einige Wetter glaubten wirklich an das, was ihre eigenen, schnellen Augen gesehen hatten, andere betrachteten es als eine Chance, sich gegen den Verlust ihrer Hauptwette abzusichern oder sogar einen feststehenden Verlust wieder wettzumachen. Ein Foto war die zweite Chance, der Rettungsring für den Ertrinkenden, die vorübergehende Gnadenfrist vor dem Augenblick zerrissener Wettscheine und tiefer Verzweiflung.

«Sechs zu vier auf Pickup«, rief der junge Billy Hit-chins heiser von seinem erstklassigen Buchmacherstand in der ersten Reihe vor der Tribüne.»Sechs zu vier auf Pickup.«

Eine Woge von Kunden, die die überfüllten Stufen hinunterkamen, stürzte sich auf ihn.»Ein Zehner, Pickup, jawohl, Sir. Fünf auf Gumshoe, jawohl, Sir. Zwanzig, Pik-kup, Sie sind dabei, Sir. Einhundert? Ja, wenn Sie wollen. Einhundert eins zu eins, Jetset, warum nicht. «Billy Hit-chins, nach dessen Meinung Darling Boy das Rennen um eine Nasenlänge gewonnen hatte, nahm das Geld nur allzugern in Empfang.

Greg Simpson nahm Billy Hitchins’ Wettschein über fünfzig eins zu eins auf Jetset entgegen und beeilte sich, seine Wette bei so vielen Buchmachern abzuschließen, wie er konnte. Man hatte nie viel Zeit zwischen der Übermittlung des Wissens und der Ankündigung des Siegers. Nie viel, aber immer genug. Mindestens zwei Minuten. Manchmal sogar ganze fünf. Ein entschlossener Zocker konnte in dieser Zeit fünf oder sechs Wetten plazieren, wenn er nur dicke Haut hatte und sich erbarmungslos seiner Ellbogen zu bedienen wußte.

Greg vermutete, daß er sich nach all diesen Jahren des Rush-Hour-Pendelns mit der U-Bahn auch durch die dichteste Menge wühlen konnte, und an diesem Tag in Ascot gelang es ihm, das ganze Bargeld auszugeben, das er mitgebracht hatte, alle vierhundert Pfund, alles auf Jetset.

Weder Billy Hitchins noch irgendeiner seiner Kollegen verspürten auch nur einen Anflug von Argwohn. Na schön, es hatte viel Unterstützung für Jetset gegeben; aber dasselbe galt auch für die drei anderen Pferde, und in einem Finish wie diesem wechselte immer eine ganze Menge Geld den Besitzer. Billy Hitchins selbst hieß solche Gelegenheiten immer willkommen, weil sie auch ihm die Gelegenheit boten, aus dem Rennen einen zusätzlichen Profit zu schlagen.

Greg bemerkte ein oder zwei andere Männer, die ebenfalls gutes Geld auf Jetset setzten, und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob auch sie für Mr. Smith arbeiteten. Er war sicher, daß er sie oft bei anderen Veranstaltungen gesehen hatte, verspürte aber nicht die geringste Neigung, einen von ihnen anzusprechen und zu fragen. Die Sicherheit lag in der Anonymität — für ihn, für sie und natürlich für John Smith.

Der Richter in seinem Turm grübelte ernsthaft über dem Schwarzweißabzug und sortierte die Nasen; diese gehörte zu Darling Boy, jene zu Pickup. Er konnte den Sieger ohne weiteres ausmachen und hatte seine Nummer laut vor sich hin gemurmelt, während er sie sich auf dem Block zu seiner Rechten notierte.

Das Mikrofon, das mit den Platzlautsprechern verbunden war, wartete an seinem Ellbogen stumm darauf, daß er seine Entscheidung bezüglich des zweiten und dritten Platzes traf, eine Aufgabe von scheinbar zunehmender

Schwierigkeit. Nummer zwei oder Nummer acht. Aber welches Pferd war welches? Die Sekunden tickten dahin.

Es war sehr still in seinem Turm, und das hektische Getriebe und die Schreie von den Buchmacherständen unter ihm konnten ihn durch das dicke Fensterglas kaum erreichen.

Hinter ihm stand, geduldig abwartend, ein Angestellter der Rennbahn, dessen Aufgabe ausschließlich darin lag, die offizielle Ankündigung zu machen, sobald die Entscheidung getroffen war. Mit einem hellen Licht und einem Vergrößerungsglas studierte der Richter die Nasen. Wenn er sie falsch zuordnete, würden tausend kenntnisreiche Fotointerpretatoren es ihn wissen lassen.

Er fragte sich, ob er sich eine neue Brille verschreiben lassen sollte. Früher waren ihm die Fotos schärfer vorgekommen.

Bedauernd dachte Greg Simpson, daß der Richter es mit der Verzögerung übertrieb. Wenn er gewußt hätte, daß er soviel Zeit haben würde, hätte er mehr Geld mitgebracht. Trotzdem, der schöne Gewinn (abzüglich Wettsteuer) war ein gutes Ergebnis für einen Nachmittag; und er würde Mr. Smith mit dankbarem Herzen seine mageren fünfundzwanzig schicken.

Greg Simpson lächelte zufrieden und berührte flüchtig, als handele es sich um einen glückbringenden Talisman, die winzige Hörhilfe, die er unauffällig unter seinem Haar und dem weichen Filzhut hinter dem linken Ohr trug.

Jamie Finland lauschte aufmerksam und mit gesenktem Kopf; sein gelocktes dunkles Haar fiel auf das Radio, mit dem er den Flugfunk abhörte. Das leise Rauschen der Trägerwelle drang unverändert an sein Ohr, aber während er wartete, beschleunigte sich sein Puls, und in seinem Magen machte sich flatternde Aufregung breit. Wenn es nicht passierte, dachte er flüchtig, wäre es tatsächlich sehr langweilig.

Obwohl er jeden Nerv seines Körpers angespannt hatte, hätte er es beinahe verpaßt. Aus dem Radio kam ein einziges Wort, fern, leise, ohne Betonung:»Elf. «Die Trägerwelle zischte weiter, als wäre sie niemals gestört worden, und Jamies Gehirn brauchte ganze zwei Sekunden, um sich in einem glücklichen Lachen zu erhellen.

Er wählte die Nummer des örtlichen Buchmachers.

«Hallo? Hier Jamie Finland. Ich habe für heute nachmittag einen Zehn-Pfund-Kredit bei Ihnen vereinbart. Hm… würden Sie bitte das ganze Geld auf das Fotofinish dieses Rennens setzen, das gerade in Ascot gelaufen ist? Auf Nummer elf, bitte.«

«Elf?«wiederholte eine nüchterne Stimme am anderen Ende.»Jetset?«

«Genau«, sagte Jamie geduldig.

«Elf. Jetset. Eins zu eins, richtig?«

«Richtig!«sagte Jamie.»Ich hab das Rennen in der Flimmerkiste gesehen.«

«Da bist du nicht der einzige, Kumpel«, sagte die Stimme anstelle eines Abschiedsgrußes, dann wurde mit einem Klicken aufgelegt.

Jamie lehnte sich mit dem prickelnden Gefühl, eine wunderbare Schelmentat begangen zu haben, zurück. Wenn die Elf wirklich gewonnen hatte, bedeutete das, daß er den Buchmacher schlicht und einfach beraubte. Aber wer konnte das wissen? Wie konnte jemals irgend jemand davon erfahren? Er würde es seiner Mutter nicht erzählen, weil sie damit nicht einverstanden wäre und ihn vielleicht zwingen würde, seinen Gewinn zurückzugeben.

Er stellte sich ihre Stimme vor, wenn sie nach Hause kam und feststellte, daß er ihr Geld verdoppelt hatte. Und er stellte sich ihre Stimme vor, wenn sie herausfand, daß er das ganze Geld beim ersten Rennen verloren hatte, weil er auf das Ergebnis eines Fotofinishs gesetzt hatte, das er nicht einmal hatte sehen können.

Er hatte ihr nicht erzählt, daß die Zahlen im Radio der Grund waren, warum er überhaupt wetten wollte. Er hatte gesagt, er wüßte, daß Leute oft von zu Hause wetteten, während sie das Rennen im Fernsehen verfolgten. Er hatte gesagt, es wäre ein wunderbares neues Hobby für ihn, wenn er sich damit beschäftigen konnte, während sie arbeitete.

Er hatte sie ohne große Probleme überredet, ihm Geld für einen Einsatz zu leihen und die Sache mit dem Buchmacher zu regeln, und er hätte das Ganze nie eingefädelt, hätte es da nicht den Sicherheitsfaktor gegeben.

Als er das Radio bekommen hatte, mit dem man Flugfunk empfangen konnte, hatte er Stunden und Tage darauf verwandt, den Funksprüchen der Jetflugzeuge zu lauschen, die in Heathrow starteten und landeten; aber die Faszination hatte sich abgenutzt, und schließlich hatte er den Apparat immer seltener eingeschaltet.

Eines Tages hatte er ziellos am Einstellknopf herumgespielt, ohne einen interessanten Sender zu finden, und anschließend hatte er versehentlich vergessen, den Apparat abzuschalten. Als er dann am Nachmittag im Fernsehen die Rennen in Ascot verfolgte, kam aus dem Radio plötzlich ein Wort:»Dreiundzwanzig.«

Jamie schaltete den Apparat ab, schenkte dem Geschehnis aber kaum ernste Bedeutung, bis der Fernsehkommentator das Ergebnis des Fotofinishs bekanntgab und es sich fast wie ein Echo des Radios anhörte.»Dreiundzwanzig… Swan Lake, Nummer dreiundzwanzig ist der Gewinner.«

«Wie merkwürdig«, dachte Jamie. Er ließ den Einstellknopf unangerührt und stellte den Flugsender am nächsten Samstag wieder ein, parallel zu der Fernsehübertragung der Rennen in Kempton Park. Es gab zwei Entscheidungen nach Zielfotos, aber keine Gottesstimme im Äther. Auch nichts aus Doncaster, Chepstow und Epsom, so daß er die Sache schon achselzuckend als Zufall abtun wollte. Aber als schließlich wieder eine Veranstaltung in Ascot anstand, beschloß er es noch einmal zu versuchen.

«Fünf«, sagte das Radio leise, und später:»Zehn. «Und tatsächlich lautete das Urteil des Richters einmal Startnummer fünf und einmal zehn.

Der Zielrichter kam zu dem Schluß, daß er den Augenblick nicht länger hinauszögern könne, und reichte dem wartenden Angestellten seine niedergeschriebenen Resultate, woraufhin dieser sich vorbeugte und das Mikrofon an die Lippen zog.

«Erster Nummer elf«, sagte er.»Ein totes Rennen um den zweiten Platz zwischen Nummer zwei und acht. Erster Jetset. Totes Rennen um den zweiten Platz, Darling Boy und Pickup. Der Abstand zwischen dem ersten und dem zweiten Platz ein kurzer Kopf. Das vierte Pferd war Nummer zwölf.«

Der Zielrichter lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wieder ein Fotofinish hinter sich gebracht… aber sie waren zweifellos eine harte Probe für die Nerven.

Arnold Roper griff nach seinem Fernglas, um besser sehen zu können, wie die erfolgreichen Wetter bei den Buchmachern abkassierten. Seine einundzwanzig vertrauenswürdigen Männer hatten heute reichlich Zeit zum Absahnen gehabt. Vor allem Greg Simpson konnte reiche Beute einstreichen, aber andererseits war Greg Simpson mit seinen herausragenden Managerfähigkeiten Arnolds Meinung nach immer der Kandidat gewesen, der sich wahrscheinlich am besten halten würde. Gregs Erfolg freute Arnold genausosehr wie sein eigener.

Billy Hitchins reichte Greg ohne einen zweiten Blick seine Gewinne und zahlte auch fünf andere Männer aus, deren Transistorhörhilfen sicher unter ihrem Haar verborgen waren. Seiner Schätzung nach hatte er alles in allem bei dem Fotofinish draufgezahlt; aber was das ganze Rennen betraf, konnten sich seine Gesamteinnahmen durchaus sehen lassen. Billy Hitchins, der nicht unzufrieden war, wandte seine Aufmerksamkeit dem nächsten Rennen zu.

Jamie Finland lachte laut auf und schlug begeistert mit der Faust auf den Tisch. Irgend jemand sprach irgendwo durch ein offenes Mikrofon, und wenn Jamie das Glück hatte, die Übertragung aufzufangen, warum nicht? Warum nicht? Er betrachtete die Information als einen Zufall, nicht als Betrug, und er wartete mit naivem Vergnügen darauf, daß die nächste Traube von Pferden Nase an Nase durchs Ziel ging.

Das Wetten auf sichere Tips, versuchte er die Stimme seines Gewissens zu beruhigen, war kein Verbrechen, wenn man unschuldig an die Informationen herankam.

Nach dem vierten Rennen gab er telefonisch eine Wette auf Nummer fünfzehn durch und erhöhte seine Gewinne damit exponentiell.

Als Greg Simpson am Nachmittag nach Hause ging, hatte er fast ebenso große Probleme, das Geld zu transportieren, wie Arnold. Er stellte fest, daß es für die Unterbringung von Bargeld in einem gewöhnlichen Anzug Grenzen gab, und mußte das Geld zu guter Letzt in eine Zeitung einwik-keln und unterm Arm nach Hause tragen wie eine Portion Fish and Chips.

«Zwei an einem Tag«, dachte er genüßlich.»Ein sauberer Schnitt. Ein denkwürdiger Tag. «Und dann die Aussichten: morgen wieder hier in Ascot, Samstag in San-down und danach weiter nach der Liste, die ihn wie gewohnt anonym auf einer Postkarte erreicht hatte, Newbury und Windsor. Mit ein wenig Glück konnte er sich bald einen neuen Wagen leisten, und Joan konnte den Skiurlaub mit den Kindern buchen.

Billy Hitchins packte seinen Stand und seine Ausrüstung zusammen und trug die Sachen mit Hilfe seines Angestellten einen Kilometer die Straße runter zu seinem Buchmachergeschäft in der High Street von Ascot. Mit achtzehn Jahren hatte Billy seine Lehrer dadurch in Entsetzen gestürzt, daß er auf die Universität pfiff und seinen scharfen mathematischen Verstand in den Dienst eines Buchmachers stellte. Mit vierundzwanzig hatte Billy das Geschäft übernommen, und jetzt, drei Jahre später, stand er kurz vor einer Expansion.

Alles in allem hatte er einen guten Tag gehabt, und nachdem er die Gesamtsumme errechnet hatte, lud er seinen Geschäftsführer in den Pub ein.

«Schon komisch«, sagte der Geschäftsführer beim zweiten Bier.»Dieses neue Konto — Sie wissen schon, das, das Sie gestern für diese Krankenschwester eingerichtet haben.«

«O ja. die Krankenschwester. Hat mir zehn Dollar im voraus gegeben. Das passiert nicht oft. «Er trank seinen Scotch mit Wasser.

«Ja. also, dieser Finland hat vor der Flimmerkiste gesessen und zwei Wetten durchtelefoniert, beide auf die Ergebnisse der Fotos, und er hat beide Mal richtig getippt.«»Nein, nicht möglich«, sagte Billy mit gespieltem Ernst.

«Er hat keine anderen Wetten plaziert, verstehen Sie? Schon ungewöhnlich.«

«Was sagten Sie noch, wie war der Name?«fragte er.

«Jamie Finland.«

Das Barmädchen beugte sich über die Theke; ihr freundliches Gesicht zeigte ein Lächeln, und ihr pinkfarbener Pullover überließ kaum etwas der Phantasie.»Jamie Fin-land?«wiederholte sie.»Ein netter Junge, nicht wahr? Wirklich eine Schande, daß er blind ist.«

«Was?«fragte Billy.

Das Barmädchen nickte.»Er und seine Mutter, die beiden leben gleich die Straße runter in einer dieser neuen Wohnungen, sind Nachbarn von meiner Schwester. Er sitzt die meiste Zeit drin, lernt und hört seinen Radios zu. Und man sollte es nicht glauben, aber er kann Farben unterscheiden; kann er wirklich. Meine Schwester meint, es wäre richtig unheimlich, aber er hat ihr gesagt, sie trüge einen grünen Mantel, und das stimmte.«

«Ich fasse es nicht.«

«Es stimmt. So wahr Gott mein Zeuge ist«, sagte das Barmädchen gekränkt.

«Nein«, sagte Billy.»Ich kann nicht fassen, daß er, selbst wenn er einen grünen Mantel von einem roten unterscheiden kann, die Farben auf einem Fernsehschirm erkennt, wenn drei oder vier Pferde Brust an Brust die Ziellinie überqueren. Das kann selbst jemand mit guten Augen nur in den seltensten Fällen.«

Er saß da und dachte nach. Er hatte heute ziemlich viel bei diesen Fotos verloren.

Bei diesen Fotos hatten alle Verluste gemacht. Er hatte gehört, wie mehrere andere Buchmacher sich über den Zulauf beklagten, den Jetset hatte. Billy Hitchins runzelte die Stirn. >Ich verstehe aber nicht, wie man so etwas einfädeln könnte.< Billy setzte sein Glas mit einem Krachen ab, das die ganze Bar aufschreckte.»Haben Sie gesagt, Jamie Finland hört Radio? Was für Sender hört er denn?«

«Woher soll ich das wissen?«fragte das Barmädchen verärgert.

«Er wohnt in der Nähe der Rennbahn«, sagte Billy und dachte fieberhaft nach.»Also, nur mal angenommen, er hätte die Fotoergebnisse irgendwie mitgehört, bevor sie über Lautsprecher bekanntgegeben wurden. Aber das erklärt noch lange nicht die Verzögerung… wieso er die Zeit dazu hatte — und wahrscheinlich nicht nur er, sondern eine ganze Reihe anderer Leute, die dasselbe gehört haben —, das Geld zu setzen.«

«Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte das Barmädchen.

«Ich glaube, ich springe mal bei Jamie Finland vorbei«, sagte Billy Hitchins.»Und frage, wen oder was er gehört hat… wenn er überhaupt etwas gehört hat.«

«Bißchen weit hergeholt«, wandte der Geschäftsführer ein.»Die einzige Person, die die Sache lange genug hinauszögern könnte, wäre der Zielrichter.«

«O mein Gott«, sagte Billy, den dieser Gedanke mit Schrecken erfüllte.»Wenn es der Zielrichter wäre.«

Arnold Roper wußte nichts von der langen Zündschnur, die in dem Pub angezündet wurde. Für Arnold war Billy Hitchins nur ein Name eines Buchmacherstands. Er konnte nicht ahnen, daß der gewitzte Billy Hitchins seinen Drink in einem Pub nahm, dessen Barmädchen eine Schwester hatte, die Tür an Tür mit einem blinden Jungen lebte, der über ein gedankenlos angelassenes Radio, mit dem man

Flugfunk empfangen konnte, seine diskrete Übertragung mitgehört hatte.

Arnold Roper reiste in heiterer Gemütsverfassung nach Hause. Sein Walkie-talkie hatte er wie gewöhnlich in seiner inneren Jackettasche versteckt, und die kurze Antenne war nun wieder eingeklappt und unsichtbar.

Seine Anweisungen, die er nur mit schwächster Energie aussendete, waren seiner Meinung nach absolut sicher, da sie nur von einem vorüberfliegenden Flugzeug abgehört werden konnten, und kein Pilot auf Erden würde eine simple Zahl im Äther mit dem Gewinner eines Fotofinishs unten in Ascot oder Epsom oder Newmarket oder York in Verbindung bringen.

Vorhin auf dem Rennplatz hatte Arnold den extrem empfindlichen und teuren Apparat — Eigentum der Firma, in deren Diensten er stand — sorgfältig weggepackt und eingeschlossen. Arnold Roper war nicht der Zielrichter. Arnold Ropers Job bestand in der Bedienung der Fotofinishkamera. Er war derjenige, der zusah, wie die Abzüge entwickelt wurden; derjenige, der sich Zeit lassen konnte, bevor er sie zum Richter brachte; derjenige, der den Gewinner immer als erster kannte.

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