VII Hoffnungen und Ängste

Bolitho ging ein paar Schritte auf und ab, wobei er versuchte, im Schatten des großen Besansegels zu bleiben. Es herrschte drückende Hitze, und die leichte Brise, die über das Achterdeck der Trojan wehte, brachte keinerlei Kühlung.

Von der Back ertönten sechs Glasen, während ein Schiffsjunge das Halbstundenglas umdrehte. Noch eine Stunde bis Mittag…

Bolitho zuckte zusammen, als die Sonne ihn voll traf und seine Schultern versengte. Aus der Halterung nahm er das Teleskop und richtete es nach vorn, wo das Flaggschiff Resolute gerade in der langen Dünung auftauchte. Wie rasch hatten sich doch die Dinge geändert, dachte er. Am Tag nach dem Tod des mysteriösen Mädchens hatten sie Befehl bekommen, mit dem ersten günstigen Wind auszulaufen. Über ihr Ziel war nicht das geringste erwähnt worden, und bis zuletzt hatten die Zyniker in der Messe behauptet, es handle sich wieder nur um eine Übung oder darum, zur moralischen Unterstützung des Heeres Flagge zu zeigen.

Das war vor vier Tagen gewesen, vor vier mühevollen Tagen des langsamen Dahinkriechens in südlicher Richtung. Kaum zeigten ein paar Kräusel rund um das Ruder an, daß sie überhaupt Fahrt machten; in der ganzen Zeit hatten sie nicht mehr als vierhundert Meilen zurückgelegt.

Bolitho schwenkte das Teleskop weiter herum und sah die Sonne auf den Bramsegeln der Fregatte Vanquisher leuchten, die sich luvwärts von ihnen zum sofortigen Eingreifen bereit hielt, wenn ihre schwerfälligen Begleiterinnen sie benötigen sollten. Er richtete sein Glas wieder nach vorn auf das Flaggschiff. Gelegentlich, wenn es gerade auf einem Dünungskamm ritt, sah er noch ein kleineres Segel weit voraus, das» Auge «des Admirals.

Beim Passieren von Sandy Hook hatten sie bemerkt, daß auch die Korvette Spite Segel setzte und ohne jedes Aufsehen ihren Ankerplatz verließ. Sie segelte jetzt weit vor ihnen und würde durch Flaggensignale alles melden, was für den Admiral von Interesse sein konnte.

Es war ein prächtiges kleines Schiff, bestückt mit achtzehn Kanonen. Bolitho hatte es wiedererkannt: Es war dasselbe, das kurz vor Sparkes vergeblichem Versuch, die Brigantine zu bergen, auf die Faithful gefeuert hatte. Ihr Kommandant war erst vierundzwanzig Jahre alt, aber ebenso wie die anderen drei genau im Bilde darüber, was gespielt wurde.

Geheimhaltung hatte sich in ihre Welt eingeschlichen wie die ersten Zeichen einer Krankheit.

Das Deck zitterte, als sich steuerbords jetzt die Stückpforten des unteren Batteriedecks öffneten und kurz darauf dreißig Zweiund-dreißigpfünder ausgefahren wurden, als ginge es ins Gefecht. Wenn sich Bolitho über die Reling beugte, konnte er sie sehen; aber schon bei dem Gedanken, das heiße, zundertrockene Holz zu berühren, war ihm, als habe er sich verbrannt. Was Dalyell — jetzt Kommandierender des unteren Batteriedecks — auszuhalten hatte, wagte er sich kaum vorzustellen.

Die Segel flappten müde, aber vom Wimpel an der Mastspitze las er ab, daß der Wind sich keineswegs drehte. Es wehte weiterhin gleichmäßig aus Nordwest, aber zu schwach, um die brütende, feuchte Hitze aus den Decks zu vertreiben.

Die Geschütze wurden mit lautem Gepolter wieder eingefahren, und er sah im Geiste Dalyell auf die Uhr blicken und feststellen, daß es zu lange gedauert hatte. Kapitän Pears hatte seine Forderung eindeutig formuliert: Gefechtsklar in zehn Minuten oder weniger, beim Feuern drei Salven in zwei Minuten. Die letzte Übung hatte fast doppelt so lange gedauert.

Er konnte sich die Geschützbedienungen vorstellen, wie sie sich schwitzend und mit entblößten Oberkörpern abmühten, die schweren Geschütze auszufahren. Jedes wog über drei Tonnen, und wenn das Schiff auf Backbordbug segelte, mußten sie dieses Gewicht das schrägliegende Deck aufwärts wuchten. Es war nicht das richtige Wetter für eine derartige Arbeit, aber — wie Cairns oft betonte — das war es nie.

Bolitho blickte durch die Netze zur unsichtbaren Küste hinüber, deren Verlauf er sich vor Antritt jeder Wache auf der Karte einprägte. Cape Hatteras mit seinen Untiefen lauerte etwa zwanzig Meilen querab, und dahinter lagen der Pamlico Sound und die Flüsse North Carolinas.

Die See ringsum war leer. Nur ihre vier Schiffe, weit auseinander, um Wind und Sicht am günstigsten zu nutzen, bewegten sich langsam südwärts, einem unbekannten Ziel entgegen. Die vier Besatzungen zusammen, schätzte Bolitho, mußten rund tausendachthundert Mann zählen.

Kurz vorher hatte er Molesworth, den Zahlmeister und Proviantverwalter, mit seinem Gehilfen den Niedergang hinuntergehen sehen, Molesworth mit seinem großen Hauptbuch unter dem Arm, sein Gehilfe mit dem Werkzeugkasten, den sie zum Öffnen von Fässern und Kisten benötigten.

Es war Montag, und Bolitho konnte sich die gekritzelten Notizen in Molesworths Buch vorstellen: Pro Mann ein Pfund Schiffszwieback, ein halbes Pfund Hafermehl, zwei Unzen Butter, vier Unzen Käse und einen Liter Leichtbier. Danach war es dann Sache von Triphook, dem Koch und seinen Kochsmaaten, was sie aus dieser Tageszuteilung machten.

Kein Wunder, daß Zahlmeister immer sorgenvoll oder unehrlich waren. Wenn man die Tagesration eines Mannes mit der Zahl der Besatzung und dann mit der Zahl der Tage auf See multiplizierte, bekam man eine Vorstellung von ihren Problemen.

Fähnrich Couzens, der diskret mit seinem Glas an der Leereling stand, zischte:»Der Kommandant, Sir!»

Bolitho drehte sich rasch um; schon diese Bewegung ließ Schweiß zwischen seinen Schulterblättern herabrinnen, der sich über dem Gürtel sammelte wie heißer Regen.

Er legte die Hand an den Hut:»Südsüdwest, Sir, voll und bei!»

Pears musterte ihn unbewegt.»Der Wind scheint während der letzten Stunde gedreht zu haben, aber nicht genug, um etwas zu verändern.»

Weiter sagte er nichts, und Bolitho ging hinüber zur Leeseite, um seinem Kommandanten das Luvdeck zu überlassen.

Pears schlenderte langsam auf und ab, anscheinend in tiefe Gedanken versunken. Woran mochte er denken, überlegte Bolitho? An seine Segelorder, an Frau und Kinder in England?

Pears blieb stehen und wandte sich ihm zu.»Lassen Sie ein paar Leute nach vorn pfeifen, Mr. Bolitho. Die Luvfockbrasse ist so schlapp wie diese ganze Wache! Das muß erheblich besser werden!»

Bolitho nickte.»Aye, Sir, sofort!»

Er gab Couzens ein Zeichen, und einen Augenblick später holten einige Seeleute kräftig die Lose der Brasse durch; jeder von ihnen wußte, daß der Kommandant sie beobachtete.

Bolitho grübelte über Pears Benehmen nach. Die Brasse war nicht loser gewesen als bei diesem schwachen und unregelmäßigen Wind zu erwarten. Wollte Pears sie nur in Bewegung halten? Er dachte plötzlich an Sparke und an sein: Notieren Sie den Namen dieses Mannes!

Die Erinnerung stimmte ihn traurig.

Er sah Quinn vom Batteriedeck heraufkommen und nickte grüßend, fügte jedoch ein rasches Kopf schütteln hinzu, um ihn vor Pears Anwesenheit zu warnen.

Quinn hatte sich rascher erholt, als Bolitho zu hoffen gewagt hatte. Er sah schon wieder frischer aus und konnte aufrecht gehen, ohne das Gesicht vor Schmerzen zu verzerren.

Bolitho hatte die große Narbe auf Quinns Brust gesehen. Wenn sein Angreifer nicht noch im selben Augenblick gestört worden wäre, hätte die Klinge Muskel und Knochen durchbohrt und wäre ins Herz vorgedrungen.

«Mr. Quinn!»

Die Stimme schnellte nach dem jungen Fünften Offizier wie ein Lasso.

«Sir!«Er eilte über das Deck, in seinem Gesicht arbeitete es, als er überlegte, was er falsch gemacht habe.

Pears betrachtete ihn grimmig.»Freut mich, daß Sie wieder auf den Beinen sind.»

Quinn lächelte erfreut.»Danke, Sir.»

Pears nahm seinen täglichen Spaziergang wieder auf.»Sie werden mit Ihren Leuten heute nachmittag das Abschlagen eines Enterangriffs üben. Dann, wenn wir diesen Kurs beibehalten, gehen Sie mit den neuen Leuten in die Takelage zum Exerzieren. «Er nickte kurz.»Das wird Ihnen besser helfen als alle Pillen.»

Couzens rief aufgeregt:»Signal vom Flaggschiff, Sir!«Er blickte angestrengt durch das große Glas und runzelte die Stirn wie ein alter Mann, während er die bunten Flaggen an der Signalrah der Resolute entzifferte. »Setzt mehr Segel, Sir!»

Pears knurrte:»Alle Mann an Deck, Royals und Leesegel setzen!«Er ging nach achtern, wo jetzt der Master auftauchte, den Bolitho schroffen Tones sagen hörte:»Mehr Segel, das ist alles, was ihm einfällt, verdammt!»

Cairns eilte herbei, als die Pfeifen die Freiwache auf ihre Stationen riefen.

«Klar zum Royals setzen! Enter auf!»

Cairns sah Bolitho und hob die Schultern.»Der Captain ist schlechter Laune, Dick. Wir setzen jeden Morgen den Kurs ab, aber ich weiß so wenig wie Sie, wo es hingeht. «Er vergewisserte sich, daß Pears nicht in Hörweite war.»Es war doch sonst immer seine Art, uns die Aufgaben zu erklären, seine Ansicht mit uns zu erörtern. Doch wie es scheint, hat unser Admiral eine andere Auffassung.»

Bolitho dachte an des Admirals jugendlichen Enthusiasmus. Vielleicht war Pears schon zu alt und stand den Dingen etwas fern?

Allerdings lag nichts Altes in seiner Stimme und in seinen Augen, als er jetzt schrie:»Mr. Cairns! Treiben Sie die Leute nach oben, lassen Sie sie auspeitschen, wenn es nicht anders geht. Ich will mich nicht noch einmal vom Flaggschiff ermahnen lassen!»

Es wurde Mittag, bis die Royals und die großen, Fledermausflügeln ähnlichen Leesegel gesetzt waren. Das Flaggschiff hatte ebenfalls alles Tuch gesetzt und wurde fast begraben unter der ungeheuren Segelpyramide.

Probyn löste Bolitho ohne seinen sonstigen Sarkasmus ab. Er bemerkte nur:»Ich sehe keinen Sinn in der ganzen Geschichte. Tag für Tag dasselbe, ohne e in Wort der Erklärung. Das wird allmählich unheimlich!»

Zwei weitere Tage sollten jedoch verstreichen, ehe jemand etwas über ihr Ziel erfuhr.

Konteradmiral Coutts kleines Geschwader behielt zunächst den südlichen Kurs bei und drehte dann nach Südosten, um bei dem jetzt günstigeren Wind Cape Fear in genügendem Abstand zu umrunden, dieses Kap mit dem so treffenden Namen: Angst.

Bolitho war gerade abgelöst worden, als er völlig unerwartet zum Kommandanten befohlen wurde.

Es fand jedoch keine Konferenz statt, der Kommandant saß allein an seinem Schreibtisch. Sein Rock hing über der Stuhllehne, Halstuch und Hemd hatte er geöffnet.

Bolitho wartete. Kapitän Pears wirkte ruhig, es schien sich also nicht um die Erteilung einer Rüge zu handeln für etwas, das er getan oder nicht getan hatte.

Schließlich blickte Pears hoch.»Der Master und jetzt auch der Erste Offizier kennen unseren Auftrag. Sie werden es seltsam finden, daß ich Ihnen jetzt Einzelheiten anvertraue, noch bevor die anderen Offiziere unterrichtet sind, aber unter den gegebenen Umständen halte ich es für angebracht. «Er nickte in Richtung eines Stuhles.»Nehmen Sie Platz.»

Bolitho setzte sich, plötzlich erregt durch Pears Vorrede.

«In New York gab es vor unserem Auslaufen Aufregung und Unruhe. Sie spielten dabei keine geringe Rolle — «, Pears lächelte knapp — ,»was mich natürlich nicht wundert.»

Bolitho spitzte die Ohren. Er hatte doch geahnt, daß die Affäre mit dem toten Mädchen noch einmal zur Sprache kommen würde, ja sogar, daß ihr Auslaufen irgendwie damit zusammenhing.

«Ich will nicht in Einzelheiten gehen, aber das Mädchen, das Sie in diesem Bordell aufgescheucht haben, war die Tochter eines hohen New Yorker Regierungsbeamten. Das Ganze hätte sich zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt ereignen können. Sir George Helpman kam mit Aufträgen von Parlament und Admiralität aus London, um zu untersuchen, womit der Krieg vorangetrieben, aus der augenblicklichen Pattsituation herausgezwungen werden kann. Wenn erst die Franzosen in voller Stärke in den Kampf eingreifen, haben wir hier nicht mehr viel zu bestellen.»

«Ich dachte, wir tun alles, was in unserer Macht liegt, Sir?»

Pears sah ihn mitleidig an.»Wenn Sie etwas mehr Erfahrung hätten, Bolitho…«Er blickte ärgerlich zur Seite.»Helpman wird es schon selbst merken. Die korrupten Beamten, diese Laffen beim

Militärgouverneur, die tanzen und trinken, während unsere Soldaten draußen die Köpfe hinhalten. Und jetzt dieser Skandal: Die Tochter eines wichtigen Regierungsbeamten arbeitet Hand in Hand mit den Rebellen. Stets fuhr sie in einer Kutsche von zu Hause weg, zog sich Männerkleider an und traf sich mit einem Agenten Washingtons. Alle geheimen Pläne, derer sie habhaft werden konnte, hat sie verraten.»

Bolitho stellte sich die Bestürzung vor, die hierdurch ausgelöst worden war. Mit der rotgesichtigen Hure, die ihm ins Gesicht hatte spucken wollen, verspürte er jetzt beinahe Mitleid. Wenn derartig viel auf dem Spiel stand und es um so wichtige Personen ging, mußte man bei ihrer Vernehmung skrupellos jedes Mittel angewendet haben.

Pears fuhr fort:»Durch ihren Verrat waren die Brüder Tracy ständig in der Lage, unsere Bewegungen zu verfolgen. Ohne die Eroberung der Faithful, beziehungsweise Mr. Bunces gute Verbindungen zum Wettergott hätten wir niemals etwas davon erfahren. Es sind alles Glieder einer Kette. Noch etwas: Diese verdammte Hure hatte wohl ständig ein Ohr am Schlüsselloch. Jedenfalls haben die Kolonisten eine neue Festung errichtet, mit dem ausdrücklichen Auftrag, Waffen und Munition darin zu lagern und von dort aus ihre Truppen und Schiffe zu versorgen.»

Bolitho befeuchtete seine Lippen.»Und dorthin segeln wir jetzt,

Sir?»

«Das ist die Absicht, ja. Nach Fort Exeter in South Carolina, etwa dreißig Meilen nördlich von Charlestown.»

Bolitho erinnerte sich an das, was sich vor etwa einem Jahr bei einem anderen Rebellenfort südlich von Charlestown abgespielt hatte. Ein großes Geschwader mit eingeschifften Truppen war damals hingesegelt, um das Fort zu erobern, da dieses den Wasserweg nach Charlestown, dem wichtigsten Hafen südlich von Philadelphia, blockierte. Doch statt eines Sieges hatte es eine schmähliche Niederlage gegeben. Einige Schiffe waren infolge der ungenauen Seekarten bei dem Versuch, die Truppen zu landen, auf Grund gelaufen. An anderen Stellen war das Wasser für die Soldaten zu tief, um wie beabsichtigt an Land zu waten. Und die ganze Zeit über waren die Schiffe dem mörderischen Bombardement der Kolonisten ausgesetzt, die geschützt hinter ihren dicken Festungsmauern hervor feuerten. Schließlich hatte Kommodore Parker, dessen Flaggschiff am stärksten beschädigt worden war, den Rückzug befohlen. Die Trojan — auf dem Wege dorthin, um Verstärkung zu bringen — traf auf das bereits geschlagen zurückkehrende Geschwader.

Der Marine, die bis dahin weder Fehlschläge noch Niederlagen gekannt hatte, mußte dies wie eine Katastrophe erscheinen.

Pears, der Bolithos Gesicht beobachtet hatte, sagte plötzlich:»Ich sehe, Sie haben es nicht vergessen. Ich hoffe nur, daß wir später ebenfalls Gelegenheit haben werden, uns an dieses neue Abenteuer zu erinnern.»

Bolitho merkte, daß die Unterhaltung beendet war, und erhob sich. Pears fügte noch hinzu:»Ich habe Ihnen das alles wegen der Rolle erzählt, die Sie dabei spielten. Ohne Ihr Eingreifen hätten wir dieses Mädchen wahrscheinlich niemals entlarvt. Sir George Help-man hätte nicht Himmel und Hölle in Bewegung setzen können. «Er lehnte sich lächelnd zurück.»Und ohne Sir George würde unser Admiral nicht zu beweisen versuchen, daß er schafft, was andere nicht schafften. Alles Glieder in einer Kette, Bolitho, wie ich vorhin schon sagte. Denken Sie daran!»

Bolitho trat ins Freie und prallte beinahe gegen Hauptmann d'Esterre.»Dick, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen«, scherzte er.

Bolitho zwang sich zu einem Lächeln.»Ja, das habe ich auch: meinen eigenen.»

Als Cairns später die Aufgabe erhielt, den anderen Offizieren den Einsatzbefehl in vollem Umfang zu erläutern, wunderte sich wohl selbst der phantasieloseste unter ihnen über des Admirals Kühnheit.

Noch bevor sie von Land aus gesehen werden konnten, sollte die Korvette Spite sämtliche Marineinfanteristen der beiden großen Schiffe übernehmen und bei Dunkelheit, mit mehreren Booten im Schlepptau, in die Bucht segeln. Die beiden Zweidecker Resolute und Trojan, begleitet von der Vanquisher, würden ihre Fahrt entlang der Küste fortsetzen und das Fort ansteuern, das vor einem Jahr Kommodore Parkers Angriff abgeschlagen hatte.

Beobachtern an Land sowie den Offizieren des Forts und der Garnison von Charlestown würde dieser zweite Angriffsversuch plausibel erscheinen. Verletzter Stolz der Engländer und die Tatsache, daß dieses Fort weiterhin die Einfahrt nach Charlestown beherrschte und immer noch als Umschlagplatz für Waffen und Munition diente, waren hinreichende Gründe.

Fort Exeter dagegen war leichter zu verteidigen, besonders gegen Angriffe von See her, und seine Garnison würde sich völlig sicher fühlen, wenn das kleine Geschwader in Sichtweite ihrer Ausgucksposten erst vorbeigesegelt war.

Während Bolitho Cairns gleichmäßiger, leidenschaftsloser Stimme lauschte, glaubte er, Konteradmiral Coutts aus dessen Mund sprechen zu hören.

Die Spite würde die Soldaten, dazu bewaffnete Seeleute und das zum Erstürmen des Forts notwendige Gerät wie Leitern und dergleichen an Land setzen und noch vor Tagesanbruch wieder auslaufen. Der Angriff über Land wurde dem ältesten Offizier der Marineinfanterie überlassen, und das war Major Samuel Paget vom Flaggschiff.

D'Esterre hatte vertraulich über ihn geäußert:»Ein harter Mann. Was er sich in den Kopf gesetzt hat, führt er aus, nichts kann ihn davon abbringen. Andere Meinungen läßt er nicht gelten.»

Bolitho glaubte das gern. Er hatte Paget einige Male gesehen, er wirkte sehr aufrecht und gerade, tadellos in dem roten Rock mit weißen Aufschlägen und ebensolcher Schärpe. Andererseits hatte er Schwierigkeiten, seine zunehmende Korpulenz zu verbergen. Das Gesicht, einst sehr gut geschnitten, zeigte jetzt, da er die Mitte der Dreißig erreicht hatte, die ersten Spuren starken Trinkens und ungehemmter Tafelfreuden.

Jetzt, da ihre Aufgabe allgemein bekannt war, ging die Besatzung mit dem üblichen Gemisch von Gefühlen ans Werk. Grimmige Resignation auf Seiten derer, die daran teilnahmen, fröhlicher Optimismus bei denjenigen, die an Bord bleiben würden. Zum vorgesehenen Zeitpunkt begann das Übersetzen der Marineinfanteristen und der Matrosen auf die Korvette. Nach der sengenden Hitze des Julitages brachte der Abend wenig Erfrischung. Die beschwerliche und ermüdende Arbeit erregte die Gemüter, und es kam unter den Leuten oft zu Handgreiflichkeiten.

Bolitho musterte die letzte Gruppe der Seeleute und überzeugte sich, daß alle gut bewaffnet waren und in ihren Feldflaschen Wasser hatten, nicht etwa aufgesparten Rum, als Cairns zu ihm trat und fauchte:»Wieder eine Änderung!«»Wieso?»

Bolitho wartete in der Annahme, daß der Angriff verschoben worden sei.

Cairns aber sagte bitter:»Ich soll an Bord bleiben!«Er wandte sich ab, um seinen Ärger zu verbergen.»Schon wieder.»

Bolitho wußte nicht, was er sagen sollte. Cairns hatte offenbar damit gerechnet, als ältester Offizier den Angriff führen zu dürfen. Da er schon um seine Chance gebracht worden war, als Prisenkapitän eingesetzt zu werden oder wenigstens an der Eroberung der Faithful teilzunehmen, mußte er dieses Landungsunternehmen als seine rechtmäßige Belohnung ansehen, trotz der damit verbundenen Gefahr.

«Wird uns jemand vom Flaggschiff befehligen, Sir?»

Cairns blickte ihn an.»Nein, Probyn soll die Führung übernehmen. Gott helfe Ihnen!»

Bolitho verbarg seine Gefühle.»Und auch der junge James Quinn geht mit!»

Quinn hatte nichts gesagt, als man es ihm mitteilte, aber er hatte ausgesehen, als hätte ihn jemand geschlagen.

Cairns schien Bolithos Gedanken zu erraten.»Ja, Dick, so wird es vielleicht Ihnen zufallen, unsere Leute zurückzubringen.»

«Aber warum keiner vom Flaggschiff? Sicher haben sie einen, ja sogar mehrere Offiziere, die sie einsetzen könnten?»

Cairns betrachtete ihn seltsam.»Sie verstehen Admirale nicht, Dick. Niemals lassen sie ihre eigenen Leute gehen. Sie müssen immer eine wohlgeordnete Schar von Offizieren und Mannschaften um sich haben. Coutts ist da keine Ausnahme. Er will Perfektion, nicht einen zusammengewürfelten Haufen von alten Männern und Knaben, wie wir es bald sein werden.»

Er hätte noch mehr sagen können, beispielsweise daß Quinn mitgeschickt wurde, damit sich erwies, ob die Verwundung etwa seinen Mut und seine Entschlossenheit beeinträchtigt hatte; Probyn ging, weil man ihn nicht vermissen würde. Dann dachte Bolitho an seine eigene Position und mußte beinahe lächeln. Pears tat nur, was auch der Admiral getan hatte: die Besten behielt er für sich. Jeder nach Rang und Können Geringere wurde zuerst geopfert.

Cairns äußerte:»Gut, daß Sie dem allen noch Humor abgewinnen können. Ich selbst finde es unerträglich.»

Fähnrich Couzens, beladen mit Fernrohr, Dolch, Pistolen und einem großen Sack Lebensmittel, rief atemlos:»Die Spite signalisiert, Sir! Letzte Gruppe einschiffen!»

Bolitho nickte.»Gut, gehen Sie an Bord.»

Er sah einen weiteren Fähnrich in den Kutter hinabklettern, einen ernsten Sechzehnjährigen namens Huyghue, und sich neben den Bootssteurer setzen, der wohl doppelt so alt war wie er.

«Ich sehe, Sie sind fertig, Mr. Bolitho.»

Probyns unangenehme Stimme riß ihn herum. Der Zweite Offizier konnte erst soeben von der Änderung erfahren haben, aber er wirkte bemerkenswert ruhig. Natürlich war er rot im Gesicht, aber das war bei ihm normal, und als er sich nun über die Reling beugte und in die längsseits liegenden Boote blickte, machte er einen fast gleichgültigen Eindruck.

Cairns richtete sich auf, als er des Kommandanten schweren Schritt hinter sich hörte.»Viel Glück, ihr beiden!«Dann blickte er zu der wie betrunken schwankenden Korvette hinüber.»Ich wäre gern mitgefahren.»

Probyn sagte nichts, legte nur die Hand an den Hut und folgte den anderen in das überfüllte Boot.

Bolitho sah Stockdale in einem der Kutter und nickte ihm zu. Wenn.er aus irgendeinem Grunde nicht teilgenommen hätte, wäre ihm das wie ein böses Omen erschienen. Ihn dort im Boot zu sehen — groß, breit und mit ruhigem Gesicht — , machte vieles wieder wett.

Probyn knurrte:»Legen Sie ab, ich habe keine Lust, hier in dieser verdammten Hitze noch länger zu schmoren!»

Als sie bei der Korvette eintrafen, schrie der Kommandant durch sein Sprachrohr:»Bewegt euch, verdammt noch mal! Dies ist ein Schiff des Königs und kein Hummerboot!»

Erst jetzt zeigte Probyn so etwas wie Erregung.»Hören Sie das? Unverschämter junger Flegel! Mein Gott, wie ein eigenes Kommando die Menschen doch verändert!»

Bolitho warf ihm einen raschen Blick zu. Mit diesen wenigen Worten hatte Probyn einen Teil seines Inneren enthüllt. Bolitho wußte, daß er vor Ausbruch des Krieges mit Halbsold an Land gesessen hatte. Ob es infolge seines starken Trinkens oder ob er durch sein Mißgeschick erst zum Trinker geworden war, ließ sich nicht feststellen. Auf jeden Fall hatte man Probyn bei der Beförderung übergangen, und somit mußte er sich nun von dem jugendlichen Kommandanten der Spite anschreien lassen.

Als sie auf dem Deck der Korvette standen, fragte sich Bolitho, wo die vielen Marineinfanteristen geblieben waren. Wie schon auf der Faithful, waren sie bereits Minuten nach ihrer Einschiffung unter Deck verschwunden. An der Heckreling sah er Major Paget mit d'Esterre und den zwei Leutnants der Marineinfanterie sprechen.

Der Kommandant der Korvette trat zu ihnen, nickte kurz und rief dann:»Mr. Walker, bringen Sie sie auf Kurs!«Zu Bolitho gewandt, fügte er hinzu:»Ich schlage vor, daß Sie unter Deck gehen. Meine Leute haben alle Hände voll zu tun, und es stört, wenn überall fremde Offiziere herumstehen.»

Bolitho tippte an seinen Hut. Im Gegensatz zu Probyn konnte er des jungen Mannes Schärfe verstehen. Er nahm sein Kommando und die ihm unvermutet übertragene Aufgabe sehr ernst. Dicht bei lagen zwei große Linienschiffe, und sein Admiral sowie mehrere ältere Seeoffiziere beobachteten kritisch alle seine Manöver.

Noch ein letztes Mal sprach er Bolitho an.»Sind Sie nicht der Offizier, der vor zwei Wochen in diesen Zwischenfall mit meinem Schiff verwickelt war?»

Seine Stimme hatte einen scharfen, spöttischen Ton, und Bolitho vermutete, daß mit ihm nicht gut Kirschen essen war. Vierundzwanzig Jahre alt… Was hatte Probyn vorhin gesagt? Wie ein eigenes Kommando doch die Menschen verändert.

«Nun?»

«Aye, Sir. Ich war zweiter Mann bei dem Unternehmen. Unser Anführer fiel.»

«Aha. «Er nickte.»Mein Geschützführer hätte das kurz davor ebenfalls fast bewirkt. «Damit ließ er Bolitho stehen.

Dieser bahnte sich nach achtern einen Weg durch die Seeleute, die an Brassen und Fallen arbeiteten und niemanden außer ihren eigenen Offizieren sahen.

Die Boote wurden zum Heck gepullt und dort an den bereitgelegten Leinen festgemacht. Noch bevor Bolitho das Niedergangsluk erreicht hatte, holte die Spite unter dem Segeldruck über und nahm schäumend Fahrt auf.

Die Messe war überfüllt von Offizieren, und der Zahlmeister brachte mit dem Steward Flaschen und Gläser für die zusätzlichen Gäste herbei.

Als sie Probyn Wein anboten, schüttelte er den Kopf und sagte abrupt:»Für mich nicht, danke! Später vielleicht.»

Bolitho wandte sich ab, um den inneren Kampf des Mannes nicht mit ansehen zu müssen. Noch nie hatte er erlebt, daß Probyn einen Drink ablehnte, es mußte ihn jetzt gewaltige Anstrengung kosten. Aber es war sehr wichtig für ihn, Erfolg zu haben, und dafür gab er einiges auf, offensichtlich sogar das Trinken.

Während der Nacht und des folgenden Tages kreuzte die Spite außer Sichtweite der Küste und' näherte sich nur langsam ihrem

Ziel.

Fort Exeter lag auf einer sandigen, vier Meilen langen Insel, die etwa die Form einer Axt hatte. Bei Niedrigwasser war sie durch einen nicht sehr zuverlässigen Damm aus Sand und Kies mit dem Festland verbunden. Daneben lag die Einfahrt zu einer Art Lagune, ein vom Fort aus mühelos zu verteidigender Ankerplatz, den sorgsam postierte Geschütze bestreichen konnten.

Sobald die Landungstruppen abgesetzt waren, sollte die Spite sich zurückziehen und vor der Morgendämmerung wieder außer Sicht sein. Wenn es zu stark abflaute, würde der Angriff verschoben werden, bis wieder genügend Wind aufkam. Auf keinen Fall sollte er aufgegeben werden, außer wenn der Feind mißtrauisch wurde und sich verteidigungsbereit machte.

Bolitho dachte an Major Samuel Paget, den Mann, der den Angriff führen sollte' es schien ihm nicht einmal sicher, daß er in diesem Fall das Unternehmen abbrach.

Загрузка...