Bolitho stand im Schatten des gewaltigen Großmastes und beobachtete das geschäftige Treiben rund um das Schiff. Es war jetzt Oktober, und seit zwei Monaten lag die Trojan in English Harbour, Antigua, dem Hauptquartier des Karibischen Geschwaders. Eine Menge Schiffe waren hier versammelt und warteten auf Reparaturen und Überholung; bei den meisten sollten jedoch nur Abnutzungsschäden durch Sturm oder Alter ausgebessert werden. Die Ankunft der Trojan, deren Flagge wegen der vielen Toten auf halbmast wehte, hatte beträchtliches Aufsehen erregt. Wenn man jetzt ihre straffgespannte Takelage betrachtete, die neuen Wanten und ordentlichen Segel, die säuberlich ausgebesserten Decks, konnte man sich kaum mehr den Kampf vorstellen, der all diese Schäden angerichtet hatte.
Er beschirmte die Augen, um zur Küste hinüberzublicken: verstreute weiße Gebäude, das vertraute Bild von Monk's Hill. Eine wahre Prozession von Booten, Werftprähmen und Wasserleichtern war unterwegs, dazwischen die unvermeidlichen Händlerboote, die den unerfahrenen oder törichten Seeleuten ihre zweifelhaften Waren anboten.
An Bord hatte es eine Menge Änderungen gegeben. Neue Leute kamen von anderen Schiffen, aus England und aus den karibischen Häfen, die alle erprobt und in die Besatzung eingereiht werden sollten.
Ein Leutnant John Pointer war eingetroffen und auf Grund seines Dienstalters als Vierter Offizier eingestuft worden, wie einstmals Bolitho. Es war ein fröhlicher junger Mann mit ausgeprägtem Yorkshire-Dialekt, anscheinend tüchtig und willig.
Der junge Fähnrich Libby, dem man seinen zeitweiligen Rang wieder abgesprochen hatte, war eines schönen Morgens zum Flaggschiff gerufen worden, um sein Leutnantsexamen abzulegen. Er bestand mit Auszeichnung und war selbst der einzige, der sich über dieses Ergebnis wunderte. Anschließend wurde er gleich als Leutnant auf ein anderes Linienschiff versetzt. Sein Abschied war eine traurige Angelegenheit, sowohl für ihn wie für die anderen Fähnriche. Zwei neue waren inzwischen aus England eingetroffen, nach Bunces Ansicht» noch schlechter als nutzlos».
Von Coutts hatten sie nur gehört, daß er nach New York zurückgekehrt war. Beförderungen schienen angesichts der letzten Ereignisse unwichtig.
Auf dem Festland sollte General Burgoyne, der in den Anfangstagen der Revolution mit einigem Erfolg von Kanada aus operiert hatte, die Kontrolle über den Hudson River sicherstellen. Mit der ihm eigenen raschen Entschlossenheit war er mit etwa siebentausend Mann in das betreffende Gebiet aufgebrochen und hatte erwartet, von der New Yorker Garnison Verstärkung zu erhalten. Nun hatte dort aber jemand entschieden, daß in New York kaum genug Soldaten zur eigenen Verteidigung bereitstünden.
General Burgoyne hatte vergeblich gewartet und sich dann mit all seinen Truppen bei Saratoga ergeben.
Sofort hörte man auch wieder von größerer Aktivität der französischen Kaperschiffe, welche die militärische Niederlage ermutigte.
Die Trojan würde bald wieder in die Kämpfe eingreifen können, aber Bolitho sah keinerlei Chance, auch nur einen Zipfel der abgefallenen Kolonie zurückzugewinnen, selbst wenn Britannien die See beherrschte. Und bei stärkerer französischer Einmischung war nicht einmal das sicher.
Bolitho ging ruhelos auf und ab und beobachtete ein weiteres Händlerboot, das gerade das glitzernde Spiegelbild der Trojan passierte. Es war heiß, aber nach den vorangegangenen Monaten und den tropischen Regengüssen erschien es ihm beinahe angenehm.
Er blickte nach achtern, wo die Flagge schlaff und reglos herabhing. In der Kajüte mußte es sogar noch heißer sein als hier an
Deck.
Er versuchte, an Quinn wie an einen Fremden zu denken, den er gerade erst kennengelernt hatte. Aber in seiner Erinnerung lebte er fort als der jüngste Leutnant, der neu an Bord gekommen war, achtzehn Jahre alt und direkt vom Fähnrichslogis, so wie Libby jetzt. Dann sah er ihn wieder im Todeskampf keuchen, mit der ungeheuren Säbelwunde quer über seine Brust. Und das nach seiner ruhigen Zuversicht, seiner Entschlossenheit, gegen den Willen seines wohlhabenden Vaters Seeoffizier zu werden.
Diese letzten Wochen mußten für Quinn die Hölle gewesen sein. Er war von seinen Pflichten entbunden worden, und wenn er vorläufig auch seinen Dienstgrad behielt, so war er jetzt doch sogar dienstjünger als der neuangekommene Leutnant Pointer.
Wegen der Aktivität innerhalb des Geschwaders und der allgemeinen Erwartung stärkeren französischen Engagements hatte der Fall Quinn zunächst nur eine untergeordnete Rolle gespielt.
Jetzt, im Oktober 1777, wurde Quinn in Pears Kabine von einem Untersuchungsausschuß vernommen. Es war die letzte Stufe vor dem eigentlichen Kriegsgericht.
Bolitho betrachtete die anderen Schiffe, die so ruhig in diesem geschützten Hafen lagen, jedes über seinem eigenen Spiegelbild, mit aufgespannten Sonnensegeln, die Stückpforten weit offen, um auch den leisesten Hauch einzufangen. Sehr bald würden diese und auch andere Schiffe das durchmachen, was die Trojan vor den Geschützen der Argonaute durchgemacht hatte. Sie würden dann nicht mehr gegen wackere, aber schlecht ausgebildete Rebellen kämpfen, sondern gegen die Besten Frankreichs. Die Disziplin mußte gestrafft, ein Versagen konnte nicht mehr hingenommen werden. All dies ließ Quinns Chancen schrumpfen.
Bolitho wandte sich um, als Leutnant Arthur Frowd, der wachhabende Offizier, das Deck überquerte und zu ihm herüberkam. Wie Libby, so hatte auch er die begehrte Beförderung erhalten und erwartete nun seine Versetzung auf ein anderes Schiff. Obwohl der dienstjüngste Leutnant, war er doch der älteste an Jahren. In seiner prächtigen neuen Uniform, das Haar ordentlich im Nacken zusammengebunden, sah er so gut aus wie ein Kapitän, dachte Bolitho bewundernd.
Frowd fragte:»Wie, nehmen Sie an, wird es ausgehen?«Er nannte Quinn nicht einmal mit Namen. Wie viele andere, fürchtete er wahrscheinlich, mit Quinn in irgendeinen Zusammenhang gebracht zu werden.»Ich bin mir nicht sicher.»
Bolitho nestelte nervös an seinem Degengriff und fragte sich, warum es so lange dauerte. Cairns war nach achtern gerufen worden, ebenso d'Esterre und Bunce. Es war eine gräßliche Sache, ähnlich wie der Anblick der Kriegsgerichtsflagge oder wie die rituelle Prozession von Booten bei einem öffentlichen Auspeitschen oder beim Erhängen.
Er sagte:»Ich hatte auch Angst, also muß es für ihn noch viel schlimmer gewesen sein. Aber.»
Frowd sagte heftig: — »Aber, Sir, dieses kleine Wort macht den Unterschied. Jeder einfache Seemann würde schon längst von der Großrah baumeln.»
Bolitho sagte nichts, sondern wartete darauf, daß Frowd wegging, um mit dem Wachboot zu sprechen, das längsseits lag. Frowd verstand dies nicht. Wie sollte er auch? Es war schwer genug für einen jungen Mann, den Rang eines Leutnants zu erwerben. Auf dem Weg über das untere Deck war dies noch viel, viel schwerer. Frowd hatte es mit Schweiß, aber wenig Erziehung geschafft. Er mußte Quinns Versagen eher als Verrat denn als Schwäche ansehen.
Sergeant Shears marschierte über das Achterdeck und berührte grüßend seinen Hut. Bolitho sah ihn an.»Ich?»
«Ja, Sir. «Shears warf einen raschen Blick auf die Umstehenden.»Es sieht nicht gut aus, Sir. «Er senkte die Stimme zu einem Flüstern.»Mein Hauptmann machte seine Aussage, und ein Ausschußmitglied bemerkte hochnäsig: „Was weiß schon ein Marineinfanterist über Seeoffiziere!"«Wütend fügte Shears hinzu:»Ich habe noch nie solche Arroganz erlebt, Sir!»
Bolitho ging rasch nach achtern und packte dabei seinen Degengriff mit aller Kraft, um sich innerlich vorzubereiten.
Pears Salon war ausgeräumt worden, an Stelle der Möbel stand ein großer, kahler Tisch da, an dem drei Kapitäne saßen.
Andere Offiziere saßen ringsum an den Wänden, größtenteils waren sie ihm unbekannt; aber er sah auch die Zeugen: Cairns, d'Esterre und, die Hände im Schoß gefaltet, Kapitän Pears.
Der älteste Kapitän musterte ihn kühl.»Mr. Bolitho?»
Bolitho klemmte den Hut unter den Arm und sagte:»Aye, Sir. Zweiter Offizier.»
Der Kapitän zur Rechten, ein scharfgesichtiger, schmallippiger Mann, fragte:»Waren Sie an Deck, als sich der Vorfall, der zu diesem Verfahren führte, ereignet hat?»
Bolitho sah des Schreibers Feder über dem Papier warten. Dann blickte er sich das erste Mal nach Quinn um.
Der stand steif an der Tür zum Speiseraum und schien nur mit Mühe Luft zu bekommen.
«Das war ich, Sir. «Wie absurd, dachte er. Sie wußten alle genau, wo sich jeder einzelne bis hinunter zum Schiffskoch aufgehalten hatte.»Ich führte das Kommando auf dem oberen Batteriedeck, wir schössen nach Steuerbord.»
Der Vorsitzende des Ausschusses, ein Kapitän, den Bolitho schon in New York gesehen hatte, sagte trocken:»Vergessen Sie die Formalitäten. Sie stehen hier nicht unter Anklage. «Dann, mit einem Seitenblick auf den schmallippigen Kapitän:»Es wäre gut, wenn alle daran dächten. «Sein ruhiger, ausgeglichener Blick wandte sich wieder Bolitho zu.»Was haben Sie gesehen?»
Bolitho fühlte, wie die hinter ihm Sitzenden ihn beobachteten, auf seine Aussage warteten. Wenn er nur gewußt hätte, was bisher ausgesagt worden war, besonders von Pears.
Er räusperte sich.»Wir hatten nicht erwartet, daß es zum Kampf kommen würde. Aber die Argonaute hatte die Spite ohne jede Herausforderung von deren Seite und ohne Warnung entmastet. Uns blieb keine andere Wahl.»
«Uns?«Die Frage klang milde.
Bolitho wurde rot und fühlte sich unter den Blicken der drei Augenpaare unbehaglich.»Ich hörte den Admiral die Ansicht äußern, daß wir, wenn nötig, kämpfen würden, Sir.»
«Aha. «Ein winziges Lächeln.»Fahren Sie fort.»
«Es war ein blutiger Kampf, Sir, und wir waren schon vor dem Gefecht äußerst knapp an Leuten. «Er sah die Verachtung im Blick des schmallippigen Kapitäns und fügte ruhig hinzu:»Das soll nicht als Entschuldigung gelten, Sir. Hätten Sie gesehen, wie unsere Leute an diesem Tage kämpften und starben, dann wüßten Sie, was ich mit meinen Worten gemeint habe.»
Er spürte ihr Schweigen, es war unheimlich wie die Ruhe vor dem Sturm. Aber er konnte jetzt nicht mehr aufhören. Was wußten sie schon von alledem? Sie hatten vielleicht noch nie mit so unerfahrenen Offizieren und so schlecht ausgebildeten Leuten kämpfen müssen. Bolitho dachte an den Mann auf dem Operationstisch, der um sein Bein flehte, an den Marineinfanteristen, der als erster aus dem Mast gestürzt und in der See davongetrieben war. So viele waren es. Zu viele.
Er fuhr fort:»Der Franzose kam längsseits. Sie enterten uns oder versuchten es wenigstens. «Er stockte, sah wieder den französischen Leutnant zwischen die Schiffsrümpfe fallen.»Denn wir schlugen sie zurück. «Er wandte sich ab und blickte direkt in Quinns verzweifeltes Gesicht.»Mr. Quinn half mir bis zu diesem Augenblick und stand im feindlichen Feuer, bis der Kampf abgebrochen wurde.»
Der Vorsitzende ergänzte:»Dann wurden Sie nach unten geschafft. Wie alt sind Sie eigentlich?»
«Diesen Monat werde ich einundzwanzig, Sir. «Er glaubte, jemanden hinter sich kichern zu hören.
«Und Sie traten mit zwölf Jahren in die Marine ein, wie die me i-sten von uns, wenn ich recht unterrichtet bin. Außerdem kommen
Sie aus einer alten Seefahrerfamilie. «Seine Stimme wurde plötzlich hart.»Nach Ihrer Erfahrung als Offizier des Königs, Mr. Bo-litho — hatten Sie zu irgendeinem Zeitpunkt während dieser unglückseligen Ereignisse den Eindruck, daß Mr. Quinns Verhalten Mangel an Können oder Mut aufwies?»
Bolitho erwiderte:»Nach meiner Meinung, Sir…«Er kam nicht weiter.
Der Vorsitzende beharrte:»Nach Ihrer Erfahrung!»
Bolitho fühlte sich verzweifelt, wie in einer Falle.»Ich weiß nicht, wie ich antworten soll, Sir.»
Er erwartete, zurechtgewiesen oder von der Verhandlung ausgeschlossen zu werden, aber der Vorsitzende fragte lediglich:»Er war Ihr Freund, stimmt's?»
Bolitho blickte zu Quinn hinüber, haßte plötzlich die drei Kapitäne, die atemlosen Zuschauer, alles hier, und sagte mit fester Stimme:»Er ist mein Freund, Sir. «Er hörte das überraschte Gemurmel und fügte hinzu:»Vielleicht hatte er Angst, aber die hatten wir alle. Dies zu leugnen, wäre töricht.»
Bevor er sich wieder dem Tisch zuwandte, sah er, daß Quinn in einer rührenden Anwandlung von Trotz das Kinn hob.
Bolitho fuhr fort:»Sein Ruf war gut, er begleitete mich auf mehreren schwierigen und gefährlichen Unternehmen. Er wurde schwer verwundet und.»
Der schmallippige Kapitän lehnte sich vor und blickte seine beiden Kameraden an.»Ich glaube, wir haben genug gehört. Der Zeuge hat dem wenig hinzuzufügen. «Dann sah er Bolitho an.»Ich weiß, daß Sie ein eigenes Kommando abgelehnt haben, das Konteradmiral Coutts Ihnen anbot. Sagen Sie mir doch, geschah das aus Mangel an Ehrgeiz?»
Der Vorsitzende runzelte die Stirn und wandte sich dann um, als er das Scharren von Füßen hörte.
Ohne hinzublicken, wußte Bolitho, daß Pears aufgestanden war.
Der Vorsitzende fragte:»Sie wollen etwas sagen, Kapitän Pears?»
Die wohlbekannte, heisere Stimme war bemerkenswert ruhig.»Diese letzte Frage — ich möchte darauf antworten. Es war nicht Mangel an Ehrgeiz, Sir. In meiner Familie nennen wir es Treue, verdammt noch mal!»
Der Vorsitzende hob die Hand, um die plötzliche Erregung zu dämpfen.»Genauso ist es. «Bedauernd sah er Bolitho an.»Ich fürchte jedoch, daß Treue im Fall des Leutnant Quinn nicht genügt. «Damit stand er auf, und alle in der Kajüte erhoben sich ebenfalls, Zeugen wie Zuschauer.»Die Verhandlung wird vertagt.»
Draußen auf dem sonnenüberfluteten Achterdeck wartete Bolitho auf das Abrücken der Zuschauer.
Dalyell und der neue Leutnant Pointer standen bei ihm, als Quinn an Deck erschien. Er ging hinüber zu Bolitho und murmelte:»Ich danke dir für deine Worte, Dick.»
Der zuckte mit den Schultern.»Es scheint leider nicht viel genützt zu haben.»
Dalyell sagte:»Du hast mehr Mut als ich, Dick. Dieser fischäu-gige Kapitän hat mich völlig unsicher gemacht. Ich hatte schon Angst, wenn er mich nur ansah!»
Quinn sagte:»Trotzdem, der Vorsitzende hat recht. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr bewegen, ich war wie tot, konnte ke i-nem mehr helfen. «Er sah Cairns herankommen und fügte rasch hinzu:»Ich bin in meiner Kammer.»
Der Erste Offizier beugte sich über die Reling und warf einen Blick auf die längsseits liegenden Boote.»Hoffentlich sind wir bald wieder auf See.»
Die anderen entfernten sich, und Bolitho fragte:»Hat der Kommandant Quinns Chancen zunichte gemacht, Neu?»
Cairns betrachtete ihn nachdenklich.»Nein, ich tat es. Ich wurde Zeuge seines Versagens, war aber nicht so beteiligt wie du. Stell dir vor, du wärst von einem französischen Scharfschützen oder von einer Kettenkugel getroffen worden — meinst du, Quinn hätte das Vorschiff halten und die Enterer zurückschlagen können?«Er lächelte traurig und ergriff Bolithos Arm.»Ich verlange nicht von dir, daß du einen Freund verrätst, aber du weißt so gut wie ich, daß wir vor der Argonaute hätten die Flagge streichen müssen, wenn Quinn vorn das Kommando gehabt hätte. «Er blickte zur Back, wahrscheinlich sah er die Szene noch einmal vor sich, wie auch Bolitho sie wieder durchlebte. Er fügte hinzu:»Diese Menschenleben zählen mehr als die Ehre eines jungen Mannes.»
Bolitho fühlte sich elend. Er wußte, daß Cairns recht hatte, empfand aber nur Mitleid für Quinn.»Wie werden sie entscheiden?»
Cairns erwiderte:»Der kommandierende Admiral wird die Umstände in Betracht ziehen. Es hat lange genug gedauert, bis alles ans Licht gekommen ist. Er wird auch Quinns Vater kennen, dessen Macht in London. «Bolitho hörte Bitterkeit heraus, als Cairns hinzufügte:»Aufhängen wird man ihn nicht.»
Nach dem Lunch trat der Ausschuß wieder zusammen, und es erwies sich, daß Cairns recht gehabt hatte.
Der Untersuchungsausschuß hatte entschieden, daß Leutnant James Quinn wegen seiner im Kampf erhaltenen Verwundung nicht mehr in der Lage war, aktiven Dienst zu leisten. Nach Bestätigung des Urteils durch den Oberbefehlshaber sollte er ausgeschifft werden, um auf dem Festland eine Gelegenheit zur Rückkehr nach England abzuwarten. Dort würde man ihn dann entlassen.
Niemand außerhalb der Marine brauchte von dieser Schande zu erfahren — außer dem einen, den es wirklich anging. Bolitho bezweifelte, daß Quinn diese Bürde lange mit sich herumtragen konnte.
Zwei Tage später, als Quinns Schicksal noch unbestätigt war, lichtete die Trojan Anker und lief aus.
Er sollte offenbar doch noch eine Gnadenfrist bekommen.
Zweieinhalb Tage nach dem Auslaufen aus English Port steuerte die Trojan bei steifem, achterlichem Wind rechtweisend West unter Fock und gerefften Marssegeln. Es war eine gute Gelegenheit, die neuen Leute bei den verschiedensten Segelmanövern einzuexerzieren, zumal bei dem groben Seegang, der Spritzwasser über das Achterdeck schickte, während der Klüverbaum zum dunstigen Horizont wies.
Bis auf ein paar kleine Inseln weit an Steuerbord war die See leer, eine endlose, blaue Wüste mit langer, schaumgekrönter Dünung, welche für die Stärke des Windes zeugte.
Bolitho wartete am Backbord-Laufsteg; der Duft starken Kaffees wärmte ihm den Magen, während er sich auf die Übernahme der Nachmittagswache vorbereitete. Bei so vielen neuen Gesichtern und Namen, der ständigen Mühe, die guten Seeleute zu entdecken und auch die ungeschickten, die an jeder Hand fünf Daumen zu haben schienen, war er ständig hart eingespannt. Aber er spürte trotzdem die gespannte Atmosphäre an Bord: verwirrte Resignation in den unteren Decks, Verbitterung bei den Offizieren.
Die Trojan war nach Jamaika beordert worden, bis zum Deck vollgepackt mit Marineinfanteristen, die der Admiral schickte, um dort Gesetz und Ordnung aufrechtzuerhalten, und zwar auf des Gouverneurs dringende Bitten hin. Schwere See hatte viele von Jamaikas örtlichen Handelsschiffen zu Wracks geschlagen, und um das Maß voll zu machen, gab es Nachrichten von einem neuen Sklavenaufstand auf zwei größeren Plantagen. Rebellion schien überall in der Luft zu liegen. Wenn Britannien seine karibischen Besitzungen halten wollte, dann mußte es jetzt handeln und durfte nicht warten, bis Frankreich und möglicherweise auch Spanien einige der zahlreichen Inseln besetzte.
Bolitho vermutete, daß Pears diese Rolle mit anderen Augen sah. Während sich die Flotte auf die unvermeidliche Ausweitung des Krieges vorbereitete, während jedes Linienschiff dringend gebraucht wurde, schickte man ihn nach Jamaika. Seine Trojan hatte die Aufgabe eines Truppentransporters übernommen, mehr nicht.
Selbst des Admirals Erklärung, daß die Trojan keinen Geleitschutz brauche und daher andere Schiffe für weitere Einsätze freimache, hatte keine Wirkung. Jeden Tag ging Pears auf seinem Achterdeck auf und ab, zwar noch wachsam alles überblickend, was sein Schiff und dessen Routine betraf, aber im Innersten allein und distanziert von allem.
Es half ihm nicht gerade, dachte Bolitho, daß dicht unter dem Horizont die Südostküste von Puerto Rico lag, so nah der Stelle, wo Coutts sie alle in eine aussichtslose Schlacht verwickelt hatte. In mancher Beziehung wäre es besser gewesen, wenn die Argonaute den Kampf nicht abgebrochen hätte. Wenigstens wäre dann eine klare Entscheidung gefallen. Vielleicht machten auch die Franzosen jetzt ihren Kommandanten zum Sündenbock?
Aber, so hatte Cairns gesagt, es war besser, auf See zu sein und voll ausgelastet, als vor Anker zu liegen und darüber nachzudenken, was hätte sein können.
Bolitho blickte hinunter zum Batteriedeck, auf das Gewimmel von roten Uniformen und Waffen, als d'Esterre und der Hauptmann, der das Kontingent befehligte, alles zum hundertsten Male inspizierten.
«An Deck!»
Bolitho blickte auf, die Sonne brannte auf seinem Gesicht wie heißer Sand.»Segel Steuerbord voraus!»
Dalyell hatte Wache, und in Augenblicken wie diesem kam seine Unerfahrenheit zum Vorschein»
«Was, wo?«Er schnappte sich ein Teleskop von Fähnrich Pullen und lief zu den Steuerbordwanten.
Die Stimme des Ausgucks. verwehte mit dem Wind.»Kleines Segel, Sir! Anscheinend Fischer!»
Sambell, Steuermannsmaat der Wache, bemerkte säuerlich:»Gut, daß Admiral Coutts nicht hier ist, sonst müßten wir jetzt den blöden Fischer jagen!»
Dalyell blickte ihn an.»Entern Sie auf, Mr. Sambell. Melden Sie mir, was Sie sehen. «Er sah Bolitho an und lächelte verlegen.
«So lange ohne jeden Kontakt, ich war nicht darauf gefaßt.»
«So schien es, Sir. «Pears schritt über das Achterdeck, seine Schuhe quietschten auf dem Teer der Decksnähte. Er musterte die Stellung der Segel und trat dann zum Kompaß.»Hm.»
Dalyell blickte zu Sambell hinauf, der eine Ewigkeit brauchte, um den Aufstieg zu schaffen.
Pears ging zur Reling und musterte die Marineinfanteristen.»Ein Fischer? Mag sein. Aber diese kleinen Inseln bieten gute Versorgungschancen an Wasser und Feuerholz, es ist nicht zu gefährlich, wenn man die Augen offenhält.»
Er runzelte die Stirn, als Sambell schrie:»Er fällt ab, steuert eine der Inseln an, Sir.»
Dalyell leckte sich die trockenen Lippen und beobachtete den Kommandanten.»Hat uns gesichtet, glauben Sie nicht, Sir?»
Pears hob die Schultern.»Unwahrscheinlich. Unsere Mastspitze bietet einen viel besseren Überblick als ein tiefliegender Schiffsrumpf.»
Er rieb sich das Kinn, und Bolitho meinte, einen seltsamen Schimmer in Pears Augen zu sehen. Plötzlich sagte er heiser:»An die Brassen! Mr. Dalyell, wir ändern den Kurs um drei Strich. Steuern Sie Nordwest zu West. «Er schlug die riesigen Hände zusammen.»Los, beeilen Sie sich, Sir! Das muß aber noch schneller werden!»
Die Kommandos und das Getrampel brachten Cairns an Deck, der seine Augen bald überall hatte, während er zugleich nach einem Schiff Ausschau hielt.
Pears sagte:»Segel Steuerbord voraus, Mr. Cairns. Könnte ein Fischerboot sein, ist aber wenig wahrscheinlich. Sie fahren in diesen unsicheren Zeiten meist zu mehreren.»
«Ein Kaperschiff, Sir?»
Cairns sprach sehr vorsichtig. Bolitho vermutete, daß er während der vergangenen Wochen allerhand von Pears zu hören bekommen
hatte.
«Möglich.»
Pears rief nach d'Esterre, der von den eingeschifften Marineinfanteristen gestoßen und angerempelt wurde, als diese den Seeleuten an den Brassen auszuweichen versuchten.
«Hauptmann d'Esterre!«Pears blickte nach oben, als die Rahen herumflogen und das Schiff sich auf dem neuen Kurs überlegte.»Wie beabsichtigen Sie, Ihre Leute auf Jamaika zu landen, wenn dort Rebellion herrscht?»
D'Esterre erwiderte:»In Booten, Sir. Wir landen gruppenweise außerhalb des Hafens und besetzen sofort die Höhen, bevor wir Kontakt mit dem örtlichen Kommandeur aufnehmen.»
Pears lächelte beinahe.»Einverstanden!«Er zeigte hinüber zum Bootsdeck.»Wir werden später das Ausschiffen bei Dämmerung üben. «Er ignorierte d'Esterres erstaunten Blick.»Auf einer dieser Inseln dort drüben.»
Bolitho hörte ihn zu Cairns sagen:»Wenn dort ein verdammtes Piratennest ist, können wir es dabei mit Marineinfanteristen übe r-schwemmen. Noch dazu wird es eine gute Übung für die Leute sein. Wenn die Trojan schon als Truppentransporter eingesetzt wird, dann soll sie das auch gut machen. Nein, besser als gut.»
Cairns lächelte, froh über Pears alten Enthusiasmus.»Ave, Sir.»
Der Rudergänger rief:»Nordwest zu West liegt an, Sir!»
«Recht so, Mann. «Cairns wartete ungeduldig darauf, daß Bo-lithos Wache Dalyell ablöste, und sagte dann:»Ich wünschte bei Gott, wir könnten wieder einmal ein Schiff kapern. Schon um dem Herrn Konteradmiral Coutts etwas vorzeigen zu können!»
Pears hörte ihn und murmelte:»Kommen Sie, Mr. Cairns, nun ist es aber genug!«Das war auch alles, was er sagte.
Bolitho überwachte die Ablösung, ließ einen Teil seiner Leute auf ihre verschiedenen Posten gehen, den Rest hinunter zum Essen. Er war noch immer der Meinung, daß Coutts Versuch richtig gewesen war. Aber seiner Gründe dafür war er sich nicht mehr ganz so sicher.
Warum machte Pears sich die Mühe, die Marineinfanteristen wegen solch einer Nebensache zu landen? Aus verletztem Stolz? Oder erwartete er, sich auf Coutts Betreiben vor einem Kriegsgericht wegen des Gefechtes mit der Argonaute verantworten zu müssen?
Er hörte Pears zu Bunce sagen:»Wir legen sofort wieder ab, sobald die Truppen gelandet sind. Ich kenne diese Gewässer und habe eine Idee — oder sogar zwei.»
Bunce ließ ein glucksendes Lachen hören.»Und ob Sie diese Gewässer hier kennen, Käpt'n! Ich denke, es ist Gottes Wille, daß wir heute hier sind.»
Pears zog eine Grimasse.»Höchstwahrscheinlich, Mr. Bunce. Wir müssen abwarten — «, er wandte sich ab,»- und beten.»
Bolitho blickte Cairns fragend an.»Was meint er?»
Cairns hob die Schultern.»Er kennt diesen Teil der Welt wirklich, genau wie der Weise. Ich habe die Karte studiert, aber außer einigen Riffen und Strömungen fand ich keinerlei Grund zur Aufregung.»
Pears kam über das Achterdeck auf sie zu.»Ich gehe jetzt essen. Am Nachmittag werden wir die gesamte Besatzung mustern und die Boote ausrüsten. Schwenkgeschütze kommen in die Kutter und in die Prähme. Nur ausgesuchte Leute gehen mit. «Er blickte Bo-litho an.»Sie überwachen die Landevorbereitungen, Mr. Frowd wird Sie dabei unterstützen. Hauptmann d'Esterre übernimmt das Kommando über den Landungstrupp. «Er nickte kurz und schritt nach achtern, die Hände auf dem Rücken.
Cairns sagte leise:»Es freut mich für ihn, aber ich weiß nicht, ob sein Plan sehr klug ist.»
Brunce murmelte:»Meine Mutter hatte ein Sprichwort, Sir, über zu kluge Köpfe auf zu jungen Schultern. Das tut nicht gut, sagte sie. «Er kicherte in sich hinein und verschwand im Kartenraum.
Cairns schüttelte den Kopf.»Ich wußte gar nicht, daß der alte Kerl überhaupt je eine Mutter hatte!»
Die Trojan segelte bis auf etwa eine Meile an die nächste Insel heran und lag dann beigedreht, während die Boote zu Wasser gelassen und mit Marineinfanteristen besetzt wurden.
Die meisten Soldaten waren seit langem in Antigua gewesen und hatten nur durch einlaufende Schiffe von dem Krieg in Amerika gehört. Obgleich nur wenige von ihnen wußten, warum sie zu der Insel geschafft wurden, und diese wenigen es als eine Art Spaß auffaßten, waren sie doch alle willig und guter Stimmung.
Die aufgelockerte Atmosphäre veranlaßte Sergeant Shears zu dem ärgerlichen Ausruf:»Mein Gott, Sir, sie scheinen das für einen lächerlichen Sonntagsausflug zu halten!»
Die See war noch immer kabbelig, deshalb dauerte das Einschiffen und Ablegen länger als vorgesehen. Es wurde bereits dunkel, und der Sonnenuntergang vergoldete die Wellenkämme.
Bolitho stand im Heck des führenden Kutters, eine Hand auf Stockdales Schulter, der die Ruderpinne hielt und das Boot nach Bolithos Anweisungen steuerte. Es war schwierig, die Bucht zu finden, in der sie landen sollten, obgleich auf der Karte alles so klar und einfach ausgesehen hatte. Die grimmige Wahrheit war, daß niemand die genaue Position der Riffe und Sandbänke wußte. Sie hatten schon verschiedene schroffe Felszacken gesehen, die in der diffusen Beleuchtung seltsam glänzten und die jetzt schweigsamen Soldaten zu einigen ängstlichen Bemerkungen veranlaßten. In ihren schweren Stiefeln, über und über mit Waffen und Gepäck behangen, mußten sie wie Steine untergehen, wenn eins der Boote kentern sollte.
D'Esterre sagte:»Es steht fest, Dick, daß sie uns schon gesichtet haben. Sie werden sich nicht dem Kampf mit den vielen Soldaten stellen, aber wir werden sie auch nicht mehr vorfinden.»
Wieder zog ein Felsen in der kochenden Brandung dicht an ihren Steuerbord-Riemen vorbei, und Bolitho signalisierte mit einer weißen Flagge den Booten hinter ihnen:»Kurs genau halten. «Die Trojan war nur noch ein verschwommener Schatten und wollte offenbar den günstigen Wind nutzen, um in Lee der Insel zu warten.
«Land voraus, Sir!»
Das war Buller vorn im Bug. Ein guter Mann, wie sich verschiedentlich gezeigt hatte. Seine Verwundung hatte er anscheinend vergessen. Er war glücklich dran, es so leicht verwinden zu können, dachte Bolitho.
Wie Mönche in dunklen Kutten, so ragten einige schroffe Felsen auf beiden Seiten des Bootes auf, während genau vor dem Schwenkgeschütz im Bug ein Streifen leuchtenden Sandes sichtbar wurde.
«Auf Riemen! Riemen ein!»
Seeleute sprangen bereits über Bord und in die schäumende Brandung, um das Boot an Land zu schieben.
D'Esterre stand im hüfttiefen Wasser und rief seinem Sergeanten zu, als erstes die höher gelegenen Stellen besetzen zu lassen.
Es war eine kleine Insel, nicht mehr als eine Meile lang, ihre Nachbarn waren sogar noch kleiner. Aber es gab hier Gesteinsmulden, in denen sich Süßwasser sammelte, und auch genügend Brennstoff für kleine, genügsame Fahrzeuge.
Bolitho watete an Land und mußte plötzlich an Quinn denken. Er hatte gehört, wie dieser Cairns bat, an dem Landungsunternehmen teilnehmen zu dürfen.
Cairns war aber kalt und förmlich, beinahe grob gewesen.»Wir brauchen erfahrene, ausgesuchte Leute, Mr. Quinn. «Das letzte war wie ein Schlag ins Gesicht gewesen:»Und zuverlässige.»
Fähnrich Couzens kam mit dem nächsten Kutter, und diesem folgte die rotgestrichene Barkasse der Trojan. Bolitho lächelte ein wenig. Frowd und der andere Hauptmann waren darin. Sie sollten etwas zurückbleiben für den Fall, daß die ersten Boote überraschend Abwehrfeuer ausgesetzt wurden.
«Stellungen wie befohlen besetzt!»
Stockdale schritt aus der Brandung, sein großes Entermesser wie ein Schwert über der Schulter tragend.
Unter geflüsterten Befehlen und Drohungen ihrer Unteroffiziere formierten sich die Marineinfanteristen zu ordentlichen Zügen, und auf ein weiteres Kommando hin marschierten sie den Hang hinauf, mit zunächst auf dem Sand knirschenden Stiefeln, dann dröhnend auf sonnengehärteter Erde.
Eine Stunde später war es dunkel, die Luft feucht und schwer von den Gerüchen verrotteter Vegetation und dem Kot der Seevögel.
Während Späher auf beiden Seiten vorauseilten, standen Bolitho und d'Esterre auf einem schmalen Hügelrücken, vor und hinter sich die jetzt dunkle See, kenntlich nur an dem gelegentlichen Aufleuchten eines Wellenkamms.
Alles schien verlassen und tot. Das unbekannte Fahrzeug war wohl zu einer anderen Insel oder in nordwestlicher Richtung zu den Bahamas gesegelt. Wenn Sambell das Schiff nicht selbst gesehen hätte, wäre dem Ausguck ein Irrtum zuzutrauen gewesen, vielleicht hätte er eine Lichtspiegelung, ein Dunstgebilde für ein Segel halten können.»
«Die ist nicht Fort Exeter, Dick. «D'Esterre stützte sich auf seinen Degen, die Ohren gespitzt, und lauschte auf das Rauschen des Windes in den Büschen.
«Ich wünschte, wir hätten die Kanadier bei uns. «Bolitho sah ein paar Seeleute auf dem Rücken liegen und in den Himmel starren. Sie konnten alles den anderen überlassen, hatten nur zu gehorchen, notfalls auch zu sterben.
Da hörten sie den nervösen Anruf eines Postens, und dann kam Shears den Hügel herauf. Er trug ein Gewirr von Schlingpflanzen über seiner Uniform, weshalb der Posten so überrascht gewesen war. Es erinnerte Bolitho an Major Pagets kleines grünes Cape.
«Ja?«D'Esterre beugte sich vor.
Shears rang nach Luft.»Es liegt dort, Sir! Dicht unter Land geankert. Kleines Fahrzeug, dem Aussehen nach eine Yawl.»
D'Esterre fragte:»Irgendwelche Lebenszeichen?»
«Es ist eine Wache an Deck, aber kein Licht, Sir. Die haben nichts Gutes im Sinn, wenn Sie mich fragen. «Er sah d'Esterres Lächeln und fügte mit fester Stimme hinzu:»Ein Fischer aus Antigua meint, sie müßten jetzt eigentlich Lichter an Deck und Fangnetze außenbords haben, Sir. Es ist eine bestimmte Fischart, die sie hier auf diese Weise fangen. Kein echter Fischer würde jetzt daliegen und schlafen!»
D'Esterre nickte.»Das hat Hand und Fuß, Sergeant Shears. Ich werde sehen, daß der Mann eine Guinea bekommt, wenn wir wieder an Bord sind, und Sie auch. «Er wurde wieder dienstlich und knapp.»Holen Sie Mr. Frowd, wir werden dann entscheiden, was zu tun ist. Lassen Sie die Yawl beobachten, und melden Sie es sofort, wenn jemand dort an Land geht.»
Als der Sergeant davoneilte, sagte d'Esterre:»Na, Dick, denkst du dasselbe wie ich? Ein Überraschungsangriff auf die Yawl?»
«Aye. «Er versuchte, sich das vor Anker liegende Schiff vorzustellen.»Der Anblick all deiner Marineinfanteristen sollte genügen, aber zwei bewaffnete Kutter wären sicherer, falls sie von deiner kleinen Armee nicht sonderlich beeindruckt sein sollten.»
«Einverstanden. Du und Mr. Frowd, ihr nehmt die Kutter, ich behalte den Fähnrich hier und schicke ihn zu euch, wenn etwas schiefgehen sollte. Also macht euch auf den Weg um den Felsen herum, aber geht kein Risiko ein. Nicht für eine verdammte Yawl!»
Bolitho wartete auf Frowd und dachte dabei an Pears beiläufige Erwähnung dieser kleinen Inseln. Für ihn war alles klar gewesen. Wenn das Schiff nichts Gutes im Schilde führte, mußte es beim ersten Warnzeichen sofort flüchten, wahrscheinlich unter Ausnutzung des günstigen Windes auf die offene See oder in ein anderes Versteck zwischen den Inseln. Sollte die Besatzung jedoch die Yawl verlassen und an Land fliehen, so liefen sie den Marineinfanteristen genau in die Arme. Auf alle Fälle würde die Trojan auf Lauer liegen wie ein Raubtier, würde den günstigen Strom und den ablandigen Wind geschickt ausnutzen und das kleine Fahrzeug in Blitzesschnelle überwältigen.
Auf offener See gab es kaum ein Schiff, das die langsame und schwerfällige Trojan nicht aussegeln konnte, aber in engen Gewässern, wo ein einziges falsches Ruderlegen Grundberührung oder Schlimmeres bedeuten konnte, mußte die schwere Artillerie der Trojan jeden Fluchtversuch vereiteln.
Frowd erschien und bemerkte grämlich:»Also ein Bootsangriff!»
Bolitho betrachtete ihn neugierig. Frowd konnte wahrscheinlich an nichts anderes denken als an sein nächstes Kommando, konnte nicht schnell genug von dem Schiff wegkommen, wo so viele seinesgleichen dienten, deren Vorgesetzter er jetzt sein sollte.
«Ja. Suchen Sie Ihre Leute aus, und dann ab in die Boote!»
Er bemerkte selbst die Schärfe in seiner Stimme. Warum reagierte er so? Sah er Frowds Einstellung als eine Herausforderung, wie Quinn einst Rowhurst gesehen hatte?
Mit umwickelten Riemen pullten die beiden Kutter leise in die Dunkelheit hinaus, weg von den anderen Booten, nach Osten zum entfernteren Ende der Insel. Der widrige Wind und die kurze steile See machten jeden Schlag schwierig und anstrengend.
Aber Bolitho kannte seine Leute allmählich. Sie waren bestimmt wieder frisch, wenn es nachher erforderlich wurde. Das hatte sich schon bei früheren Gelegenheiten erwiesen. Er kämpfte sich durch die kabbelige See ohne den geringsten Zweifel an diesen schweigsamen, hart arbeitenden Männern und hoffte nur, daß sie ihm das gleiche Vertrauen entgegenbrachten.
Es wäre ein Witz, wenn sie nach dieser Schleichfahrt lediglich verängstigte Händler oder Fischer anträfen, die bei den rüden Weckrufen der Marineleute erschreckt auffuhren. Nicht so witzig wäre es allerdings, nachher dem Kommandanten davon Bericht zu erstatten.
«Da scheint jemand zu kommen, Sir!»
Bolitho kletterte nach vorn zum Ausgucksmann. Er sah die beiden Seeleute, die er an Land geschickt hatte, sich klar gegen den helleren Himmel abzeichnen. Einer von ihnen hob ganz langsam den Arm über den Kopf.
Wie laut alles schien — das um die verankerten Boote glucksende Wasser, das ferne Donnern der Brandung und das Zischen, mit dem sie aus einer verborgenen Höhle wieder ausströmte.
Sie hatten diesen winzigen Einschnitt vor ein paar Stunden erreicht und sich hier erst einmal vor Anker gelegt, um noch so viel Schlaf wie möglich nachzuholen. Die meisten Seeleute schienen sich keinerlei Sorgen zu machen. Sie konnten überall schlafen, unbeeindruckt vom Dümpeln der Boote oder dem Gischt, der gelegentlich über ihre ohnehin feuchte Kleidung sprühte.
Frowd im anderen Boot meinte:»Es ist anscheinend schiefgegangen.»
Bolitho wartete noch ab und stellte dabei fest, daß die Leute an Land jetzt besser zu sehen waren. Der Morgen würde bald anbrechen.
Stockdale bemerkte trocken:»Das ist Mr. Couzens, nicht der Feind!»
Couzens rutschte den sandigen Hang herunter, watete und schwamm dann zu den Kuttern.
Als er Bolitho sah, keuchte er:»Hauptmann d'Esterre läßt sagen, daß Sie in einer halben Stunde mit dem Angriff beginnen sollen.»
Es klang so erleichtert, daß Bolitho vermutete, Couzens habe sich auf dem Weg hierher verirrt.
«Gut. «Angriff, das klang endgültig.»Welches Signal?»
Stockdale hob den Fähnrich wie ein Kind völlig unzeremoniell über das Dollbord.
«Ein Pistolenschuß, Sir. «Couzens sank erschöpft auf eine Ducht, aus seinen Kleidern rieselte das Wasser auf die Bodenbretter.
«Gut. Ruf die beiden Leute zurück. «Bolitho stieg nach achtern und hielt seine Uhr an die abgeschirmte Lampe. Es blieb nicht mehr viel Zeit.»Weckt die Leute, klarmachen zum Ablegen.»
Die Männer rührten sich, husteten und blickten sich um, um sich zu orientieren.
Aus der Richtung des Stromes konnte Bolitho erraten, wie die Yawl verankert war. Ihm fiel plötzlich Sparke ein, wie er den Angriff geplant und Gefühle beiseite geschoben hatte, nachdem der blutige Kampf vorüber war.
«Ladet eure Pistolen, aber laßt euch Zeit dabei.»
Wenn er sie antrieb oder sie seine Besorgnis über den rasch heller werdenden Himmel spürten, konnte wohl einer durchdrehen und vorzeitig abdrücken. Ein einziger Schuß hätte genügt.
Stockdale schwankte einmal über das Boot und kehrte dann nach achtern zurück.»Alles bereit, Sir!»
«Mr. Frowd?»
Der Leutnant bestätigte:»Fertig, Sir!«Trotz seiner angespannten Nerven mußte Bolitho fast lächeln. Sir. Frowd würde ihn nie beim Vornamen nennen, nicht in hundert Jahren.
«Klar bei Riemen!«Er hob den Arm.»Leise, Männer, wie die Feldmäuse. Riemen bei!»
Stockdales Stimme klang beruhigend.»Absetzen vorn!«Laß laufen an Backbord, Steuerbordseite, Ruder an!»
Ganz langsam, nur auf einer Seite pullend, drehten sie das Boot wie eine Krabbe und entfernten sich dann von ihrem kleinen Hafen.
Frowd folgte ihnen, und Bolitho sah den Bugmann das Schwenkgeschütz von einer Seite zur anderen drehen, als sollte es den Feind wittern.
Couzens flüsterte:»Da ist die Ecke, Sir!»
Bolitho studierte den Felsvorsprung, Couzens» Ecke«. Einmal um diese herum, waren sie in offenem Wasser und für jeden aufmerksamen Wachtposten sichtbar.
Es wurde so rasch hell, daß er das Grün an Land erkennen konnte, den aufsteigenden Gischt an einem Felsen am Strand, die Waffen im Bug, den Toppsgast Buller.»Donnerwetter, da ist sie, Sir!»
Bolitho sah den schwankenden Großmast und den kleineren Be-sanmast der vor Anker liegenden Yawl klar gegen den Himmel, obwohl der Rumpf noch im Schatten lag.
Eine Yawl war genau das richtige Fahrzeug für diese Gewässer zwischen den Inseln.
Er hörte das Gurgeln des Wassers am Bug und von achtern das gleichmäßige, gedämpfte Geräusch der umwickelten Riemen von Frowds Boot.
Stockdale legte die Pinne hart über und drehte den Bug des Kutters seewärts, so daß die Yawl jetzt zwischen ihnen und d'Esterres Marineinfanteristen lag.
Gleich war es soweit, gleich würde es losgehen. Bolitho hielt den Atem an und zog vorsichtig seinen Degen, obgleich er aus Erfahrung wußte, daß ein müder Posten kaum etwas anderes hören würde als die Geräusche seines eigenen Schiffes. Ein Fahrzeug vor Anker war stets erfüllt mit Geräuschen verschiedenster Art.
Aber es war noch immer ein gutes Stück zu rudern, darum rief er gedämpft:»Los, Jungs, legt euch in die Riemen!»
Der Kutter bewegte sich jetzt rasch auf den Backbordbug der Yawl zu. Bolitho sah die Ankerkette unter dem schnittigen Bugsprit, die lässig festgemachten Segel.
Der Knall eines Pistolenschusses klang wie die Detonation eines Zwölfpfünders in der stillen Morgenluft. Ein erregter Ausruf war an Deck der Yawl zu hören, als eine wellenförmige Linie von Köpfen, Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten auf dem Hügelkamm der Insel erschien. Dann wurde die Linie rot, als die Soldaten ihren Marsch hinab zum Wasser fortsetzten.
«Pullt! Mit allem, was ihr habt!«Bolitho beugte sich vor, als könne er durch die Gewichtsverlagerung noch zur Erhöhung der Geschwindigkeit beitragen.
Gestalten waren an Deck der Yawl erschienen, und ein einzelner Schuß erhellte den Großmast wie eine Flamme.
Über das Wasser hinweg hörten sie alle die Aufforderung d'Esterres an die Yawl, sich zu ergeben; die Reaktion war wirres
Geschrei, gefolgt vom Quietschen der Blöcke, durch die Tauwerk mit aller Geschwindigkeit hindurchgeholt wurde.
Bolitho vergaß einen Augenblick seine eigene Rolle in diesem Geschehen, als die Linie der Marineinfanteristen mit Präzision und ohne jede Eile anhielt und dann eine Salve über das Deck des Schiffes feuerte.
Danach gab es drüben keinerlei Bewegung mehr, und Bolitho befahl laut:»Klar zum Entern! Enterhaken fertig!«Aus dem Augenwinkel sah er Frowds Boot vorbeischießen, sah den Enterhaken durch die Luft und über das Schanzkleid der Yawl fliegen und die hierfür ausgesuchten Männer mit gezücktem Entermesser oder Beil über die Reling springen.
Schreiend und hurrarufend kletterten die Seeleute auf beiden Seiten an Bord, während die Schiffsbesatzung sich vor dem Großmast zusammendrängte, zu erschrocken, um sich zu rühren, geschweige denn Widerstand zu leisten. Ein paar Gewehre waren an Deck geworfen worden, und Bolitho lief mit Stockdale nach achtern, um sicherzustellen, daß keine weiteren Leute unter Deck verborgen waren und jetzt womöglich versuchten, ihr Schiff zu versenken.
Nicht einen einzigen Mann hatten sie verloren, und an Land sah er die Soldaten ihre Hüte schwenken und jubeln.
Frowd knurrte:»Ein Freibeuter, ganz klar!«Er zerrte einen Mann aus der Menge heraus. Er hatte zwar seine Waffen weggeworfen, war aber so behängt mit Pulver- und Munitionsbeuteln, daß er wie ein Pirat aussah.
Bolitho steckte seinen Degen in die Scheide.»Gut gemacht, Jungs! Ich schicke jemanden hinüber zu den Soldaten und…»
Es war Couzens, der den Alarmruf ausgestoßen hatte. Er deutete nach vorn, seine Stimme schnappte über:»Ein Schiff, Sir! Kommt dort um die Ecke!»
Gleichzeitig hörte er d'Esterre mit eindringlicher Stimme durch das Sprachrohr rufen:»Sofort von Bord! In die Boote!»
Frowd starrte noch immer auf die hübschen, rahgetakelten Masten und Segel des Ankömmlings, als dieser plötzlich Kurs änderte, wobei das leichte Schiff stark überholte.
Er fragte:»Wer, zum Teufel, ist das?»
Bolitho fühlte Finger auf seinem Arm und sah Buller, der die Augen nicht von dem schmucken Fahrzeug ließ.
«Das ist sie, Sir! Die Brigg, die ich gesehen habe und die dann abhaute, als die Spite entmastet wurde!»
Alles drehte sich in Bolithos Kopf wie ein Mühlrad: die Brigg, die Yawl, die darauf wartete, mehr Waffen und Munition zu laden oder zu löschen, d'Esterres letzter Befehl und seine eigene Entscheidung, die tief unter seinen rasenden Gedanken wartete.
Ein Blitz, gefolgt von einem dumpfen Knall, und eine Kanonenkugel orgelte über sie hinweg und schlug schwer auf der Insel ein. Die Marineinfanteristen marschierten in ungebrochener Ordnung zurück, und Bolitho spürte die Veränderung, die mit der Besatzung der Yawl vor sich ging. Furcht wandelte sich in Hoffnung, schlug sogar angesichts der unerwarteten Unterstützung in Jubel um.
«Was tun wir?«Frowd stand am Spill, den Degen noch in der Hand.»Die Brigg wird die Yawl durchsieben, wenn sie uns mit allen Geschützen beharkt!»
Bolitho dachte an Pears, an Coutts Enttäuschung, an Quinns Gesicht bei der Verhandlung.
Er schrie:»Kappt die Kette! Klar bei Großfall! Mr. Frowd, übernehmen Sie hier die Aufsicht! Stockdale, ans Ruder!»
Eine weitere Kugel schoß aus dem Frühdunst und krachte in einen der Kutter, der neben dem Bug dümpelte. Bevor er sich überlegte und versank, explodierte das geladene Schwenkgeschütz, und der Schrotthagel riß den Seemann nieder, der gerade nach vorn lief, um die Ankerkette zu kappen.
Mit nur noch einem einzigen Boot bestand keinerlei Aussicht mehr, d'Esterres Befehl auszuführen. Bolitho starrte die Brigg an, sein Herz war eiskalt vor plötzlicher Wut und unerwartetem Haß.
Und er wußte tief in seinem Innern, daß er gar nicht die Absicht hatte zu gehorchen.
Das Großsegel schwang an seinem Baum nach außen und donnerte wild, als die Ankerkette gekappt war und die Yawl unkontrolliert abfiel.
«Stützruder!»
Die Männer rutschten und taumelten zu den Schoten, die verblüffte Besatzung völlig ignorierend, während sie darum kämpften, die Yawl unter Kontrolle zu bringen.
Bolitho hö rte verwehtes Geschützfeuer und wandte sich gerade rechtzeitig, um den kleinen Besanmast über die Reling stürzen zu sehen, um Haaresbreite an Stockdale vorbei.»Kappen!»
Ein weiterer Einschlag erschütterte den Rumpf, und Bolitho hörte die Kugel durch das untere Deck donnern. Viele von solchen Treffern konnten sie nicht vertragen.
«Schickt die Gefangenen an die Pumpen!«Er drückte Couzens seine Pistole in die Hand.»Schießen Sie, wenn sie versuchen sollten, Sie anzugreifen!»
«Schiff ist unter Kontrolle, Sir!«Stockdale stand stämmig wie eine Eiche am Ruder und blickte auf das sich blähende Großsegel und den jetzt auch gesetzten Klüver, während das Land am Bug vorbeiglitt.
Aber die Brigg holte auf, krängte stark beim Wenden, um auf dem neuen Kurs an ihrem Gegner vorbeizusegeln.
Die Yawl hatte zwei leichte Schwenkgeschütze, aber sie waren so nutzlos wie eine einzelne Lanze gegen eine Kavallerieattacke. Die Männer waren wertvoller an den Schoten als an den Geschützen.
Wieder eine Reihe von Blitzen, und diesmal schlugen die Kugeln unterhalb der Wasserlinie ein.
Bolitho sah die Flagge an der Gaffel der Brigg, von der er schon gehört hatte: rote und weiße Streifen und einen Kranz von Sternen auf blauem Grund. Die Brigg war ganz neu und wurde offenbar von einem Könner geführt.
«Wir machen stark Wasser, Sir!»
Bolitho wischte sich das Gesicht ab und lauschte auf das Kreischen der Pumpen. Aber es war vergeblich, sie konnten der Brigg nicht entkommen.
Bösartiges Pfeifen hinter dem Ruder sagte ihm, daß sie jetzt in Reichweite der Gewehre waren.
Jemand schrie, dann sah er Frowd straucheln und gegen das Schanzkleid fallen, beide Hände um sein zerschmettertes Knie gekrallt.
Couzens erschien an der Luke, mit dem Rücken voran, die Pistole in den Niedergang gerichtet.»Wir sinken, Sir! Das Wasser steht im Laderaum!»
Eine Kugel schlug durch das Großsegel und durchschnitt Wanten und Stagen wie ein unsichtbarer Säbel.
Frowd keuchte:»Setzen Sie sie auf den Strand, das ist unsre einzige Chance!»
Bolitho schüttelte den Kopf. Saßen sie erst einmal auf, so wäre die Ladung — und er zweifelte nicht daran, daß sie aus Waffen bestand — noch immer intakt.
Mit plötzlicher Wut kletterte er in die Wanten und schüttelte drohend die Faust.
Seine Stimme ging unter im Wind und erneutem Kanonendonner, aber es verschaffte ihm eine gewisse Genugtuung, als er nun schrie:»Ich werde sie versenken, ihr verdammten Hunde!»
Stockdale beobachtete ihn, während die Insel jenseits der vom Kugelhagel aufgewühlten See langsam zurückblieb.
Gebe Gott, daß die Trojan rechtzeitig kommt, dachte er verzweifelt. Für uns ist es dann zu spät, aber von denen würde wenigstens keiner am Leben bleiben.