XI Die Nachhut

Als die Sonne allmählich über dem Horizont erschien und sich vorsichtig landeinwärts tastete, enthüllte sie nicht nur die Schrek-ken des nächtlichen Kampfes, sondern gab den Überlebenden auch wieder neuen Mut und neue Hoffnung.

Mit dem ersten Sonnenlicht zeigten sich zwei Segel am Horizont; es schien, als habe der Feind damit alle ihre Evakuierungshoffnungen zunichte gemacht. Als aber die beiden Schiffe auf ständig wechselndem Kurs näher kamen, wurden sie erkannt und mit lautem Jubel begrüßt. Es war nicht nur die Korvette Spite, sondern auch die mit zweiunddreißig Kanonen bestückte Fregatte Vanquis-her, vermutlich von Konteradmiral Coutts selbst geschickt.

Sobald es hell genug war, begruben sie ihre Gefallenen. Jenseits des Dammes, der jetzt größtenteils unter Wasser stand, schaukelten ein paar Tote in der Strömung. Die meisten waren schon während der Nacht davongetrieben oder von ihren Kameraden geborgen worden.

Paget war überall zugleich. Er machte Vorschläge, schimpfte, lobte und rief hin und wieder auch ein Wort der Ermutigung dazwischen.

Der Anblick der beiden Schiffe erfüllte sie mit neuem Leben. Trotz ihrer Verwundbarkeit durch Geschütze von Land aus mußten sie das Evakuieren erheblich verkürzen: durch doppelt so viele Boote, frische, ausgeruhte Seeleute und Offiziere, die sofort die Last der Verantwortung übernehmen konnten.

Bolitho verbrachte den größten Teil des Morgens mit Stockdale und einem Korporal der Marineinfanterie unten im Magazin. Es herrschte dort eine Totenstille, die er fast körperlich wie eine kühle Brise spürte. Pulverfaß nach Pulverfaß türmten sie aufeinander, Kiste um Kiste mit Waffen und Ausrüstung, viele davon noch ungeöffnet und gefüllt mit französischen Gewehren und Seitenwaffen. Fort Exeter war ein beredter Beweis für den lebhaften Waffenhandel der Rebellen mit Englands altem Erbfeind Frankreich.

Stockdale summte vor sich hin, während er die Zündschnur unten am ersten Stapel befestigte, völlig vertieft in seine Arbeit und froh, dem geschäftigen Treiben über ihnen entronnen zu sein.

Stiefel stampften im Hof, und man hörte das Kreischen von Metall, als die Kanonen vernagelt und dann an einen Platz über dem Explosionsherd transportiert wurden.

Bolitho saß auf einem leeren Faß, seine Wangen brannten von der Rasur, die Stockdale ihm nach seinem tiefen Erschöpfungsschlaf hatte angedeihen lassen. Er erinnerte sich an die Worte seines Vaters:»Wenn du dich noch nie mit Salzwasser rasieren mußtest, weißt du nicht, wie vergleichsweise bequem das Leben an Land ist.»

Noch hatte er so viel Süßwasser, wie er brauchte, aber man konnte sich seiner Vorräte nie ganz sicher sein, nicht einmal jetzt angesichts der sich nähernden Schiffe.

Er betrachtete Stockdales große Hände, die so geschickt und vorsichtig mit den Zündschnüren umgingen.

Es war und blieb ein Vabanquespiel: die Zündschnüre anstecken, nach oben rennen und dann in den wenigen Minuten in Sicherheit fliehen.

Ein Seemann kam die sonnenbeschienene Leiter herunter.

«Verzeihung, Sir, der Major möchte Sie sprechen!«Dann erst entdeckte er Stockdale und die Zündschnüre und wurde blaß.

Bolitho lief die Leiter hinauf und über den Hof. Die Tore standen offen, er sah den zertrampelten Boden, die eingetrockneten Blutlachen und die kläglichen Erdhaufen, die hastig ausgehobene Gräber bezeichneten.

Paget sagte langsam:»Wieder einmal die Parlamentärsflagge, verdammt!»

Bolitho schirmte die Augen ab und sah ein paar Gestalten am jenseitigen Ende des Dammes, die eine weiße Flagge hochhielten.

D'Esterre kam eilig von den Ställen her, wo Marineinfanteristen Papiere, Karten und anderes aufhäuften: den Inhalt der Turmstuben.

Er nahm ein Glas, blickte hinüber zu der Gruppe und sagte grimmig:»Sie haben den jungen Huyghue bei sich.»

Paget erwiderte ruhig:»Gehen Sie hin und sprechen Sie mit ihnen. Sie wissen, was ich heute morgen gesagt habe. «Er nickte Bolitho zu.»Sie auch. Es wird Huyghue vielleicht helfen.»

Die beiden gingen zum Damm, Stockdale unmittelbar hinter ihnen, ein altes Hemd an einem Spieß als Flagge hochhaltend. Wie er gehört hatte, was los war, und rechtzeitig auftauchte, um Bolitho zu begleiten, blieb ein Rätsel.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie den Damm erreichten. Die ganze Zeit über stand die kleine Gruppe am anderen Ende unbeweglich; lediglich die weiße Flagge über dem Kopf eines Soldaten zeigte durch ihr Flattern die unparteiische Gegenwart des Windes an.

Bolitho fühlte, wie seine Füße in Sand und Schlamm einsanken, je mehr sie sich der wartenden Gruppe näherten. Hier und da zeigten sich Spuren des Kampfes: ein zerbrochener Säbel, ein zerschossener Hut, ein Beutel mit Gewehrkugeln. Im tieferen Wasser sah er ein Paar Beine sanft schaukeln, als ob der dazugehörige Körper jeden Augenblick wieder auftauchen würde.

D'Esterre sagte:»Näher können wir nicht heran.»

Die beiden Gruppen standen einander jetzt gegenüber, und obgleich der Mann neben der Flagge keinen Rock anhatte, wußte Bolitho doch gleich, daß es der Offizier von gestern war. Wie um dies zu beweisen, saß der schwarze Hund neben ihm im nassen Sand und ließ die rote Zunge heraushängen.

Ein wenig dahinter stand Fähnrich Huyghue, klein und zerbrechlich gegen die großen, sonnengebräunten Soldaten.

Der Offizier hielt die hohlen Hände vor den Mund und rief mit tiefer, volltönender Stimme, die mühelos die Entfernung überbrückte:»Ich bin Oberst Brown von der Charlestown-Miliz. Mit wem habe ich die Ehre?»

D'Esterre rief:»Hauptmann d'Esterre, Marineinfanterie Seiner Britannischen Majestät.»

Brown nickte langsam.»Ich bin bereit, mit Ihnen zu verhandeln. Ich gestatte Ihren Leuten, das Fort unversehrt zu verlassen, wenn Sie die Waffen niederlegen und keinen Versuch machen, die Vorräte zu zerstören. «Er machte eine Pause und fuhr dann fort:»Andernfalls wird meine Artillerie das Feuer eröffnen und eine Evakuierung verhindern, selbst auf die Gefahr hin, daß wir dabei das Magazin in die Luft sprengen.»

D'Esterre rief:»Verstanden!«Bolitho flüsterte er zu:»Er will Zeit gewinnen. Wenn es ihm gelingt, Geschütze auf den Steilhang zu schaffen, wird er sicherlich ein paar Weitschüsse auf die Schiffe abfeuern können, wenn sie geankert haben. Es bedarf nur eines glücklichen Treffers an der richtigen Stelle. «Laut rief er wieder:»Und was hat der Fähnrich damit zu tun?»

Brown zuckte mit den Schultern.»Ich biete ihn zum Austausch gegen den französischen Offizier an.»

Bolitho sagte leise:»Verstehe. Er wird das Feuer auf jeden Fall eröffnen, möchte aber vorher den Franzosen in Sicherheit wissen, damit er bei der Beschießung weder getroffen noch von uns getötet wird.»

«Ja«, flüsterte d'Esterre, und laut sagte er:»Ich kann in diesen Austausch nicht einwilligen!»

Bolitho sah, wie der Fähnrich einen Schritt nach vorn machte, die Hände wie flehend halb erhoben.

Brown rief:»Das werden Sie noch bedauern!»

Bolitho hätte sich gern umgedreht, um zu sehen, wie weit die Schiffe jetzt waren; aber jedes Zeichen von Unsicherheit konnte sich fatal auswirken, vielleicht sofort einen neuen Frontalangriff bringen. Wenn der Feind gewußt hätte, daß die Kanonen bereits vernagelt waren, dann wäre er längst auf der Insel gewesen. Bolitho fühlte sich plötzlich sehr verwundbar. Aber wieviel schwerer mußte es für Huyghue sein. Mit sechzehn Jahren in einem fremden Land unter Feinden zurückgelassen zu werden, wo sein Verschwinden oder sein Tod kaum Staub aufwirbeln würde.

D'Esterre rief hinüber:»Ich würde lieber Ihren stellvertretenden Kommandeur austauschen.»

«Nein. «Oberst Brown streichelte beim Sprechen den Kopf des Hundes, wie um sich zu beruhigen.

Offensichtlich hat er seine Befehle — wie wir alle, dachte Bolitho.

Die Erwähnung des stellvertretenden Kommandeurs hatte lediglich beweisen sollen, daß Paget seine Gefangenen noch in Gewahrsam hatte und daß sie am Leben waren. Diese Erkenntnis konnte Huyghue vielleicht das Leben retten.

Ein Geschütz bellte plötzlich auf, seltsam hohl und wie erstickt. Die Miliz hat also ihre Kanonen bereits in Stellung gebracht, dachte Bolitho. Die Enttäuschung gab ihm einen Stich ins Herz, bis er ferne Jubelrufe hörte.

Stockdale keuchte:»Eins der Schiffe hat geankert, Sir!»

D'Esterre blickte Bolitho an und sagte:»Wir müssen gehen, ich will des Jungen Elend nicht noch verlängern.»

Bolitho rief hinüber:»Hören Sie, Mr. Huyghue, alles wird gutgehen. Sie werden bestimmt bald ausgetauscht!»

Huyghue mußte wohl bis zum letzten Augenblick an Rettung geglaubt haben. Jetzt versuchte er, ins Wasser zu laufen, und als ein Soldat ihn am Arm ergriff, fiel er auf die Knie und rief schluchzend:»Helft mir doch, laßt mich nicht zurück, bitte, helft mir!»

Selbst der Oberst schien von des Jungen Verzweiflung gerührt; trotzdem bedeutete er den Soldaten, ihn wieder den Strand hinauf zu bringen.

Bolitho und seine Gefährten wandten sich um und gingen zum Fort zurück; Huyghues verzweifelte Schreie folgten ihnen wie ein Fluch.

Die Fregatte hatte ziemlich weitab vom Land geankert, ihre Segel waren aufgegeit, und bereits strebten Boote der Insel zu.

Die kleinere Spite segelte näher heran, die Lotgasten lagen im Netz unter dem Klüverbaum und hielten Ausschau nach Riffen oder Sandbänken.

Die Schiffe sahen so sauber, so fern aus, daß Bolitho sich plötzlich vom Land angewidert fühlte, von dem schweren Geruch des Todes, der sogar noch den des nächtlichen Feuers überlagerte.

Quinn stand am Tor und studierte Bolithos Gesicht, als dieser wieder zu den anderen zurückkehrte.

«Ihr habt ihn zurückgelassen?»

«Ja. «Bolitho blickte ihn ernst an.»Ich hatte keine andere Wahl. Wenn wir ihn gegen diesen Gefangenen ausgetauscht hätten, wäre es sinnlos gewesen, überhaupt hierher zu kommen. «Er seufzte.

«Aber ich werde sein Gesicht so bald nicht vergessen.»

Paget blickte auf die Uhr.»Die ersten Verwundeten hinunter zum Strand!«Er blickte Bolitho an.»Meinen Sie, daß die Burschen noch einen Angriff versuchen werden?»

Bolitho hob die Schultern.»Unsere Schwenkgeschütze könnten sie jetzt bei Tageslicht in Schach halten, Sir, aber es würde uns die Arbeit nicht gerade erleichtern.»

Paget blickte auf, als noch mehr Jubelrufe vor dem Fort ertönten.»Einfache Seelen. «Er wandte sich ab.»Gott segne sie!»

Ein Marineinfanterist kam die Leiter vom Wall herabgeeilt.»Mr. Raye hat Soldaten und Artillerie auf dem Hügel gesichtet, Sir.»

Paget nickte.»Richtig. Wir müssen uns beeilen. Signal an Spite: schleunigst ankern und die Boote schicken. «Während Quinn mit dem Soldaten zum Turm eilte, fügte Paget, zu Bolitho gewandt, hinzu:»Das wird heiße Arbeit für Sie, fürchte ich, aber was auch geschieht, jagen Sie aufjeden Fall das Magazin in die Luft!«»Was wird mit den Gefangenen, Sir?»

«Wenn Platz und Zeit reichen, lasse ich sie auf die Fregatte bringen. «Er verzog den Mund zu einem verkniffenen Grinsen.»Wenn ich als Nachhut zurückbliebe, würde ich sie mit dem Magazin zusammen hochgehen lassen, diese verdammten Rebellen. Aber da Sie die Nachhut führen, bleibt es Ihnen überlassen.»

Die Boote der Vanquisher waren inzwischen am Strand, Seeleute hoben bereits die Verwundeten an Bord und schienen entsetzt über die geringe Zahl der Überlebenden.

Nun kamen auch die Boote der Spite und übernahmen Verwundete, um sie in Sicherheit und ärztliche Obhut zu bringen.

Bolitho stand auf dem Wall oberhalb des Tores, das Stockdale in dieser ersten, furchtbaren Nacht, als Quinn die Nerven verlor, geöffnet hatte.

Das Fort wirkte schon leerer, nur unten bei den beiden Geschützen am Damm sah er noch eine kleine Gruppe von Rotröcken. Sobald er den Befehl zum endgültigen Rückzug gab, würden Sergeant Shears und seine Leute an den Geschützen befestigte Zündschnüre in Brand setzen. Zwei kräftige Sprengladungen sollten dann die Kanonen unbrauchbar machen.

Bolitho überlegte. ob man in England jemals von all diesen Ereignissen erfahren würde, von all den kleinen, aber tödlichen Aktionen, die das Ganze ausmachten. Wenig wurde über die wirklichen Helden geschrieben, dachte er. Über die einsamen Männer der Angriffsspitze oder diejenigen, die zurückgelassen wurden, um einen Rückzug zu decken. Sergeant Shears mochte im Augenblick vielleicht dasselbe denken.

Plötzlich gab es einen lauten Knall, dem ein heulender Orgelton folgte, als eine schwere Kanonenkugel über ihre Köpfe flog und sich dann mit Wucht in den Sand bohrte.

Fähnrich Couzens deutete auf den Steilhang jenseits des Wassers:»Sehen Sie, Sir? Dort, der Rauch! Sie haben oben die erste Kanone abgefeuert!»

Bolitho musterte ihn. Couzens sah blaß und kränklich aus. Es würde wohl einige Zeit dauern, bis er sich von den Schrecken des nächtlichen Kampfes erholt hatte.

«Melden Sie es dem Major. Er wird es sicher schon wissen, aber sagen Sie es ihm trotzdem. «Als Couzens zur Leiter lief, fügte er noch hinzu:»Danach melden Sie sich beim dienstältesten Offizier der Boote. Kommen Sie nicht zurück. «Er sah die verschiedensten Gemütsbewegungen im Gesicht des Jungen widergespiegelt: Erleichterung, Sorge und schließlich Trotz, und fuhr fort:»Ich bitte Sie nicht darum, das ist ein Befehl!»

«Aber, Sir, ich möchte bei Ihnen bleiben!»

Bolitho wandte sich um, als ein neuer Knall vom Hang her ertönte. Diesmal flog die Kugel übers Wasser, wo sie von Welle zu Welle sprang wie ein Delphin.

«Ich weiß, aber wie soll ich es Ihrem Vater erklären, wenn Ihnen etwas passiert? Wer wird dann den Apfelkuchen Ihrer Mutter essen?»

Er hörte etwas wie ein unterdrücktes Schluchzen, und als er sich wieder umdrehte, war der Platz neben ihm leer. Noch ein bißchen Zeit gewonnen für dich, dachte Bolitho traurig. Couzens war drei Jahre jünger als Huyghue, ein Kind!

Er sah ein Aufblitzen und hörte die Kugel über das Fort heulen. Sie hatten sich jetzt eingeschossen, das Geschoß schlug dicht bei der Fregatte ins Wasser und überschüttete eins ihrer Boote, das gerade zur Insel zurückkehrte, mit einer Woge von Gischt.

D'Esterre kam die Leiter herauf, um nach ihm zu sehen.»Die letzte Abteilung schifft sich jetzt ein, mit den meisten Gefangenen. Major Paget hat den Franzosen im ersten Boot hinübergeschickt, er will kein Risiko eingehen. «Er nahm den Hut ab und starrte zum Damm hinüber.»Abscheulicher Ort.»

Eine Stimme rief vom Hof herauf:»Die Vanquisher geht Anker auf, Sir!»

«Möchte wohl weg, bevor sie von Oberst Brown ein Stück Blei aufs Achterdeck gesetzt bekommt. «D'Esterres Ausdruck wurde besorgt.»Das könnte der Zündfunke sein, der den Angriff auslöst, wenn sie annehmen, daß wir alle abhauen, Dick.»

Bolitho nickte.»Ich mache mich fertig. Hoffentlich habt ihr ein schnelles Boot für uns!»

Es sollte lustig klingen, aber es trug nur dazu bei, die Spannung zu erhöhen, die sogar das Atmen schwer machte.

D'Esterre antwortete:»Die Jolle von der Spite wartet dort. Nur für dich, Dick.»

Bolitho entgegnete:»Geh' jetzt. Ich komme schon klar. «Er sah die letzte Gruppe Marineinfanteristen über den Hof laufen, einer von ihnen schleuderte eine brennende Fackel in den Papierstapel vor den Ställen.

D'Esterre beobachtete, wie Bolitho zum Magazin ging, dann wandte er sich um und folgte rasch seinen Leuten durch das Tor.

Eine Kugel heulte dicht über den Turm, aber d'Esterre blickte nicht einmal auf. Sie schien für ihn keine Drohung zu enthalten. Gefahr und Tod waren allein hier unten, eine scheußliche Erinnerung.

Er sah die Silhouette der Fregatte kürzer werden, als sie sich jetzt der offenen See zuwandte, ihre Fock füllte sich bereits, während eins ihrer Boote noch mit äußerster Kraft versuchte, längsseits zu pullen. Für die anderen Boote würde es ein langer und harter Weg sein, ihr Schiff zu erreichen. Aber der Kommandant kannte die tödliche Gefahr gut placierter Artillerie an Land. Eine Fregatte zu verlieren, war schlimm genug, aber noch schlimmer wäre es, wenn sie gekapert und von der Rebellenflotte vereinnahmt würde.

Bolitho vergaß d'Esterre und alles andere, als er Stockdale mit einer brennenden Lunte bei den Zündschnüren sah. Neben ihm standen ein Korporal der Marineinfanterie und ein Seemann, in dem er trotz Schmutz und Bartstoppeln Rabett, den Dieb aus Liverpool, erkannte.

«Legt Feuer!«rief er und zuckte gleich darauf zusammen, als eine schwere Kugel durch die zersplitternde Brustwehr krachte und in den bereits lichterloh brennenden Ställen einschlug.

«Marsch zu den Toren, Korporal, und rufen Sie Ihre Wachtposten zurück, so schnell Sie können.»

Die Zündschnüre erwachten zischend zum Leben, im Dämmerlicht der Kasematte wirkten sie wie wütende Schlangen.

Die Zündfunken schienen mit unheimlicher Geschwindigkeit vorwärtszueilen, wenigstens kam es Bolitho so vor; er berührte Stockdale an der Schulter.

«Zeit für uns, komm.»

Eine Kugel schlug beim Fort ein und schleuderte eins der Schwenkgeschütze wie ein Stück Holz in die Luft.

Zwei weitere, scharfe Detonationen kamen vom Damm her: die beiden Geschütze waren gesprengt worden.

Gewehrfeuer war jetzt zu hören, noch weit entfernt und ohne Wirkung. Aber der Feind würde bald stürmen.

Sie rannten hinaus in das grelle Sonnenlicht, vorbei an brennenden Ställen und Vorratsräumen.

Ein lauter Knall und splitterndes Holz, das einmal die Brustwehr gewesen, bewiesen, daß Browns Leute wie die Teufel gearbeitet haben mußten, um ihre Geschütze auf dem Hang in Stellung zu bringen.

Der Korporal schrie plötzlich:»Sergeant Shears kommt im Galopp, Sir! Und die ganze verdammte Rebellenarmee ist ihm auf den Fersen!»

Bolitho sah die rennenden Marineinfanteristen, einer stürzte vornüber und blieb liegen. Feindliche Soldaten wateten und kämpften sich bereits über den unter Wasser stehenden Damm, sie feuerten im Laufen.

Bolitho schätzte die Entfernung: es war zu weit für den Feind, er konnte sie nicht mehr einholen.

Herum um die Festungsmauer, hinunter über den abschüssigen Strand, wo die Jolle wartete. Er sah, daß die Crew schon die Riemen im Wasser hatte und wie hypnotisiert auf das Land starrte.

Sergeant Shears keuchte den Strand hinunter, seine Männer dicht hinter sich.

«Ins Boot!«Bolitho blickte zum Turm auf, die britische Flagge wehte noch.

Dann merkte er, daß er der letzte auf dem Strand war, daß Stock-dale ihn am Arm über das Dollbord zog und ein nervöser Leutnant kommandierte:»Ruder an!»

Wenige Minuten später, als die Jolle schon über die ersten trägen Brecher glitt, erschienen ein paar Soldaten unterhalb des Forts.

Ihre rasch abgefeuerten Schüsse gingen fehl, nur einer schlug dicht neben dem Boot ein und spritzte Wasser über die keuchenden Rotröcke.

Shears murmelte:»An ihrer Stelle würde ich dort schnellstens abhauen.»

Sie waren halbwegs zwischen Strand und Schiff, als die Detonation den hellen Tag zerfetzte. Es war nicht so sehr der ohrenbetäubende Krach als vielmehr der Anblick des in die Luft geschleuderten Forts, das dann Bruchstücke auf die Insel herabregnete, der in Bolithos Gedächtnis haften blieb, noch lange, nachdem das letzte Stück zu Boden gefallen war. Als der Rauchpilz sich langsam hob, sah er, daß nichts mehr den Standort des Forts bezeichnete, nur ein ungeheurer, schwarzer Trichter.

Alle Gefangenen waren schließlich doch abtransportiert worden, und Bolitho überlegte, was sie jetzt wohl empfinden mochten, und auch der junge Huyghue. Dachte er an den Teil, den er selbst zum Gelingen des Unternehmens beigetragen hatte? Oder nur an sein eigenes schweres Los?

Als er den Blick endlich abwandte, sah er über sich die schwankenden Masten uid Rahen der Spite. Hilfreiche Hände warteten bereits darauf, sie an Bord zu holen.

Er sah Stockdale an, und ihre Blicke trafen sich in wortloser Erleichterung. Dann hörte er die gereizte Stimme des jungen Kommandanten Cunningham von oben herab rufen:»Lebhaft da unten, bewegt euch, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!»

Bolitho lächelte müde. Sie waren zu Hause.

Kapitän Gilbert Brice Pears saß an seinem Schreibtisch, die starken Finger ineinander verschlungen, während sein Sekretär fünf wunderschön geschriebene Ausfertigungen des Berichtes über das Unternehmen Fort Exeter zur Unterschrift vor ihm ausbreitete.

Der Rumpf der Trojan knarrte und klapperte in der achterlichen See, Pears jedoch nahm es kaum wahr. Er hatte den Originalbericht sehr sorgfältig durchgelesen, nichts übergangen, und hatte sich von d'Esterre weitere Einzelheiten sowie den genauen Hergang des Angriffs und Rückzugs schildern lassen.

Neben ihm stand Cairns, dessen schlanke Gestalt einen Winkel zum Deck bildete, entsprechend der jeweiligen Schräglage des Schiffes. Er wartete geduldig auf eine Bemerkung des Kommandanten.

Pears hatte sich sehr aufgeregt über die Verspätung, mit der sie den Treffpunkt nach ihrem Scheinangriff auf Charlestown erreicht hatten. Das plötzliche Umspringen des Windes, das völlige Fehlen irgendwelcher Nachrichten und das allgemeine Mißtrauen, das er Coutts Plan entgegenbrachte, hatten ihn das Schlimmste befürchten lassen. Coutts selbst mußte wohl etwas von Pears Unruhe gespürt haben, weil er zusätzlich die Fregatte Vanquisher zur Unterstützung der kleineren Spite entsandt hatte, um beim Aufnehmen des Landetrupps zu helfen. Pears hatte dann später ihre Rückkehr auf die Trojan beobachtet, die abgezehrten, trotzig wirkenden Marineinfanteristen — oder vielmehr den kläglichen Rest dieser stolzen Truppe — , die schmutz- und blutverkrusteten Seeleute, dann d'Esterre, Bolitho und schließlich den jungen Couzens, der seinen Fähnrichskameraden halb lachend, halb weinend zuwinkte.

Fort Exeter bestand nicht mehr, und Pears hoffte nur, daß sich der Einsatz gelohnt hatte. Im Geheimen bezweifelte er es.

Grimmig nickte er seinem Sekretär zu.»Gut, Teakle, ich unterschreibe das verdammte Zeug. «Dann blickte er Cairns an:»Muß eine blutige Angelegenheit gewesen sein. Unsere Leute scheinen sich aber wacker geschlagen zu haben.»

Durch die tropfenden Fenster betrachtete er das verschwommene Bild des Flaggschiffs, das auf gleichem Kurs lag, die Segel windgefüllt.

«Und jetzt dies hier, verdammter Mist!»

Cairns folgte seinem Blick. Er wußte wohl besser als jeder andere, was sein Kommandant empfand.

Es hatte ganze sechs Tage gedauert, bis die massigen Linienschiffe sich wieder mit Spite und Vanquisher vereinigt hatten; dann vergingen zwei weitere Tage, in denen Admiral Coutts die Offiziere seines kleinen Geschwaders zu Besprechungen zusammenholte, den entwaffnend zuversichtlichen Franzosen verhörte und schließlich die Informationen verarbeitete, die Paget aus dem Fort gebracht hatte.

Anstatt nun nach New York zurückzukehren, um sich neue Befehle und Ersatz für die Toten und Verwundeten zu holen, mußte die Trojan weiter nach Süden segeln. Pears hatte Order, eine Insel zu finden und schließlich zu zerstören, die — wenn man den Aussagen der Gefangenen Glauben schenken konnte — das wichtigste Glied in der Nachschubkette darstellte, die Washingtons Armeen mit Waffen und Munition versorgte.

Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Pears diesen Einsatz als willkommene Unterbrechung der langweiligen Liege- und ermüdenden Patrouillenzeiten begrüßt.

Das Flaggschiff Resolute würde sie bald verlassen und Courts beeindruckende Berichte dem Oberbefehlshaber in New York überbringen, zusammen mit den Schwerverwundeten und den Gefangenen. Aber der jugendliche Konteradmiral selbst hatte den nach Pears Ansicht noch nie dagewesenen Schritt unternommen, seinen Flaggschiffskommandanten zum stellvertretenden Befehlshaber des Geschwaders zu ernennen, während er seine Flagge auf der Trojan hissen ließ, um den Angriff im Süden selbst zu leiten.

Coutts vermutete wohl zu Recht, daß der Oberbefehlshaber ihn, wenn er mit der Resolute erst einmal in New York eingelaufen war, anderweitig einsetzen würde, eventuell in Zusammenarbeit oder gar unter direktem Befehl des Gesandten Sir George Helpman. Mit der erfolgreichen Ausführung seiner Eroberungspläne wäre es dann vorbeigewesen.

Es klopfte an Pears Tür.

«Herein!»

Er blickte auf und in Bolithos Gesicht, der, den Hut unterm Arm, die Kajüte betrat.

Er sah älter aus, fand Pears, abgespannt, aber selbstsicherer. Um die Mundwinkel hatten sich Falten gebildet, aber die grauen Augen blickten fest und — wie die der zerschlagenen Reste der Marineinfanteristen — trotzig.

Pears bemerkte an der Haltung der Schulter, daß Bolitho noch starke Schmerzen haben mußte, sowohl vom Hieb der Klinge wie auch von der Wundbehandlung durch den Arzt. Aber in seiner frischen Kleidung wirkte er wie völlig wiederhergestellt.

Pears begrüßte ihn:»Gut, Sie heil und in einem Stück zu sehen. «Dann wies er auf einen Stuhl und wartete, bis der Sekretär den Raum verlassen hatte.»Sie werden es bald genug erfahren: Wir segeln nach Süden, um dort eine Nachschubbasis aufzuspüren und zu zerstören. «Er zog eine Grimasse:»Auch noch französisch, zu allem Überfluß.»

Bolitho setzte sich vorsichtig. Seit er frisch gewaschen war und saubere, seltsam ungewohnte Kleidung trug, fühlte er die Spannung allmählich nachlassen.

Sie waren alle nett zu ihm gewesen — Cairns, der Weise, Dalyell, alle — , und er fühlte sich wieder frei und zu Hause in diesem ächzenden, überfüllten Rumpf.

Bis jetzt hatte er keine Ahnung gehabt, was vor sich ging. Nach der schnellen Überfahrt an Bord der Korvette und der Trauer über den Tod weiterer Verwundeter fand er kaum zu etwas anderem Zeit als dazu, seine Version des Erlebten zu Papier zu bringen. Außer ein paar kurzen Worten, als man ihm und den anderen an Bord half, hatte er noch nicht wieder mit Pears gesprochen.

Der Kommandant fuhr nun fort:»Der Krieg fordert einen hohen Zoll. Wir waren knapp an erfahrenen Offizieren, jetzt sind wir noch knapper. «Er starrte auf den leeren Tisch, wo vorher der Bericht gelegen hatte.»Gute Leute sind getötet, andere verstümmelt, die Hälfte meiner Marineinfanteristen fällt aus, und dann sind auch noch zwei Offiziere gefangengenommen! Ich fühle mich wie ein Prediger in einer leeren Kirche.»

Bolitho blickte Cairns an, aber dessen Gesicht verriet nichts. Er hatte morgens eine Brigg mit dem Flaggschiff Signale tauschen und dann in Rufweite gehen sehen, aber über den Inhalt des Gesprächs wußte er nichts. Also fragte er:»Zwei Offiziere, Sir?«Er mußte irgend etwas verpaßt haben.

Pears seufzte.»Erst der junge Huyghue, und dann habe ich heute vom Flaggschiff die Mitteilung erhalten, daß Probyn von einem Kaperschiff aufgebracht worden ist. Und zwar schon einen Tag nach Verlassen des Forts. «Er beobachtete Bolithos Gesicht.»Das war das kürzeste Kommando der Marinegeschichte, scheint mir.»

Bolitho dachte an das letzte Zusammensein mit Probyn — böse, triumphierend, bitter war es gewesen. Jetzt war alles vorbei, hatten sich seine Hoffnungen zerschlagen.

Bolitho empfand Mitleid, nicht mehr.

«Also«, Pears Stimme brachte ihn mit einem Ruck zurück in die Wirklichkeit,»werden Sie hiermit zum Zweiten Offizier dieses Schiffes ernannt, meines Schiffes.»

Bolitho starrte ihn verwirrt an. Vom Vierten zum Zweiten Offizier? Er hatte gehört, daß so etwas vorkam, hatte es sich aber nie für sich vorgestellt.

«Ich — ich danke Ihnen, Sir.»

Pears blickte ihn ernst an.»Freut mich, daß Sie nicht über Pro-byns Geschick spotten, obwohl ich es verstanden hätte.»

Cairns zeigte sein seltenes Lächeln.»Herzlichen Glückwunsch!»

Pears hob die große Rechte.»Sparen Sie sich das für später auf, Mr. Cairns. Und jetzt an die Arbeit, übertragen Sie einem anderen

Fähnrich Huyghues Aufgaben; außerdem schlage ich vor, daß Sie Steuermannsmaat Frowd einstweilen als Offizier einsetzen. Ein vielversprechender Mann.»

Der Posten öffnete zaghaft die Tür.»Verzeihung, Sir, der Fähnrich der Wache ist hier.»

Es war der kleine Forbes, er kam Bolitho jetzt schon etwas reifer vor, in seine Aufgabe hineingewachsen.

«Sir, Mr. Dalyell meldet Signal vom Flaggschiff:,Drehen Sie bei. »

Pears blickte Cairns an.»Führen Sie es aus. Ich bin gleich oben.»

Als die beiden Offiziere hinter dem Fähnrich her an Deck eilten, fragte Bolitho:»Warum das ganze Manöver?»

Cairns starrte ihn an.»Sie sind wirklich ein wenig hinterm Mond, Dick!«Er wies auf einen Unteroffizier mit einer aufgetuchten Flagge unterm Arm.»Heute hissen wir die Admiralsflagge im Kreuztopp. Konteradmiral Coutts wird unser Helfer in der Not.»

«Die Trojan wird Flaggschiff.»

«Vertretungsweise. «Cairns glättete seinen Hut, während sie nach vorn zur Querreling gingen.»Bis Coutts Ruhm erntet oder sein Kopf auf dem Block liegt.»

Seeleute liefen bereits auf ihre Stationen; Bolitho hatte jetzt die Aufsicht über den ungeheuren Großmast, an dem er einst so manchen Befehl und Anranzer von Sparke erhalten hatte. Nun war er selbst Zweiter Offizier, obwohl ihm zwei Monate bis einundzwanzig fehlten.

Er sah Stockdale, der ihn beobachtete und ihm zunickte. Stock-dale und einigen jetzt fehlenden Gesichtern hatte er es zu verdanken, daß er überhaupt hier war.

«Klar zum Beidrehen!»

Cairns Stimme erreichte ihn durch das Sprachrohr.»Mr. Bolitho! Treiben Sie Ihre Leute an die Brassen! Die bewegen' sich heute wie die Krüppel!»

Bolitho tippte an seinen Hut.»Aye, Sir!»

Zwischen den durcheinanderhastenden Seeleuten sah er Quinn herüberstarren, noch etwas unsicher auf seiner ebenfalls neuen Station. Bolitho lächelte ihm zu und versuchte, die Spannung zu lockern, die fühlbar zwischen ihnen bestand.

«Lebhaft, Mr. Quinn!«Er zögerte, etwas tauchte in seinem Gedächtnis auf.»Stellen Sie den Namen dieses Mannes fest!»

Загрузка...