Der folgende Tag unterschied sich kaum von den vorangegangen. Im Laufe der Nacht hatte der Wind ein wenig rückgedreht und viel an Stärke verloren, so daß die großen, vor Nässe triefenden Segel sich abwechselnd blähten oder durchsackten, wobei sie mit ihrem Knallen noch zu der allgemein spürbaren Spannung beitrugen.
Gegen Mittag — der Sprühregen war genauso heftig wie an den Vortagen, die See ein grenzenloses, schmutziges Grau — erschollen die üblichen Pfeifsignale:
«Alle Mann nach achtern zur Bestrafung!«Das Auspeitschen eines Mannes war bei der straffen Disziplin an Bord nicht gerade selten und rief in normalen Zeiten wenig Erregung hervor. Die privaten Prügel, die beispielsweise im Falle von Kameradendiebstahl verabfolgt wurden, konnten erheblich schlimmer ausfallen.
Aber heute war es anders. Nach all den Wochen und Monaten vergeblichen Wartens, nachdem man im Hafen unter kärglichen Bedingungen wie auf einem Gefangenenschiff gelebt oder in fruchtloser Mission vor den Küsten patrouilliert hatte, versprach man sich hiervon ein wenig Abwechslung.
Das Wetter trug nicht gerade zur Aufmunterung bei. Während Bolitho sich zu den anderen Offizieren gesellte und die Marineinfanteristen in zwei leuchtend roten Reihen aufmarschierten, eilte die Besatzung nach achtern. Sie mußten die Augen zusammenkneifen gegen den böigen Wind, der ihnen Gischt und Regen ins Gesicht peitschte. Ein trüber, unglückseliger Auftakt, dachte Bolitho.
Der Delinquent kam über die Backbordtreppe, flankiert von Pa-get, dem dunkelhäutigen Wachtmeister, und Tolcher, dem Bootsmann. Paget war ein schmallippiger, grimmiger Mann. Neben ihm und dem vierschrötigen Bootsmann nahm sich der Gefangene direkt harmlos aus.
Bolitho betrachtete ihn, einen jungen Schweden namens Carls-son. Er hatte ein gutgeschnittenes, schmales Gesicht und langes, flachsblondes Haar. Wie verwundert blickte er um sich, als habe er das Schiff noch nie gesehen. Nach Bolithos Meinung war er typisch für die gemischte Besatzung der Trojan, wo man nie wußte, welche Rassen man treffen, welche Zungen man hören würde, so viele verschiedene Besatzungsmitglieder lebten seit nunmehr zwei Jahren in ihrem Rumpf, zusammengewürfelt und doch bereits nach kurzer Zeit mit dem Schiff verwachsen.
Bolitho haßte die Auspeitschungen, obwohl sie zum Seemannsdasein gehörten. Es gab schließlich keine Alternative für einen Kommandanten, um die Disziplin aufrechtzuerhalten, wenn er weitab von höheren Vorgesetzten oder anderen Schiffen operierte.
Die Gräting, ein Lattenrost, wurde neben dem Fallreep aufgestellt, und ein muskulöser Bootsmannsmaat namens Balleine stand wartend daneben, einen Flanellbeutel an seiner Seite.
Cairns überquerte die Schanze, als der Kommandant an Deck erschien.
«Mannschaft versammelt, Sir. «Sein Gesicht war ausdruckslos.»Danke.»
Pears blickte auf den Kompaß und ging dann schwerfällig nach vorn zur Schanzreling. Schweigen senkte sich über die Menge, die sich auf Deck, ja sogar in den Wanten drängte.
Bolitho betrachtete die Gruppe der Midshipmen neben den älteren Deckoffizieren. Ihm selbst war einmal schlecht geworden, als er in seiner Fähnrichszeit einer Auspeitschung hatte beiwohnen müssen.
Er dachte an Carlsson. Man hatte ihn auf Wache schlafend gefunden, nach einem langen Tag des Kampfes gegen Wind und störrisches Segeltuch.
Bei anderen Offizieren wäre es vielleicht glimpflicher abgelaufen, aber Sparke kannte kein Mitgefühl. Bolitho überlegte, ob er wohl jetzt darüber nachdachte. Weil es doch etwas wie einen Pesthauch ausgerechnet über diesen Tag senkte, an dem er den Bootsangriff führen sollte. Bolitho musterte Sparkes Gesicht, aber es zeigte nichts anderes als den üblichen Ausdruck verkniffener Strenge.
Pears nickte.»Ausziehen!«Dann nahm er den Hut ab und klemmte ihn unter den Arm, während die anderen Offiziere seinem Beispiel folgten.
Bolitho blickte nach Backbord zum Horizont, als erwarte er, dort die Segel ihres getreuen Schattens auftauchen zu sehen. Im Laufe der Nacht hatte der Schoner dichter aufgeschlossen und war jetzt schon vom Unterwant aus sichtbar, jedoch noch nicht von Deck. In der einfachen Denkweise eines Seemannes mußte das die Bestrafung noch härter erscheinen lassen — ein Yankeeschiff kreuzte hier herum, wie es ihm gefiel, und einer der eigenen Leute wurde ausgepeitscht!
Der Kommandant schlug die Kriegsartikel auf und verlas die entsprechenden Paragraphen mit einer Stimme, die sich in nichts von seinem normalen Tonfall unterschied. Er schloß mit den Worten:». soll bestraft werden gemäß den Vorschriften des Gesetzes für einen solchen Fall auf See. «Dann setzte er den Hut wieder auf und fügte hinzu:»Zwei Dutzend Hiebe.»
Der Rest der Prozedur wickelte sich rasch ab. Carlssons Oberkörper wurde entblößt, er selbst an der Gräting festgebunden, die Arme wie bei einer Kreuzigung ausgebreitet.
Balleine hatte seine neunschwänzige Katze aus dem roten Flanellbeutel geholt und ließ sie durch die Finger gleiten, die Stirn in grimmige Falten gelegt. Er war Bolithos Bootsbesatzung zugeteilt. Was mochte er jetzt wohl denken?
Pears befahl mit harter Stimme:»Tun Sie Ihre Pflicht!»
Baileines kräftiger Arm holte aus und schlug zu, die Peitsche klatschte dumpf auf des Mannes nackten Rücken. Bolitho hörte ihn keuchen, als die Luft aus seinen Lungen entwich.
«Eins«, zählte der Wachtmeister.
In der Nähe warteten der Arzt und seine Gehilfen, um sich des Mannes anzunehmen, falls er zusammenbrechen sollte. Bolitho zwang sich, das Ritual der Bestrafung zu verfolgen, obwohl sein Herz so schwer war wie Blei. Alles schien so unwirklich: das graue Licht, das heftig schlagende Großsegel mit den deutlich erkennbaren Flicken, vom Segelmacher kürzlich erst aufgenäht. Die Peitsche hob sich und zischte nieder, die Striemen auf dem Rücken des Schweden schwollen an und wurden bald zu einer blutigen Masse zerfetzten Fleisches, als das Auspeitschen andauerte. Etwas Blut war in das blonde Haar des Mannes gespritzt, der Rest floß herab und mischte sich, blasser werdend, mit dem Sprühregen auf den Decksplanken.» Einundzwanzig!»
Bolitho hörte das leise Schluchzen eines Fähnrichs und sah For-bes, den Jüngsten an Bord, sich am Arm seines Nebenmannes festklammern.
Carlsson hatte kein einziges Mal geschrien, aber als der letzte Hieb auf seinen zerfetzten Rücken krachte, brach er zusammen und begann zu stöhnen.
«Abschneiden!»
Bolitho blickte von Pears Profil in die Gesichter der Besatzung.
Zwei Dutzend Hiebe waren nichts im Vergleich zu dem, was manche anderen Kommandanten verhängten. Aber in diesem Falle konnte es ausreichen, um den Mann zu zerbrechen. Er bezweifelte, daß Carlsson mehr als höchstens ein paar Worte der Kriegsartikel verstanden hatte.
Die Gehilfen des Arztes traten jetzt heran und trugen den schluchzenden Mann nach unten, zwei Seeleute wischten das Blut auf, einige andere schlugen auf Tolchers Geheiß die Gräting ab und verstauten sie.
Die Seesoldaten marschierten in zwei Kolonnen die Treppen hinunter, und Hauptmann d'Esterre steckte seinen glänzenden Säbel in die Scheide, während die Mannschaft abrückte, um ihre jeweiligen Arbeiten wieder aufzunehmen.
Sparke sagte zu Bolitho:»Wir sollten den Angriff nochmals durchsprechen, damit jeder weiß, was er zu tun hat.»
Bolitho hob die Schultern.»Aye, Sir.»
Vielleicht war Sparkes Haltung die richtige. Bolitho mochte Carlsson, er war gehorsam, freundlich und ein guter Arbeiter. Aber angenommen, man hätte einen der wirklichen Unruhestifter beim
Schlafen auf Wache erwischt. Hätte er dann wohl das gleiche Unbehagen verspürt?
Sparke stützte sich auf die Schanzreling und blickte auf die beiden Kutter, die schon aus der Reihe der anderen Boote ausgesondert und klar zum Ausschwingen gemacht worden waren.
Dann sagte er:»Ich habe nicht allzuviel Hoffnung«, und indem er auf die vibrierenden Wanten und Pardunen zeigte, fuhr er fort:»Mr. Bunce hat im allgemeinen recht, aber diesmal.»
Aus dem Großtopp ertönte ein Ruf:»An Deck! Das andere Schiff fällt ab, Sir!»
Dalyell, der Wache hatte, ergriff ein Glas und stieg in die Luvwanten.
Nach kurzer Zeit schrie er:»Bei Gott. Es stimmt. Der Schoner fällt ab, nicht viel, aber er wird bald für alle an Deck sichtbar sein!»
Er lachte Bolitho ins Gesicht.»Dieser Schuft besitzt allerhand Dreistigkeit!»
Bolitho beschattete die Augen gegen das diffuse Licht und sah ein kurzes Aufleuchten über dem bewegten Wasser. Vielleicht glaubte der Kapitän des Schoners wie Bunce an Nebel und schloß näher heran, um das große Wild nicht aus den Augen zu verlieren. Oder er versuchte lediglich, den Kommandanten zu einer törichten Affekthandlung zu provozieren. Als sich Bolitho jedoch an dessen Gesicht beim Verlesen der Kriegsartikel erinnerte, verwarf er diesen Gedanken. Dazu bestand keinerlei Aussicht.
Sparke führte weiter aus:»Es muß blitzschnell gehen. Vielleicht haben sie Enternetze ausgebracht, aber ich glaube es nicht. Sie würden ihre Leute mehr behindern als uns.»
Er denkt laut, sieht bereits seinen Namen und den Bericht in der Gazette, folgerte Bolitho. Man konnte es am Funkeln seiner Augen erkennen, sie glänzten wie im Fieber.
«Ich gehe noch mal zum Master. «Sparke eilte von dannen, das Kinn vorgeschoben wie den Bug einer Galeere.
Stockdale tauchte von irgendwoher auf und rieb sich die Stirn.
«Ich habe die Waffen überprüft, Sir, habe alle Entermesser und Enterbeile noch mal über den Schleifstein gezogen«, keuchte er.»Wir fahren doch, Sir?»
Bolitho schritt zur anderen Seite und ließ sich vom Fähnrich der Wache dessen Glas geben.
«Hoffentlich.»
Dann sah er, daß der Fähnrich Forbes war, der sich während des Auspeitschens an seinem Freund festgehalten hatte.
«Alles in Ordnung, Mr. Forbes?»
Der Junge nickte unglücklich und schluckte.»Aye, Sir.»
«Gut. «Bolitho schob das Glas durch die Maschen des Netzes.»Es ist hart, einen Mann so bestraft zu sehen. Also müssen wir ständig aufpassen, daß keiner Grund zur Bestrafung gibt.»
Er hielt den Atem an, als die Toppsegel des anderen Schiffes über dem Horizont auftauchten, als sei der Rumpf unter Wasser. Ein rotes Viereck war auf das Großsegel genäht — ein Behelfsflik-ken oder ein Erkennungssignal? Er fröstelte, als der Regen ihm in den Kragen sickerte und ihm das Haar an die Stirn klebte. Es war unheimlich, diese rumpflosen Masten zu sehen, nichts von dem Schiff und seiner Besatzung zu wissen.
Als er sich nach Stockdale umwandte, war dieser verschwunden, so lautlos, wie er aufgetaucht war.
Dalyell kämpfte sich das schrägliegende Deck hinauf und sagte heiser:»Sieht so aus, als ob du uns erhalten bleibst, Dick. «Er grinste ohne Mitgefühl.»Bin nicht traurig darüber. Ich habe keine Lust, George Probyns Arbeit zu tun, wenn er einen Rausch hat!»
Bolitho grinste.»So sieht es jeder aus einem anderen Blickwinkel. Ich gehe nach unten. «Er warf noch einen Blick auf den lustlos pendelnden Wimpel im Großtopp.»Sieht wirklich so aus, als müßte ich noch die Nachmittagswache gehen.»
Der Kommandant war jedoch anscheinend anderer Meinung und immer noch voll Vertrauen zu seinem Master. Bolitho wurde vom Wachegehen dispensiert und verbrachte die meiste Zeit damit, einen Brief an seinen Vater abzufassen. Er schrieb ständig weiter an demselben langen Brief, sobald er Zeit dazu hatte, und brach ihn abrupt ab, wenn sich eine Gelegenheit zum Absenden in die Heimat bot. Dadurch hielt er Verbindung mit seinem Vater, wenngleich es für diesen bestimmt schwer war, über die täglichen Ereignisse auf See, das Sichten von Schiffen oder Inseln, zu lesen — alles Dinge, die es im Leben von Kapitän James nicht mehr gab.
So saß Bolitho also auf seiner Seekiste und überlegte, was er Neues berichten könnte.
Kälte schien ihm plötzlich über den Rücken zu kriechen, als hätte ein Geist die kleine Kabine betreten. Er blickte überrascht auf und sah die Deckenlampe flackern. Aber stimmte das auch? Er starrte seine Sachen an, die ruhig von der Stange herabhingen, obwohl sie einen Augenblick vorher noch geschwankt und gequietscht hatten.
Er stand auf, dachte rechtzeitig daran, den Kopf einzuziehen, und lief in die Messe. Die Heckfenster waren stumpf und grau, gestreift von getrocknetem Salz.
Er preßte das Gesicht dagegen und rief aus:»Mein Gott, der Weise hatte recht!»
Schnell eilte er an Deck, wo er sofort der stillen Gestalten gewahr wurde, die in den undurchdringlichen Nebel starrten, während die Segel lustlos herabhingen und sich kaum noch blähten.
Cairns, der Wache hatte, blickte ihn ernst an.»Da ist er, Dick, der Nebel.»
Bolitho beobachtete, wie sich die Dünung zu glätten schien, kaum waren noch Wellenkämme zu sehen.
«An Deck! Der Schoner ist außer Sicht, Sir!»
Pears Stimme beendete alle Spekulationen:»Zwei Strich höher, Mr. Cairns!»
Schrille Rufe ertönten:»An die Brassen!»
Pears sagte zu allen, die ihn umstanden:»Wir gewinnen so noch etwa eine Kabellänge.*
Das Rad ächzte, die Rahen gehorchten den Brassen und schwangen herum. Mit ihrer großen Segelfläche rang die Trojan dem sterbenden Wind noch ein wenig Fahrt ab und drehte den Bug gehorsam nach Luv. Über das Schlagen der Segel und Blöcke, über die schrillen Rufe der Unteroffiziere hinweg hörte man Pears Stimme, als er zu seinem Segelmeister sagte:»Gut gemacht, Mr. Bunce!»
Dieser wandte den Blick vom Mann am Ruder und der schwankenden Kompaßrose; im trüben Licht sah man nur seine Augen und Brauen.»Es war Sein Wille, Sir«, sagte er ehrfürchtig.
Pears blickte weg, wie um ein Lächeln zu verbergen. Dann rief er:»Mr. Sparke nach achtern! Mr. Bolitho, lassen Sie die Kutter ausschwenken!»
Stahl klirrte, Leute strömten zu den Booten, die Arme voller Entermesser, Beile, Spieße und Gewehre. Bolitho beobachtete auf dem Batteriedeck, wie der schwarzge-
* Zehntel einer Seemeile = 185 Meter 46
strichene Rumpf des zweiten Kutters sich hob. Als er einmal nach achtern blickte, stellte er fest, daß die Schanzreling nur noch verschwommen zu sehen war.
Er schrie:»Lebhaft, Jungs, sonst finden wir unseren Weg nicht mehr über die Reling!«Dies rief einiges Gelächter hervor.
Pears hörte es und sagte nüchtern zu Sparke:»Hören Sie gut zu, was der Master Ihnen über die Stromverhältnisse hier sagt. Es kann Ihnen eine Meile unnötigen Füllens ersparen, womit Sie nicht so erschöpft ankämen, daß Ihre Leute keine Klinge mehr heben können. «Er beobachtete Sparkes Augen.»Und seien Sie vorsichtig. Wenn Sie nicht entern können, dann warten Sie ab, bis der Nebel sich lichtet. Wir werden nicht sehr weit auseinanderdriften.»
Dann befahl er:»Kürzen Sie Segel, Mr. Cairns, und drehen Sie bei!»
Weitere Kommandorufe, und wenige Augenblicke später, als die Unter- und Marssegel aufgegeit unter ihren Rahen hingen, lösten sich die beiden Boote aus ihren Klampen, schwangen hoch und über die Reling.
Bolitho kam nach achtern, berührte grüßend seinen Hut und meldete:»Die Leute sind gemustert und bewaffnet, Sir.»
Sparke übergab ihm einen Notizzettel.»Geschätzter Kurs. Mr. Bunce hat Strom und Abdrift des Schoners berücksichtigt. «Dann blickte er den Kommandanten an.»Melde mich von Bord, Sir!»
Pears sagte:»Danke, Mr. Sparke. «Er wollte hinzufügen:»Viel Glück«, aber angesichts Sparkes strenger Miene schien dies überflüssig.
Zu Bolitho jedoch sagte er:»Verirren Sie sich nicht, Sir. Ich habe keine Lust, ein ganzes Jahr lang die Massachusetts Bay nach Ihnen abzusuchen!»
Bolitho lächelte.»Ich werde mein Bestes tun, Sir. «Als er nach unten lief, sagte Pears zu Cairns:»Junger Halunke!»
Aber Cairns beobachtete die längsseits stampfenden Boote voller Menschen und wartete darauf, daß Sparke und Bolitho ablegten. Sein Herz war bei ihnen. Es tröstete ihn nicht, daß des Kommandanten Entscheidung wahrscheinlich die richtige war.
Pears beobachtete die schwarzen Bootskörper, das etwas unordentliche Einsetzen der Riemen bis zum Aufnehmen des gleichmäßigen Schlages, der sie rasch in den alles verhüllenden Nebel entführte.
«Verdoppeln Sie die Wachen an Deck, Mr. Cairns. Lassen Sie die Schwenkgeschütze laden und bereiten Sie alles vor, um einen eventuellen Enterangriff abzuschlagen.»
«Was werden Sie jetzt tun, Sir?»
Pears blickte über sein Schiff. Jedes Segel war entweder aufge-geit oder bewegungslos, die Trojan rollte heftig in der gleichmäßigen Dünung.
«Tun?«Er gähnte.»Ich gehe essen.»
Bolitho stand im Heck des Bootes und hielt sich an Stockdales Schultern fest. Durch das karierte Hemd hindurch fühlten sich dessen Muskeln an wie warmes Holz.
Der Nebel wirbelte in ihr Boot, hing an ihren Armen, im Gesicht und ließ das Haar glitzern, wie bereift.
Bolitho lauschte dem gleichmäßigen, ruhigen Pullen der Riemen. Hast ist sinnlos, spart eure Kräfte für später.
Zu Stockdale sagte er:»Steuern Sie genau Nordwest, das ist der Kurs, den wir einhalten müssen.»
Er dachte an Bunces wilde Augen. Konnte man einen anderen Kurs steuern als den von ihm empfohlenen?
Dann ließ er Stockdale an der Pinne sitzen, über den Bootskompaß gebeugt, und bahnte sich seinen Weg langsam nach vorn. Er stieg über Duchten und grunzende Seeleute, kletterte über Waffen und über die Füße der zusätzlichen Passagiere.
Der neun Meter lange Kutter hatte in normalen Zeiten eine Besatzung von acht Mann und dem Bootssteurer. Jetzt enthielt er außer der Crew noch achtzehn Leute.
Er fand Balleine, den Bootsmannsmaaten, am Bug vorgebeugt wie eine Galionsfigur und in den Nebel starrend, eine Hand hinter dem Ohr, um das leiseste Geräusch aufzufangen, das von einem Schiff oder einem anderen Boot verursacht werden könnte.
Bolitho sagte leise:»Ich kann den Kutter des Zweiten Offiziers nicht sehen, also müssen wir uns auf uns selbst verlassen.»
«Aye, Sir. «Die Antwort war barsch.
Bolitho dachte, Balleine grüble noch über das Auspeitschen nach oder fühle sich übergangen, weil er nur den Ausgucksposten erhalten hatte, Stockdale dagegen an der Pinne saß. Deshalb sagte er:
«Ich verlasse mich heute auf Ihre Erfahrung. «Als er sah, wie der Mann nickte, fühlte er, daß er den richtigen Ton getroffen hatte.»Ich fürchte, wir sind sonst ein wenig knapp daran.»
Der Bootsmannsmaat grinste.»Mr. Quinn und Mr. Couzens, Sir? Ich werde auf die beiden aufpassen.»
«Das wußte ich.»
Er berührte des Mannes Arm und tastete sich dann wieder nach achtern. Dabei nahm er vereinzelte Gesichter und Figuren wahr, so Dunwoody, einen Müllerssohn aus Kent, dann einen dunkelhäutigen Araber namens Kutbi, der in Bristol angeworben worden war und von dem auch heute noch niemand Näheres wußte. Dann Rabbett, ein zäher, kleiner Mann aus dem Hafenviertel von Liverpool, ferner Varlo, der in der Liebe Schiffbruch erlitten hatte und von dem Preßkommando aufgelesen worden war, als er in einer Kneipe seinen Kummer ersäufen wollte. Diese und viele andere kannte Bolitho allmählich, andere dagegen hielten sich abseits und verschanzten sich hinter der Barriere zwischen Back und Achterdeck.
Er erreichte den duchtfreien Raum im Heck des Bootes und setzte sich zwischen Quinn und Couzens. Ihre drei Lebensalter zusammen ergaben gerade zweiundfünfzig Jahre. Dieser Gedanke ließ ihn kichern, und er merkte, wie die anderen sich ihm zuwandten.
Sie denken, daß ich schon die Nerven verliere. Ich habe Sparke aus den Augen verloren und steure vielleicht in eine völlig falsche Richtung.
Er erklärte ihnen:»Tut mir leid, es war nur ein Gedanke. «Danach atmete er tief die nasse, salzige Luft ein.»Aber vom Schiff einmal weg zu kommen, ist schon Freude genug. «Er breitete die Arme aus und sah Stockdales schiefes Grinsen.»Freiheit zu tun, was wir wollen, ob richtig oder falsch.»
Quinn nickte.»Ich verstehe.»
Bolitho entgegnete:»Dein Vater wird danach stolz auf dich sein. Wenn wir so lange leben.»
Cairns hatte ihm erklärt, was Quinn damit meinte, daß seine Familie im Lederhandel tätig sei. Bolitho hatte sich vorgestellt, es seien kleine Gerber, wie es sie in Falmouth gab, die Zügel und Sättel, Schuhe und Riemen herstellten. Cairns hatte beinahe gelacht.»Mann, sein Vater gehört einer allmächtigen Gesellschaft in London an. Er hat Heereskontrakte und überall Einfluß! Wenn ich mir den jungen Quinn ansehe, wundere ich mich mitunter über seine Kühnheit, all diese Macht und das Geld auszuschlagen. Er muß entweder tapfer oder verrückt sein, das alles gegen dies hier einzutauschen!»
Ein großer Fisch sprang dicht am Boot aus dem Wasser und schlug klatschend auf, worüber Couzens und ein paar von den anderen erschraken.
«Auf Riemen!«Bolitho hob den Arm, um Schweigen zu gebieten.
Wieder war er sich der Weite der See und ihrer Einsamkeit bewußt, als die Riemen bewegungslos und tropfend auf dem Dollbord lagen. Er hörte das Gurgeln des Wassers um das Ruder herum, als das Boot in der Dünung noch langsame Fahrt machte. Dann das Klatschen eines weiteren Fisches, das schwere Atmen der Ruderer.
Schließlich flüsterte Quinn:»Ich höre den anderen Kutter, Sir!»
Bolitho nickte und wandte das Gesicht nach Steuerbord. Nun hörte auch er das gedämpfte Quietschen von Riemen in ihren Dollen. Sparke hatte etwa die gleiche Schlagzahl und war auf einer Höhe mit ihnen. Also kommandierte er leise:»Ruder an!»
Couzens neben ihm hustete nervös und fragte:»Wie — wie viele Mann wird der Feind haben, Sir?»
«Das kommt darauf an. Wenn sie schon eine oder gar mehrere Prisen gekapert haben, werden es nicht allzu viele sein. Wenn nicht, haben wir etwa die doppelte Anzahl gegen uns — oder auch mehr.»
«Verstehe, Sir.»
Bolitho wandte sich ab, Couzens verstand es bestimmt nicht, aber er war imstande, wie ein Veteran darüber zu reden.
Er fühlte den Nebel in seinem Gesicht wie einen kalten Hauch. Bewegte er sich rascher als vorher? Vor ihm erstand eine Vision aufkommenden Windes, der den Nebel wegtreiben und sie hilflos den Kanonen des Schoners ausliefern würde. Schon eines der kleinen Schwenkgeschütze konnte die Besatzung zerfetzen, noch bevor es zum Handgemenge kam.
Er blickte langsam über die Reihen der sich abmühenden Ruderer und über die anderen im Boot, die auf ihren Einsatz warteten. Wie viele von ihnen würden die Seite wechseln und überlaufen, wenn das geschähe? Es war schon oft genug vorgekommen, wenn britische Seeleute auf Kaperschiffen gefangengehalten wurden. Die Trojan hatte einige Leute in ihrer Besatzung, die während der letzten zwei Jahre gefangengenommen worden waren, sei es an Land oder auf See. Sie hatten es vorgezogen, auf sehen des Feindes zu kämpfen, als das Risiko von Krankheit oder möglichem Tod auf einem Gefangenenschiff einzugehen. Wo Leben war, gab es immer Hoffnung.
Er rieb seine Narbe, die so stark schmerzte, als wolle sie wieder aufplatzen.
Stockdale öffnete die Klappe seiner Laterne ein wenig und blickte auf den Kompaß.
«Kurs liegt an, Sir«, sagte er. Es schien ihn zu amüsieren.
Weiter und weiter ging es, die Leute an den Riemen wurden ausgewechselt, alles lauschte auf die Geräusche von Sparkes Kutter oder auf irgendein Zeichen von Gefahr.
Bolitho überlegte, daß der Schonerkapitän mit seiner Kenntnis der örtlichen Verhältnisse rechtzeitig mehr Segel gesetzt und somit den Nebel ausgesegelt haben konnte, daß er jetzt, schon Meilen entfernt, sich ins Fäustchen lachte, während sie langsam und qualvoll pullten, bis sie an irgendeiner Stelle von Neuenglands Küste landeten.
Er malte sich aus, was danach sehr rasch Wirklichkeit werden konnte: Sie kämen vielleicht unbemerkt an Land und würden versuchen, ein kleines Schiff zu stehlen und sich unter Segel davonzumachen. Aber was dann?
Baileines heiserer Ruf ertönte:»So etwas wie ein Lichtschimmer voraus, Sir!»
Bolitho stolperte nach vorn, alles andere war vergessen.»Dort, Sir.»
Bolitho strengte seine Augen an und starrte in die Dunkelheit. Ein Schimmer, das war die richtige Beschreibung, wie ein Kneipenfenster im Hafennebel. Keine Form, kein Mittelpunkt.
«Eine Laterne. «Balleine feuchtete seine Lippen an.»Hängt sehr hoch. Es ist also noch so ein Strolch in der Nähe.»
Bunces Berechnung war sehr genau gewesen, sonst hätten sie leicht das Schiff oder das Licht passieren können, ohne im Nebel etwas davon zu sehen. Der Abstand betrug eine knappe Meile.
«Auf Riemen!«Als er ins Bootsheck zurückkehrte, sagte er:
«Dort vorn liegt er, Jungs! Entweder Bug oder Heck uns zugewandt. Wir nehmen, was kommt.»
Quinn rief heiser:»Mr. Sparke holt uns ein, Sir.»
Sie hörten Sparke rufen:»Sind Sie bereit, Mr. Bolitho?«Es klang ungeduldig, seine vorherigen Zweifel schienen vergessen.
«Aye, Sir.»
«Wir greifen an beiden Enden an. «Sparkes Boot wurde durch den Nebel undeutlich sichtbar, sein weißes Hemd und die Breeches trugen noch zu der geisterhaften Erscheinung bei.»Auf diese Weise können wir die Besatzung spalten.»
Bolitho sagte nichts, aber sein Herz wurde schwer. Von beiden Enden — also lief das Boot, das am weitesten pullen mußte, Gefahr, gesehen zu werden, bevor seine Besatzung aufentern konnte.
Sparke ließ wieder anrudern und rief:»Ich übernehme das Heck.»
Bolitho wartete ab, bis das andere Boot frei von ihnen war, und ließ dann ebenfalls anrudern.»Weiß jeder, was er zu tun hat?»
Couzens nickte, das Gesicht konzentriert.»Ich bleibe im Boot,
Sir.»
Quinn stieß hervor:»Ich unterstütze Sie, Sir… äh… Dick, und übernehme das Vordeck.»
Bolitho nickte.»Und Balleine hält seine Leute zurück, bis sie die Musketen benützen können.»
Cairns hatte richtigerweise hierauf bestanden. Irgendein Narr konnte seine Muskete zu früh abfeuern, wenn die Gewehre von Anfang an geladen und gespannt gewesen wären.
Bolitho zog seinen Degen aus der Lederscheide und ließ diese auf die Bodenbretter fallen. Dort konnte sie warten, bis er sie wieder brauchte. Wenn er sie beim Angriff trug, konnte er sich daran verfangen und womöglich unter ein Entermesser fallen.
Er fuhr mit dem Daumen über die Klinge, hielt aber die Augen fest auf das flackernde Licht vor ihnen gerichtet. Je näher sie kamen, desto kleiner wurde es, da sein Hof im Nebel schrumpfte.
Im Augenwinkel meinte Bolitho eine Reihe von Spritzern zu sehen; offensichtlich beschleunigte Sparke den Schlag und setzte zum Angriff an.
Mit überraschender Plötzlichkeit tauchten die Masten und Gaffeln des Schoners wie schwarze Stangen aus dem Nebel, und der Schein der Laterne verschärfte sich zu einem einzigen klaren Licht.
Stockdale berührte Couzens Arm, und der Junge fuhr auf, als sei er gestochen worden.
«Hier, die Pinne, Sir. «Er führte Couzens Hand, als sei dieser erblindet.»Übernehmen Sie, wenn ich's sage. «Mit der anderen Hand ergriff er sein altmodisches Entermesser, das doppelt so schwer war wie die modernen.
Bolitho hob den Arm, die Riemen hoben sich aus dem Wasser und verharrten wie federlose Schwingen. Er hielt den Atem an und beobachtete die Richtung des Stromes und die Ruderwirkung. Sie trieben genau auf des Schoners überhängenden Vordersteven zu, unter dem Bugsprit hindurch.
«Riemen ein!«Er sprach in grimmigem Flüsterton, obwohl seine Herzschläge sicherlich bis Boston zu hören waren. Seine Lippen waren wie in einem unkontrollierten, wilden Grinsen erstarrt. Verrücktheit, Verzweiflung, Angst, alles lag darin.
«Klar bei Enterhaken!»
Er beobachtete, wie der schlanke Bug über sie hinwegfegte, als wolle der Schoner sie mit voller Fahrt rammen. Dann sah er Balleine mit dem Enterhaken in der Hand aufstehen, den richtigen Augenblick abwartend, während er sich unter dem Wasserstag duckte, das ihm den Kopf abzureißen drohte.
Plötzlich ertönte ein Knall, gefolgt von einem langgezogenen Schrei. Bolitho sah und hörte alles im selben Augenblick: das Aufblitzen, das von der See selbst herzukommen schien, die Antwortschreie vom Schiff über ihnen, die plötzliche Bewegung, mehr Explosionen, die die Wasseroberfläche aufpflügten.
Wütend sprang er auf.»Los, Jungs!»
Sparke strich er aus seinem Gedächtnis. Der Narr hatte jemandem gestattet, das Gewehr zu laden, es war vorzeitig losgegangen und hatte einen der eigenen Männer getroffen. Es war zu spät. Für sie alle.
Er riß den Arm hoch und packte die sich straffende Bootsleine, als der Enterhaken mit einem dumpfen Geräusch im Bugsprit gefaßt hatte und den Kutter längsseit schleuderte.
«Auf sie, Jungs!»
Mit Händen und Füßen kämpfte er sich aufwärts, den Degen am
Handgelenk baumelnd, und sprang auf das von Explosionen blitzartig erleuchtete Deck. Am anderen Ende des Schoners knatterte heftiges Gewehrfeuer, und während Bolithos Leute über die Back stolperten, geblendet gegen unbekanntes Gerät stießen und stürzten, hämmerten Aufschläge rings um sie her ins Deck oder heulten über den schwankenden Kutter wie irre Geister.
Er hörte Quinn neben sich keuchen und stolpern; Stockdales breite Gestalt war schon etwas weiter vorn, er hielt das Entermesser vor sich, als solle es den Feind wittern wie ein Hund.
Etwas flog aus dem Dunkel heran, und ein Mann stürzte schreiend zu Boden, eine Lanze in der Brust.
Weiteres Krachen, und noch zwei von Bolithos Leuten stürzten.
Aber sie waren jetzt näher dran. Bolitho ergriff seinen Degen und schrie:»Im Namen des Königs, ergebt euch!»
Wie erwartet antwortete ein Chor von Flüchen und höhnischen Rufen. Aber es gab ihnen die paar Sekunden, die sie benötigten, um mit den Rufern ins Handgemenge zu kommen. Er schlug jemandem den Säbel aus der Hand. Als der Mann hinlief, um ihn aufzuheben, drang ihm Stockdales Entermesser krachend in den Kopf.
Dann kämpften sie alle Brust an Brust, Klinge an Klinge. Hinter sich hörte er Balleine fluchen, und dann das sporadische Knallen von Musketen, als er es schaffte, ein paar Schüsse in die Wanten abzufeuern, von wo aus Scharfschützen ihr Ziel suchten.
Ein bärtiges Gesicht tauchte vor ihm auf, und Bolitho spürte, wie seine Klinge mit metallischem Klang gegen des Mannes Schwert schlug, als sie jeweils parierten und sich freischoben von der Menge, um Platz zum Kämpfen zu gewinnen. Um sie herum taumelten und torkelten Gestalten wie Trunkenbolde, ihre Entermesser sprühten Funken, die Stimmen klangen wild und verzerrt von Haß oder Angst. Bolitho duckte sich, traf den Mann am Brustkorb, und als dieser zurücktaumelte, schlug er ihm den Degen mit solcher Wucht ins Genick, daß sein Handgelenk wie betäubt war.
Aber sie wurden trotzdem gegen die Back zurückgedrängt. Irgendwo, scheinbar hundert Meilen entfernt, hörte er einen Kanonenschuß, und in seinem benommenen Gehirn zuckte der Gedanke auf, dies sei ein weiteres Schiff, das dem Schoner zu Hilfe eile.
Er rutschte in einer Blutlache aus, und ein sterbender Seemann, getreten und zerstampft von den Kämpfenden über ihm, versuchte, seinen Knöchel zu packen.
Ein anderer Mann schrie und fiel aus den Wanten, von einer Kugel getötet, bevor er an Deck aufschlug.
Bolitho sah jetzt ein Paar weißer Hosenbeine vor der dunklen Verschanzung und wußte, daß es Quinn war. Dieser wurde von zwei Männern zugleich angegriffen, und obgleich Bolitho einen von ihnen auf die Schulter schlug und den schreienden Mann beiseite riß, keuchte Quinn und brach in die Knie, beide Hände auf die Brust gepreßt.
Sein Angreifer war so blind vor Kampfeseifer, daß er Bolitho nicht bemerkte. Er stand über Quinn und holte zum Todesstreich aus. Bolitho konnte ihn am Ärmel packen und herumreißen, und durch die Wucht seines eigenen Schwertstreiches stürzte der Mann zu Boden. Bolitho schlug ihm den Handschutz seines Degens mit voller Wucht ins Gesicht, des Schmerzes im Handgelenk nicht achtend.
Sein Gegner taumelte wieder hoch, spuckte Zähne aus und griff von neuem an.
Plötzlich stand er stocksteif, seine Augen leuchteten im Dämmerlicht so weiß wie Kieselsteine, dann drehte er sich um seine eigene Achse und sackte zusammen. Balleine zog so ruhig sein Enterbeil aus des Mannes Rücken, als zöge er es aus einem Holzklotz.
Da ging Bewegung durch die Reihen der Angreifer, und einen Augenblick später hörten sie Sparkes durchdringende Stimme:»Hierher, Trojaner, zu mir!»
Von beiden Seiten angegriffen, mit weiteren Booten in der Nähe rechnend, beendete die Besatzung des Schoners den Kampf so jählings, wie er begonnen hatte.
Nicht einmal Flüche wurden gegen die britischen Seeleute laut. Die Männer der Trojan waren so wild und erbittert durch den Nachkampf, bei dem sie Tote und Verwundete zu beklagen hatten, daß sie nicht auch noch Beleidigungen hingenommen hätten. Die Schonerbesatzung schien das zu spüren und ließ sich widerstandslos entwaffnen, durchsuchen und dann in zwei überschaubare Gruppen zusammentreiben.
Sparke, in jeder Hand eine Pistole, stand inmitten der Toten und wimmernden Verwundeten, und als er Bolitho sah, knurrte er kurz:
«Hätte schlimmer sein können. «Er konnte seinen Stolz nicht verbergen.»Hübsches kleines Fahrzeug! Sehr hübsch!«Er sah Quinn und beugte sich über ihn.»Steht es schlimm?»
Balleine, der des Leutnants Hemd aufgerissen hatte und das Blut zu stillen versuchte, sagte:»Seine Brust ist ganz aufgeschlitzt, Sir, aber wenn wir ihn zu.»
Doch Sparke war schon gegangen und rief in bellendem Ton nach Frowd, dem Steuermannsmaaten, der das Schiff gleich bei der geringsten Brise unter Segel bringen sollte.
Bolitho lag auf den Knien und hielt Quinns Hände von der Wunde fern, während Balleine sein Möglichstes tat, um einen Behelfsverband anzulegen.
«Ruhig, James. «Er sah Quinns Kopf nach hinten fallen, seine Anstrengung, dem Schmerz nicht nachzugeben. Quinns Hände waren wie Eis, Blut glänzte überall.»Du wirst wieder gesund, ich verspreche es dir!»
Sparke kehrte zurück.»Kommen Sie, Mr. Bolitho, es gibt eine Menge zu tun. Ich wette, daß wir früher als uns lieb ist Gesellschaft bekommen.»
Plötzlich dämpfte er seine Stimme, und Bolitho sah sich einem Sparke gegenüber, wie er ihn noch nicht erlebt hatte.
«Ich weiß, wie Ihnen Quinns wegen zumute ist. Aber Sie dürfen es nicht zeigen. Vor allem nicht vor den Leuten. Jetzt, da der Kampf vorüber ist, fühlen sie den Schock. Sie blicken auf uns. Deshalb müssen wir unser Mitgefühl für später aufbewahren.»
Er wandte sich wieder ab.»Los, Jungs, die Kutter nach achtern und die Fangleinen festmachen. Überprüft die Geschütze und seht zu, daß sie geladen sind, um einen Angriff abzuschlagen: mit Kartätschen, Kugeln, allem, was ihr finden könnt. «Er suchte in der nebligen Dunkelheit nach jemandem.»Sie, Archer! Richten Sie ein Schwenkgeschütz auf die Gefangenen. Beim geringsten Anzeichen, daß sie das Schiff zurückerobern wollen, wissen Sie, was Sie zu tun haben!»
Stockdale wischte sein Messer am Hemdfetzen eines Unglücklichen sauber.
«Ich werde auf Mr. Quinn achten, Sir. «Er rieb das Messer noch einmal ab und steckte es dann in den Gürtel.»Ein kräftiger Schluck würde ihm jetzt guttun, denke ich.»
Bolitho nickte.»Ja, sehen Sie zu, was Sie machen können. «Damit ging er. Das Schluchzen und Stöhnen im Dunkel gab ein anschaulicheres Bild der Szene, als die klare Sonne es vermocht hätte.
Bolitho sah Dunwoody, den Müllerssohn, eine bewegungslose Gestalt abtasten. Der Seemann sagte mit gebrochener Stimme:»Das ist mein Freund, Sir, Bill Tyler.»
Bolitho antwortete:»Ich weiß, ich sah ihn fallen. «Dann rief er sich Sparkes Rat ins Gedächtnis und fügte hinzu:»Hol' die Laterne runter, sofort! Wir wollen keine Motten anlocken, oder?»
Dunwoody stand auf und wischte sich das Gesicht.»Nein, Sir, sicher nicht. «Er eilte von dannen, blickte sich aber noch einmal ungläubig nach seinem toten Freund um.
Sparke war überall, und als er beim Ruder wieder auf Bolitho stieß, sagte er lebhaft:»Es ist die Faithful, Eigner sind die Brüder Tracy aus Boston, bekannte Kaperkapitäne, und sehr erfolgreiche dazu.»
Bolitho wartete, seine Hände zitterten vor Anstrengung.
Sparke fuhr fort:»Ich habe die Kajüte durchsucht, da fand sich ein ganzer Stapel von Informationen!«Er sprudelte über vor Begeisterung.»Kapitän Tracy ist tot. «Er deutete auf die blicklosen weißen Augen des Mannes, der von Baileines Enterbeil gefällt worden war.»Das ist er. Der andere Tracy, sein Bruder, befehligt eine Brigg, die Revenge, die sie letztes Jahr von uns gekapert haben. Sie hieß damals Mischchief.»
«Aye, Sir, ich erinnere mich. Sie wurde vor Cape May gekapert. «Es war erstaunlich, daß er so ruhig sprechen konnte, als wären sie beide auf einem Spaziergang und nicht inmitten eines Blutbades.
Sparke betrachtete ihn neugierig.»Sind Sie jetzt ruhiger?«Er wartete die Antwort nicht ab.»Gut. Das ist der einzige Weg.»
Bolitho fragte ihn:»Ist Ladung an Bord, Sir?»
«Nein. Die wollten sie sich offenbar von unserem Konvoi holen. «Er blickte zu den kahlen Masten hinauf.»Lassen Sie ein paar Mann das Deck aufklaren. Es sieht hier ja aus wie in einem Schlachthaus. Die Leichen müssen über Bord und die Verwundeten nach unten. Dort herrscht zwar auch nicht viel Komfort, aber es ist etwas wärmer als an Deck.»
Als Bolitho davoneilen wollte, fügte Sparke noch hinzu:»Außerdem möchte ich, daß alles so ruhig wie möglich abläuft. Eventuell sind fremde Boote in der Nähe, und ich beabsichtige, dieses Schiff als Prise zu behalten.»
Bolitho suchte nach seinem Hut, der ihm während des Kampfes vom Kopf gefallen war. Das sah Sparke ähnlicher, dachte er grimmig. Einen Augenblick hatte er geglaubt, Sparkes Anweisung, die Verwundeten nach unten zu schaffen, beruhe auf reiner Menschlichkeit. Er hätte es besser wissen müssen.
Die Aufgaben wurden sofort in Angriff genommen. Die Gesunden verrichteten die schwereren Arbeiten, die Leichtverletzten bewachten die Gefangenen. Die Schwerverwundeten — darunter der Mann, der törichterweise seine Muskete vorzeitig abgefeuert und dabei eine Gesichtshälfte verloren hatte — halfen, soweit sie dazu in der Lage waren.
Sparke hatte diesen Zwischenfall nicht erwähnt, ohne den die Verluste erheblich reduziert worden, wahrscheinlich sogar minimal geblieben wären. Die Schonerbesatzung war gewiß tapfer gewesen, aber ohne diesen Warnschuß hätte es wohl nur ein paar blutige Nasen gegeben, zumal ihnen die eiserne Disziplin der Trojaner fehlte. Auch Sparke mußte sich das überlegt haben, doch hoffte er wohl, daß Pears nur die Prise sehen und darüber alles andere vergessen würde.
Einige Male stieg Bolitho in die Kapitänskajüte hinunter, wo der gefallene Kapitän Tracy gelebt und seine Pläne gemacht hatte. Quinn lag dort blaß auf einer rohen Koje, den Verband blutgetränkt, die Lippen vor Schmerz zerbissen.
Bolitho fragte Stockdale nach seiner Meinung; der antwortete ohne Zögern:»Er hat den Willen zum Leben, aber viel Hoffnung besteht nicht.»
Die ersten Anzeichen der Morgendämmerung kamen, der Nebel lichtete sich.
Aus des Schoners Lazarett hatten alle eine großzügige Rumzuteilung erhalten, auch die beiden jungen Fähnriche.
Aus der gesamten Gruppe von sechsunddreißig Seeleuten waren zwölf gefallen oder lagen im Sterben, und von den Überlebenden hatten einige so schwere Wunden, daß sie im Augenblick kaum von Nutzen waren.
Bolitho beobachtete den sich lichtenden Nebel, in dem der Schoner langsam Gestalt annahm. Er sah Couzens und Midshipman
Libby von Sparkes Boot auf die großen Blutflecken an Deck starren. Möglicherweise wurde ihnen erst jetzt klar, was sie hinter sich hatten.
Mr. Frowd, der Steuermannsmaat, wartete am Ruder und beobachtete die schlaffen Segel, die Bolithos Leute losgemacht hatten, klar für die erste aufkommende Brise. Die einzigen Geräusche waren das Schlagen der Blöcke und das Quietschen der Gaffeln und Bäume beim heftigen Rollen des Schiffes in der Dünung.
Mit dem Morgengrauen kam das Gefühl der Gefahr, wie es wohl ein Fuchs beim Überqueren offenen Geländes bei Büchsenlicht empfindet.
Die Faithful, das sah Bolitho jetzt, hatte acht Sechspfünder und vier Drehbassen, Schwenkgeschütze, die alle in Frankreich hergestellt waren. Dieser Umstand, dazu die Entdeckung frisch verpackten, erstklassigen Cognacs deutete auf enge Verbindung mit den französischen Kaperschiffen hin.
Es war ein handliches kleines Fahrzeug von ungefähr zwanzig Meter Länge, das höher an den Wind gehen konnte als die meisten anderen Schiffe, und das bestimmt jeden Rahsegler ausstechen würde.
Wer Kapitän Tracy auch gewesen sein mochte, er hatte in seine Pläne sicher nicht die Möglichkeit einbezogen, daß er am frühen Morgen nicht mehr am Leben sein würde.
Der Baum des Großsegels quietschte laut, und im Deck verspürte man ein Vibrieren.
Sparke rief:»Lebhaft, Leute, hier kommt der Wind!»
Bolitho sah sein Gesicht und schrie:»Klar bei Vorsegelfallen!«Dann winkte er Balleine:»Heiß Klüver und Stagsegel!«Des Schoners zurückkehrendes Leben schien auch ihn zu beeinflussen.»Einen guten Mann ans Ruder, Mr. Frowd!»
Frowd zeigte grinsend seine Zähne. Er hatte längst einen Rudergänger ausgesucht, verstand aber Bolithos Stimmung. Er diente in der Marine schon so lange, wie der Vierte Offizier an Jahren zählte.
Jeder von ihnen verrichtete die Arbeit von mindestens zwei Männern, beobachtet von den schweigenden Gefangenen, schufteten sie auf dem engen Deck, als hätten sie seit Monaten nichts anderes getan.
«Sir! Mastspitzen an Steuerbord!»
Sparke fuhr herum, als Bolitho auf die davonziehende Nebelbank wies. Zwei Masten stießen durch diese hindurch, einer mit schlaff hängendem Wimpel; es war klar zu erkennen, daß es sich um ein größeres Schiff als die Faithful handelte.
Die Blöcke klapperten und quietschten, als die Seeleute keuchend die Fock und dann das umfangreiche Großsegel mit dem seltsamen roten Flicken darauf hißten. Das Schiff holte über, und der Rudergänger meldete mit rauher Stimme:»Schiff steuert wieder, Sir!»
Sparke blickte auf den Kompaß.»Windrichtung wie bisher, Mr. Frowd. Lassen Sie etwas abfallen, denn nach Möglichkeit wollen wir vor dieser Augenweide dort den Windvorteil nutzen, aber wenn nötig, hauen wir ab.»
Die beiden großen Segel blähten sich, als die Bäume nach außen schwangen, und schüttelten den Regen des Vortages ab, wie Hunde, die aus dem Wasser steigen.
Bolitho rief:»Mr. Couzens, nehmen Sie sich drei Leute, und helfen Sie Balleine bei den Stagsegeln!»
Als er sich wieder umwandte, sah auch er, was Sparke gesehen hatte. Aus dem nach Lee abziehenden Nebel trat wie eine Ersche i-nung das andere Schiff hervor, eine Brigg. Von der Gaffel wehte, noch ein wenig schlaff in der erst aufkommenden Brise, die Unionsflagge mit ihren Sternen und Streifen.
Etwas wie ein Seufzer der Erleichterung entrang sich den zuschauenden Gefangenen; einer von ihnen rief:»Jetzt bekommt ihr gleich Blei zu spüren, bevor sie euch über Bord werfen!»
Sparke fuhr auf:»Stopft dem Kerl das Maul oder jagt ihm eine Kugel in den Kopf!«Dann, zu Frowd gewandt:»Fallen Sie noch zwei Strich ab!»
«Nordost liegt an!»
«Soll ich die Sechspfünder ausrennen lassen?»
Sparke hatte ein Fernrohr gefunden und richtete es auf die Brigg.»Es ist die alte Mischief. Ah, ich sehe ihren Kapitän. Das muß der andere Tracy sein. «Er blickte Bolitho an.»Nein. Denn wenn wir so dicht herangehen, daß wir diese kleinen Kanonen abfeuern können, verwandeln sie uns in Kleinholz. Wendigkeit und Schnelligkeit ist alles, was wir einsetzen können.»
Dann zog er die Uhr und blickte nicht einmal auf, als ein Geschütz bellte und im nächsten Augenblick eine Kugel die Fock durchschlug wie eine unsichtbare Faust.
Gischt peitschte jetzt über den Bug und prasselte auf die dort arbeitenden Seeleute. Der Wind frischte auf, während der Nebel vor dem Schoner zurückwich, als fürchte er, vom Klüverbaum aufgespießt zu werden.
Die Brigg hatte jetzt Marssegel und Fock gesetzt und war ihnen hart auf den Fersen. Sie versuchte offensichtlich, den Schoner in einem langen Schlag auszuluven. Ihre beiden Buggeschütze feuerten Schuß auf Schuß, die Luft war erfüllt von schauerlichem Geheul, was auf die Verwendung von Kartätschen oder Kettenkugeln hindeutete. Traf auch nur eine einzige von ihnen einen Mast, so war dies der Anfang vom Ende.
Ein weiteres Geschütz mußte jetzt auf die flüchtende Faithful gerichtet sein, denn eine Kugel fegte über das Achterdeck, zerfetzte Tauwerk und traf beinahe einen Gefangenen, der sich aufgerichtet hatte, um besser sehen zu können.
«Siehst du, Freund, das Yankeeblei ist für euch genauso gefährlich«, höhnte ein Seemann.
Ein weiterer Einschlag dicht neben der Bordwand überschüttete sie mit Spritzwasser.
Balleine kam nach achtern gerannt und fragte:»Soll ich die Bootsleinen kappen, Sir? Das macht uns sicher eine halbe Meile schneller.»
Plötzlich schrie ein Seemann ungläubig:»Der Yankee geht über Stag, Sir!»
Sparke gestattete sich ein kurzes Lächeln der Genugtuung. Durch den sich immer mehr lichtenden Nebel tauchte wie ein Geist die Trojan auf, unter vollen Segeln und mit bereits ausgefahrener Breitseite, zwei Linien schwarzer Mündungen.
Sparke rief:»Mr. Bolitho! Sie wird uns aufs Korn nehmen, wenn wir nicht vorsichtiger sind!»
Midshipman Libby flitzte bereits wie ein Kaninchen nach achtern, und Sekunden später wehte die britische Flagge frei von der Gaffel, so leuchtend rot wie die über dem vergoldeten Heck der Trojan.
Unten in der winzigen Kabine wischte Stockdale Quinns Stirn mit einem feuchten Tuch ab und blickte hinauf zum Oberlicht.
Langsam bewegte Quinn die trockenen Lippen.»Was war das für ein Geräusch?»
Stockdale betrachtete ihn traurig.»Hurrarufe, Sir. Sie scheinen die gute alte Trojan gesichtet zu haben!»
Dann verlor Quinn wieder das Bewußtsein, hinweggeschwemmt von einer Woge Schmerz. Wenn er am Leben blieb, dachte Stock-dale, war er wohl nie wieder derselbe wie vorher. Dann dachte er wieder an das Klatschen, mit dem die Leichen, Freund wie Feind, über Bord gegangen waren, und er sagte sich, daß Quinn immer noch besser dran war.