Als sie weiter aus dem Schutz der Insel ins offene Wasser trieb, wurde die Yawl rasch manövrierunfähig. Mit den schweren Schäden im Schiffskörper und dem Gewicht der Waffen und Munition ging sie mit jeder Welle ihrem sicheren Untergang entgegen.
Die Brigg hatte wieder gewendet und lag nun annähernd auf Parallelkurs, während ihre Geschützbedienungen weiter auf das kleinere Fahrzeug einhämmerten, um es zur Aufgabe zu zwingen. Da gab es keinen Gedanken an Schonung oder Rettung; selbst viele der entsetzten Gefangenen fielen unter dem mörderischen Feuer.
Bolitho fand immerhin noch so viel Zeit festzustellen, daß die Brigg, offensichtlich von einer hervorragenden Werft erst vor kurzem gebaut, nicht voll bewaffnet war, sonst wäre das Gefecht längst vorüber gewesen. Nur aus der Hälfte ihrer Stückpforten wurde gefeuert, und er nahm an, daß der Rest der Geschütze wohl noch im Laderaum seiner Yawl lag. Dies war der zweite Versuch: der erste hatte viele Menschenleben und den Verlust der Spite gekostet. Es schien, als sei die Brigg gefeit gegen alle Gefahren und würde auch jetzt wieder entkommen.
Es gab einen gewaltigen Ruck an Deck, der Großtopp stürzte mitsamt der Saling in einem Gewirr von Takelage und flatterndem Segeltuch herab. Sofort bekam das Schiff schwere Schlagseite, die Männer rutschten auf dem schiefliegenden Deck, und noch mehr abgetrennte Takelage kam von oben.
Aus der offenen Luke hörte Bolitho den heftigen Wassereinbruch und die Schreie der Gefangenen, als die See durch die zersplitterten Planken der Bordwand über sie hereinbrach. Er klammerte sich an die Reling und rief:»Entlassen Sie diese Männer, Mr. Couzens! Helft den Verwundeten!«Er starrte Stockdale an, der das nutzlos gewordene Ruder losließ.»Helfen Sie ihnen!«Er bückte sich, als weiteres Gewehrfeuer dicht über ihre Köpfe pfiff.»Wir müssen von Bord!»
Stockdale warf sich einen bewußtlosen Seemann über die Schulter und schritt dann an die Reling, um sich zu vergewissern, daß der übriggebliebene Kutter noch schwimmfähig war.
«Ins Boot! Reicht die Verwundeten hinunter!»
Bolitho spürte, wie das Schiff sich noch mehr überlegte, das schrägliegende Deck noch steiler wurde. Sie sackte über den Achtersteven ab, die Heckreling und der Stumpf des Besanmastes wurden schon überspült.
Wenn nur die Brigg mit dem verdammten Beschuß aufgehört hätte! Es bedurfte nur noch einer einzigen Kugel, und die Yawl mußte den Kutter mit sich in die Tiefe reißen. Er musterte die bewegte Wasserfläche mit ihren lebhaften, weißen Schaumkämmen. Sie hatten ohnehin nur eine geringe Überlebenschance. Auf der Insel, die Meilen entfernt schien, konnte er ein paar Rotröcke erkennen und vermutete, daß der größte Teil der Marineinfanteristen zurückrannte, um in die Boote zu gehen. Aber die Rotröcke waren keine Seeleute. Bis sie sie erreicht hatten, war vermutlich alles vorbei.
Couzens stolperte keuchend heran.»Der Bug ist noch aus dem Wasser, Sir!«Er duckte sich, als ein weiterer Schuß das Großsegel in Fetzen riß.
Stockdale versuchte, wieder an Deck zu klettern, aber Bolitho rief:»Bleiben Sie weg, sie sinkt rasch!»
Mit versteinertem Gesicht, das wie eine Maske wirkte, warf Stockdale die Fangleine los und ließ den Kutter mit der Strömung freitreiben. Bolitho sah Frowd mit seinem zerschmetterten Knie sich im Boot nach achtern kämpfen, um die sinkende Yawl im Auge zu behalten, sah ihn mit blutigen Fingern den hocherhobenen Degen über seinem Kopf schwenken.
Die Brigg kürzte Segel, die Fock verschwand ganz und gab den Blick auf den Rest ihres schnittigen Rumpfes frei.
Wollen sie uns retten oder umbringen? Bolitho sagte:»Wir müssen schwimmen, Mr. Couzens.»
Der Knabe nickte heftig, unfähig zu sprechen, schleuderte die Schuhe von den Füßen und zerrte krampfhaft an seinem nassen Hemd.
Ein Schatten bewegte sich in der offenen Luke, und Bolitho glaubte, ein Verwundeter sei noch unten, aber es war ein Leichnam, der in dem jetzt hochstehenden Wasser trieb.
Couzens starrte ins Wasser und murmelte:»Ich bin kein guter Schwimmer, Sir!«Er klapperte trotz der heißen Sonne mit den Zähnen.
Bolitho blickte ihn an.»Warum, in Dreiteufels Namen, sind Sie dann nicht in den Kutter gegangen?«Im selben Augenblick bereute er seine Worte und fügte ruhiger hinzu:»Wir werden zusammenbleiben. Ich sehe dort eine geeignete Spiere…»
Die Brigg feuerte wieder, die Kugel sprang über die Wellenkämme, an dem schwankenden Kutter vorbei und schlug wie ein angreifender Schwertfisch zwischen einige zappelnde Schwimmer.
Das war also der Grund des Segelkürzens! Sie wollten sichergehen, daß die britischen Streitkräfte auch wirklich vollständig vernichtet wurden, so daß jeder Offizier es sich künftig überlegen würde, wenn er ihnen den dringend benötigten Nachschub wegnehmen wollte.
Die Yawl legte sich jetzt ganz auf die Seite, wobei sie loses Gerät und Leichen in die Wassergänge und Speigatten kippte.
Bolitho behielt die Brigg im Auge. Ohne Couzens wäre er an Bord geblieben und hier gestorben, das war ihm klar. Wenn er ohnehin sterben mußte, war es besser, dem Gegner sein Gesicht zu zeigen. Aber Couzens verdiente einen solchen Tod nicht. Für ihn mußte es noch eine Chance geben.
Die Brigg legte das Ruder hart über, ihre Rahen gerieten in Unordnung, als sie von dem treibenden Wrack abdrehte. Er konnte den
Namen lesen, als sie ihm das Heck zuwandte: White Hills. Aus dem Heckfenster starrte ihn ein entsetztes Gesicht an.
«Er dreht ab! Was denkt sich dieser Verbrecher?«Bolitho sprach laut mit sich selbst, ohne es zu wissen.»Gleich wird er sich festsegeln!»
Der Wind war zu stark für die wenigen noch stehenden Segel der Brigg. In kürzester Zeit war sie hilflos, ihre Segel standen alle back, ein einziger chaotischer Protest.
Dann gab es einen halberstickten Knall, und im ersten Augenblick glaubte Bolitho, ein Mast oder eine der großen Rahen sei gebrochen. Dann sah er mit ungläubigen Augen ein riesiges Loch im Vormarssegel der Brigg klaffen, das nun vom Wind in Streifen gerissen und an den Mast geklatscht wurde.
Er fühlte, wie Couzens ihn am Arm packte:»Das war die Trojan, Sir! Sie ist gekommen!»
Bolitho wandte sich um und sah den Zweidecker scheinbar bewegungslos im Dunst stehen, starr wie eine Fortsetzung der Inselkette.
Pears mußte es auf die Sekunde genau berechnet, mußte abgewartet haben, bis der die Brigg behindernde Wind ihn langsam quer vor deren einzigen Fluchtweg trieb.
Zwei leuchtende Zungen zuckten aus der Back, Bolitho sah im Geiste die Geschützführer vor sich, als sei er mitten unter ihnen. Wahrscheinlich überwachte Bill Chimmo, der Stückmeister der Trojan, selbst jeden sorgfältig gezielten Schuß.
Er hörte den splitternden Krach, mit dem die beiden Achtzehnpfundkugeln sich ihren Weg ins Innere der Brigg bohrten.
Dann begann das Deck unter seinen Füßen wegzusacken, und während Couzens sich wie eine Riesenschnecke an ihn klammerte, sprang er über das Schanzkleid, aber nicht bevor er ein wildes Jubelrufen vom Kutter gehört und gesehen hatte, wie die leuchtende neue Flagge an der Gaffel der Brigg niedergeholt wurde!
Selbst auf diese Entfernung hätte die Trojan mit ihrer Steuerbordbreitseite die Brigg in wenigen Minuten zerschmettern können, und ihr Kapitän wußte es. Ein bitterer Augenblick für ihn, aber viele seiner Leute würden ihm dafür danken.
Keuchend und spuckend erreichte Bolitho mit Couzens die treibende Spiere und klammerte sich daran fest.
Er brachte es fertig zu sagen:»Ich denke, Sie haben mich gerettet!«Denn im Gegensatz zu Couzens hatte er vergessen, sich seiner Sachen zu entledigen oder wenigstens seinen Degen abzuschnallen; jetzt war er dankbar für den Halt, den die Spiere ihnen gab.
Als er den Kopf über die steilen Wellenkämme zu heben versuchte, sah er den Kutter wenden und auf sie zukommen; die Seeleute lehnten sich über Bord, um einige der Schwimmer aufzunehmen oder ihnen zu gestatten, sich außen am Boot anzuklammern, da es total überfüllt war. Weiter entfernt näherten sich jetzt auch die anderen Boote: die Marineinfanteristen und die kleine, zurückgelassene Bootswache, die aus Seeleuten bestand, schafften es besser und schneller, als Bolitho erwartet hatte.
Er rief:»Was macht die Brigg?»
Couzens starrte hinüber und antwortete:»Sie hat beigedreht, Sir! Sie läßt die Boote unbehelligt.»
Bolitho nickte, außerstande mehr zu sagen. Die White Hills hatte keine andere Wahl, besonders da d'Esterres Bootsgruppe es vermied, zwischen sie und die schreckliche Artillerie der Trojan zu geraten.
Die Kaperung der Brigg wog nicht all die Toten auf, aber sie bewies der Besatzung der Trojan, was sie zu leisten vermochte, und gab ihr einen Teil ihres Stolzes zurück.
Die restlichen Boote der Trojan waren ebenfalls zu Wasser gelassen worden und kamen rasch herbei, um sich an der Rettungsarbeit zu beteiligen. Bolitho sah die beiden Jollen und sogar die Gig über das Wasser tänzeln. Dennoch dauerte es noch eine volle Stunde, bis er und Couzens von dem über das ganze Gesicht grinsenden Fähnrich Pullen an Bord der Gig genommen wurden.
Bolitho konnte wohl ermessen, was die Verzögerung für Stock-dale bedeutet hatte. Der aber kannte ihn gut genug, um sich mit seinem von Verwundeten und halb Ertrunkenen überladenen Boot fernzuhalten, anstatt einem gesunden, unverletzten Leutnant den Vorzug zu geben, der noch dazu in vorläufiger Sicherheit war.
Ihre schließliche Rückkehr auf die Trojan war von gemischten Gefühlen begleitet: Trauer darüber, daß einige der älteren und erfahreneren Seeleute gefallen oder verwundet worden waren, gleichzeitig aber eine wilde Freude, weil sie allein gehandelt und gewonnen hatten.
Als die hübsch angestrichene Brigg unter das Kommando einer Prisenbesatzung gestellt worden war und die Seeleute auf beiden Seiten des Fallreeps der Trojan die zurückkehrenden Sieger mit Jubel begrüßten, hatten sie das Gefühl eines ungeheuren Triumphes.
Aber solche Augenblicke hielten niemals lange vor.
Als ein Seemann im Boot seinen Freund wachzurütteln versuchte, um ihm zu sagen, daß sie jetzt längsseits ihres eigenen Schiffes seien, stellte er mit ungläubigem Entsetzen fest, daß dieser tot war.
Die Jubelrufe wichen Gelächter, als Couzens nackt wie am Tage seiner Geburt durch die Pforte stieg mit aller Würde, derer er fähig war, während zwei grinsende Marineinfanteristen vor ihm das Gewehr präsentierten. Und als Stockdale Bolitho entgegenschritt, um ihn zu begrüßen, wobei sein schiefes, glückliches Willkommenslächeln mehr aussagte, als alle Worte es vermocht hätten.
Aber trotz allem war es Pears großer Tag. Breit und massig wie seine geliebte Trojan selbst, so stand er und beobachtete alles schweigend.
Als Couzens versuchte, sich möglichst schnell zu verstecken, rief er barsch:»Das ist keine Art, sich zur Schau zu stellen, nicht für einen Offizier des Königs, Sir! Wirklich, ich weiß nicht, was Sie sich dabei denken, Mr. Couzens!«Als der Junge mit hochrotem Kopf zum nächsten Niedergang rannte, fügte er hinzu:»Bin trotzdem stolz auf Sie!»
Bolitho überquerte das Achterdeck, seine nassen Stiefel quietschten laut.
Pears blickte ihn grimmig an.»Die Yawl verloren, eh? Beladen war sie wohl auch noch?»
«Aye, Sir, ich glaube, sie sollte die Brigg ausrüsten. «Er sah seine Leute vorbeihinken, teerige Hände klopften ihnen auf die Schultern, und fügte leise hinzu:»Unsere Leute haben sich tapfer geschlagen, Sir.»
Er beobachtete, wie die Brigg wieder Segel setzte, das zerschossene Marssegel bestand nur noch aus Fetzen. Er vermutete, daß Pears einen Steuermannsmaaten hinübergeschickt hatte, während die Marineinfanteristen die gefangene Besatzung durchsuchten. Frowd wurde möglicherweise als Prisenkommandant eingesetzt, das mochte ihn etwas aussöhnen mit seinem schlimm zugerichteten
Knie, denn was Thorndike und später vielleicht ein Krankenhaus auch für ihn tun konnten, hinken würde er wohl bis an sein Lebensende. Er hatte den Rang eines Leutnants erreicht, wußte aber wohl selbst am besten, daß diese Verwundung jeden weiteren Aufstieg verhindern würde.
Es war später Nachmittag, bis beide Schiffe die Inseln und, zu ihrer Erleichterung, auch die Riffe und Wirbel hinter sich gelassen und freien Seeraum gewonnen hatten.
Als d'Esterre auf die Trojan zurückkehrte, hatte er einen weiteren wichtigen Fund zu melden.
Der Kapitän der White Hilk war kein anderer als Jonas Tracy, der Bruder des Mannes, der beim Kapern des Schoners Faithful getötet worden war. Er hatte die feste Absicht gehabt, sich auch unter dem Beschuß der Trojan einen Weg freizukämpfen, ob hoffnungslos oder nicht. Aber das Glück war ihm nicht hold gewesen. Seine Besatzung war zum größten Teil neu und noch nicht auf einem Kriegsschiff ausgebildet, ein Umstand, der dazu beigetragen hatte, daß man einem alten Fuchs wie Tracy dieses Kommando übertragen hatte. Sein Ruf und die Liste seiner Erfolge hatten den Ausschlag gegeben. Tracy hatte gerade den Befehl zum Wenden gegeben, um eine unbekannte, schmale Durchfahrt zwischen den Inseln, von der er einmal gehört hatte, zu suchen. Seine Leute, ohnehin schon völlig verängstigt durch das plötzliche Auftauchen der Trojan, waren am Ende, als die zweite, sorgfältig gezielte Salve in den Rumpf der Brigg schlug. Eine Kugel war auf eine Lafette geprallt und zersplittert, ein Metallstück hatte Tracys Arm an der Schulter abgerissen. Der Anblick ihres zähen, stets fluchenden Kommandanten, der jetzt vor ihren Augen niedergerissen und verstümmelt worden war, hatte ihnen den Rest gegeben und sie bewogen, rasch die Flagge niederzuholen.
Bolitho wußte nicht, ob Tracy noch lebte. Es war eine Ironie des Schicksals, daß er mit seinen Kanonen auf den Mann gefeuert hatte, der mitverantwortlich war für den Tod seines Bruders.
Bolitho wusch sich in seiner kleinen Kabine, als er eine Bewegung an Deck hörte und den fernen Ruf eines Ausgucks vom Mast, daß ein Segel in Sicht sei.
Das andere Schiff erwies sich bald als eine Fregatte, die sich rasch näherte, dann beidrehte und ohne viel Umstände ein Boot zu Wasser ließ, das den Kommandanten herüberbrachte.
Bolitho warf sein Hemd über und eilte an Deck. Die Fregatte war die Kittiwake, die er schon in Antigua gesehen hatte.
Mit einem Zeremoniell, als läge sie sicher verankert auf der Reede in Plymouth, empfing die Trojan den Besucher. Während die Wachen das Gewehr präsentierten und die Bootsmannspfeifen schrillten, schritt Pears herbei, um den anderen Kommandanten zu begrüßen. Bolitho erkannte ihn, es war einer der Beisitzer des Untersuchungsausschusses bei Quinns Verhandlung gewesen, nicht der dünnlippige, sondern der andere, der, soweit sich Bolitho erinnerte, überhaupt nichts gesagt hatte.
Der Sonnenuntergang stand kurz bevor, als der Kapitän der Kittiwake sich verabschiedete, wobei sein Schritt nicht mehr ganz so fest war wie beim Anbordkommen.
Die Fregatte setzte wieder volle Segel, ihr Tuch glänzte wie goldene Seide in den letzten Strahlen der Sonne. Bald würde sie außer Sicht und ihr Kommandant frei sein von Admiralen und sonstigen Obrigkeiten. Bolitho seufzte.
Cairns gesellte sich zu ihm, beobachtete dabei die Wache, die das Segelsetzen vorbereitete.
«Sie kam mit Depeschen von Antigua«, sagte er.»Ist von ihrem Geschwader entlassen worden, um vor uns her nach Jamaika zu segeln. Wir sind also doch keine Ausgestoßenen mehr. «Seine Stimme klang, als sei er in Gedanken ganz woanders.
«Ist irgend etwas los?»
Cairns blickte ihn an, sein Gesicht glühte im letzten Sonnenlicht.»Kapitän Pears denkt, daß der Seekrieg im karibischen Raum beendet wird.»
«Nicht in Amerika?«Bolitho verstand das nicht.
«Wie ich ist auch er der Ansicht, daß der Krieg schon vorbei ist. Siege wird es geben, muß es geben, wenn wir auf die Franzosen treffen und sie sich stellen. Aber einen Krieg zu gewinnen, dazu gehört mehr als das, Dick. «Er klopfte ihm auf die Schulter und lächelte traurig.»Ich halte dich auf, der Kommandant möchte dich sprechen. «Damit ging er weiter und rief:»Mr. Dalyell, was ist das für ein wüstes Durcheinander? Schicken Sie die Toppsgasten nach oben und pfeifen Sie die Leute an die Brassen. Das ist hier ja der reinste Fischmarkt!»
Bolitho tastete sich durch den bereits in tiefem Dunkel liegenden Gang zu Pears Kabine.
Der saß an seinem Tisch und betrachtete mit grimmiger Konzentration eine vor ihm stehende Weinflasche.
«Setzen Sie sich!«befahl er.
Bolitho hörte das Stampfen nackter Füße über seinem Kopf und fragte sich, wie sie wohl mit dem Manöver zurechtkamen, ohne daß der Kommandant an seinem gewohnten Platz an der Querreling stand.
Er setzte sich.
Die Kajüte wirkte behaglich. Bolitho fühlte sich plötzlich müde, als sei alle Kraft aus ihm gerieselt wie Sand aus einem Stundenglas.
Pears verkündete langsam:»Wir bekommen gleich neuen Bordeaux.»
Bolitho leckte sich die Lippen.»Danke, Sir. «Er wartete ratlos. Erst Cairns, jetzt Pears, was hatten sie bloß?
«Kapitän Viney von der Kittiwake brachte Befehle vom Flaggschiff aus Antigua. Mr. Frowd ist mit sofortiger Wirkung auf die Maid of Norfolk versetzt worden. Ein bewaffneter Transporter.»
«Aber sein Bein, Sir?»
«Ich weiß. Der Arzt hat ihn notdürftig wieder zurechtgeflickt. «Sein Blick traf den Bolithos.»Was wünscht er sich am meisten?»
«Ein Schiff, Sir. Vielleicht eines Tages ein eigenes Kommando.»
Er sah im Geiste Frowds Gesicht an Bord der Yawl vor sich. Wahrscheinlich hatte er sogar dort an nichts anderes gedacht: ein Schiff, selbst ein bewaffneter Transporter, würde ihm für den Anfang genügen.
«Ich stimme mit Ihnen überein. Wenn er hier herumliegt, wird es zu spät. Wenn er dann nach Antigua zurückkommt — «, er hob die Schultern,»- kann sich sein Glück vielleicht schon gewendet haben.»
Bolitho blickte Pears an, fasziniert von seinem Sachverstand und Einfühlungsvermögen. Er hatte in Schlachten gekämpft, fuhr mit seinem Schiff jetzt Gott weiß welchen Unternehmungen in Jamaika entgegen und fand doch die Zeit, sich über Frowds Verwendung Gedanken zu machen.
«Dann ist da noch Mr. Quinn. «Pears öffnete die Flasche, wobei er sich zur Seite neigte, um die Bewegung des Schiffes auszugleichen.»Er ist nicht vergessen worden.»
Bolitho wartete und versuchte, Pears wahre Gefühle zu erraten.
«Er wird nach Antigua zurückkehren und dort eine Passage nach England bekommen. Den Rest wissen wir schon. Ich habe einen Brief an seinen Vater geschrieben, auch wenn das nicht viel helfen wird. Er soll aber verstehen, daß sein Sohn nur eine bestimmte Menge Mut besaß, und als ihn dieser verließ, war er hilflos wie Frowd mit seinem Bein. «Pears schob mit der Flasche einen dicken Briefumschlag in die Mitte des Tisches.»Aber er hat es versucht, und wenn mehr junge Leute wenigstens das täten, statt bequem zu Hause zu sitzen, sähe es besser bei uns aus.»
Bolitho blickte auf den dicken Brief: Quinns Leben.
Pears wurde beinahe lebhaft.»Aber genug jetzt davon. Ich habe anderes zu tun, Befehle zu diktieren.»
Er schenkte zwei große Gläser Bordeaux ein und schob sie über den Tisch, bis Bolitho eines davon nahm. Das Schiff holte so stark über, daß sie beinahe vom Tisch gerutscht wären.
Seltsam, daß sonst niemand anwesend war. Bolitho hatte d'Esterre erwartet oder vielleicht Cairns, sobald dieser mit dem Manöver an Deck fertig war.
Pears hob sein Glas und sagte:»Ich nehme an, dies wird eine lange Nacht für Sie werden. Aber glauben Sie mir, es gibt noch längere.»
Das erhobene Glas wirkte in seiner gewaltigen Faust wie ein Fingerhut.
«Ich wünsche Ihnen Glück, Mr. Bolitho, und, wie unser Master sagen würde, segeln Sie mit Gott.»
Bolitho starrte ihn an, sein Wein war noch unberührt.
«Ich übertrage Ihnen hiermit das Kommando über die White Hills. Wir werden die Prisenbesatzung morgen früh einteilen, wenn es hell genug ist, und die Verwundeten hinüberbringen.»
Bolitho versuchte, seines Erstaunens Herr zu werden. Er stotterte:»Der Erste Offizier, Sir, mit allem Respekt.»
Pears hielt sein Glas hoch. Es war leer, wie Probyns einst zu sein pflegte.
«Ich wollte ihn hinüberschicken. Zwar brauche ich ihn hier an
Bord, mehr denn je, aber er verdient längst ein eigenes Kommando, und wenn es auch erst nur eine Prise wäre. Aber er tat dasselbe wie Sie bei Konteradmiral Coutts und wies meinen Vorschlag zurück. «Er lächelte ernst» So liegen also die Dinge.»
Bolitho sah, daß auch sein Glas wieder gefüllt wurde, und sagte verwirrt:»Ich danke Ihnen, Sir!»
Pears zog eine Grimasse.»Also kippen Sie Ihren Bordeaux hinunter und gehen Sie sich verabschieden. Von nun an können Sie jemand anderem Ihre Meinung sagen!»
Bolitho stand draußen vor der Kajüte neben dem bewegungslosen Posten, als wäre alles nur ein Traum gewesen.
Er fand Cairns noch an Deck, gegen das Luvwant gelehnt und zu den Lichtern der Brigg hinüberblickend.
Bevor Bolitho den Mund öffnen konnte, sagte Cairns energisch:»Du gehst morgen als Prisenkommandant hinüber, das ist beschlossene Sache, und wenn ich dich in Eisen hinschaffen lassen muß.»
Bolitho stand neben ihm und nahm fast unbewußt die verschiedenen Geräusche wahr, das Knarren des Ruders, das Schlagen des Tauwerks gegen Mast, Stagen und Segel.
Ich nehme an, dies wird eine lange Nacht für Sie werden.
«Was war denn los, Neu?»
Er fühlte sich diesem ruhigen Schotten mit seiner weichen Sprache sehr nahe.
«Der Kommandant hat einen Brief bekommen. Ich weiß nicht, von wem, es ist nicht sein Stil, sich zu beklagen. Es war eine „freundliche" Mitteilung, wenn man es so nennen will, aus der Kapitän Pears erfuhr, daß er bei der Beförderung zum Flaggoffizier übergangen wurde. Kapitän wird er bleiben. «Er blickte zu den Sternen über der dunklen Takelage auf.»Und wenn die Trojan einmal außer Dienst gestellt wird, dann ist das das Ende seiner Laufbahn. Coutts ist nach London zur Admiralität beordert worden, um sich dort zu verantworten. «Cairns konnte seinen Ärger, seinen Schmerz nicht verbergen.»Aber er hat Vermögen und eine gesellschaftliche Stellung. Pears dagegen hat nur sein Schiff.»
«Ich danke dir, daß du mir das alles erzählt hast.»
Cairns Zähne leuchteten sehr weiß in dem schwachen Licht.»Weg mit dir, Mann! Los, pack deine Kiste!»
Als Bolitho sich zum Gehen wandte, fügte er leise hinzu:»Aber du verstehst? Ich konnte ihn doch jetzt nicht verlassen.»
Früh am nächsten Morgen lagen beide Schiffe beigedreht, und die Boote der Trojan begannen, die Verwundeten auf die Brigg hinüberzuschaffen. Auf der Rückfahrt brachten sie nach und nach die Besatzung der White Hills herüber in Gefangenschaft. Es mußte eines der kürzesten Kommandos der Seegeschichte gewesen sein, dachte Bolitho.
Noch immer erschien ihm alles unwirklich, und er ertappte sich dabei, verschiedene wichtige Dinge vergessen, andere dafür mehrmals getan zu haben.
Jedes Mal, wenn er an Deck ging, mußte er zu der Brigg hinüberblicken, die in der steilen See heftig stampfte. Einmal unter Segel, konnte sie jedoch fliegen, wenn es erforderlich wurde. Der Anblick war noch zu frisch in seiner Erinnerung.
Cairns hatte ihm mitgeteilt, daß Pears ihm gestatte, seine Prisenbesatzung selbst auszuwählen, und zwar genug Leute, um die Brigg in Sicherheit zu bringen oder einem schweren Sturm oder mächtigen Gegner davonzusegeln.
Stockdale brauchte er nicht erst zu fragen, der wartete bereits mit einem gepackten kleinen Seesack, seiner weltlichen Habe. Pears hatte Bolitho auch aufgetragen, den schwerverwundeten Kapitän Tracy nach Antigua mitzunehmen. Sein Zustand war so ernst, daß man ihn nicht mit den anderen Gefangenen zusammen abtransportieren konnte; andererseits würde er wenig Mühe verursachen.
Als die Zeit der Trennung näher rückte, spürte Bolitho, wie bewegt er war. Kleine Ereignisse aus den letzten zweieinhalb Jahren kamen ihm schlagartig in den Sinn. Es schien unglaubhaft, daß er die Trojan jetzt verlassen und sich zur Verfügung des Kommandierenden Admirals in Antigua halten sollte. Es war wie der Beginn eines neuen Lebens mit anderen Gesichtern, unbekannter Umgebung.
Er war überrascht und nicht wenig bewegt über die Anzahl der Leute, die freiwillig mit ihm gehen wollten.
Carlsson, der Schwede, der ausgepeitscht worden war; Dunwoody, der Müllerssohn; Moffitt, der Amerikaner; Rabbett, der ehemalige Dieb aus Liverpool, und der alte Buller, der Toppsgast, der die Brigg als erster wiedererkannt hatte. Er war zum Unteroffizier befördert worden, und das war ihm so unglaubhaft erschienen, daß er immer wieder erstaunt den Kopf schüttelte, als es ihm offiziell mitgeteilt wurde.
Da waren noch andere, ebenso feste Bestandteile der Trojan wie ihr Kommandant oder wie die Galionsfigur.
Er beobachtete, daß Frowd auf einem Bootsmannstuhl in den Kutter gefiert wurde, sein geschientes, bandagiertes Knie ragte hervor wie ein Elefantenzahn. Er schien wütend zu sein über die Würdelosigkeit, mit der er sein Schiff verlassen mußte.
Quinn hatte schon hinübergesetzt. Es würde schwierig sein, zwischen den beiden zu stehen, dachte Bolitho. Er hatte gesehen, daß Frowd Quinn voller Bitterkeit betrachtete. Wahrscheinlich sagte er sich, ob es gerecht war, daß Quinn, der von der Marine Ausgestoßene, verschont geblieben war, während er selbst zum Krüppel geschossen wurde.
Die meisten Verabschiedungen hatte Bolitho im Lauf der Nacht und des Morgens schon hinter sich gebracht: rauhes Händeschütteln vom Stückmeister und vom Bootsmann, verlegenes Grinsen von anderen, die er vom Knaben zum Mann hatte reifen sehen.
D'Esterre hatte schon einen Teil seines privaten, vorzüglichen Weinvorrats auf die Brigg hinübergeschickt; Sergeant Shears überreichte ihm eine kleine, aus Silberstücken selbstgefertigte Kanone zum Abschied.
Cairns überprüfte die Liste der Gegenstände und der Tätigkeiten, die notwendig waren, und sagte dann:»Der Weise sagt, daß es aufbrisen wird, Dick. Du gehst jetzt besser hinüber. «Er streckte ihm die Hand hin.»Ich sage dir hier Lebewohl. «Dann blickte er sich in der Offiziersmesse um, wo sie so viele gemeinsame Stunden verlebt hatten.»Es wird hier einsamer werden, wenn du weg bist.»
«Ich werde dich nicht vergessen, Neu. «Bolitho ergriff fest die dargebotene Hand.»Niemals!»
Sie schritten gemeinsam zur Niedergangstreppe, als Cairns plötzlich sägte:»Noch etwas. Kapitän Pears ist der Meinung, daß du noch einen Offizier mitnehmen solltest, der dich beim Wachegehen unterstützt. Einen Steuermannsmaaten können wir nicht entbehren, und Leutnants sind so rar wie Nächstenliebe, bis der Ersatz eintrifft. Es kommt also nur ein Fähnrich in Frage.»
Bolitho überlegte.
Cairns fuhr fort:»Weston wird jetzt kommissarischer Leutnant, Lunn und Burslem bleiben besser hier, um ihre Ausbildung zu beenden, also kommen nur Forbes und Couzens in Frage, die jung genug sind, wieder neu anzufangen.»
Bolitho lächelte.»Ich werde es ihnen selbst überlassen.»
Während die Offiziere zusahen, rief Erasmus Bunce, der Master, die beiden dreizehnjährigen Fähnriche herbei.
«Ein Freiwilliger wird gesucht, Gentlemen — «, Bunce betrachtete sie verächtlich,»- obgleich mir nicht klar ist, welchen Nutzen Mr. Bolitho von eurer Anwesenheit haben sollte.»
Beide traten vor, Couzens mit derart flehentlichem Blick in seinem runden Kindergesicht, daß Bunce ihn fragte:»Sind Ihre Sachen gepackt?»
Couzens nickte eifrig, aber Forbes war den Tränen nahe, während er den Kopf schüttelte.
«Los«, sagte Bunce,»laufen Sie, Mr. Couzens, lebhaft! Dem Herrn sei Dank, daß das Schiff endlich von Ihrem Übermut und Unfug befreit wird!«Er blinzelte Bolitho an.»Zufrieden?»
«Aye.»
Bolitho schüttelte die letzten Hände und versuchte, seine Bewegung zu verbergen.
D'Esterre war der allerletzte.»Viel Glück, Dick. Wir werden uns wieder begegnen. Du wirst mir fehlen.»
Bolitho blickte zur White Hills hinüber, sah, wie die Schaumkämme ihren Rumpf streichelten.
Die Segelorder war in seiner Tasche verstaut, in einem mehrfach versiegelten Umschlag. Er ging zur Pforte, sah die längsseits liegende Gig steigen und fallen. Es wird auffrischen, hatte Bunce gesagt. Vielleicht war das ganz gut, es würde ihn in Trab halten, ihm keine Zeit für Abschiedsschmerz lassen.
Cairns schaltete sich ein:»Hier ist der Kommandant.»
Pears kam gemächlich über das Achterdeck, seine Rockschöße blähten sich auf beiden Seiten wie Leesegel, während er seinen goldverbrämten Hut mit einer Hand festhielt.
«Wir wollen segeln, Mr. Cairns. Ich möchte diesen günstigen Wind ausnutzen. «Bolitho schien er zum ersten Mal zu sehen:»Noch immer hier, Sir?«Seine Augenbrauen hoben sich.»Bei meiner Seele…«Er vollendete den Satz jedoch nicht, sondern hielt Bolitho seine große Hand hin.
«Ab mit Ihnen. Grüßen Sie Ihren Vater, wenn Sie ihn das nächste Mal sehen. «Dann wandte er sich um und ging zum Kompaß.
Bolitho grüßte die Flagge, hielt seinen Degen an die Hüfte gepreßt und stieg eilig in das wartende Boot.
Die Riemen tauchten ins Wasser, und sofort blieb die Trojan achteraus; die Leute traten von der Reling zurück, um mit ihrer Arbeit fortzufahren, während andere aufenterten, um die Marssegel loszumachen.
Couzens starrte zum Schiff zurück, der Wind trieb ihm Tränen in die Augen. Es sah so aus, als ob er weinte. Was Bolitho nicht wußte: Es war der glücklichste Tag in des Fähnrichs bisherigem kurzem Leben.
Bolitho hob noch einmal grüßend die Hand und sah Cairns dasselbe tun. Von Pears war nichts zu sehen. Wie die Trojan, blieb auch er achteraus.
Bolitho wandte sich um und studierte die White Hills. Sie war sein, für kurze Zeit nur, aber immerhin.
Wie Bunce vorausgesagt hatte, wuchs der Wind rasch zum Sturm an, und damit verwandelten sich auch die weißen Schaumkämme in lange, tiefe Wellentäler mit gelblichem, verwehtem Gischt.
Die Prisenbesatzung ging mit grimmigem Ernst an die Arbeit. Sie wandten das Schiff nach Süden, während der Wind schralte, und braßten es so hart an, daß die Rahen keinen Finger breit zu bewegen waren.
Bolitho legte Rock und Hut ab und stand neben dem ungeschützten Ruder; seine Ohren dröhnten vom Brausen des Windes und der See, sein Körper triefte von Gischt.
Es war ein Glück, daß die White Hills ein Ersatzsegel für das zerschossene Vormarssegel an Bord hatte. Das zerrissene konnte nur noch zum Flicken verwandt werden.
Nur unter gerefften Marssegeln und Klüver, hart am Wind, jagte die White Hills nach Süden, weg von den Inseln und Riffen.
Quinn arbeitete mit steinernem Gesicht und fast wortlos an Deck, und Bolitho fragte sich, was er ohne ihn hätte tun sollen. Couzens hatte die Entschlossenheit und den Eifer von zehn Männern, aber
Erfahrung mit der Takelage in einem ausgewachsenen Sturm, die besaß er nicht.
Stockdale kam nach achtern und verstärkte die beiden Männer am Ruder. Wie Bolitho, so war auch er bis auf die Haut durchnäßt, seine Kleidung schmutzig von Teer und Salz. Er lächelte Bolitho durch die peitschenden Gischtschwaden zu.
«Feine kleine Dame, nicht?»
Den größten Teil des Tages fuhren sie nach Süden, aber gegen Sonnenuntergang flaute der Wind etwas ab, und die zerschunde-nen, atemlosen Seeleute konnten aufentern, um Großsegel und Fock zu setzen. Das zusätzliche Tuch gab der Brigg zwar noch mehr Schlagseite, aber sie lag jetzt stetiger und ließ sich besser steuern.
Bolitho rief Quinn zu:»Übernimm die Wache, ich gehe nach unten!»
Nach dem Lärm und dem Gewühl an Deck schien es unten beinahe ruhig zu sein, sobald er sich durch den engen Niedergang gezwängt hatte.
Wie klein sie wirkte nach den gewaltigen Ausmaßen der Trojan. Er tastete sich nach achtern zur Kajüte, einer Miniaturausgabe von Pears geräumigem Quartier. Sie wäre kaum groß genug gewesen, um Pears mächtigen Tisch aufzunehmen, dachte er. Aber es wirkte alles einladend und zu neu, um Spuren des vorherigen Bewohners zu zeigen.
Er wirbelte herum, als eine kochende See am Achterschiff vorbeidonnerte, dann trat er an die beiden Heckfenster. Nirgends konnte er aufrecht stehen, nur unter dem geschlossenen Oberlicht. Wie es dann in den Messen aussah, konnte er sich gut vorstellen. Als Fähnrich hatte er einst auf einer ähnlichen Brigg Dienst getan. Auch sie war schnell, lebhaft und fast niemals ruhig gewesen.
Er überlegte, was wohl aus Tracys anderem Schiff, der gekaperten Brigg geworden war, die er Revenge genannt hatte. Ob sie noch immer britische Geleitzüge angriff, reiche Ladung für willig angebotenes Prisengeld erbeutete?
Die Kabinentür flog auf, und Moffitt kam herein, einen Krug mit Rum und ein Glas in der Hand.
Er sagte:»Mr. Frowd meint, Sie könnten jetzt einen Schluck vertragen.»
Bolitho verabscheute Rum, aber er brauchte etwas Belebendes. Also trank er das gefüllte Glas auf einmal leer, obwohl er beinahe daran erstickte.
«Ist bei Mr. Frowd alles in Ordnung?«Er mußte ihn bald besuchen gehen, aber vorläufig wurde er noch an Deck benötigt.
Moffitt nahm das geleerte Glas und grinste bewundernd.»Aye, Sir. Ich habe ihn in seiner Koje festgelascht, dort ist er sicher.»
«Gut. Schicken Sie Buller zu mir.»
Bolitho lehnte sich zurück und fühlte, wie das Heck unter ihm erst hochstieg, dann wegsackte, während die See das Ruder wie ein Stück Treibholz schüttelte.
Buller kam in die Kajüte, den Kopf wegen der Decksbalken gesenkt.
«Sir?»
«Sie übernehmen die Aufsicht über die Lebensmittel. Suchen Sie sich jemanden, der kochen kann. Wenn es weiter abflaut, machen Sie das Kombüsenfeuer wieder an und sehen zu, daß die Leute etwas Heißes in den Magen bekommen.»
Buller zeigte seine starken Zähne.»Allright, Sir. «Dann war er auch schon wieder draußen.
Bolitho seufzte, das Aroma des Rums umwehte ihn wie eine Droge. Kommandokette. Er mußte sie aufbauen, niemand sonst war hier, der ihn hätte ermutigen oder tadeln können.
Sein Kopf fiel zur Seite, aber er schnellte mit plötzlichem Widerwillen hoch. Wie George Probyn, das war ein feiner Anfang! Er sprang auf und fluchte, als sein Kopf gegen einen Decksbalken krachte. Aber das machte ihn sofort wieder nüchtern.
Er ging weiter nach vorn, schwankend und sich bei den heftigen Bewegungen der Brigg festhaltend.
Winzige Kabinen auf beiden Seiten eines kleinen, quadratischen Raumes: die Messe. Vorräte, Schießpulver, dann weiter vorn im Gang schwankende Hängematten. Alles roch neu, bis hinunter zu den Messetischen, den großen Rollen aufgeschossenen, starken Tauwerks im Vorschiff.
Er fand den verwundeten Tracy in einer winzigen, noch nicht ganz fertiggestellten Kammer. Ein Seemann mit rotgeränderten Augen saß in einer Ecke, die Pistole in den Händen.
Bolitho betrachtete die Gestalt in der Koje: ein mächtiger, hartgesichtiger Mann von etwa dreißig Jahren, der trotz seiner fürchterlichen Wunden und des Blutverlustes sehr lebendig aussah. Aber mit dem an der Schulter abgerissenen Arm stellte er keine große Gefahr mehr dar.
Die anderen Verwundeten waren einigermaßen gut untergekommen und verhielten sich ruhig. Sie waren alle verbunden und mit Kissen, freien Hängematten, Decken und Kleidungsstücken einigermaßen gegen die heftigen Schiffsbewegungen abgestützt.
Bolitho hielt unter einer wild hin und her schwingenden Lampe inne und fühlte den Schmerz der Verwundeten, ihr fehlendes Verständnis der Situation. Er schämte sich, an seinen eigenen Vorteil zu denken. Die armen Teufel wußten nur, daß sie von ihrem Schiff weggeschafft wurden, das — gut oder schlecht — ihr Heim gewesen war. Wohin ging es jetzt? Mit irgendeinem heimkehrenden Schiff nach England, und dann was weiter? An Land geworfen, ein weiterer Haufen verkrüppelter Seeleute. Helden für die einen, Witzfiguren für die anderen.
«Bald bekommt ihr etwas Heißes zu essen, Jungs.»
Ein paar Köpfe wandten sich ihm zu. Einen Mann erkannte er als Gallimore, einen Seemann, der auf der Trojan als Anstreicher eingesetzt gewesen war. Er war durch Kartätschentreffer schwer verwundet, hatte den größten Teil der rechten Hand verloren und war von großen Holzsplittern im Gesicht getroffen worden.
Es gelang ihm zu flüstern:»Wo segeln wir hin, Sir?»
Bolitho kniete neben ihm nieder. Der Mann würde sterben. Er wußte nicht, wieso, aber es war ihm klar. Andere hier waren schwerer verwundet, trugen aber ihren Schmerz mit Trotz, mit wütender Resignation. Sie würden überleben.
Er antwortete:»Nach English Harbour. Die Ärzte dort können Ihnen helfen. Das werden Sie sehen.»
Der Mann faßte nach Bolithos Hand.»Ich will nicht sterben, Sir. Ich habe Frau und Kinder in Plymouth. «Er versuchte, den Kopf zu schütteln.»Ich muß doch nicht sterben, Sir?»
Bolitho fühlte einen Klumpen in seiner Kehle. Plymouth. Genausogut hätte es Rußland sein können.
«Ruhen Sie sich aus, Gallimore. «Er entzog ihm vorsichtig die Hand.»Sie sind unter Freunden.»
Er ging wieder nach achtern zum Niedergang, tief gebeugt wegen der Decksbalken.
Wind und Gischt waren ihm jetzt beinahe willkommen. Er fand Couzens mit Stockdale am Ruder, während Quinn sich mit zwei Seeleuten nach vorn hangelte.
Stockdale sagte mit seiner rauhen Stimme:»Alles hält gut, Sir. Mr. Quinn sieht nach den Luvbrassen. «Dann blickte er zum dunklen Himmel auf.»Der Wind hat noch einen Strich weiter geschralt, auch etwas abgeflaut.»
Der Bug hob sich himmelwärts und stürzte dann mit Donnern und Beben in ein Wellental. Es hätte genügt, einen Mann von den Rahen zu schleudern, wäre einer oben gewesen.
Stockdale murmelte:»Muß schlimm sein für die Verwundeten unten, Sir.»
Bolitho nickte.»Gallimore wird sterben, glaube ich.«»Ich weiß, Sir.»
Stockdale drehte das Rad ein paar Speichen weiter und sah das vibrierende Großmarssegel an, das prall wie ein Ballon an seiner Rah zerrte, als wolle es sich selbständig machen.
Bolitho musterte ihn. Natürlich wußte es Stockdale. Er hatte den größten Teil seines Lebens mit Leidenden und Sterbenden verbracht, erkannte den nahenden Tod mit sicherem Blick.
Quinn kam über das Deck nach achtern, taumelnd und strauchelnd bei jedem Sturz des Bugs in ein neues Wellental, der das ganze Schiff erzittern ließ.
Er rief:»Der Backbordanker hatte sich freigearbeitet, wir haben ihn wieder gekattet.»
Bolitho erwiderte:»Geh hinunter, stell zwei Wachen auf, nachher sprechen wir darüber.»
Quinn schüttelte den Kopf.»Ich möchte nicht allein sein, ich muß etwas zu tun haben.»
Bolitho dachte an den Mann aus Plymouth.»Geh zu den Verwundeten, James, nimm etwas Rum oder sonst etwas mit, was du unten findest, und gib es an die armen Teufel aus.»
Es wäre sinnlos gewesen, ihm von Gallimore zu erzählen, besser war es, den Sterbenden bis zuletzt am Trost, den die Flasche den Seeleuten spendet, teilhaben zu lassen.
Ein kleiner dunkler Italiener namens Borga schlüpfte mit Buller zusammen den Niedergang hinab. Also schien dieser bereits einen Koch gefunden zu haben. Hoffentlich war es eine gute Wahl. Heißes Essen nach einem harten Tag, das war etwas Gutes, konnte aber einen Aufruhr hervorrufen, wenn es nichts taugte. Er sah Stockdale an und mußte lächeln. Wenn sich das letztere einstellte, so würde es rasch erledigt werden.
Noch eine Stunde, und die Sterne schauten hervor, die rasenden Wolken waren vertrieben wie eine Bande Landstreicher.
Bolitho fühlte, daß die Brigg jetzt ruhig lag, und fragte sich, ob es wohl eintreten würde, was Bunce vorausgesagt hatte: zwei Tage Sturm, dann wieder Flaute.
Wie versprochen, wurde eine warme Mahlzeit fertiggestellt und zuerst an die Verwundeten ausgegeben, dann an die Seeleute, die in kleinen Gruppen zum Essenholen hinuntergingen.
Bolitho aß seinen Anteil mit großem Wohlbehagen, obgleich er nicht wußte, was es war. Es entpuppte sich dann als ein Gemisch aus gekochtem Fleisch, Hafermehl, gemahlenem Schiffszwieback, das Ganze mit etwas Rum abgeschmeckt. Er hatte noch nie etwas Derartiges gegessen, aber im Augenblick hätte das Mahl an der Tafel eines Admirals bestehen können.
Zu Couzens sagte er:»Tut es Ihnen jetzt leid, daß Sie unbedingt auf die White Hills wollten?»
Couzens schüttelte den Kopf, den Magen bis zum Bersten gefüllt mit Borgas erstem Produkt.
«Warten Sie, bis ich nach Hause komme, Sir. Die werden es mir nicht glauben!»
Bolitho dachte an Quinn, der unten allein bei den Verwundeten arbeitete, und dachte auch an den Brief, den Pears an Quinns Vater geschrieben hatte: Er hatte es versucht.
Weiter dachte er an die Post, die er für den Admiral in Antigua bei sich führte. Es war vielleicht besser, nicht zu wissen, was Pears über ihn geschrieben hatte, obwohl dies zweifellos seine nächste Zukunft beeinflussen würde. Aber er verstand Pears noch immer nicht so richtig, wenn er sich auch eingestand, daß er unter dessen Kommando mehr gelernt hatte, als er zuerst wahrhaben wollte.
Bolitho blickte zum Himmel auf.»Ich denke, das Schlimmste haben wir hinter uns. Sie holen jetzt besser Mr. Quinn an Deck.»
Couzens platzte heraus:»Aber ich kann allein Wache gehen, Sir!»
Stockdale grinste ein wenig.»Aye, Sir, er kann das jetzt. Ich werde an Deck bleiben. «Vor dem Fähnrich verbarg er sein Grinsen.»Obgleich ich sicherlich nicht benötigt werde.»
«Gut. «Bolitho lächelte.»Rufen Sie mich, wenn Sie Zweifel haben.»
Er zwängte sich durch den Niedergang, froh darüber, daß er Cou-zens Gelegenheit gegeben hatte, Verantwortung zu übernehmen, und überrascht, daß er es ohne Zögern getan hatte.
Auf dem Weg zu seiner Kabine hörte er aus Frowds Kammer lautes Schnarchen und das Hin- und Herrollen eines Glases auf dem Boden. Morgen würde es viel Arbeit geben. Erst einmal mußte ihr Standort und die Abdrift bestimmt werden, dann galt es, den neuen Kurs abzusetzen, der sie mit etwas Glück nach Antigua bringen sollte.
Auf der Karte erschien es nicht sehr weit, aber bei der jetzigen, widrigen Windrichtung mußten sie kreuzen; außerdem konnte es Tage dauern, bis sie die Strecke wieder wettgemacht hatten, die der Sturm sie nach Süden getrieben hatte.
Einmal in Antigua, was dann? Ob wohl der französische Leutnant noch dort war und einsame Spaziergänge in der Sonne unternahm, frei nur auf Grund seines Ehrenwortes?
Bolitho legte sich auf die Bank unter den beiden Heckfenstern, bereit, beim ersten ungewöhnlichen Geräusch an Deck zu eilen. Aber in wenigen Sekunden war er fest eingeschlafen.
Es war Mittag, zwei Tage nach ihrer Trennung von der Trojan. Was hatten diese Tage für eine Menge neuer Erfahrungen und Probleme mit sich gebracht!
Das Wetter stellte keine hohen Anforderungen mehr, die White Hills lag schräg, aber stabil auf Backbordhalsen. Sogar der mächtige Besan war gesetzt und stand prall gefüllt über dem Achterdeck. Das Schiff war jetzt trocken und sauber nach dem Sturm, und die Behelfsroutine, die Bolitho zusammen mit Quinn und Frowd ausgearbeitet hatte, funktionierte gut.
Frowd saß auf der Ladeluke, sein Bein als ständige Mahnung ausgestreckt.
Couzens stand am Ruder, während Bolitho und Quinn ihre Se x-tanten ablasen und ihr Besteck verglichen.
Bolitho sah Dunwoody an die Leereling gehen und ein Gefäß mit Unrat auskippen. Er kam gerade aus dem Mannschaftsdeck, wahrscheinlich von Gallimore. Dieser war ins Kabelgatt verlegt worden, den einzigen Ort, wo der starke Teergeruch des Tauwerks den Gestank einer brandig gewordenen Wunde erträglich machte.
Quinn sagte müde:»Ich glaube, wir haben beide recht, Sir. Wenn der Wind so bleibt, sollten wir morgen Land sichten.»
Bolitho gab Couzens seinen Sextanten. Quinn war also wieder beim Sir angelangt, das letzte Bindeglied zerbrochen.
Er sagte:»Ja. Morgen müßten wir die Insel Nevis in Sicht bekommen, dann bis Antigua nichts mehr.»
Er spürte einen unerträglichen Schmerz bei dem Gedanken, die White Hills wieder abgeben zu müssen. Es war natürlich lächerlich nach den paar Tagen, aber welches Selbstvertrauen hatte sie ihm gegeben, welche neuen Erkenntnisse vermittelt! Er blickte über das sonnenbeschienene Deck, und auch dieses erschien ihm nicht mehr so klein und eng wie in den ersten Tagen, als er es noch mit den gewaltigen Decks der Trojan verglich.
Einige der Verwundeten ruhten im Schatten, gemütlich plaudernd und die Tätigkeit der anderen mit fachmännischen Blicken begutachtend.
Bolitho fragte Quinn:»Was wirst du später machen, James?»
Quinn wandte den Blick ab.»Wahrscheinlich das, was mein Vater möchte. Mir scheint, es ist mein Los, immer Befehlen gehorchen zu müssen. «Er blickte Bolitho plötzlich voll an.»Eines Tages, wenn du möchtest, ich — ich meine, wenn du nichts Besseres vorhast, würdest du mich dann mal in London besuchen?»
Bolitho nickte und versuchte, seine Verzweiflung abzuschütteln. Es brachte Quinn genauso um wie Gallimore seine Wunden.
«Ich komme gern, James — «, er lächelte,»- obwohl dein Vater nicht begeistert davon sein wird, einen kleinen Leutnant in seinem Haus zu empfangen. Ich rechne damit, daß du bereits ein reicher Mann bist, wenn ich nach London komme.»
Quinn blickte ihm forschend ins Gesicht. Irgend etwas in Bo-lithos Ton schien ihn zu trösten, und er sagte:»Ich danke dir dafür, und für vieles andere auch.»
«An Deck! Segel in Luv voraus!»
Bolitho starrte hinauf zum Ausguck, er sah die White Hills vor sich wie ein Kreuz auf der Karte. Es gab hier so viele Inseln, französische, britische, holländische. Das Segel gehörte möglicherweise zu einem Schiff einer dieser Nationen.
Seit die Kittiwake Antigua verlassen hatte, konnte sich alles mö gliche ereignet haben: Frieden mit den amerikanischen Rebellen, Krieg mit Frankreich.
Plötzlich merkte er, daß alle ihn ansahen.
«Entern Sie auf, Mr. Quinn, nehmen Sie ein Glas und melden Sie, was Sie sehen«, sagte er.
Frowd stöhnte, als Quinn an ihm vorbeilief.»Das verdammte Bein! Ich wäre schon längst oben, wenn dieser. «Bis er sich eine passende Beleidigung für Quinn ausgedacht hatte, war dieser allerdings schon in den Wanten.
Bolitho schritt aufgeregt an Deck auf und ab, wenn er sich auch bemühte, äußerlich ruhig zu erscheinen. Vielleicht war es ja ein Spanier, südwestwärts zum Festland unterwegs mit all seinen Schätzen. Unter diesen Umständen würde er sicher die White Hills für einen Freibeuter halten und bald abdrehen. In diesen Gewässern konnte man unter einem Dutzend von Feinden wählen.
«An Deck! Es ist eine Brigg!»
Einer der Verwundeten rief mit dünner Stimme:»Hurra, Jungs, dann ist es eine von den unsrigen!»
Aber Frowd knurrte gequält:»Sie wissen, was ich denke, nicht wahr?»
Bolitho blickte ihn an, ihm lief es kalt über den Rücken. Natürlich, die grausame Möglichkeit bestand. Dabei waren sie schon so weit gekommen, und, wie er glaubte, mit Erfolg. Es gab noch eine Chance.
Er versuchte, seine Stimme zu beherrschen, als er nun rief:»Behalte sie im Auge!«Zu Couzens sagte er etwas ruhiger:»Wir werden sie bald näher zu Gesicht bekommen, denke ich. «Er sah, wie das Begreifen den Glanz von Couzens Augen löschte.
«Alarm! Klar Schiff zum Gefecht! Laden, aber noch nicht ausfahren!»
Er beobachtete das Deck, die wenigen Geschütze, die ihnen zur Verfügung standen. Genug, um eine unbewaffnete Yawl zu versenken, aber wenn das herankommende Fahrzeug wirklich Tracys früheres Schiff sein sollte, dann waren sie nutzlos.