Fähnrich Couzens kroch auf Händen und Knien zu Bolitho auf dem Steilhang hin.
«Alles erledigt, Sir!«Er blickte hinunter zum Meer und den abweisenden Umrissen des Forts.
Bolitho nickte. Trotzdem gingen ihm noch ein Dutzend Fragen im Kopf herum. Waren die Waffen der Seeleute überprüft worden, um sicherzustellen, daß nicht irgendeine ängstliche Seele keine Munition im Lauf hatte? Hatte Couzens ihnen die lebenswichtige Bedeutung absoluter Lautlosigkeit eingehämmert? Aber jetzt war es zu spät. Er mußte den Männern vertrauen, die er geduckt hinter sich wußte, in der ihnen unbekannten Umgebung nervös die Waffen umklammernd.
Wenigstens schien der Mond nicht' dafür hatte sich jedoch der Wind völlig gelegt, lediglich das regelmäßige Klatschen der Brandung war zu hören. Es würde schwierig sein, die Leute unbemerkt hinunter an den Strand und hinüber zur Insel zu führen, da kaum ein Geräusch ihre Annäherung überdeckte.
Er dachte an d'Esterres kühle Einschätzung der Verteidigungsanlagen. Er hatte das Fort von drei verschiedenen Punkten aus eingehend durch das Glas studiert und herausgefunden, daß es zumindest acht schwere und mehrere kleinere Geschütze besaß. Die Garnison, obgleich offensichtlich nicht vollzählig, schien sich auf rund vierzig Mann zu belaufen. Allerdings war er der Ansicht, daß bereits ein Dutzend Leute zur Verteidigung ausreichten und mit Leichtigkeit einen Frontalangriff abschlagen konnten. Es war ein Wunder, daß nicht schon irgendein Jäger oder Waldläufer auf die verborgenen Soldaten gestoßen war, doch außer den paar Gestalten auf der Insel und den Männern, die das Boot ruderten, hatten sie keine Menschenseele gesehen. Der französische Offizier schien noch im Fort zu sein, obwohl ihnen der Zweck seines Besuchs weiterhin rätselhaft blieb.
Stockdale flüsterte:»Mr. Quinns Gruppe ist eingetroffen, Sir.»
«Gut. «Der arme Quinn sah jetzt schon aus wie der Tod, dabei hatte es noch gar nicht angefangen.»Er soll sich bereithalten.»
Bolitho richtete sein Glas auf den Logger, sah aber nichts als dessen dunkle Silhouette. Kein Ankerlicht verriet seine Anwesenheit, auch der vorher noch zu hörende Gesang Betrunkener war verstummt.
Eine Hand berührte seine Schulter, und er hörte den Kanadier flüstern: «Los!»
Bolitho stand auf und folgte dem Mann den Steilhang hinab zum Wasser. Dabei trat er Sand und Steine los und fühlte, wie ihm der Schweiß über den Körper lief. Es war, als marschierten sie nackt gegen gespannte Gewehre, die sie jeden Augenblick niedermähen konnten.
Zu spät, zu spät.
Stetig folgte er dem Schatten des Kanadiers und wußte die gesamte Gruppe dicht hinter sich. Er konnte sich sogar ihre Gesichter vorstellen: Rowhurst, der Artilleriemaat, Kutbi, der großäugige Araber, Rabbett, der kleine Dieb aus Liverpool, der nur durch seine freiwillige Meldung zur Marine dem Strick entgangen war.
Die Geräusche der See kamen näher, hießen sie wie alte Freunde willkommen und gaben ihnen Zuversicht.
Sie duckten sich hinter einige trockene Büsche, die von oben viel größer gewirkt hatten, und starrten von dieser letzten Deckung aus hinüber zum Fort.
Der Kanadier beugte sich vor.»Dies sind die Führungstaue für das Floß«, flüsterte er.
Bolitho sah die großen Balken, an denen die Taue befestigt waren, und hoffte nur, daß der von ihnen errechnete Wasserstand stimmte, denn wenn die Ebbe schon stärker fortgeschritten war und das Floß auf Grund saß, hätte man eine ganze Armee gebraucht, um es anzuschieben. Er dachte auch an die beiden schweren Geschütze, die auf das Festland und den jetzt unsichtbaren Damm gerichtet waren. Er bezweifelte, daß die Garnison ihnen in dem Fall Zeit lassen würde, ihren Irrtum zu bedauern.
Ob Paget wohl von einem günstigen Beobachtungspunkt aus, kochend vor Ungeduld, ihren Vormarsch verfolgte?
Dann brachte er seine abschweifenden Gedanken unter Kontrolle. Dies war nicht der rechte Ort, um nervös zu werden.
Der Späher streifte sein Lederwams ab und sagte leise:»Dann gehe ich jetzt los. «Es hätte ebensogut eine Bemerkung über das Wetter sein können.»Wenn ihr nichts hört, könnt ihr nachkommen.»
Bolitho berührte die dick eingefettete Schulter des Mannes und zwang sich zu sagen:»Viel Glück.»
Der Späher verließ den Schutz der Büsche und ging ohne Eile zum Strand hinab. Bolitho zählte seine Schritte, vier, fünf, sechs, dann hatte er das Wasser erreicht und war kurz darauf verschwunden.
Die Posten auf dem Fort gingen ihre Wache im Dreistundenrhythmus, vielleicht weil so viele Kameraden fehlten. Hoffentlich machte sie das besonders müde.
Die Minuten schlichen dahin, einige Male glaubte Bolitho, etwas zu hören, und erwartete Alarm.
Rowhurst murmelte:»Das sollte lange genug sein, Sir. «Er hatte sein Entermesser bereits gezogen.
Bolitho drehte sich im Dunkeln nach ihm um. War er so ungeduldig, oder dachte er, sein Leutnant habe den Mut verloren, und wollte ihn aufrütteln?
«Noch eine Minute«, sagte er, und dann, an Couzens gewandt:»Mr. Quinn soll sich bereithalten.»
Wieder mußte er seine abschweifenden Gedanken im Zaum halten. Hatte Quinn überprüft, ob die Leitern umwickelt waren? Er mußte einfach daran gedacht haben.
Er nickte Rowhurst zu.»Sie nehmen das linke Tau. «Dann zu Stockdale:»Und wir das rechte.»
Die Seeleute waren in zwei Gruppen aufgeteilt' er sah sie über den offenen Strand zu den schweren Balken schleichen, dann hangelten sie sich an den durchhängenden Tauen entlang, bis ihre Be ine und kurz danach der ganze Körper von der starken Strömung erfaßt wurden.
Nach der Hitze des Tages fühlte sich das Wasser wie kühle Seide an. Bolitho zog sich an dem Seil weiter, es war so fettig wie des Spähers Schulter.
Jeder Mann war extra ausgesucht worden, trotzdem hörte er einige von ihnen grunzen und keuchen und fühlte auch seine Arme vor Anstrengung schmerzen.
Dann waren sie plötzlich angelangt und zogen sich schwe igend, mit weit aufgerissenen Augen nach einem Angriff aus dem Dunkel ausspähend, auf den Ponton hinauf. Statt dessen trat der Späher aus dem Schatten und knurrte:»Alles erledigt. Er ist nicht einmal aufgewacht.»
Bolitho schluckte. Er brauchte keine weiteren Einzelheiten zu hören. Der unglückliche Posten mußte eingeschlafen sein, um erst aufzuwachen, als des Spähers doppelschneidiges Jagdmesser bereits seine Kehle durchschnitt. So sagte er nur zu Rowhurst:»Sie wissen, was zu tun ist. Sammeln Sie drüben die anderen auf, und lassen Sie das Ding von der Strömung zurücktreiben.»
Dann stieg Bolitho vorsichtig von der Verladerampe an Land und stieß dabei gegen den Arm des Toten. Er versuchte, sich genau an alles zu erinnern, was er gesehen hatte: Das Fort lag etwa eine halbe Meile entfernt, nein, weniger. Die Posten würden zur Seeseite hin aufpassen, wenn überhaupt. Sie hatten allen Grund, sich sicher zu fühlen. Der Logger hatte eine Ewigkeit gebraucht, um die Spitze der Insel zu umrunden. Selbst wenn sie nur blindlings feuerten, konnten sie ein großes Kriegsschiff im Nu zum Wrack schießen. Niemand würde mit einem Angriff von Land aus rechnen, da nicht einmal Boote zum Übersetzen vorhanden waren.
Stockdale flüsterte heiser:»Das Floß ist freigekommen, Sir.»
Der Ponton glitt geräuschlos zum Festland, sein Umriß verschwamm mit dem Schatten der hohen Steilküste.
Bolitho schlich weiter in Richtung Fort, die Leute schwärmten nach beiden Seiten aus. Jetzt fühlte er sich wirklich allein und abgeschnitten von jeder Hilfe, wenn etwas schiefgehen sollte.
Nachdem sie sich eine Weile vorwärts getastet hatten, entdeckten sie einen flachen Abzugsgraben und krochen dankbar darin weiter.
Bei einem Halt stützte Bolitho sein Glas auf den sandigen Grabenrand und versuchte ein Lebenszeichen zu entdecken' aber das Fort wirkte so ausgestorben wie die ganze Insel. Das ursprüngliche Gebäude war von den ersten Siedlern zum Schutz gegen die Indianer errichtet worden und seit langem durch Feuer und Kämpfe zerstört. Diese verwegenen Abenteurer müßten lachen, wenn sie uns jetzt sehen könnten, dachte Bolitho.
Nach schier endloser Zeit flüsterte ein Seemann:»Mr. Couzens kommt, Sir.»
Geführt von dem kanadischen Späher, fiel Couzens außer Atem in den Graben, glücklich, seine Kameraden gefunden zu haben. Er flüsterte:»Mr. Quinn ist auch schon hier, Sir, dazu Hauptmann d'Esterre mit seiner ersten Abteilung.»
Bolitho atmete langsam aus. Was jetzt auch passieren mochte, er war nicht mehr allein und ohne Unterstützung. Das Floß war wieder auf dem Rückwe g, und mit etwas Glück würden bald weitere Seesoldaten landen.
Zu Couzens sagte er leise:»Nehmen Sie zwei Mann und arbeiten Sie sich am Strand zu den beiden Booten vor. Bewacht sie für den Fall, daß wir uns plötzlich zurückziehen müssen. «Er fühlte des Jungen Konzentration.»Ab mit euch!»
Kurz darauf sah er, wie Couzens mit zwei bewaffneten Seeleuten über den Grabenrand kroch. Ein Grund zur Sorge weniger. Es war sinnlos, Couzens bei einem so riskanten Coup in Lebensgefahr zu bringen.
Er konnte sich leicht vorstellen, wie die Seesoldaten jetzt in zwei Gruppen zu den Toren schlichen, während eine dritte Abteilung auf der Festlandsseite der Insel zurückblieb, um den Angriff oder auch einen Rückzug zu decken.
Bolitho vermutete Probyn bei Major Paget, wenn auch nur, um sicherzustellen, daß seine Rolle nicht vergessen wurde, wenn alles vorüber war.
Eine weitere Gestalt rutschte in den Graben. Es war Quinns atemloser Fähnrich, der vor Anstrengung zitterte.
«Nun, Mr. Huyghue?«Bolitho dachte plötzlich an Sparke, der in der Hitze des Gefechts so kühl und distanziert geblieben war. Dies war leichter gesagt als getan.»Ist Ihre Gruppe bereit?»
Huyghue nickte eifrig.»Aye, Sir, mit Leitern und Haken. «Er leckte sich die Lippen.»Mr. Quinn sagt, es wird bald hell.»
Bolitho blickte zum Himmel. Quinn mußte recht nervös sein, wenn er dem Fähnrich gegenüber etwas so Offensichtliches erwähnte.»Dann sollten wir besser anfangen. «Damit stand er auf und lockerte sein Hemd. Wie oft noch würden sich solche Situationen wiederholen? Und wann war es wohl an ihm, zu fallen und nicht wieder aufzustehen?
Heiser sagte er:»Mir nach!«Der unnatürliche Klang seiner Stimme ärgerte ihn.»Mr. Huyghue, Sie bleiben hier und passen auf. Wenn wir zurückgeschlagen werden, verständigen Sie Mr. Couzens bei den Booten.»
Huyghue trat von einem Fuß auf den anderen, als stünde er auf heißen Kohlen.»Und dann, Sir?»
Bolitho sah ihn an.»Das werden Sie allein entscheiden müssen, denn ich fürchte, dann wird Ihnen niemand mehr Befehle erteilen können!»
Er hörte Rabbett kichern und wunderte sich, daß jemand über einen so schwachen, makabren Witz lachen konnte.
Während er auf die Ecke des Forts zuschritt, spürte er die leichte Brise wie eine Liebkosung im Gesicht. Noch zweihundert Meter, und dabei ständig das Gefühl, als sei er weithin sichtbar, während er sich jetzt Quinns Versteck näherte.
Jemand richtete sich halb auf, Gewehr im Anschlag, ging aber sofort wieder in Deckung, als er Bolithos Gruppe erkannte.
Quinn wartete mit seinen Leuten bei den Leitern gereizt darauf, daß Bolitho die Lage durchs Glas studierte.
«Nichts«, sagte Bolitho.»Alles völlig ruhig. Sie verlassen sich wohl ganz auf einen Angriff von See her und auf den Posten, den wir unten erledigt haben. «Er sah Quinn zusammenzucken und fügte leise hinzu:»Nimm dich zusammen, James. Unsere Leute beurteilen ihre Chancen nur nach dem Eindruck, den wir machen. «Er zwang sich zu einem Grinsen, aber seine Lippen fühlte sich wie eingefroren an.»Dann wollen wir jetzt mal unseren Sold verdienen, wie?»
Rowhurst trat aus dem Schatten.»Fertig, Sir. «Er warf einen raschen Blick auf Quinn.»Keinerlei Bewegung auf der gesamten Brustwehr.»
Bolitho wandte sich um und hob den Arm. Er sah die geduckten Gestalten aus ihren Verstecken kommen und wußte, es gab kein Zurück mehr.
Die Leitern wurden rasch zu den dafür ausersehenen Stellen der Mauer geschleppt; daneben rannten die Seeleute, die mit ihren Entermessern und Beilen wie die Figuren eines alten normannischen Gobelins aussahen, den Bolitho einmal in Bodmin gesehen hatte.
Er ergriff Quinns Handgelenk und drückte es, bis dieser vor Schmerz zusammenzuckte.
«Wir wissen nicht, was wir vorfinden werden, James, aber die Tore müssen geöffnet werden. Hörst du?«Er sprach langsam und eindringlich, trotz seiner sich überstürzenden Gedanken. Es war wichtig, daß Quinn jetzt durchhielt.
Quinn nickte.»Ja, ich — ich werde es schon schaffen, Sir.»
Bolitho ließ ihn los und berichtigte:»Dick.»
Quinn starrte ihn verwirrt an.»Dick.»
Die erste Leiter wurde bereits aufgerichtet und hob sich klar gegen die verblassenden Sterne ab. Die zweite folgte, gestützt von den herbeieilenden Seeleuten.
Bolitho vergewisserte sich, daß sein Dolch mit der Schlaufe am Handgelenk festsaß, und lief leichtfüßig zur nächsten Leiter. Er wußte, daß Stockdale ihm folgte.
Rowhurst beobachtete Quinn und tippte ihm dann auf den Arm.»Kommen Sie, Sir!»
Keuchend rannte Quinn zur anderen Leiter und zog sich zu der schwarzen Mauerkrone hinauf.
Bolitho kletterte über die rohbehauenen Stämme und ließ sich hinter die Brustwehr fallen. Es war fast wie auf einem Schiff, dachte er geistesabwesend, bis auf die fürchterliche Stille.
Er tastete sich an einem Schwenkgeschütz vorbei und weiter dorthin, wo er die Tore vermutete. Seine Lungen schmerzten vor Anstrengung, als er den Buckel im Wall sah, der genau über dem Eingang sein mußte. Er roch Holzfeuer, Pferde und Menschen, den Gestank einer zusammengepferchten Garnison, der in aller Welt gleich war.
Er fuhr herum, als Rabbett vorwärtsglitt und mit seinem Beil auf etwas einschlug, das Bolitho für einen Stapel Säcke gehalten hatte. Aber es war ein weiterer Posten oder vielleicht jemand, der auf dem Wall frische Luft schöpfen wollte. Es war ein so schneller und fürchterlicher Hieb, daß der Mann auf der Stelle tot gewesen sein mußte.
Der Schock half Bolitho, sich ganz auf ihr Vorhaben zu konzentrieren. Er fand das obere Ende einer Leiter und wußte, daß die Tore jetzt dicht vor ihnen sein mußten.
Stockdale hockte plötzlich neben ihm.»Ich mache das, Sir.»
Bolitho versuchte, ihm ins Gesicht zu sehen, aber es lag im tiefen Schatten.
«Wir machen es zusammen.»
Während die Männer sich hinter der Brustwehr duckten, stiegen Bolitho und Stockdale vorsichtig die ungleichen Holzsprossen hinunter.
Am gegenüberliegenden Ende der Palisade arbeiteten sich Quinn und seine Abteilung zum Wachturm vor, um Bolitho von drüben Schutz zu geben, wenn die Wache auftauchen sollte.
All das hatte in Konteradmiral Coutts Kopf begonnen, viele Me i-len von diesem unheimlichen Ort entfernt. Und jetzt waren sie hier, obwohl Bolitho damit gerechnet hatte, daß sie entdeckt und zurückgeschlagen wurden, bevor sie das Fort erreichen konnten. Aber es war so lächerlich einfach gewesen, daß ihm unbehaglich wurde.
Bolitho fühlte den Boden des Festungshofes unter seinen Füßen. Die niedrigen Gebäude, die den inneren Wall säumten, konnte er nur erahnen, jedoch erkannte er gegen den heller werdenden Himmel deutlich den Turm und sogar den Flaggenmast.
Stockdale berührte seinen Arm und deutete auf eine kleine, alleinstehende Hütte in der Nähe des Tores, aus der ein schwacher Lichtschimmer drang: anscheinend die Wachstube.
«Komm!«flüsterte Bolitho.
Es waren nur sieben Schritte bis zur Mitte des Tores, aber er zählte jeden so genau, als hinge sein Leben davon ab. Ein langer dicker Balken in eisernen Halterungen sicherte die Torflügel, das war alles. Stockdale legte sein Messer hin und schob eine Schulter darunter, während Bolitho die Hütte im Auge behielt.
Gerade lüftete Stockdale mit seiner ganzen Kraft den Balken an, als ein Schreckensruf ertönte, der zu einem langgezogenen, entsetzten Schrei wurde und dann plötzlich verstummte, als ob eine massive Tür zugeschlagen würde.
Einen Augenblick lang hörte man keinen Laut, dann hallten erregte Stimmen und Getrappel im Hof wider. Bolitho schrie:»Mach auf, schnell!»
Schüsse, aufs Geratewohl abgefeuert, krachten in die Pfähle oder pfiffen harmlos über das Wasser. Er konnte sich die Verwirrung und das Durcheinander bei der Besatzung vorstellen; viele schienen anzunehmen, der Angriff käme von See her, von außerhalb der Mauern.
Licht fiel aus der plötzlich aufgestoßenen Tür der Wachstube, und Bolitho sah nackte Gestalten auf sich zulaufen, von denen eine ein Gewehr abfeuerte und dann von den nachfolgenden über den Haufen gerannt wurde. Die blasse Haut dieser Männer hob sich von dem dunklen Hintergrund deutlich ab. Nun hörte er jemanden schreien:»Laden und feuern, so schnell ihr könnt, Jungs!»
Stahl krachte auf Stahl, Rufe wandelten sich zu schrillen Schmerzenschreien, und noch hatte niemand von Bolithos Gruppe einen Schuß abgegeben.
Ein Mann stieß mit aufgepflanztem Seitengewehr nach ihm, aber Bolitho wich aus, so daß der Angreifer durch seinen eigenen Schwung vornüber fiel, vor Entsetzen keuchend, bis Stockdales Dolch ihm den Garaus machte.
Bolitho schrie: «Trojaner, hierher!»
Mehr Schreie, dann Jubelrufe, als der erste Torflügel sich bewe gte und Stockdale den gewaltigen Balken wie die Lanze eines Riesen mitten zwischen die verwirrten Gestalten bei der Tür schleuderte.
Weitere Männer erschienen von der anderen Hofseite. Eine Andeutung von Ordnung kam in ihre Reihen, Kommandos erschallten, und eine Gewehrsalve holte zwei Seeleute von der Brüstung herunter.
Stockdale packte sein Entermesser und hieb es mit aller Wucht einem Angreifer quer über die Brust, warf sich dann blitzschnell herum und schlitzte einem anderen den Bauch auf, der versucht hatte, Bolitho zu unterlaufen.
Kutbi, der Araber, raste herum wie ein Amokläufer und wirbelte schreiend sein Enterbeil über den Kopf, völlig dem Drang zu töten verfallen.
Einer der Seeleute fiel, Blut hustend, zu Bolithos Füßen nieder, und er hörte Quinns Leute mit der Wachmannschaft des Turmes die Klingen kreuzen, näher und lauter, je mehr sie zu den Toren zurückwichen. Er glaubte, sein Arm würde brechen, als er auf einen Uniformierten einhackte oder dessen Hiebe parieren mußte. Der Mann hatte sich direkt neben ihm von Boden erhoben. Bolitho spürte des Gegners Stärke und Entschlossenheit, als dieser ihn jetzt Schritt für Schritt zurückdrängte.
Völlig klar und ohne Furcht oder Emotion fühlte er: dies war das Ende, der Augenblick war gekommen.
Sein Arm wurde schwerer und schwerer, der Mann besaß mehr
Kraft als er, das bekam er erneut zu spüren, als sich jetzt sein Degengriff an dem des Gegners festhakte. Er hörte Stockdale brüllen, der verzweifelt versuchte, sich zu ihm durchzuschlagen.
Bolithos Instinkt sagte ihm, daß es diesmal keine Hilfe gab. Der Mann riß ihn herum, die verhakten Griffe als Hebel benutzend, als Bolitho eine Pistole aus seinem Gürtel ragen sah. Mit einer letzten, übermenschlichen Anstrengung warf er sich vor, ließ den Degen los und riß die Pistole heraus, sie gleichzeitig abdrückend.
Die Detonation schleuderte ihm die Waffe aus der Hand, aber er sah den Gegner lautlos zusammensinken. Der Schmerz, mit dem die schwere Kugel wie geschmolzenes Blei durch seine Eingeweide fuhr, war wohl selbst zum Schreien zu groß.
Bolitho hob seinen Dolch, um dem Todeskampf des Gegners ein Ende zu bereiten, aber er senkte die Waffe wieder. Es wäre sicher menschlicher gewesen, ihn von seinen Schmerzen zu befreien, aber er brachte es bei einem Wehrlosen nicht fertig.
Im nächsten Augenblick wurde der zweite Torflügel aufgerissen, und durch die Pulverdampfschwaden sah Bolitho die weißen Gürtel und schwach glitzernden Bajonette der eindringenden Marineinfanteristen.
Bis auf ein paar Widerstandsnester war alles vorbei. Eine kleine Gruppe kämpfte noch auf den Palisaden, eine andere versuchte, sich in einem Keller zu verschanzen; sie wurden alle niedergemäht, auch als sie sich ergeben wollten. Die wenigen, die aus den Toren entkommen waren und zum Strand liefen, fielen Pagets zweiter Schützenreihe zum Opfer.
Probyn hinkte durch das Chaos von Toten, Sterbenden und Gefangenen, die flehend die Hände hoben, erkannte Bolitho und grunzte:»Das war knapp.»
Dieser nickte, an einen Pfosten gelehnt und Luft in seine schmerzenden Lungen pumpend. Er bemerkte Probyns Hinken und keuchte:»Sind Sie verwundet?»
Probyn erwiderte wütend:»Diese verdammten Idioten mit ihrer Leiter haben mir fast das Bein gebrochen!»
Es klang inmitten von Schmerz und Tod so absurd, daß Bolitho an sich halten mußte, um nicht laut zu lachen; denn er wußte, daß er das Gelächter sonst nicht mehr unter Kontrolle bringen konnte.
D'Esterre trat unter dem Stalldach hervor.»Das Fort ist genommen. Alles vorüber. «Er ließ sich von einem Soldaten seinen Hut reichen, wischte ihn sorgfältig ab und fügte hinzu:»Die Teufel hatten ein Geschütz schon geladen und auf die Mauerkrone gerichtet. Wenn sie uns früher bemerkt hätten, wären wir niedergemäht worden, ob beim Angriff oder auf der Flucht!»
Rowhurst wartete, bis Bolitho ihn anblickte, und sagte dann schwer atmend:»Wir haben drei Mann verloren, Sir. «Er wies mit dem Daumen hinter sich auf den Wachturm.»Und zwei sind schwer verwundet.»
Bolitho fragte:»Wo ist Mr. Quinn?»
Rowhurst erwiderte schroff:»Ihm geht's gut, Sir.»
Was bedeutete das? Bolitho sah Paget und weitere Marineinfanteristen durch die offenen Tore kommen und beschloß, nicht nachzuhaken. Noch nicht.
Paget blickte auf die herumhastenden Soldaten und Seeleute und schnauzte:»Wo ist der Kommandant des Forts?»
D'Esterre antwortete:»Er war nicht hier, aber wir haben seinen Stellvertreter.»
«Das genügt«, knurrte Paget.»Führen Sie mich zu seinem Quartier. «Er sah Probyn an.»Ihre Leute sollen ein paar Geschütze auf den Logger richten. Wenn er auslauten will, raten Sie ihm davon ab, klar?»
Probyn tippte an seinen Hut und knurrte säuerlich:»Das würde ihm schlecht bekommen!»
Rowhurst blickte bereits mit fachmännischem Blick zu den Geschützen auf.»Ich werde das übernehmen, Sir. «Er lief davon und rief einige Namen, froh über eine Arbeit, von der er etwas verstand.
Der Mann, dessen Pistole Bolitho vor wenigen Minuten gegen ihn selbst gerichtet hatte, stieß einen heiseren Schrei aus und starb. Bolitho blickte ihn an und versuchte, sich über seine Gefühle gegenüber einem Menschen, der ihn hatte umbringen wollen, klarzuwerden.
Plötzlich erschien ein Marineinfanterist, lief über den Hof auf sie zu und konnte sich kaum das Grinsen verkneifen, als er meldete:»Verzeihung, Sir, aber einer Ihrer jungen Herren hat einen Gefangenen gemacht!»
Im nächsten Augenblick kam Couzens mit zwei Seeleuten durch das Tor, anscheinend geführt von dem französischen Offizier, der seinen Rock über dem Arm und seinen Dreispitz keß nach hinten geschoben trug, als sei er auf einem Spaziergang.
Couzens erklärte:»Er rannte zu den Booten, Sir, uns genau in die Arme!«Dabei glühte er vor Stolz über seinen Fang.
Der Franzose blickte von Bolitho zu Probyn und sagte gelassen:»Ich bin nicht gerannt, meine Herren, das versichere ich Ihnen. Ich habe nur die Umstände genutzt. «Er verbeugte sich leicht.»Leutnant Yves Contenay, stehe zu Ihren Diensten.»
Probyn starrte ihn wütend an.»Sie stehen unter Arrest, verdammt!»
Der Franzose lächelte liebenswürdig:»Wohl kaum. Ich befehlige dieses Schiff dort und lief hier ein, um zu…«Er hob die Schultern.»Der Grund ist unwichtig.»
Er blickte auf, als einige Seeleute mit Handspaken daran arbeiteten, eins der Geschütze auf den Ankerplatz zu richten. Zum ersten Mal zeigte er Unruhe, ja Furcht.
Probyn sagte:»Soso, unwichtig. Sagen Sie Ihren Leuten, daß sie nicht etwa den Versuch machen, auszulaufen oder das Schiff zu beschädigen. Denn sonst lasse ich ohne Pardon auf sie feuern.»
«Das glaube ich gern. «Contenay wandte sich an Bolitho und hob die Hände.»Aber auch ich habe meine Befehle, das wissen Sie.»
Bolitho beobachtete ihn, die Nerven zum Zerreißen gespannt.»Ihr Logger hat Schießpulver geladen, nicht wahr?»
Der Franzose runzelte die Stirn.»Logger?«Dann nickte er.»Ah, ja, Lougre, verstehe. «Wieder hob er die Schultern.»Ja. Wenn Sie auch nur einen Schuß hineinfeuern, pouf!»
Probyn befahl:»Bleibt hier bei ihm, ich melde es dem Major.»
Bolitho sah Couzens an.»Gut gemacht!
Auch der Franzose musterte ihn lächelnd.»Ja, in der Tat.»
Bolitho sah jetzt, daß die Leichen von den Toren und der Wachstube fortgeräumt wurden. Zwei Gefangene in blau-weißen Uniformen hatten bereits Eimer voll Wasser geholt und schrubbten mit Besen das Blut weg.
Zu dem Franzosen sagte Bolitho leise:»Man wird Sie wegen Ihrer Ladung befragen, M'sieur. Aber das wissen Sie selbst.»
«Ja. Ich bin in offiziellem Auftrag hier. Es gibt kein Gesetz, das mich aufhalten könnte. Mein Land respektiert die Revolution, nicht die von Ihnen ausgeübte Unterdrückung.»
Bolitho entgegnete trocken:»Und Frankreich handelt dabei natürlich völlig selbstlos?»
Sie grinsten sich beide an wie Verschwörer, während Couzens verwirrt zusah, ein wenig seines Ruhmes beraubt.
Zwei Leutnants, dachte Bolitho, von Krieg und Rebellion wie von einer Flutwelle fortgerissen. Es würde ihm schwerfallen, diesen französischen Offizier nicht zu mögen. Er sagte:
«Ich rate Ihnen, nichts zu tun, was Major Paget reizen könnte.»
«Gewiß. «Contenay tippte sich mit dem Finger an die Nase.»Auch Sie haben also solche Offiziere.»
Als Probyn mit einer Eskorte zurückkam, fragte Bolitho:»Wo haben Sie Ihr gutes Englisch gelernt, M'sieur?»
«Ich habe lange Zeit in England gelebt. «Sein Lächeln wurde breiter.»So etwas kann sich eines Tages als nützlich erweisen, oder?»
Probyn schnauzte:»Bringt ihn zu Major Paget. «Er sah zu, wie der Franzose abgeführt wurde, und fügte ärgerlich hinzu:»Sie hätten ihn erschießen sollen, Mr. Couzens, verdammt! Jetzt wird er zweifellos gegen einen unserer Offiziere ausgetauscht. Verdammte Freibeuter, ich würde die ganze Bande aufhängen, ihre und unsre!»
Stockdale rief plötzlich:»Die Flagge, Sir!»
Bolitho blickte zur Rebellenflagge auf, die Paget vernünftige r-weise hatte hissen lassen. Es wäre unklug gewesen, vorzeitig Verdacht zu erregen, sei es nun an Land oder auf See.
Trotzdem begriff Bolitho, was Stockdale meinte. Anstatt schlapp in Richtung Land zu hängen, zeigte die Flagge jetzt seewärts zum heller werdenden Horizont. Der Wind hatte über Nacht um hundertachtzig Grad gedreht, und in der Erregung hatte dies bisher niemand bemerkt.
Leise sagte er:»Die Spite wird nicht einlaufen können.»
Probyn fuhr sich nervös mit der Hand über die Bartstoppeln und meinte:»Er wird auch wieder zurückdrehen, ganz bestimmt!»
Bolitho wandte sich dem Hang zu, auf dem er und Couzens gestern in der Morgensonne geschmort hatten; sorgfältig suchte er ihn mit den Augen ab: er wirkte jetzt dunkel und drohend.
«Aber bis dahin sind wir hier die Verteidiger!»
Major Paget stützte sich auf den schweren Tisch und musterte grimmig seine müden Offiziere.
Sonnenlicht flutete durch die Fenster des Kommandeurszimmers, und durch eine Schießscharte sah Bolitho Bäume und einen kleinen Streifen Strand.
Es war schon Vormittag und noch immer weder Freund noch Feind in Sicht.
Mit dem französischen Offizier als Geisel und einer Eskorte Marinesoldaten hatte Probyn sich zum Logger hinüberrudern lassen. Das Schiff war bis unters Deck voll von westindischem Schießpulver, französischen Gewehren, Pistolen und anderem militärischen Gerät.
«Ein wertvoller Fang«, sagte Paget.»Der Feind und Mr. Washington wird ihn schmerzlich vermissen, das kann ich Ihnen versichern, meine Herren. Wenn wir hier angegriffen werden, bevor Hilfe kommt, ist es wahrscheinlich, daß der Feind den Logger samt Ladung in die Luft zu jagen versucht, falls er ihn nicht zurückerobern kann. Auf alle Fälle werde ich verhindern, daß er wieder in Feindeshand fällt.»
Bolitho hörte den Marschtritt der Marineinfanteristen und die schroffen Kommandos ihrer Unteroffiziere. Pagets Feststellung war sinnvoll. Fort Exeter mußte mit allen Waffen und Ausrüstungsstük-ken vernichtet werden, die während der letzten Monate hier gehortet worden waren.
Aber es würde einige Zeit dauern, alles vorzubereiten; und der Gegenangriff des Feindes konnte nicht lange auf sich warten lassen.
«Ich befehlige dieses Unternehmen. «Paget ließ seinen grimmigen Blick über die Gesichter schweifen, als erwarte er Widerspruch.»Mir steht es also zu, eine Prisenbesatzung für den Logger einzuteilen, die ihn unverzüglich nach New York segelt oder sich unterwegs bei einem Schiff seiner Majestät meldet.»
Bolitho versuchte, seine Erregung zu zügeln. Der Logger hatte eine Besatzung von Eingeborenen aus Martinique. Kein Wunder, daß man einen fähigen Mann wie Leutnant Contenay für solch ein schwieriges Unternehmen ausgesucht hatte; er schien den meisten Offizieren, die Bolitho bisher getroffen hatte, weit überlegen. Es war eine nicht zu unterschätzende Aufgabe gewesen, den Logger von Martinique durch die Karibische See hierher in diese schlecht vermessenen Gewässer zu segeln.
Selbst mit ihrer gefährlichen Ladung war die Prise eine angenehme Abwechslung, jedenfalls besser als dies hier. War er einmal in New York, konnte so manches geschehen, bis er wieder in die strenge Autorität der Trojan zurückkehren mußte. Eine Fregatte vielleicht? Zu den jüngeren Leuten auf einer Fregatte zu stoßen, wäre schon Belohnung genug.
Bolitho glaubte, nicht richtig verstanden zu haben, als Paget fortfuhr:»Mr. Probyn erhält das Kommando und wird einige Leichtverwundete mitnehmen, die ihm helfen, die Eingeborenencrew in Schach zu halten.»
Bolitho wandte sich in der Erwartung um, Probyn in lauten Protest ausbrechen zu hören, aber dann wurde ihm klar: Warum sollte dieser nicht genauso denken wie er? Er durfte mit der Prise nach New York segeln, sich beim Oberbefehlshaber melden und hoffen, ein besseres Kommando und einen höheren Rang zu bekommen.
Probyn war so besessen von dieser Idee, daß er bisher keinen Tropfen Wein oder Brandy angerührt hatte, nicht einmal, als das Fort schon genommen war. Er war nicht intelligent genug, um über die neue Prise und sein Einlaufen in Sandy Hook hinauszudenken, war nicht der Mann, der in Erwägung zog, daß andere es sicher seltsam fanden, wenn ein so dienstalter Offizier das Kommando über ein so kleines Schiff erhielt.
Probyn stand auf; sein Gesicht drückte seine Genugtuung besser aus, als Worte es vermocht hätten.
Paget fuhr fort:»Ich werde die nötigen Befehle ausschreiben, außer wenn — «, dabei blickte er Bolitho an,»Sie vielleicht anderer Meinung sind?»
Probyn reckte sein Kinn vor.»Nein, Sir, so kommt es mir zu.»
Der Major starrte ihn an und knurrte:»Nur, wenn ich es befehle. «Er zuckte mit den Schultern.»Gut, es bleibt also dabei.»
D'Esterre murmelte:»Tut mir leid um die verpaßte Gelegenheit, Dick, aber es freut mich, daß du bei uns bleibst.»
Bolitho versuchte zu lächeln.»Danke, aber ich glaube, der arme George Probyn wird bald wieder auf der Trojan sein. Möglicherweise trifft er ein größeres Schiff, dessen Kommandant mit der Ladung anderes vorhat.»
Pagets Augenbrauen zogen sich drohend zusammen.»Wenn Sie fertig sind mit Ihrer Unterhaltung, meine Herren…»
D'Esterre fragte höflich:»Was geschieht mit dem französischen Leutnant, Sir?»
«Er bleibt bei uns. Konteradmiral Coutts will ihn sicher sprechen, bevor dies die Behörden in New York tun. «Er rang sich ein etwas gezwungenes Lächeln ab:»Sie verstehen, was ich meine?«Damit stand der Major auf und klopfte sich ein paar Sandkörner vom Ärmel.»Bitte weitermachen, meine Herren, und achten Sie darauf, daß die Wachen ihre Pflicht tun.»
Probyn wartete an der Tür auf Bolitho und sagte kurz:»Sie sind jetzt hier der Ranghöchste-«, seine Augen glitzerten trotz seiner Müdigkeit — ,»und ich wünsche Ihnen viel Glück mit diesem Sauhaufen!»
Bolitho betrachtete ihn gelassen. Probyn war nicht viel älter als er selbst, sah aber beinahe so alt aus wie Pears. Er fragte:»Warum diese Bitterkeit?»
Probyn schnaubte.»Ich habe niemals wirklich Glück gehabt und auch nicht die guten Beziehungen Ihrer Familie. «Zu Bolithos Ärger hob er drohend die Faust.»Ich kam aus dem Nichts und mußte mich mit Zähnen und Klauen hinaufarbeiten! Denken Sie, ich hätte zu Ihren Gunsten verzichtet? Was ist schon ein elender, kleiner, französischer Blockadebrecher für einen älteren Offizier wie mich — das haben Sie doch gedacht, nicht?»
Bolitho seufzte. Probyn war noch vulgärer, als er sich vorgestellt hatte.»Ja, es ging mir durch den Kopf.»
«Als Sparke fiel, kam meine Chance, und ich habe die Absicht, sie in jeder Weise zu nutzen.»
Bolitho blickte weg; es war ihm unmöglich, Probyn in seiner Raserei länger anzusehen.
«Sie können hier warten, bis Sie blau sind. Und dann sagen Sie Ihrem blöden Cairns und den anderen Idioten, soweit sie überhaupt dafür Interesse haben, daß ich nicht mehr auf die Trojan zurückkehre, oder höchstens besuchsweise. Aber dann als Kommandant meines eigenen Schiffes!»
Er drehte sich abrupt herum und ging. Was Bolitho auch an Mitleid oder wenigstens Verständnis für ihn empfunden haben mochte, war verflogen, als er feststellte, daß Probyn nicht einmal die Absicht hatte, noch einmal mit seinen Leuten zu sprechen, bevor er ging, oder die Schwerverwundeten und Sterbenden zu besuchen.
D'Esterre trat zu ihm auf die Brustwehr, und sie beobachteten Probyn, der entschlossen über den Strand zu einem der beiden Boote ging.
«Hoffentlich bleibt er weiterhin nüchtern, Dick. Mit einem Schiff voller Schießpulver und einer verängstigten Eingeborenencrew könnte es sonst eine denkwürdige Reise werden!«Er sah, daß sein Sergeant auf ihn wartete, und ging eilig zu ihm.
Bolitho stieg die Leiter hinunter und fand Quinn an einer Wand lehnen. Er sollte die erbeuteten Waffen und Pulverfässer inspizieren, überließ dies jedoch seinen Leuten.
Bolitho sprach ihn an:»Hast du gehört, was der Major uns zu sagen hatte, und auch, was Probyn mir eben an den Kopf geworfen hat? Ich habe dazu ein paar eigene Ideen, aber erst möchte ich wissen, was heute morgen während des Angriffs vorgefallen ist. «Er dachte an den fürchterlichen Schrei, der so plötzlich verstummt war.
Quinn erwiderte heiser:»Ein Mann kam aus dem Wachturm. Wir waren alle so damit beschäftigt, die Tore zu suchen oder nach Wachtposten Ausschau zu halten, daß ihn niemand bemerkte. Er schien aus dem Nichts zu kommen. «Unglücklich fuhr er fort:»Ich war ihm am nächsten und hätte ihn leicht niederstechen können. «Er schauderte.»Es war ein halbnackter Junge mit einem Eimer, wahrscheinlich sollte er Wasser holen für die Kombüse. Er war unbewaffnet.»
«Was dann?»
«Wir starrten uns an, ich bin mir nicht sicher, wer von uns beiden mehr überrascht war. Ich hatte die Klinge schon an seinem Hals, ein Streich hätte genügt, aber ich konnte nicht. «Quinn blickte Bolitho verzweifelt an.»Er begriff es. So standen wir, bis…»
«Rowhurst kam?»
«Ja, mit seinem Dolch. Aber für mich war es zu spät.»
Bolitho nickte. Er erinnerte sich an seine eigenen Gefühle, als er sich über den Mann beugte, den er erschossen hatte, um sich selbst zu retten.
Quinn fuhr fort:»Ich sah den Ausdruck in Rowhursts Augen, er verachtet mich. Es wird durch das Schiff gehen wie ein Lauffeuer, und ich werde ihren Respekt für immer verlieren.»
Bolitho fuhr sich durchs Haar.»Du mußt versuchen, ihn dir von neuem zu erwerben, James. «Er fühlte Sand zwischen seinen Fingern und sehnte sich nach einem Bad.»Aber jetzt haben wir genug anderes zu tun. «Er sah Stockdale und ein paar Seeleute ihn beobachten.»Geh mit diesen Leuten zum Floß, schleppt es in tiefes Wasser und zerstört es. «Er ergriff Quinns Arm und fügte hinzu:»Denk daran, James: Sag ihnen, was sie tun sollen.»
Quinn wandte sich ab und ging niedergeschlagen zu den wartenden Seeleuten. So lange Stockdale dabei war, würde alles in Ordnung gehen, dachte Bolitho.
Ein Unteroffizier tippte sich grüßend an die Stirn und meldete:»Wir haben das Hauptmagazin geleert, Sir.»
Bolitho nahm seine Gedanken zusammen, da Verstand und Körper ihm noch nicht ganz gehorchen wollten. Aber er mußte. Er war jetzt tatsächlich der Dienstälteste, genau wie Probyn gesagt hatte.
«Gut, ich sehe mir an, was ihr gefunden habt«, sagte er.
Die Geschütze mußten unbrauchbar gemacht, die Vorräte in Brand gesteckt werden, bevor das Fort selbst mit seinem eigenen Pulvermagazin in die Luft gesprengt wurde. Er blickte in die leeren Ställe und war froh, daß keine Pferde zurückgelassen worden waren. Der Gedanke, sie schlachten zu müssen, um sie nicht in Feindeshand fallen zu lassen, war schlimm genug; noch schlimmer war es, sich vorzustellen, welche Wirkung ein solches Gemetzel auf die kampfesmüden Seeleute gehabt hätte. Tod, Verwundung oder auch Auspeitschen nahm der Durchschnittsseemann als sein natürliches Los hin, aber Bolitho hatte einmal gesehen, wie ein Bootsmannsmaat in Plymouth einem Mann den Schädel einschlug, nur weil dieser nach einem streunenden Hund getreten hatte.
Marineinfanteristen bastelten überall herum und fühlten sich ganz in ihrem Element, als sie lange Zündschnüre verlegten und diese mit den Pulverfässern verbanden, während andere die kleineren Feldgeschütze zu den Toren schafften.
Das Floß war mittlerweile in tiefes Wasser geschleppt worden; von der Mauer aus sah Bolitho, daß die Seeleute es mit ihren Äxten zerschlugen und die Taue losmachten. Quinn stand dabei und beobachtete sie. Das nächste Mal, wenn sie kämpfen mußten, würde er nicht so glimpflich davonkommen, dachte Bolitho traurig.
Auf dem Wachturm stand Couzens, ein Teleskop auf den Ankerplatz gerichtet. Als Bolitho sich umwandte, sah er, daß auf dem
Logger Segel gesetzt wurden, während die Anker tropfend vor den Klüsen hingen.
Derselbe Wind, der das Einlaufen der Spite verzögerte, ließ Pro-byn und seine kleine Schar noch vor Dunkelheit die offene See gewinnen. Mitleid ist niemals eine gute Basis für eine Freundschaft, dachte Bolitho, aber ihr Abschied war derart unerfreulich gewesen, daß er für immer zwischen ihnen stehen würde, falls sie sich je wieder begegneten.
«Ach, da sind Sie, Bolitho!«Paget blickte aus einem Fenster.»Kommen Sie herauf, dann kann ich Ihnen gleich Ihre Instruktionen geben.»
Im Kommandeurszimmer spürte Bolitho wieder seine Müdigkeit, die Nachwirkung von Kampf, Vernichtung und Angst.
Paget informierte ihn:»Als weiteres Mosaiksteinchen für unseren Nachrichtendienst wissen wir jetzt, woher der Feind sein Pulver und einen Teil seiner Bewaffnung bekommt. Alles andere ist Sache des Admirals.»
Es klopfte an die Tür, und Bolitho hörte draußen jemanden eindringlich flüstern.
«Warten Sie!«sagte Paget ruhig.»Ich hatte keine andere Wahl mit dem Logger. Von Rechts wegen hätte er Ihnen zugestanden wegen der Art und Weise, wie Sie das Fort für uns sturmreif gemacht haben. «Er hob die Schultern.»Aber der Marine Wege sind nicht die me inen, und somit…»
«Ich verstehe, Sir.»
«Gut. «Paget schritt mit bemerkenswerter Geschwindigkeit
durch den Raum und öffnete die Tür.»Ja?»
Es war Leutnant Fitzherbert von den Marineinfanteristen des Flaggschiffs. Er stammelte:»Wir haben den Feind gesichtet, Sir! Er kommt die Küste herauf!»
Zusammen traten sie in das blendende Sonnenlicht, und Paget ließ sich in aller Ruhe von einem Ausguckposten ein Fernrohr geben. Nach einer vollen Minute reichte er es Bolitho.
«Das ist ein Anblick! Ich glaube, Ihr Mr. Probyn wird bedauern, daß er ihm entging.»
Bolitho vergaß sofort seine Enttäuschung und des Majors Sar-kasmus, als er das Glas auf die Küste richtete. Es schien ein endloser Zug zu sein, der da dem Strand folgte und fast bis zurück nach
Charlstown reichte: ein Band aus Blau und Weiß, hin und wieder unterbrochen vom Braun der Pferde und glänzenden schwarzen Flecken, die nur Artillerie sein konnten.
Paget verschränkte die Arme und schaukelte auf den Hacken vor und zurück.»Hier kommen sie also. Damit ist jedes Täuschungsmanöver überflüssig, denke ich. «Er blickte zur Spitze des Flaggenmastes auf, seine Augen waren rotgerändert vor Anstrengung.»Heiß die Flagge, Sergeant! Wir wollen sie ein bißchen ärgern.»
Bolitho senkte das Glas. Quinn war noch unten bei dem erst zum Teil zerstörten Floß und sah die drohende Marschkolonne auf der Küstenstraße nicht. Probyn draußen schien zu sehr damit beschäftigt, von der Sandspitze freizukommen, um etwas zu bemerken. Vermutlich hätte es ihn auch nicht mehr interessiert.
Er suchte den Horizont ab, seine Augen schmerzten in der gleißenden Helligkeit. Nichts unterbrach die scharfe, blaue Linie, was auf die Anwesenheit eines Segels hingedeutet hätte. Bolitho dachte an den gefangenen französischen Offizier. Wenn er Glück hatte, würde seine Gefangenschaft eine der kürzesten sein, die es je gegeben hatte.
Paget knurrte:»Bewegen Sie sich, Sir! Hauptbatterie auf den Damm richten! Sie haben doch einen guten Läufer unter Ihren Leuten, nehme ich an? Ich möchte jedes der Geschütze voll geladen wissen. An die Arbeit, verdammt!»
Bolitho wandte sich zum Gehen, hörte Paget aber noch wie im Selbstgespräch hinzufügen:»Es interessiert mich nicht, was sie uns anbieten oder versprechen. Wir kamen, um dieses Fort zu zerstören, und das werden wir tun, so wahr mir Gott helfe!»
Als Bolitho den Hof erreicht hatte, blickte er noch einmal zum Turm hinauf. Paget stand barhäuptig in der Sonne und starrte den soeben gehißten Union Jack an, den die Marineinfanteristen mitgebracht hatten.
Dann hörte er einen Seemann zu seinem Kameraden sagen:»Mr. Bolitho sieht nicht sonderlich beunruhigt aus, Bill. Dann kann es nicht so schlimm sein.»
Bolitho sah die beiden an, als er vorbeiging, und sein Herz war zugleich schwer und froh. Sie fragten nicht, warum sie hier waren. Gehorsam, Vertrauen und Hoffnung gehörten genauso zu diesen Leuten wie ihr Fluchen und Raufen.
Er traf Rowhurst am Tor.»Sie haben es zweifellos gehört?»
Rowhurst grinste.»Gesehen auch, Sir. Eine ganze verdammte Armee auf dem Marsch! Und das nur für uns!»
Bolitho lächelte knapp.»Wir haben genügend Zeit, alles zu ihrem Empfang vorzubereiten.»
«Aye, Sir. «Rowhurst blickte beredt auf den Stapel von Pulverfässern und Zunder.»Eins ist sicher — beerdigen müssen sie uns nicht. Sie brauchen nur die paar übriggebliebenen Fetzen aufzusammeln!»