Bolitho schritt nach achtern und hielt vor der Treppe zur Schanze inne. Er fühlte die vielen Augen auf sich gerichtet, die ihm schon auf dem Weg über das Deck gefolgt waren, nachdem er an Bord gekommen war. Er war sich auch seines schmutzigen und abgerissenen Aufzuges bewußt, des Loches im Ärmel, der getrockneten Blutflecken auf seinen Breeches.
Noch einmal blickte er sich um und betrachtete die Prise, die aus dieser Entfernung noch hübscher wirkte, wie sie da schmuck an Trojans Leeseite lag. Nur schwer konnte er sich vorstellen, was sich letzte Nacht auf ihr abgespielt, noch schwerer, daß er es überlebt hatte.
Sparke war sofort auf die Trojan übergestiegen, nachdem zwischen beiden Schiffen Signalkontakt bestand, und hatte Bolitho den Transport der Verwundeten und die Bestattung des Unglücksschützen mit der weggerissenen Gesichtshälfte überlassen, der inzwischen seinen Verletzungen erlegen war.
Bevor er sich beim Kommandanten meldete, war Bolitho ins Lazarett hinabgestiegen, voller Angst, was er dort vorfinden würde. Wieder empfand er seine Verantwortung für das Geschehene, als er die wie gekreuzigt auf dem Operationstisch liegende Gestalt erblickte, die im Licht der schwankenden Decklampen wie ein Leichnam schimmerte. Quinn war nackt, und als Thorndike den verfilzten Verband entfernt hatte, sah Bolitho zum erstenmal die klaffende Wunde. Von Quinns linker Schulter lief sie diagonal über die Brust, öffnete sich wie ein obszöner Mund.
Quinn war bewußtlos; Thorndike hatte kurz gesagt:»Nicht schlecht, aber wir müssen abwarten.»
Auf Bolithos Frage:»Können Sie ihn retten?«hatte sich Thorn-dike in seiner blutigen Schürze ihm zugewandt und geknurrt:»Ich tue, was ich kann. Einem Mann habe ich bereits ein Bein abgenommen, ein anderer hat einen Splitter im Auge.»
Bolitho hatte verlegen geantwortet:»Tut mir leid, ich werde Sie nicht länger aufhalten.»
Jetzt, auf dem Weg zur Kajüte, wo ein scharlachrot gekleideter Seesoldat stand, fühlte Bolitho dumpfen Schmerz von Selbstvorwürfen und Verzweiflung. Sie hatten eine Prise genommen, aber der Preis dafür war zu hoch.
Der Seesoldat knallte seine Stiefel zusammen, und Foley, adrett wie immer, öffnete die äußere Tür. Seine Augen weiteten sich in offensichtlicher Mißbilligung, als er Bolithos abgerissene Ersche i-nung wahrnahm.
In der Kajüte saß Kapitän Pears an seinem papierübersäten Schreibtisch, ein großes Glas Wein in der Hand.
Bolitho starrte Sparke an. Der war so sauber gekleidet, gewaschen und rasiert, als hätte er das Schiff niemals verlassen.
Pears befahl:»Wein für den Vierten Offizier!»
Er beobachtete Bolitho, als dieser dem Steward das Weinglas abnahm, sah die Überanstrengung, die bleierne Müdigkeit in seinem Gesicht.
«Mr. Sparke hat mir von Ihren eindrucksvollen Taten erzählt, Mr. Bolitho. «Pears Miene blieb ausdruckslos.»Der Schoner ist ein guter Fang.»
Bolitho ließ sich vom Wein den Magen wärmen, den Schmerz in seiner Seele lindern. Sparke war schon früher an Bord gekommen, hatte sich gewaschen und frisch gemacht, bevor er sich beim Kommandanten meldete. Wieviel hatte er ihm wohl über den ersten Teil des Unternehmens erzählt? Über den unglückseligen Gewehrschuß, der so viel zur Erhöhung ihrer Verluste beigetragen hatte?
Pears fragte:»Wie geht es übrigens Mr. Quinn?»
«Der Arzt hat Hoffnung, Sir.»
Pears betrachtete ihn seltsam.»Gut. Ich hörte, daß sich auch beide Fähnriche wacker gehalten haben. «Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zu und sagte:»Diese Dokumente fand Mr. Sparke in der Kajüte der Faithful. Sie sind von noch größerem Wert als die Prise selbst. «Mit grimmigem Gesicht fuhr er fort:»Sie enthalten Einzelheiten über die Aufgaben des Schoners, die er nach der Erbeutung von Waffen und Munition aus unserem Konvoi hätte erfüllen sollen. Die Geleitfahrzeuge hätten es bei diesem Wetter schwer gehabt, den gesamten Konvoi zu schützen, und oben bei Halifax scheint es noch schlimmer gewesen zu sein. Jetzt muß die Brigg Revenge allein zurechtkommen, obwohl anzunehmen ist, daß noch andere Wölfe diese fette Beute umschleichen. «Bolitho fragte:»Wann erwarten Sie, den Geleitzug zu sichten,
Sir?»
«Mr. Bunce und ich erwarten das für morgen. «Er sprach, als ob es jetzt nicht mehr wichtig sei.»Aber etwas müssen wir sofort in Angriff nehmen. Die Faithful sollte zu einem Rendezvous mit anderen Feindschiffen am Ausgang der Delaware Bay segeln. Die britischen Streitkräfte in Philadelphia haben es schwer, ihren Nachschub flußaufwärts bis zur Garnison zu sichern. Auf dem ganzen Weg werden unsere Boote und Schuten von feindlichen Spähtrupps beschossen. Stellen Sie sich vor, wie das erst würde, wenn der Feind eine größere Lieferung von Waffen und Munition erhielte.»
Bolitho nickte und nahm noch ein Glas Wein von Foley entgegen. Die Delaware Bay lag rund vierhundert Seemeilen südlich. Ein rasches Fahrzeug konnte den Treffpunkt bei günstigem Wetter in drei Tagen erreichen.
Sie waren so selbstsicher gewesen, dachte er. Der rote Flicken auf dem Großsegel war das Signal für die Wachen an Land. Auch der Ort war gut ausgesucht: sehr flach und tückisch bei Ebbe; keine Fregatte würde sich aus Angst vor Grundberührung dort hinwagen.
Er fragte:»Sie wollen die Faithful zum Rendezvous schicken,
Sir?»
«Ja. Es ist natürlich ein gewisses Risiko dabei. Die Fahrt könnte länger dauern als vorgesehen, und da der Feind nun weiß, daß die Faithful gekapert worden ist, wird er alles daran setzen, um diese Nachricht so schnell wie möglich in den Süden weiterzuleiten: Signale, schnelle Reiter, nichts wird er unversucht lassen.»
Sparke setzte sich kerzengerade auf und blickte Bolitho an.»Ich habe den ehrenvollen Auftrag, dieses Unternehmen zu führen.»
Pears fügte mit ruhiger Stimme hinzu:»Wenn Sie möchten, Mr. Bolitho, können Sie den Zweiten Offizier abermals begleiten. Die Entscheidung liegt jedoch bei Ihnen.»
Zu seiner eigenen Verwunderung nickte Bolitho, ohne zu zögern.»Aye, Sir, das würde ich gern tun.»
«Dann ist das also geregelt. «Pears zog seine goldene Uhr.»Ich lasse Ihre Order gleich schreiben. Mr. Sparke kennt die wesentlichen Punkte bereits.»
Cairns trat ein, den Hut unter dem Arm.
«Ich habe ein paar Leute zum Schoner hinübergeschickt, Sir. Der Stückmeister kümmert sich um die Geschütze und sonstige Bewaffnung. «Er machte eine Pause, sein Blick ruhte auf Bolitho.»Mr. Quinn ist noch bewußtlos, aber der Arzt sagt, Herz und Atmung sind in Ordnung.»
Pears nickte.»Sagen Sie meinem Schreiber, er soll sofort zu mir kommen.»
Cairns zögerte an der Tür.»Ich habe die Gefangenen an Bord gebracht, Sir. Soll ich sie vereidigen?»
Pears schüttelte den Kopf.»Nein. Freiwillige würde ich akzeptieren, aber dieser Krieg ist schon zu erbittert geworden, als daß ein Seitenwechsel glaubhaft wäre. Sie wären wie faule Äpfel in einer Kiste, und ich möchte keine Unzufriedenheit auf meinem Schiff riskieren. Wir werden sie in New York den Behörden übergeben.»
Cairns ging, und Pears sagte:»Die schriftliche Order wird Sie nicht vor den Kanonen unserer Beobachter schützen. Geben Sie rechtzeitig Fersengeld, wenn Sie welche treffen. Falls Spione Sie ausgemacht haben, kann das Ihrer Tarnung nur nützen.»
Teakle, des Kommandanten Sekretär, kam in die Kajüte gehastet, und Pears entließ sie.»Bereiten Sie sich vor, meine Herren. Ich möchte, daß Sie das Rendezvous einhalten und alles vernichten, was Sie dort finden. Es wäre von großem Wert und würde unseren Truppen in Philadelphia neuen Mut machen.»
Die beiden Offiziere verließen die Kajüte, und Sparke sagte:»Diesmal nehmen wir auch ein paar Seesoldaten mit. «Es klang, als sei es ihm unangenehm, diese neue Aufgabe mit jemandem teilen zu müssen.»Aber Schnelligkeit ist die Hauptsache. Also treiben Sie unsere Leute an, sie sollen so rasch wie möglich den Rest der Vorräte und Waffen auf den Schoner schaffen.»
Bolitho legte die Hand an den Hut.»Aye, Sir.»
«Und ersetzen Sie Midshipman Couzens durch Mr. Weston. Dies ist kein Auftrag für Kinder.»
Bolitho trat hinaus an die frostige Luft und sah die Boote zwischen den beiden Schiffen hin und her hasten wie Wasserkäfer.
Weston war der Signalfähnrich, und genau wie Libby, der in Sparkes Boot gewesen war, stand er zur Offiziersprüfung an. Wenn Quinn starb, würde sofort einer der beiden befördert werden.
Bolitho sah Couzens am Leefallreep stehen, während die Trojan rollte und dagegen protestierte, daß sie beigedreht liegen mußte, um den Transport von Leuten und Ausrüstung zu ermöglichen. Cou-zens hatte offensichtlich schon von dem Austausch erfahren und sagte atemlos:»Ich möchte aber mitkommen, Sir.»
Bolitho blickte ihn ernst an. Couzens war mit seinen dreizehn Jahren zwei Leute vom Schlage Westens wert. Dieser war ein übergewichtiger, rothaariger Bursche von siebzehn Jahren, der die jüngeren Kameraden schikanierte, wo er nur konnte.
Er antwortete:»Nächstes Mal vielleicht. Wir werden sehen«, und wandte den Blick ab.
Seltsamerweise dachte er selbst kaum jemals daran, daß auch er ersetzt, zu einem Namen mit einem Kreuz dahinter werden konnte.
Er sah Stockdale mit gekreuzten Armen auf dem kleinem Achterdeck des Schoners stehen und warten, während dieser so stark rollte, als wolle er seine Masten abschütteln. Eine innere Stimme schien Stockdale zu sagen, daß Bolitho jeden Augenblick zu ihm stoßen würde.
Die Marineinfanteristen kletterten jetzt in die Boote, verfolgt von den üblichen Witzeleien und Schmährufen der an der Reling stehenden Seeleute.
Hauptmann d'Esterre, der von seinem Feldwebel begleitet wurde, traf Bolitho am Fallreep.
«Dir verdanken meine Jungs endlich wieder einen Einsatz, Dick, so hoffe ich jedenfalls!«Er winkte seinem mit dem Rest der Soldaten an Bord bleibenden Leutnant zu.»Paßt gut auf! Ich bleibe sonst länger am Leben als Ihr!»
Der Leutnant grüßte grinsend und rief:»Wenigstens habe ich jetzt die Chance, einmal beim Kartenspiel zu gewinnen, während Sie weg sind, Sir!»
Dann folgten d'Esterre und der Feldwebel den anderen ins Boot.
Bolitho sah Sparke mit Cairns und dem Master sprechen und rief Couzens impulsiv zu:»Besuchen Sie Mr. Quinn, so oft Sie können. Wollen Sie das für mich tun?»
Couzens nickte mit plötzlichem Ernst.»Aye, Sir. «Er trat zurück, da Sparke eilends vom Achterdeck herankam, und fügte rasch hinzu:»Ich werde für Sie beten, Sir.»
Bolitho starrte ihn überrascht an, war aber auch gerührt.
«Danke. Das war nett von Ihnen. «Dann berührte er grüßend seinen Hut in Richtung Achterdeck, nickte den Gesichtern an der Reling und auf dem Fallreep zu und stieg rasch ins Boot.
Sparke ließ sich neben ihm nieder, seine Rocktasche war von den schriftlichen Einsatzbefehlen gebauscht. Als das Boot ablegte, sah Bolitho die Seeleute bereits über Deck eilen, um die Trojan seeklar zu machen, sobald die Boote wieder an Bord sein würden.
Sparke sagte mit einem Seufzer der Erleichterung:»Endlich geschieht etwas, das sie alle aufhorchen lassen wird!»
D'Esterre blickte zu dem schwankenden Schoner hinüber und rief mit plötzlicher Besorgnis:»Wie, zum Teufel, sollen wir dort alle Platz finden?»
Sparke grinste.»Es wird nicht lange dauern. Seeleute sind solche Unbequemlichkeiten gewöhnt.»
Bolitho ließ die Gedanken schweifen und schrieb im Geiste den langen Brief an seinen Vater weiter: Heute hatte ich die Chance, an Bord zu bleiben, aber ich entschied mich für die Rückkehr zur Prise. Er beobachtete, wie Masten und Takelage der Faithful über den Ruderern aufstiegen. Vielleicht war es verkehrt, aber ich glaube, Sparke ist so voller Hoffnung für seine Zukunft, daß er nichts anderes mehr sieht.
Das Boot legte an, und die letzten Seesoldaten kletterten an Deck, schwankend wie Bleisoldaten in einer schaukelnden Schachtel. Shears, der Feldwebel, übernahm das Kommando, und bald war kein einziger Rotrock mehr zu sehen, als sie alle hintereinander in den Laderaum des Schiffes hinunterkletterten.
Einer von Trojans Neunpfündern war übergesetzt worden und wurde nun an Deck mit Taljen und unter Ausnutzung der vorhandenen Ringbolzen und Klampen festgezurrt. Wie William Chimmo, der Stückmeister der Trojan, es fertiggebracht hatte, das Geschütz an Deck zu hieven und auf seiner jetzigen Lafette montieren zu lassen, das legte Zeugnis ab vom Können eines erfahrenen Deckoffiziers. Er hatte einen seiner Unteroffiziere mitgeschickt, einen schweigsamen Mann namens Rowhurst,um den Neunpfünder zu warten; der rieb die Kanone gerade mit einem Lappen ab und fragte sich wahrscheinlich, was mit des Schoners leichten Decksplanken geschehen würde, wenn er erst richten und feuern mußte.
Bis sie die neuen Leute eingeteilt und an ihre jeweilige Arbeit geschickt hatten — die ursprüngliche Prisenbesatzung blieb an Bord — , stand die Trojan schon weit in Lee, und mehr und mehr Segel füllten sich an ihren Rahen. Ein Boot hing noch in seinen Davits, wurde aber gerade eingeschwenkt. Pears hatte es offenbar eilig, die verlorene Zeit aufzuholen.
Bolitho betrachtete sie ein paar Minuten lang aus dieser Entfernung, so wie Quinn einst die großen Schiffe gemustert hatte, wenn sie themseabwärts segelten: prächtige Gebilde in ihrer Macht und Schönheit, die in ihrem Innern ebenso viel Hoffnung und Schmerz beherbergten wie eine Stadt an Land. Jetzt lag Quinn unten im Lazarett, vielleicht war er auch schon tot.
Frowd tippte an seinen Hut.»Wir sind klar zum Segeln, Sir. «Vielsagend blickte er zu Sparke hinüber, der völlig versunken in seinen Papieren las.
Bolitho rief:»Wir sind fertig, Sir!»
Sparke blickte finster ob der Unterbrechung hoch und knurrte gereizt:»Dann seien Sie bitte so gut, die Leute anzuleiten.»
Frowd musterte händereibend die großen Schonersegel und die wartenden Seeleute.
«Diese beiden werden wir setzen. «Er wurde wieder förmlich.»Ich schlage vor, daß wir den augenblicklichen Wind ausnutzen und Südost steuern, Sir. Das bringt uns aus der Bucht heraus und frei von unserem alten Nantucket.»
Bolitho nickte.»Gut. Lassen Sie über Stag auf Backbordbug gehen.»
Sparke erwachte aus seiner Versunkenheit und kam zu ihnen, während die Seeleute die Fallen einholten, um Großsegel und Fock zu hissen.
«Ein guter Plan. «Er stieß sein spitzes Kinn vor.»Der unbetrauert verstorbene Kapitän Tracy hat so ziemlich alles über das beabsichtigte Rendezvous zu Papier gebracht, außer der Augenfarbe seiner Landsleute.»
Er packte eine Pardune, als Ruder gelegt wurde und die beiden großen Bäume über das längsseits vorbeigurgelnde Wasser hinausschwangen, während die Segel sich füllten, bis sie hart wie Stahl schienen.
Bolitho bemerkte, daß sogar das Loch, das die Kanonenkugel in die Fock gerissen hatte, während der letzten Stunden säuberlich geflickt worden war. Die Geschicklichkeit des britischen Seemannes, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, ist unvergleichlich, dachte er.
Die Faithful reagierte trotz des Wechsels in ihrer Führung prächtig. Gischt sprühte über ihren Bug und floß in die Lee-Speigatten. Sie wendete wie ein Vollblutpferd, während die Segel sich donnernd wieder füllten.
Allmählich legte sie sich steif über und nutzte den Wind auf dem neuen Bug zu Frowds Zufriedenheit voll aus. Beim langen Dienst unter Bunce hatte er neben anderem auch gelernt, nichts für selbstverständlich hinzunehmen.
Sparke musterte das Schiff kritisch von der Heckreling aus und sagte:»Schicken Sie die Freiwache unter Deck, Mr. Bolitho!«Dann wandte er sich um und suchte nach der Trojan, die aber in einer Regenbö fast verschwunden war, kaum mehr als ein Schatten oder ein Pinselstrich auf einem unfertigen Gemälde.
Schließlich ging er schlingernd zum Kajütsniedergang.»Ich bin unten, wenn Sie mich brauchen.»
Bolitho atmete langsam aus. Sparke war kein Wachoffizier mehr. Er war Kommandant geworden.
«Mr. Bolitho!»
Bolitho rollte in der ungewohnten, fremden Koje zur Seite und blinzelte in das Licht einer abgeschirmten Lampe. Es war Mids-hipman Weston, der sich über ihn beugte; sein Schatten stand riesengroß wie ein Geist an der Wand.
«Was ist los?»
Bolitho riß sich mühsam aus dem kostbaren Schlaf. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen, seine Kehle schmerzte von der schlechten Luft in der geschlossenen Kammer.
Weston beobachtete ihn.»Der Zweite Offizier bittet Sie an Deck, Sir. «Bolitho schwenkte die Beine über den Kojenrand und prüfte des Schoners Bewegungen. Es muß bald Morgendämmerung sein, dachte er, und Sparke ist schon auf. Das war seltsam, da er gewöhnlich das Wachegehen sowie routinemäßige Kursänderungen Bolitho und Frowd überließ. Weston sagte nichts, und Bolitho wollte ihn nicht ausfragen, denn das hätte dem Fähnrich Zweifel und Unsicherheit verraten. Also kletterte er durch das Niedergangs-luk und fuhr zurück bei der Begrüßung durch nadelscharfen Gischt und eisigen Wind. Der Himmel war genauso wie er ihn zuletzt gesehen hatte: niedrig dahinjagende Wolken, keine Sterne zu erkennen. Er lauschte auf das Brausen in der Leinwand und das Knarren der Spieren, als der Schoner wie betrunken durch ein tiefes Wellental stampfte, so heftig, daß es ihn fast an Deck geschleudert hätte.
So ging es seit drei Tagen. Der Wind war ihr Feind geworden und hatte sie gezwungen, immer wieder über Stag zu gehen, viele Meilen zu segeln, um einen geringen oder oft gar keinen Fortschritt zu machen. Sparke war fast verzweifelt, als sie Tag für Tag mühsam nach Süden und dann in südwestlicher Richtung auf das Land und die Mündung des Delaware zu kreuzen mußten.
Selbst der disziplinierteste Seemann an Bord war inzwischen verdrossen, mürrisch und aufgebracht über Sparkes Benehmen. Er benahm sich unduldsam gegen jedermann und schien völlig besessen von der Aufgabe, mit der man ihn betraut hatte. Und nun die Aussicht auf Mißerfolg…
Bolitho überquerte die glitschigen Decksplanken und schrie gegen den Wind:»Sie haben mich rufen lassen, Sir?»
Sparke fuhr herum und hielt sich dabei am Luvwant fest, das üblicherweise makellos sitzende Haar vom Wind zerzaust, als er ärgerlich antwortete:»Natürlich, verdammt noch mal! Sie haben lange genug geschlafen!»
Bolitho beherrschte sich nur mühsam, da ihm klar war, daß dieser laute Rüffel von den meisten an Deck gehört werden mußte. Angesichts der schlechten Laune des Zweiten Offiziers und seiner Besessenheit, das Schiff so schnell wie möglich und mit jedem Fetzen, den es tragen konnte, vorwärts zu treiben, konnte man nur abwarten.
Sparke sagte abrupt:»Der Steuermannsmaat schlägt vor, daß wir bis Mittag auf diesem Bug weitersegeln.»
Bolitho zwang sein Gehirn, sich ihren Zickzackkurs auf der Karte vorzustellen, und antwortete nach kurzem Zögern:»Mr. Frowd ist wohl der Ansicht, daß wir dann weniger örtlichen Schiffen begegnen, oder, noch schlimmer, unseren eigenen Patrouillen.»
«Mr. Frowd ist ein Idiot!«Sparke schrie wieder.»Und wenn Sie ihm beistimmen, sind auch Sie einer, verdammt noch mal!»
Bolitho schluckte und zählte die Sekunden wie nach dem Abfeuern eines Geschützes.
«Ich muß ihm beistimmen, Sir. Er ist ein Mann von großer Erfahrung.»
«Und ich nicht?«Sparke hob die freie Hand.»Machen Sie sich nicht die Mühe, mich überzeugen zu wollen. Ich bin fest entschlossen: Wir werden in einer Stunde wenden und den Treffpunkt direkt ansteuern. Das verkürzt die Zeit beträchtlich. Auf diesem Bug würden wir einen vollen Tag länger brauchen.»
Bolitho versuchte es noch einmal.»Der Feind weiß unsere genaue Ankunftszeit nicht, Sir, oder ob wir überhaupt kommen. Im Krieg besteht keine Möglichkeit zu so exakter Planung.»
Sparke hatte gar nicht zugehört.»Bei Gott, diesmal lasse ich sie nicht entkommen. Ich habe lange genug zugesehen, wie andere goldverbrämte Kommandos bekamen, nur weil sie jemanden in der Admiralität oder bei Hofe kannten. Ich nicht, Mr. Bolitho, ich habe mich hochgearbeitet, mir jede Sprosse der Leiter mühsam verdient!»
Er schien erst jetzt zu merken, was er sagte: daß er sein Innerstes preisgegeben hatte vor einem Untergebenen; deshalb fügte er sachlicher hinzu:»Lassen Sie alle Mann an Deck rufen! Sagen Sie Mr. Frowd, er soll seine Karten vorbereiten. «Er starrte Bolitho fest an, sein Gesicht wirkte im Dämmerlicht sehr blaß.»Ich habe keine Lust zu argumentieren, sagen Sie ihm auch das!»
«Haben Sie es mit Hauptmann d'Esterre besprochen, Sir?»
Sparke lachte.»Bestimmt nicht. Er ist ein Marineinfanterist, kein Seemann!»
In dem kleinen Raum neben der Kapitänskajüte, dem Kartenraum der Faithful, traf Bolitho auf Frowd und sah sich dessen Berechnungen und Koppelkurse auf der Karte an, ihre täglich zurückgelegten Strecken seit der Trennung von der Trojan.
Frowd bemerkte ruhig:»So kommen wir natürlich schneller hin, Sir, aber.»
Bolitho bückte sich wegen der niedrigen Decke und der heftigen Bewegungen des Schiffes tief.
«Aye, Mr. Frowd, es gibt immer ein Aber. Wir können nur auf unser Glück vertrauen.»
Frowd lächelte bitter.»Ich habe keine Lust, von meinen eigenen Landsleuten umgebracht zu werden, auch wenn es nur irrtümlich wäre, Sir.»
Eine Stunde später, mit allen Mann an Deck, schwang die Faithful durch den Wind und die schwere See nach Steuerbord und hielt nun Kurs auf das unsichtbare Land. Je ein Reff in Großsegel und Fock war alles, was Sparke trotz des schweren Wetters zuließ. Das Schiff krängte stark nach Lee, Brecher wuschen über Bug und Luvreling und brachen sich an dem Neunpfünder wie Brandung an einem Felsblock.
Es war noch immer äußerst kalt, und das dürftige Essen, das der Koch unter diesen Verhältnissen zusammenbrauen konnte, war längst abgekühlt und nach dem gefährlichen Weg über das Oberdeck mit Salzwasser vermischt.
Als es heller wurde, schickte Sparke einen Ausguck nach oben mit der Weisung, alles zu melden, auch wenn es ein treibender Balken sei.
Bolitho beobachtete den ganzen Vormittag über Sparkes steigende Nervosität, während der Schoner zügig in Richtung Westen stampfte. Nur einmal sichtete der Ausguck ein anderes Segel, aber es war im Gischt verschwunden, bevor er Einzelheiten ausmachen oder den Kurs des fremden Schiffes bestimmen konnte.
Stockdale blieb fast ständig in Bolithos Nähe; seine Körperkraft kam bei den seemännischen Arbeiten wie Spleißen von zerschlissenem Tauwerk oder beschädigten Trossen allen zugute.
Dann traf sie ein Schrei aus dem Vortopp so heftig wie ein unerwarteter Schuß:»Land in Sicht — rechts voraus!»
Die Leute vergaßen sofort alles Ungemach, als sie durch den Vorhang von Regen und Gischt nach dem gemeldeten Land Ausschau hielten.
Sparke hing mit seinem Fernglas in den Wanten, alle Würde vergessend, während er wartete, bis der Schoner einen steilen Wellenkamm erstieg, um sein erhofftes Land zu erblicken.
Schließlich sprang er an Deck zurück und starrte Frowd triumphierend an.»Lassen Sie einen Strich abfallen. Das ist Cape Hen-lopen dort im Nordwesten!«Er konnte sich nicht zurückhalten.»Nun, Mr. Frowd, wie steht es jetzt mit Ihrer Vorsicht?»
Der Mann am Ruder rief:»West zu Nord liegt an, Sir!»
Frowd erwiderte grimmig:»Der Wind hat gedreht, Sir, noch nicht viel, aber wir halten genau auf die Untiefen südlich der Delawaremündung zu.»
Sparke zog eine Grimasse.»Noch mehr Vorsicht!»
«Es ist meine Pflicht, Sie zu warnen, Sir. «Frowd vertrat seinen Standpunkt.
Bolitho mischte sich ein:»Mr. Frowd ist letztlich verantwortlich für den Landfall, Sir.»
«Dem werde ich zur gegebenen Zeit zustimmen, vorausgesetzt…«Er starrte zum Mast hinauf, wo der Ausguck rief:»An Deck! Segel backbord voraus!»
«Verdammt!«Sparke starrte hinauf, bis seine Augen tränten.»Fragen Sie den Narren, was es ist!»
Fähnrich Libby enterte bereits in den Luvwanten auf, seine Füße bewegten sich flott wie Paddel. Dann rief er:»Zu klein für eine Fregatte, Sir! Aber ich glaube, sie haben uns gesichtet.»
Bolitho beobachtete das graue, bewegte Wasser. Sie alle würden den Ankömmling bald zu sehen bekommen. Zu klein für eine Fregatte, hatte Libby gesagt; aber wohl wie eine solche aussehend. Also drei Masten, rahgetakelt: eine britische Korvette! Faithfuls schlanker Rumpf war kein Gegner für die sechzehn oder achtzehn Geschütze einer Korvette.
«Wir sollten besser über Stag gehen, Sir, und das Erkennungssignal setzen. «Bolitho sah die Unsicherheit in Sparkes Zügen, die Narbe auf seiner Wange leuchtete wie ein rotes Pennystück. Der andere Ausguck rief aufgeregt:»Zwei kleine Fahrzeuge in Luv, Sir! Steuern landeinwärts.»
Bolitho biß sich auf die Lippen. Das waren womöglich örtliche Küstenfahrzeuge, die den Delaware ansteuerten, immer zu zweit zum gegenseitigen Schutz.
Ihre Gegenwart schloß die Chance aus, mit der britischen Korvette Kontakt aufzunehmen. Wenn diese in der Nähe waren, konnten auch andere, weniger freundliche Augen sie beobachten.
Frowd schlug hilfsbereit vor:»Wenn wir jetzt wenden, Sir, können wir sie in Luv aussegeln. Ich bin schon früher auf Schonern gefahren und weiß, was sie hergeben.»
Sparkes Stimme war schrill, als er beinahe schrie:»Wie können Sie es wagen, mein Urteil anzuzweifeln! Ich werde Sie degradieren, wenn Sie nochmals so zu mir sprechen. Wenden, abwarten, weglaufen. Verdammt, Sie benehmen sich wie ein altes Weib, nicht wie ein Steuermannsmaat!»
Frowd blickte weg, zornig und verletzt.
Bolitho platzte dazwischen:»Ich verstehe, was er sagen wollte, Sir. «Er sah, wie Sparkes Augen sich wütend auf ihn richteten, schlug aber den Blick nicht nieder.»Wir könnten abdrehen und auf eine bessere Gelegenheit warten. Wenn wir so weiterfahren, braucht die Korvette selbst bei einbrechender Dunkelheit nur abzuwarten und uns in den flachen Gewässern festzuhalten, bis wir auf Grund laufen oder uns ergeben. Die Leute, die wir treffen sollen, werden nicht darauf warten, unser Schicksal zu teilen.»
Als Sparke jetzt wieder sprach, hatte er sich in der Gewalt und war beinahe ruhig.»Ich will Ihr Eintreten für Mr. Frowd übersehen, denn ich kenne Ihre Art, sich in unbedeutende Dinge einzumischen. «Er nickte Frowd zu.»Machen Sie weiter. Bleiben Sie auf diesem Schlag so lange, wie der Wind es zuläßt. In einer halben Stunde schicken Sie einen guten Mann nach vorn zum Loten. «Er lächelte schief.»Sind Sie damit zufrieden?»
Frowd rieb sich die Stirn mit den Knöcheln der linken Hand.»Aye, aye, Sir.»
Als eine halbe Stunde vergangen war, konnte man des anderen Schiffes Bramsegel bereits von Deck aus sehen.
D'Esterre, sehr blaß von der schlechten Luft unter Deck, kam zu Bolitho und sagte heiser:»Mir ist so übel, daß ich am liebsten sterben würde. «Er musterte die vollen Segel der Korvette und fügte hinzu:»Wird sie uns einholen?»
«Ich glaube nicht. Sie muß bald abdrehen. «Bolitho deutete in das schäumende Wasser.»Wir haben kaum noch acht Faden* unterm Kiel, und bald sind es nur noch die Hälfte.»
D'Esterre starrte erstaunt ins Wasser.»Du hast nichts zu meiner Beruhigung beigetragen, Dick.»
Bolitho konnte sich die emsige Tätigkeit an Bord der verfolgenden Korvette vorstellen. Sie war fast so groß wie die Destiny, dachte er wehmütig: schnell, beweglich, frei von der schwerfälligen Autorität des Flottenkommandos. Jedes Fernrohr war jetzt sicherlich auf die flüchtende Faithful gerichtet und auf ihr seltsames rotes Zeichen. Die Buggeschütze waren wohl schon ausgefahren, in der Hoffnung auf eine Gelegenheit zum Schuß, der den Schoner in ein Wrack verwandeln sollte. Ihr Kommandant wartete wohl ab, was dieser tun werde, um dann entsprechend zu handeln. Nach Monaten langweiligen Patrouillendienstes sah er in dem Schoner eine Art Belohnung. Wenn die Wahrheit herauskam und Sparke erklären mußte, was er hier tat, dann war der Teufel los.
Er konnte Sparkes Eifer verstehen, endlich mit dem Feind in Berührung zu kommen und zu vollenden, was Pears von ihm erwartete. Aber Frowds Ratschlag war gut, und er hätte ihn annehmen sollen. Jetzt mußten sie sich mit der Korvette herumschlagen, während sie doch die Kolonisten jagen wollten und die Fahrzeuge, die auf erbeutetes Pulver und Blei warteten.
Ein unterdrückter Knall ertönte, vom Wind genauso schnell wieder verweht.
Eine Kanonenkugel zischte durch den nächsten Wellenkamm, und Stockdale sagte bewundernd:»Kein schlechter Schuß.»
Eine zweite Kugel fegte über des Schoners Achterdeck, dann rief Sparke, der starr wie eine Statue gestanden hatte, mit rauher Stimme:»Da! Was habe ich euch gesagt? Sie halsen! Genau wie ich vorausgesagt habe!»
Bolitho sah die Rahen sich optisch verkürzen, sah das vorübergehende Killen der Segel, bis sie sich auf dem neuen Bug wieder
füllten.
Fähnrich Weston rief aus:»Das war großartig von Ihnen, Sir. Ich hätte nie geglaubt.»
Bolitho fühlte, wie sich seine Lippen trotz seiner Anspannung zu einem verächtlichen Lächeln kräuselten. Sparke — gleichgültig, in
* l Faden = ca. 1,80 m
welcher Stimmung er sich gerade befand — hatte wenig übrig für Speichellecker.
«Halten Sie den Mund! Wenn ich Beifall von Ihnen wünsche, dann sage ich das! Scheren Sie sich an Ihre Arbeit, oder ich lasse Balleine seinen Rohrstock an Ihrem fetten Rücken wetzen!»
Weston flüchtete mit hochrotem Gesicht durch eine Reihe grinsender Seeleute davon.
Dann sagte Sparke:»Wir wollen Segel kürzen, Mr. Bolitho. Sagen Sie Balleine, er soll klarmachen zum Ankern, falls wir ihn plötzlich fallen lassen müssen. Sehen Sie zu, daß unsere Leute alle bewaffnet sind, und daß der Feuerwerker weiß, was er im Notfall zu tun hat. «Sein Blick fiel auf Stockdale.»Gehen Sie hinunter und ziehen Sie sich etwas von Captain Tracy an; er hatte ungefähr Ihre Figur, scheint mir. Wir werden nicht so dicht herankommen, daß sie den Unterschied merken.»
Bolitho gab die entsprechenden Anweisungen, erleichtert über Sparkes plötzliche Rückkehr zu seinem normalen Ich. Richtig oder falsch, erfolgreich oder nicht, es war besser, man wußte, mit wem man es zu tun hatte.
Er fuhr aus seinen Gedanken, als Sparke schnauzte:»Herrgott, muß ich denn alles selbst machen?»
Als der Abendschein ihnen zum Land hin folgte, wurde die Fahrt der Faithful langsamer und vorsichtiger. Die Seeleute standen bereit zum Segelbergen oder um den Schoner in den Wind zu drehen, wenn er eine auf der Karte nicht verzeichnete Sandbank berühren sollte; alle paar Minuten erklang des Lotgasten eintöniges Rufen von der Back und brachte ihnen ihre gefährliche Situation zum Bewußtsein.
Später, kurz vor Mitternacht, polterte der Anker auf Grund, und
die Faithful kam wieder einmal zur Ruhe.