10

Lynley betrachtete das Gertrude-Jekyll-Buch, die Fotos und Zeichnungen von Gärten, die in Frühlingsfarben leuchteten. Die Töne waren weich und beruhigend, und während er sie ansah, konnte er fast fühlen, wie es wäre, auf einer jener verwitterten Steinbänke zu sitzen und sich in der pastellfarbenen Blütenpracht zu ergehen. Gärten sollten so sein wie diese hier, dachte er. Nicht wie die formalen Parterres des elisabethanischen Zeitalters: zurechtgestutzte Büsche und beschnittene Vegetation. Sie sollten die üppige Imitation dessen sein, was die Natur hervorbringen würde, wenn alles Unkraut verbannt wäre, die übrigen Pflanzen sich jedoch frei entwickeln durften: Farbranken, die sich ungehindert auf Rasenflächen ergossen, Beeteinfassungen aus blühenden Kräutern und Pfade, die sich dazwischen hindurchschlängelten, wie sie es auch in freier Natur getan hätten. Ja, Gertrude Jekyll hatte gewusst, was sie tat.

»Sie sind wunderschön, nicht wahr?«

Lynley sah auf. Daidre Trahair stand vor ihm und streckte ihm ein Stielglas entgegen. Sie vollführte eine kleine, entschuldigende Geste, nickte auf das Glas hinab und sagte: »Ich habe nur Sherry als Aperitif. Ich glaube, er steht hier, seit ich das Cottage habe, und das sind… vier Jahre?« Sie lächelte. »Ich trinke nicht viel, darum weiß ich nicht… Kann Sherry überhaupt schlecht werden? Ehrlich gesagt, weiß ich nicht einmal, ob er trocken oder süß ist. Aber ich schätze mal, süß. Auf der Flasche stand "cream".«

»Dann ist er süß«, bestätigte Lynley. »Danke.« Er nahm das Glas. »Sie trinken keinen?«

»Meiner steht in der Küche.«

»Und Sie erlauben wirklich nicht, dass ich Ihnen helfe?« Er nickte in die Richtung, wo eben noch Küchengeräusche zu hören gewesen waren. »Ich bin nicht besonders geschickt in diesen Dingen. Ehrlich gesagt, ich bin ein hoffnungsloser Fall. Aber ich könnte vielleicht irgendetwas schnippeln. Oder abmessen. Ich darf wohl mit Fug und Recht behaupten, dass ich das reinste Genie im Abmessen mit Tassen und Löffeln bin.«

»Das tröstet mich«, antwortete sie. »Sind Sie in der Lage, einen Salat zuzubereiten, wenn alle Zutaten vor Ihnen liegen und Sie keine kritischen Entscheidungen treffen müssen?«

»Solange ich kein Dressing anrühren muss. Sie sollten mir lieber keine Essig- und Ölflaschen anvertrauen oder was immer man auch braucht, um ein Salatdressing zuzubereiten.«

»So hoffnungslos können Sie doch gar nicht sein«, entgegnete Daidckre lachend. »Ich bin sicher, Ihre Frau…« Sie brach ab. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich vermutlich, so nahm er an, weil der seine sich verändert hatte. Bedauernd senkte sie den Kopf. »Es tut mir leid, Thomas. Es ist schwierig, sie nicht zu erwähnen.«

Lynley erhob sich, das Jekyll-Buch noch immer in Händen. »Helen hätte diese Gärten geliebt«, sagte er. »In unserem Garten in London hat sie immer die verblühten Rosen zurückgeschnitten. Das fördere die Knospenbildung, hat sie gesagt.«

»Und damit hatte sie völlig recht. Mochte sie die Gartenarbeit denn?«

»Sie hielt sich gern in Gärten auf. Ich glaube, sie mochte eher die Ergebnisse als die Gartenarbeit selbst.«

»Aber Sie wissen es nicht genau?«

»Nein.« Er hatte sie nie danach gefragt. Manchmal war er nach Hause gekommen und hatte sie im Garten angetroffen, die Rosenschere in der Hand und einen Eimer mit abgeschnittenen Blüten zu ihren Füßen. Dann hatte sie ihn angesehen, sich das dunkle Haar aus dem Gesicht gestrichen und irgendetwas über Rosen gesagt, über Gärten im Allgemeinen, und was sie sagte, zwang ihn zu einem Lächeln. Und das Lächeln wiederum brachte ihn dazu, die Welt jenseits der Ziegelmauern ihres Gartens zu vergessen, eine Welt, die tunlichst vergessen und weggeschlossen werden musste, damit sie sich nicht in das Leben drängte, das er und Helen sich teilten. »Sie konnte übrigens auch nicht kochen«, erzählte er Daidre. »Sie kochte schauderhaft. Absolut grässlich.«

»Das heißt, es hat keiner von Ihnen beiden je gekocht?«

»Genau so war's. So etwas wie Eier auf Toast habe ich natürlich schon zustande gebracht, und Helen war unschlagbar darin, Konservendosen mit Suppe, Bohnen oder Räucherlachs zu öffnen, obwohl man anschließend damit rechnen musste, dass sie die Dose in die Mikrowelle stellte und einen Kurzschluss verursachte, der das ganze Haus lahmlegte. Nein, wir hatten jemanden eingestellt, der für uns gekocht hat. Das war die einzige Alternative zu Curry vom Inder an der Ecke oder Verhungern. Und kein Mensch kann Tag für Tag Curry essen.«

»Bedauerlich«, sagte Daidre. »Kommen Sie! Vielleicht können Sie von mir noch etwas lernen.«

Sie ging zurück in die Küche, und er folgte ihr. Aus einem Schrank zauberte sie eine Holzschüssel, deren Rand mit primitiven Schnitzereien von Tänzerfiguren verziert war, fand ein Schneidebrett und eine Auswahl an Lebensmitteln, die selbst für ihn allesamt leicht zu identifizieren waren und die die Grundlage für den Salat bilden sollten, drückte ihm ein Messer in die Hand und hieß ihn, sich an die Arbeit zu machen. »Werfen Sie einfach alles zusammen. Das ist das Wunderbare an einem Salat. Und wenn die Schüssel voll ist, bringe ich Ihnen bei, wie man ein schlichtes Dressing zubereitet, das auch Ihre erbärmlichen Kochkünste nicht überfordern wird. Irgendwelche Fragen?«

»Ich bin überzeugt, sie werden sich während der Entstehung dieses Werkes ergeben.«

Sie arbeiteten in einträchtigem Schweigen. Lynley bereitete den Salat zu, Daidre ein Gericht aus grünen Bohnen und Minze. Aus dem Ofen duftete es bereits nach Pastete, während irgendetwas anderes auf dem Herd vor sich hinsimmerte. Nach einer Weile war das Essen fertig, und Daidre instruierte Thomas Lynley in der Kunst des Tischdeckens. Er wäre dazu durchaus in der Lage gewesen, doch er ließ zu, dass sie es ihm vormachte; das gab ihm die Möglichkeit, sie zu beobachten und einzuschätzen.

Er war sich nur zu bewusst, welche Instruktionen DI Hannaford ihm mit auf den Weg gegeben hatte, und auch wenn ihm der Gedanke nicht gefiel, Daidre Trahairs Gastfreundschaft für seine Erkundungen zu missbrauchen, statt sie lediglich als Einladung in ihre Welt zu betrachten, so gewann der Ermittler in ihm doch die Oberhand. Also beobachtete er und wartete und blieb wachsam für etwaige Brosamen an Informationen, die er womöglich über sie würde sammeln können.

Es waren nicht viele. Daidre war äußerst umsichtig. Was an sich schon eine wertvolle Brosame war.

Sie nahmen ihr Mahl in dem winzigen Esszimmer zu sich, wo ein Stück Pappe über dem Fenster ihn daran erinnerte, dass er immer noch die Scheibe für sie reparieren musste. Daidre hatte ein Gericht zubereitet, das sie Portobello Wellington nannte, dazu gab es Kuskus mit getrockneten Tomaten, grüne Bohnen mit Knoblauch und Minze und seinen Salat, der mit Öl, Essig, Senf und italienischen Kräutern angemacht war. Wein gab es keinen, nur Zitronenwasser. Sie entschuldigte sich dafür, genau wie zuvor für den Sherry. Sie hoffe überdies, er habe nichts gegen ein vegetarisches Essen einzuwenden. Sie sei zwar keine Veganerin, erklärte sie; sie sehe weiß Gott keine Sünde darin, Tierprodukte wie Eier zu verspeisen. Aber was das Fleisch anderer Kreaturen betreffe, die diesen Planeten mit ihr teilten — das scheine ihr dann doch zu… na ja, kannibalisch. »Was immer den Tieren widerfährt, widerfährt auch den Menschen«, führte sie aus. »Alle Dinge sind miteinander verbunden.«

Irgendwie klang dies in seinen Ohren wie ein Zitat, und noch während er das dachte, erklärte sie ohne jede Verlegenheit, dass es dies tatsächlich sei. »Das sind nicht meine Worte. Ich weiß nicht mehr, wer es gesagt oder geschrieben hat, aber als ich vor Jahren zum ersten Mal darüber gestolpert bin, hatte es für mich irgendwie den Klang von Wahrheit.«

»Aber trifft das nicht auch auf Zoos zu?«

»Sie meinen, Tiere in Unfreiheit zu halten, führe zur Unfreiheit der Menschen?«

»So ungefähr. Ich… Entschuldigen Sie, aber ich habe für Zoos nicht sonderlich viel übrig.«

»Ich auch nicht. Sie sind ein Relikt aus viktorianischen Zeiten: die kompromisslose Beschlagnahme der Natur im vermeintlichen Dienste der Forschung ohne den dazugehörigen Respekt dafür. Ich persönlich hasse Zoos, um ganz ehrlich zu sein.«

»Aber Sie haben sich dafür entschieden, in einem Zoo zu arbeiten.«

»Ich habe mich dafür entschieden, die Lebensbedingungen der Tiere zu verbessern.«

»Das System von innen zu unterwandern.«

»Es nützt mehr, als mit einem Protestplakat herumzulaufen, oder etwa nicht?«

»Etwa so, als ginge man auf Fuchsjagd und binde einen Hering an den Schweif seines Pferdes.«

»Mögen Sie Fuchsjagden?«

»Ich finde sie grauenhaft. Ich habe nur eine einzige miterlebt, an Weihnachten vor vielen Jahren. Ich muss ungefähr elf Jahre alt gewesen sein. Der gute alte Oscar Wilde hat mit seinem berühmten Tadel den Nagel wirklich auf den Kopf getroffen, auch wenn ich selbst es damals noch nicht in Worte fassen konnte. Ich wusste nur, dass es mir nicht behagte, wie eine Hundemeute einem verängstigten Tier nachjagte… und es in Stücke riss, sobald sie es aufspürte… Das war nichts für mich.«

»Das heißt, Sie haben ein Herz für die Tierwelt.«

»Ich bin jedenfalls kein Jäger, falls Sie das meinen. In grauer Vorzeit hätte ich als Mann sicherlich kläglich versagt.«

»Sie hätten es nicht fertiggebracht, plüschige Mammuts zu erlegen?«

»Ich fürchte, wäre ich ein Stammesführer gewesen, wäre die Evolution zum Stillstand gekommen.«

Sie lachte. »Sie sind wirklich drollig, Thomas!«

»Nur hin und wieder«, schränkte er lächelnd ein. »Erzählen Sie mir, wie Sie das System unterwandern.«

»Im Zoo? Nicht so effektiv, wie ich es gern täte.« Sie füllte sich grüne Bohnen auf, reichte ihm die Schüssel und sagte: »Nehmen Sie noch etwas! Das Rezept stammt von meiner Mutter. Das Geheimnis liegt in der Zubereitung der Minze. Man schmort sie gerade so lange in Olivenöl, bis sie weich wird. So entfaltet sich der Geschmack am besten.« Sie kräuselte die Nase. »Oder so was in der Art. Wie auch immer, die Bohnen darf man jedenfalls nur fünf Minuten lang kochen. Sonst werden sie matschig, und das darf auf keinen Fall passieren.«

»Es gibt nichts Schlimmeres als matschige Bohnen«, pflichtete er ihr bei und tat sich eine weitere Portion auf. »Kompliment an Ihre Mutter. Es schmeckt hervorragend. Sie haben ihr alle Ehre gemacht. Wo wohnt Ihre Mutter eigentlich? Meine lebt ein Stück südlich von Penzance, unweit von Lamorna Cove. Und ich fürchte, ihre Kochkünste sind gleichermaßen unterentwickelt wie meine.«

»Ach, Sie stammen aus Cornwall?«

»Mehr oder minder. Und Sie?«

»Ich bin in Falmouth aufgewachsen.«

»Auch dort geboren?«

»Ich… na ja, annähernd. Ich war eine Hausgeburt, und meine Eltern lebten damals ein Stück weit außerhalb von Falmouth.«

»Eine Hausgeburt? Wie außergewöhnlich«, bemerkte Lynley. »Ich wurde übrigens auch zu Hause geboren. Wir alle.«

»Sicherlich in gediegenerer Umgebung als ich«, erwiderte Daidre. »Wie viele Geschwister sind Sie denn, alle zusammen?«

»Drei. Ich bin der Mittlere. Ich habe eine ältere Schwester, Judith, und einen jüngeren Bruder, Peter. Und Sie?«

»Ich habe einen Bruder. Lok.«

»Ungewöhnlicher Name.«

»Er ist Chinese. Wir haben ihn adoptiert, als ich siebzehn war.« Sie schnitt einen säuberlichen kleinen Keil vom Portobello Wellington und balancierte ihn auf ihrer Gabel, während sie fortfuhr: »Er war damals sechs. Inzwischen studiert er Mathematik in Oxford. Er ist ein wahres Superhirn.«

»Wie kam es, dass Ihre Familie ihn adoptiert hat?«

»Wir haben ihn im Fernsehen gesehen in einer Doku auf BBC über chinesische Waisenhäuser. Er war dorthin gekommen, weil er Spina bifida hat. Seine Eltern glaubten wohl, er würde sie im Alter nicht versorgen können — obwohl ich das nicht sicher weiß, ehrlich gesagt, und sie selbst hatten nicht das nötige Kleingeld, um ihn zu versorgen. Also haben sie ihn abgegeben.«

Lynley betrachtete sie. Sie erschien ihm vollkommen ungekünstelt. Alles, was sie sagte, ließe sich problemlos überprüfen. Und doch…

»Das "Wir" gefällt mir«, sagte er.

Sie hatte eine Gabel voll Salat aufgespießt, doch nun verharrte ihre Hand auf halbem Weg zum Mund, und ihr Gesicht rötete sich. »Das "Wir"?«, wiederholte sie, und Lynley ging auf, sie glaubte, er spräche von ihnen beiden, von diesem Moment, da sie hier zusammen an ihrem kleinen Esstisch saßen. Bevor ihm selbst die Röte ins Gesicht steigen konnte, führte er aus: »Sie haben gesagt: "Wir haben ihn adoptiert." Das gefällt mir.«

»Ach so. Nun ja, es war eine Familienentscheidung. Wichtige Entscheidungen haben wir immer gemeinsam getroffen. Sonntagnachmittags hielten wir Familienrat, gleich nach dem Roastbeef und dem Yorkshire Pudding.«

»Ihre Eltern waren also keine Vegetarier?«

»Um Himmels willen, nein. Es gab Fleisch und Gemüse. Lamm, Schwein oder Rind jeden Sonntag. Manchmal Hähnchen. Dazu Rosenkohl. Mein Gott, wie ich Rosenkohl hasse! Habe ich immer schon und werde ich für alle Zeiten zu Tode gekocht, genau wie Möhren und Blumenkohl.«

»Nur die Bohnen nicht.«

»Bohnen?« Sie sah ihn verständnislos an.

»Sie sagten, Ihre Mutter habe Ihnen beigebracht, wie man grüne Bohnen kocht.«

Ihr Blick streifte die Schüssel, in der noch zehn oder zwölf Bohnen lagen. »Ach so, ja. Die Bohnen. Das war nach ihrem Kochkurs. Mein Vater hat irgendwann seine Liebe zur mediterranen Küche entdeckt, und meine Mutter dachte, es müsse doch noch irgendetwas anderes als Spaghetti Bolognese geben, also hat sie sich auf die Suche gemacht.«

»In Falmouth?«

»Genau. Wie gesagt, dort bin ich aufgewachsen.«

»Sind Sie dort auch zur Schule gegangen?«

Sie sah ihn offen an. Ihr Ausdruck war freundlich, sie lächelte, aber ihr Blick war wachsam. »Ist das hier ein Verhör, Thomas?«

Er hob beide Hände zu einer Geste, die Aufrichtigkeit ebenso wie Kapitulation ausdrücken sollte. »Tut mir leid. Berufsrisiko. Erzählen Sie mir mehr über Gertrude Jekyll.« Einen Moment lang zweifelte er, ob sie der Bitte entsprechen würde. »Ich habe gesehen, dass Sie mehrere Bücher über sie haben«, fügte er hinzu, um sie zu ermuntern.

»Sie ist sozusagen die Antithese zu Capability Brown«, antwortete sie, nachdem sie einen Moment überlegt hatte. »Ihr war bewusst, dass nicht jeder Gartenfreund ein weitläufiges Gelände zur Verfügung hatte. Das gefällt mir an ihr. Ich hätte selbst gern einen Jekyll-Garten, aber vermutlich bin ich hier zu Heide- und Wildkräutern verdammt. Bei diesem Wind und dem ruppigen Wetter… Na ja, in manchen Dingen muss man eben praktisch denken.«

»In anderen nicht?«

»Absolut.« Sie hatten beide ihre Mahlzeit beendet, und Daidre stand auf, um den Tisch abzuräumen. Wenn seine vielen Fragen sie verärgert hatten, wusste sie es gut zu verbergen, denn sie lächelte und hieß ihn, ihr zu folgen, weil er ihr beim Abwasch helfen sollte. »Und danach werde ich Ihre Seele läutern und Sie fix und fertig machen. Natürlich nur im metaphorischen Sinne.«

»Und wie gedenken Sie das zu bewerkstelligen?«

»An nur einem Abend, meinen Sie?« Sie nickte in Richtung Wohnzimmer. »Mit einer Partie Darts«, erklärte sie. »Ich muss für ein Turnier trainieren. Auch wenn ich annehme, dass Sie kein ernstzunehmender Gegner sein werden, sind Sie doch immer noch besser als gar kein Gegner.«

»Darauf bleibt mir natürlich nur zu erwidern, dass ich Sie haushoch schlagen und bis auf die Knochen demütigen werde«, konterte Lynley.

»Den Fehdehandschuh nehme ich auf. Wir spielen jetzt gleich, einverstanden? Der Verlierer macht den Abwasch.«

»Einverstanden.«


Ben Kerne wusste, er würde seinen Vater anrufen müssen. Es war ihm zwar klar, dass er angesichts dessen Alters eigentlich persönlich nach Pengelly Cove fahren und ihm die Nachricht von Santo schonend beibringen sollte, aber er war seit Jahren nicht dort gewesen und konnte einer Rückkehr im Moment auch nicht ins Auge sehen. Pengelly Cove hatte sich garantiert kein bisschen verändert — die abgeschiedene Lage zum einen, zum anderen die Entschlossenheit der Bürger, niemals irgendetwas zu ändern, erst recht nicht ihre Grundsätze und Prinzipien. Eine Fahrt dorthin würde ihn zurück in die Vergangenheit katapultieren, und sich der Vergangenheit zu stellen, erschien ihm schier unerträglich. Nur die Gegenwart war noch schlimmer. Er sehnte sich nach einem Ort des Vergessens, einem Fluss, in dem sein Geist schwimmen konnte und der seine Erinnerungen hinfortspülte, bis sie keine Macht mehr über ihn hatten.

Ben hätte die ganze Sache auf sich beruhen lassen, wäre Santo nicht der Lieblingsenkel seiner Großeltern gewesen. Er wusste genau, es war mehr als unwahrscheinlich, dass sie ihn Ben je von sich aus kontaktieren würden. Das hatten sie seit seiner Heirat nicht getan, und die einzige Gelegenheit, da er mit ihnen sprach, war, wenn er selbst sich bei ihnen meldete: entweder zu Weihnachten, um eine steife Konversation zu führen, oder gelegentlich ein offeneres Gespräch mit seiner Mutter, wenn er sie auf der Arbeit anrief. Oder wenn er verzweifelt auf der Suche nach einem Ort war, wohin er Kerra und Santo schicken konnte, wenn Dellen mal wieder eine ihrer schlechten Phasen hatte. Vielleicht hätten die Dinge anders gelegen, wenn er ihnen hin und wieder geschrieben hätte. Womöglich hätte er sie mit der Zeit sogar versöhnlich gestimmt. Aber er war kein guter Briefschreiber, und selbst wenn, hätte ihm stets die Loyalität im Wege gestanden, die er Dellen schuldete, und all das, was diese Loyalität ihm seit seiner Jugend abverlangt hatte. Also hatte er nie einen Versöhnungsversuch unternommen; seine Eltern allerdings ebenso wenig. Als seine Mutter mit Ende fünfzig einen Schlaganfall erlitten hatte, hatte Ben nur deshalb davon erfahren, weil Santo und Kerra sich zu dieser Zeit bei ihren Großeltern aufgehalten und die Nachricht bei ihrer Heimkehr mitgebracht hatten. Selbst Bens Geschwistern war untersagt worden, ihn darüber zu informieren.

Ein anderer Mann hätte es seinen Eltern vielleicht mit gleicher Münze heimgezahlt und zugelassen, dass sie durch irgendeinen dummen Zufall von Santos Tod erfuhren. Aber Ben hatte versucht und war in so vieler Hinsicht gescheitert, ein anderer Mann zu sein als sein Vater. Und das bedeutete, er musste eine Bresche in die Mauer sprengen, die sein Herz umgab, und sich ihrer erbarmen, obgleich doch sein einziger Wunsch war, sich an irgendeinem Ort zu verstecken, wo er allein und unbehelligt all das betrauern konnte, was er betrauern musste.

Außerdem würde die Polizei Eddie und Ann Kerne früher oder später ohnehin kontaktieren. Sie würde, wie es nun einmal ihre Aufgabe war, im Leben und in der Vergangenheit eines jeden herumstöbern, der mit dem Verstorbenen zu tun gehabt hatte — Gott, jetzt nannte er Santo schon einen Verstorbenen! Was sagte das wohl über seinen Gemütszustand aus?, und sie würde nach allem suchen, was Anlass bot, irgendjemandem Schuld zuzuweisen. Sobald sein Vater von Santos Tod erfuhr, würde er seine Trauer zweifellos zunächst in Beschimpfungen und dann in Anklagen kleiden. Und es wäre keine Frau an seiner Seite, die in der Lage wäre, ihn zu besänftigen. Stattdessen würde Ann Kerne in der Nähe stehen, und ihre Miene würde die Qual offenbaren, die sie all die Jahre an der Seite eines Mannes erduldet hatte, den sie liebte, aber nicht bändigen konnte. Und obwohl es keinen Hinweis darauf gab, dass Ben die Schuld an Santos Tod trug, war es doch Aufgabe der Polizei, Schlüsse zu ziehen, Punkte zu verbinden, ganz gleich ob sie irgendetwas miteinander zu tun hatten. Darum wollte Ben nicht, dass die Ermittler mit seinem Vater sprachen, ehe dieser erfahren hatte, was mit seinem Lieblingsenkel passiert war.

Ben beschloss, den Anruf von seinem Büro aus zu tätigen und nicht aus der Wohnung. Er stieg die Treppe hinab, statt den Fahrstuhl zu nehmen, denn so konnte er das Unvermeidliche noch ein wenig länger aufschieben. Im Büro angelangt, griff er nicht sofort nach dem Telefon. Stattdessen betrachtete er die Magnettafel, auf der die Wochen vor und nach der Eröffnung von Adventures Unlimited in Kalenderform aufgeführt waren.

Sowohl Aktivitäten als auch Buchungen waren dort eingetragen. Der Anblick der Tafel führte ihm deutlicher denn je vor Augen, wie dringend sie Alan Cheston brauchten. In den Monaten vor Alans Ankunft hatte es Dellen oblegen, sich um das Marketing zu kümmern, aber sie hatte nicht allzu viel zustande gebracht. Sie hatte zwar Ideen gehabt, aber praktisch keine davon in die Tat umgesetzt. Organisation gehörte eben nicht zu ihren Stärken.

Und was ist ihre Stärke, wenn man fragen darf?, hätte sein Vater zu wissen verlangt. Vergiss es! Du brauchst nicht zu antworten. Das ganze verdammte Dorf weiß, was sie am besten kann, da mach dir mal nichts vor.

Das stimmte natürlich nicht. Es war einfach die Art seines Vaters, ihn zu verhöhnen, weil er überzeugt war, man müsse dafür sorgen, dass Kinder nicht gar zu selbstbewusst würden. Er vertrat tatsächlich die Ansicht, Kinder dürften unter keinen Umständen Vertrauen in ihre eigenen Entscheidungen entwickeln. Er war kein schlechter Mensch, einfach nur festgefahren in seiner Art, und seine Art war nicht Bens, und so war es letztlich zum Konflikt gekommen.

Genau wie zwischen ihm selbst und Santo, ging Ben nun auf. Das Schlimmste daran, Vater zu sein, war die Erkenntnis, dass der eigene Vater einen Schatten warf, dem zu entkommen man niemals hoffen konnte.

Er betrachtete den Kalender. Noch vier Wochen bis zur Eröffnung. Und sie mussten öffnen, auch wenn er sich im Moment nicht vorstellen konnte, wie sie das bewerkstelligen sollten. Er war nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache, aber sie hatten so viel Geld in dieses Unternehmen investiert, dass es außer Frage stand, die Eröffnung zu verschieben, ganz zu schweigen davon, überhaupt nicht zu öffnen. Außerdem betrachtete Ben die eingegangenen Buchungen als Verträge, die er nicht brechen durfte, und auch wenn es nicht so viele geworden waren, wie er es sich für diesen Zeitpunkt in der Unternehmensgründung einmal erträumt hatte, glaubte er doch daran, dass Alan Chestons Einstellung daran etwas zu ändern vermochte. Alan hatte Ideen und die Fähigkeit, sie wahr werden zu lassen. Er war clever, und er hatte Führungsqualitäten. Und das Wichtigste: Er war vollkommen anders als Santo.

Ben ahnte, dass dieser Gedanke ihn an die Grenze der Illoyalität führte. Indem er den Gedanken in sich trug, tat er ebendas, was er niemals hatte tun wollen: Er sorgte dafür, dass die Vergangenheit sich wiederholte.

Du denkst nur mit dem Schwanz, Junge, hatte sein Vater wieder und wieder zu ihm gesagt, und einzig seine wechselnden Gefühlsregungen variierten dabei: von Bedauern über Zorn bis hin zu Hohn und Verachtung. Mit Santo hatte es sich ganz genauso verhalten, und Ben wollte lieber nicht darüber nachdenken, was hinter der Neigung seines Sohnes zu sexuellen Eskapaden gesteckt hatte oder wohin diese Neigung ihn hätte führen können.

Statt es noch länger aufzuschieben, griff er nach dem Telefon auf dem Schreibtisch. Er tippte die Zahlen mit zu viel Kraft ein. Es bestand kein Zweifel, dass sein Vater noch wach war und durch das heruntergekommene Haus spukte. Eddie Kerne litt an Schlaflosigkeit, genau wie Ben. Vermutlich würde er noch stundenlang aufbleiben und all die Dinge tun, die es nachts eben zu tun gab, wenn man sich für einen grünen Lebensstil entschied, wie sein Vater es vor Jahren getan hatte. Eddie Kerne und seine Familie hatten immer nur dann Strom gehabt, wenn sie ihn durch Wind- oder Wasserkraft erzeugen konnten. Wasser gab es nur, wenn es von einem Bach umgeleitet oder aus einem Brunnen geschöpft wurde, und Wärme nur dann, wenn die Solarzellen sie lieferten. Sie züchteten und bauten an, was sie zum Essen brauchten, und ihr Heim war ein verfallenes Farmhaus gewesen, preiswert erstanden und von Eddie und seinen Söhnen vor dem endgültigen Verfall bewahrt: Granitblock für Granitblock gekalkt, das Dach neu gedeckt und Fensterscheiben eingesetzt so dilettantisch, dass im Winter der Wind durch die Ritzen zwischen Mauer und Rahmen pfiff.

Wie üblich nahm sein Vater den Anruf mit einem gebellten »Ja, bitte?« entgegen. Und als Ben nicht sofort etwas sagte, blaffte er hinterher: »Wenn Sie da sind, reden Sie! Wenn nicht, verschwinden Sie aus der Leitung!«

»Hier ist Ben.«

»Welcher Ben?«

»Benesek. Ich hab dich doch nicht geweckt, oder?«

Nach einer kurzen Pause entgegnete Eddie: »Und was, wenn doch? Nimmst du neuerdings auf irgendwen Rücksicht außer auf dich selbst?«

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, wollte Ben schon kontern. Und ich hatte den besten aller Lehrer. Stattdessen sagte er jedoch: »Santo ist tot. Es ist gestern passiert. Ich dachte, du solltest das wissen, denn er hatte dich gern, und vielleicht beruhte das ja sogar auf Gegenseitigkeit.«

Wieder Schweigen. Diesmal währte es länger. Und dann: »Bastard.« Seine Stimme klang so angespannt, dass Ben dachte, sie würde brechen. »Bastard. Du änderst dich nie, was?«

»Willst du hören, was mit Santo passiert ist?«

»In was hast du ihn reingeraten lassen?«

»Was ich dieses Mal getan hab, meinst du?«

»Was ist passiert, verdammt? Was zum Teufel ist passiert?«

Ben berichtete so knapp wie möglich. Zum Schluss erwähnte er, dass es Mord gewesen sei; er nannte es vorsichtig ein Tötungsdelikt. »Jemand hat an seiner Kletterausrüstung herumgepfuscht«, sagte er.

»Gott verflucht!« Eddie Kernes Stimme drückte jetzt nicht mehr Wut, sondern Entsetzen aus. Aber der Zorn kehrte schnell zurück: »Und was zum Henker hast du getrieben, während er an irgendeiner verfluchten Klippe herumgekraxelt ist? Hast du ihm dabei zugesehen? Ihn angestachelt? Oder hast du's derweil mit ihr getrieben?«

»Er war allein. Ich wusste nicht mal, dass er zum Klettern rauswollte. Ich weiß auch nicht, warum er's getan hat.« Der letzte Satz war gelogen, aber Ben konnte es nicht ertragen, seinem Vater zusätzliche Munition zu liefern. »Erst sah es nach einem Unfall aus. Aber als sie sich seine Ausrüstung genauer angesehen haben, war klar, dass jemand sie manipuliert hat.«

»Wer?«

»Das wissen sie noch nicht, Dad. Wenn sie es wüssten, würden sie jemanden verhaften, und die Sache wäre erledigt.«

»Erledigt? So sprichst du vom Tod deines Sohnes? Von deinem Fleisch und Blut? Von dem Menschen, der deinen Namen hätte weitertragen sollen? Erledigt? Die Dinge werden erledigt, und du machst einfach so weiter? Ist es das, Benesek? Du und Wieheißtsienochgleich spaziert einfach in die Zukunft und lasst die Vergangenheit hinter euch? Aber das kannst du ja hervorragend. Genau wie sie. Sie versteht sich ganz besonders gut darauf, wenn ich mich recht entsinne. Wie nimmt sie es auf? Kommt diese Geschichte ihrem… ihrem Lebensstil in die Quere?«

Ben hatte die boshaften Betonungen in der Sprechweise seines Vaters beinahe vergessen, die bedeutungsvollen Worte und rhetorischen Fragen, die allein dem Zweck dienten, das fragile Selbstwertgefühl seines Gegenübers zu untergraben. In Eddie Kernes Welt hatten Individuen keine Berechtigung. Familie bedeutete in seiner Welt bedingungslose Treue zu einer einzigen Überzeugung und einem einzigen Lebensentwurf zu seinem Lebensentwurf. Wie der Vater, so der Sohn, dachte Ben. Wie gründlich hatte er doch seine eigene Vaterrolle vermasselt!

»Wir haben noch keinen Termin für die Beerdigung«, teilte er seinem Vater mit. »Die Behörden haben den Leichnam noch nicht freigegeben. Ich habe ihn noch nicht einmal gesehen.«

»Woher zum Henker weißt du dann, dass es Santo ist?«

»Da sein Wagen vor Ort war, sein Ausweis im Auto lag und er seither noch nicht wieder nach Hause gekommen ist, können wir es wohl als gesichert betrachten, dass es sich um Santo handelt.«

»Du bist ja so ein Dreckskerl, Benesek! Von deinem eigenen Sohn so zu sprechen!«

»Was, bitte schön, erwartest du, soll ich sagen, wenn dir doch nichts, was ich sage, je recht wäre? Ich habe angerufen, um es dir persönlich mitzuteilen, weil du es sonst von der Polizei erfahren hättest, und ich dachte…«

»Und das willst du natürlich nicht, oder? Dass ich mich mit den Cops unterhalte. Dass ich ihnen was erzähle und sie mit gespitzten Ohren lauschen.«

»Wenn du meinst«, erwiderte Ben lahm. »Was ich eigentlich sagen wollte, war: Ich dachte, du hörst es lieber von mir als von der Polizei. Sie werden kommen, um mit euch zu reden, mit dir und auch mit Mum. Sie werden mit jedem reden, der Kontakt mit Santo hatte. Ich dachte, du wüsstest vielleicht gern, was sie auf deinem Grund und Boden verloren haben, wenn sie irgendwann auftauchen.«

»Ich hätte sofort gewusst, dass du dahintersteckst«, gab Eddie Kerne zurück.

»Ja. Ich schätze, das hättest du.« Und dann legte er auf, ohne sich zu verabschieden.

Er hatte die ganze Zeit über gestanden, aber jetzt ließ er sich in den Schreibtischstuhl sinken. Er fühlte, wie sich in seinem Innern ein enormer Druck aufstaute, so als wüchse in seiner Brust ein Tumor, der ihm den Atem abschnürte. Das Büro schien zu schrumpfen. Bald würde alle Luft verbraucht sein.

Er musste das alles hinter sich lassen. Wie immer, hätte sein Vater gesagt. Sein Vater ein Mann, der die Vergangenheit verfälschte, damit sie seinen momentanen Absichten zu dienen vermochte. Aber dieser Moment hier hatte keine Vorgeschichte. Diesen Moment allein, das Hier und Jetzt, galt es zu überstehen.

Er stand auf, verließ das Büro. Ging die Korridore entlang hin zum Geräteraum, wo er zuvor schon gewesen war und wohin er Detective Inspector Hannaford geführt hatte. Dieses Mal trat er jedoch nicht an die lange Schrankreihe, wo einmal Santos Kletterausrüstung gelagert hatte. Vielmehr ging er weiter in einen angrenzenden kleineren Raum und machte sich an einem Verschlag zu schaffen, der mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Der einzige Schlüssel dazu war in Bens Besitz, und jetzt benutzte er ihn. Als die Türen aufschwangen, schlug ihm der starke Geruch von altem Gummi entgegen. Es ist über zwanzig Jahre her, dachte er. Noch vor Kerras Geburt. Wahrscheinlich würde das Ding auseinanderfallen, sobald er es in die Hand nahm.

Aber das tat es nicht. Bevor er auch nur einen Gedanken an das Warum verschwendet hatte, steckte er in dem Anzug, von den Schultern bis zu den Knöcheln in Neopren gehüllt, und er zog den Reißverschluss im Rücken an einer Kordel zu. Ein ordentlicher Ruck, der Rest ging einfach. Keine Korrosion. Ben hatte seine Ausrüstung immer schon gepflegt.

Können wir jetzt endlich nach Hause gehen, hatten seine Kumpels immer gemeckert. Kerne, du Wichser! Wir frieren uns hier draußen deinetwegen noch den Arsch ab!

Aber er hatte darauf bestanden, noch am Strand seine Sachen mit Leitungswasser abzuspülen. Und wenn er nach Hause kam, tat er dort das Gleiche noch einmal. Die Surfausrüstung hatte ihn eine Menge Geld gekostet, und er wollte keine neue kaufen müssen, nur weil er nicht verhindert hatte, dass das Salzwasser die alte zerfraß. Also spülte er seinen Neoprenanzug immer sofort gründlich ab — die Schuhe, Handschuhe und Kapuze ebenfalls und zum Schluss das Board. Seine Freunde hatten gejohlt und ihn ein Weichei geschimpft, aber Ben hatte sich niemals beirren lassen.

Nicht in diesem und nicht in irgendeinem anderen Punkt, dachte er jetzt. Seine eigene Entschlossenheit kam ihm inzwischen vor wie ein Fluch.

Das Board lehnte seitlich an der Wand. Er zog es hervor, nahm es in Augenschein. Keine Macken, die Oberfläche immer noch gewachst. Nach heutigen Standards eine echte Antiquität, aber noch immer vollkommen ausreichend für seine Zwecke was immer diese Zwecke sein mochten. Er wusste es selbst nicht genau. Er musste einfach raus aus dem Hotel. Er hob Schuhe, Handschuhe und Kapuze auf und klemmte sich das Surfbrett unter den Arm.

Vom Geräteraum öffnete sich eine Tür zur Terrasse, und von dort gelangte man zum immer noch leeren Swimmingpool. Eine Betontreppe führte von der gegenüberliegenden Seite hinauf zu der Stelle, von der aus sich ein Weg zum St. Mevan Beach hinabschlängelte. Eine Reihe Strandhütten war daran entlang in die Klippen gebaut worden, nicht die üblichen freistehenden Holzhäuschen, sondern ein zusammenhängender, lang gezogener Komplex, der aussah wie ein niedriges Stallgebäude mit schmalen blauen Türen. Ben folgte dem Weg, atmete gierig die kalte Seeluft ein und lauschte dem Rauschen der Wellen. Oberhalb der Strandhütten hielt er an, um die Neoprenkapuze überzuziehen; die Schuhe und Handschuhe wollte er sich erst unten am Strand überstreifen.

Er sah aufs Meer hinaus. Es war Flut, sodass die Riffe überspült waren. Es waren ebendiese Riffe, die die Wellen beständig machten. Aus der Entfernung schätzte er sie auf knapp zwei Meter. Sie brachen genau richtig im ablandigen Wind. Wäre es einigermaßen hell gewesen, und sei es nur in der Morgen- oder Abenddämmerung, hätte man die Bedingungen als gut bezeichnen können selbst zu dieser Jahreszeit, da das Wasser noch eiskalt war.

Aber niemand surfte bei Nacht. Es gab zu viele Tücken, angefangen bei den Riffen und der Kabbelung bis hin zu dem sich gelegentlich hierher verirrenden Hai. Doch es ging ihm weniger ums Surfen als vielmehr um das Erinnern, und auch wenn Ben sich nicht erinnern wollte, hatte das Telefonat mit seinem Vater ihn doch gezwungen, es zu tun. Entweder das oder er hätte im King-George-Hotel bleiben müssen, und das hätte er nicht ertragen.

Er stieg die Stufen zum Strand hinab. Der Pfad war hier unbeleuchtet, doch die Straßenlaternen oben auf der Anhöhe warfen ein bisschen Licht auf die Felsen und den Sand. Er suchte sich einen Weg zwischen Schieferplatten und Sandsteinbrocken hindurch Bruchstücke von der Klippe, die das Fundament der Anhöhe darstellte.

Endlich erreichte er den Sand. Dies war nicht der feine, weiche Sand einer Tropeninsel, sondern vielmehr über Jahrmillionen entstandener Kies, wo der Permafrost am Ende der Eiszeit geschmolzen war und träge Moränen scharfkantige Geröllbrocken hinterlassen hatten, die das Wasser nach und nach zu harten, groben Körnern zermahlen hatte. Im Sonnenlicht funkelten sie manchmal ein wenig, üblicherweise jedoch wirkten sie stumpf, waren von gräulich brauner Farbe und scharfkantig genug, um sich Hautabschürfungen einzuhandeln, wenn man nicht achtgab.

Zu seiner Rechten lag die Sea Pit, der Meerwasserpool, den die Flut mit frischem Wasser füllte und inzwischen fast vollständig bedeckte. Zu seiner Linken lag die Flussmündung des Cas und jenseits davon das, was vom Casvelyn Canal noch übrig war. Und vor ihm die See. Rastlos und fordernd. Sie zog ihn magisch an.

Er legte das Board im Sand ab und zog sich Schuhe und Handschuhe über. Einen kurzen Moment lang blieb er hocken, eine zusammengekauerte schwarze Gestalt, die Casvelyn den Rücken kehrte. Er betrachtete das phosphoreszierende Leuchten der Wellen. Als Jugendlicher war er häufig nachts am Strand gewesen, aber nicht zum Surfen. Wenn sie für den Tag genug vom Wellenreiten gehabt hatten, hatten sie einen Feuerring gelegt. Und wenn das Feuer heruntergebrannt war, hatten sie sich paarweise davongestohlen. Bei Ebbe lockten die großen Höhlen von Pengelly Cove. Dort hatten sie sich geliebt. Auf einer Decke oder auch nicht. Halb bekleidet oder nackt. Nüchtern, beschwipst oder volltrunken.

Sie war so viel jünger gewesen. Und sie hatte ihm gehört. Sie war alles gewesen, was er wollte. Das hatte sie gewusst, und dieses Wissen war zur Ursache aller Probleme geworden.

Er stand auf und ging mit dem Board unterm Arm auf das Wasser zu. Er hatte keine Halteleine dabei, aber das spielte keine Rolle. Wenn es davontrieb, trieb es eben davon. Das Board in seiner Nähe zu halten, wenn er herunterfiel, war derzeit wie so viele Dinge in seinem Leben ein Erfordernis, zu dem er keine Kraft aufbringen würde.

Seine Füße und Knöchel spürten den Kälteschock zuerst. Dann die Waden, Knie, Oberschenkel, der Rest seines Körpers. Es würde ein Weilchen dauern, bis seine Körpertemperatur das Wasser im Innern des Anzugs aufwärmte, und bis dahin gemahnte die Eiseskälte ihn daran, dass er lebte.

Als er tief genug ins Wasser gewatet war, legte er sich auf das Brett und paddelte hinaus zu dem Riff zu seiner Rechten, dorthin, wo die Wellen sich brachen. Die Gischt sprühte ihm ins Gesicht, und die Wellen spülten über ihn hinweg. Für einen Augenblick erwog er, einfach immer weiter zu paddeln, bis der Tag anbrach und er sich so weit von der Küste entfernt hatte, dass Cornwall nicht mehr als nur noch eine Erinnerung war. Doch er vermochte das Joch aus Liebe und Pflicht nicht abzustreifen. Also hielt er jenseits des Riffs inne und setzte sich rittlings auf sein Board. Zuerst saß er mit dem Rücken zum Strand und sah auf das endlose, wogende Meer hinaus. Dann drehte er das Brett und sah vor sich die Lichter von Casvelyn: die Reihe heller, weißer Laternen oben auf der Anhöhe, dann das orangefarbene Schimmern hinter den Vorhängen in den Häusern, wie Gaslichter im neunzehnten Jahrhundert oder die offenen Feuer früherer Zeitalter.

Die Wellen waren verführerisch, boten ihm einen hypnotischen Rhythmus, der ebenso tröstlich wie tückisch war. Wie die Rückkehr in den Mutterleib, dachte er. Man konnte sich auf dem Board ausstrecken, auf dem Meer schaukeln und schlafen, für immer. Aber Wellen brachen, sowie die Landmasse darunter zum Ufer hin anstieg. Dieses schiere Getöse von Wasser, das auf Wasser traf! Hier lauerte Gefahr ebenso wie Verführung. Wollte man sich nicht der Macht der Wellen unterwerfen, musste man das Schicksal in die eigenen Hände nehmen.

Er fragte sich, ob er nach all diesen Jahren noch den richtigen Moment erkennen würde: das Zusammentreffen von Form, Kraft und Krümmung, das dem Surfer bedeutete, dass es Zeit war aufzuspringen. Aber manche Dinge gingen einem in Fleisch und Blut über, und er stellte fest, eine Welle zu nehmen gehörte dazu. Wahrnehmung und Erfahrung verbanden sich zu Fertigkeit, und die hatte die Zeit ihm nicht nehmen können.

Eine Welle rollte heran, und er hob sich mit ihr: Eben noch paddelnd, richtete er sich auf. Er verharrte für eine Sekunde auf dem Wellenkamm. Dann pflügte er die Vorderseite hinab, nahm Fahrt auf, und die Erinnerung steuerte seine Muskeln wie ein Autopilot. Er erreichte die Barrel den Hohlraum unter dem Wellenkamm, und sie war clean. Eine spiegelglatte Oberfläche. Green Room, Kumpel!, hätten sie früher gebrüllt. Scheiße! Du bist im Green Room, Kerne!

Ben ritt die Welle, bis sie sich im weißen Flachwasser verlor, dann sprang er ab und stand wieder bis zu den Oberschenkeln im Wasser. Er bekam das Board zu fassen, noch ehe es davontreiben konnte, hielt inne und spürte, wie die kleinen Wellen diesseits des Riffs sich in seinem Rücken brachen. Sein Atem kam stoßweise, und er rührte sich nicht, bis sein rasender Herzschlag sich wieder beruhigt hatte.

Dann watete er zum Strand, das Meerwasser glitt an ihm hinab wie ein abgestreiftes Cape, und er ging auf die Treppe zu.

Eine Gestalt — eine mitternächtliche Silhouette kam ihm entgegen.


Kerra hatte ihn das Hotel verlassen sehen. Zuerst hatte sie nicht gewusst, dass es sich um ihren Vater handelte. Tatsächlich hatte sie einen verrückten Moment lang geglaubt, es müsste Santo sein, der dort unten die Terrasse überquerte und die Treppe zum St. Mevan Beach nahm, um heimlich mitten in der Nacht surfen zu gehen. Sie hatte ihn von oben her beobachtet, hatte nur die schwarz gekleidete Gestalt gesehen und gewusst, dass diese Gestalt aus dem Hotel gekommen war… Sie hatte gar keinen anderen Schluss ziehen können. Es war alles bloß eine Verwechslung! Erleichterung durchflutete ihre Adern. Eine schreckliche, makabere, grauenhafte Verwechslung. Man hatte irgendjemand anderen tot am Fuß der Klippe in Polcare Cove aufgefunden, nicht ihren Bruder.

Also war sie die Treppe hinuntergehastet; der altersschwache Aufzug wäre viel zu langsam gewesen. Sie war durch den Speisesaal geeilt. Auch der öffnete sich genau wie der Geräteraum zur Terrasse hin. Sie überquerte sie und lief auf die Betontreppe zu. Als sie die Anhöhe erreicht hatte, sah sie die schwarze Gestalt am Strand neben dem Surfbrett hocken. Also wartete Kerra und beobachtete. Erst als die Gestalt von ihrem Ritt auf einer einzigen Welle zurückkehrte, erkannte sie ihren Vater.

Zahllose Fragen stiegen in ihr auf und dann Zorn, gepaart mit dem ewigen Warum, auf das es keine Antwort gab und das nichtsdestotrotz ihre Kindheit und Jugend definiert hatte. Warum hast du immer so getan, als ob…? Warum hast du mit Santo gestritten? Und darüber hinaus: das Wer. Wer bist du wirklich, Dad?

Als ihr Vater den Fuß der Treppe erreichte, stellte sie keine einzige dieser halb formulierten Fragen. Vielmehr versuchte sie, in der Dunkelheit seine Miene zu lesen.

Er hielt inne. Sein Gesicht schien einen geradezu sanften Ausdruck anzunehmen, und es sah beinahe so aus, als wollte er ihr etwas mitteilen. Doch dann war alles, was er herausbrachte: »Kerra. Liebes.« Und dann ging er weiter. Er stieg die Stufen zur Anhöhe hinauf. Kerra folgte ihm. Wortlos gingen sie auf das Hotel zu und zu dem leeren Schwimmbecken hinab. Am Beckenrand hielt ihr Vater an und spülte mit dem Schlauch das Salzwasser von seinem Surfboard. Dann betrat er das Hotel.

Im Geräteraum zog er den Neoprenanzug aus. Er trug nur Boxershorts darunter, und die Kälte verursachte ihm eine Gänsehaut. Doch sie schien ihm nichts auszumachen, denn er zitterte nicht einmal. Er trug den Neoprenanzug zu einer großen Plastikmülltonne in der Ecke und stopfte ihn achtlos hinein. Das tropfnasse Surfboard trug er in einen Nebenraum ein Hinterzimmer, sah Kerra, das sie bislang noch nie unter die Lupe genommen hatte, und dort räumte er es in einen Schrank. Diesen versperrte er mit einem Vorhängeschloss, und er vergewisserte sich, dass es auch wirklich eingerastet war, als gelte es, den Inhalt vor neugierigen Blicken zu schützen. Vor den Blicken der Familienmitglieder, ging Kerra auf. Vor ihren und vor Santos, denn ihre Mutter hatte ganz sicher davon gewusst.

Santo, dachte Kerra. Was für eine Heuchelei! Sie konnte es einfach nicht verstehen.

Ihr Vater trocknete sich mit einem T-Shirt behelfsmäßig ab, warf es beiseite und streifte einen Pullover über. Er bedeutete ihr, sich umzudrehen, und nachdem sie seinem Wunsch entsprochen hatte, hörte sie ihn die Shorts ausziehen, auf den Boden werfen und schließlich den Reißverschluss der Hose schließen. Dann sagte er: »In Ordnung.«

Sie wandte sich ihm wieder zu, und sie schauten einander an. Er schien auf ihre Fragen gefasst zu sein, sich für sie gewappnet zu haben.

Doch sie war entschlossen, ihn ebenso zu überraschen, wie er sie überrascht hatte.

»War es ihretwegen?«

»Wen meinst du?«

»Mum. Du konntest nicht surfen und gleichzeitig ein Auge auf sie haben, also hast du mit dem Surfen aufgehört. Das ist der Grund, oder? Ich hab dich gesehen, Dad. Wie lang ist es her? Zwanzig Jahre? Oder länger?«

»Ja. Vor deiner Geburt.«

»Und du ziehst einfach deinen Neoprenanzug an, fährst da raus und nimmst die erstbeste Welle, die anrollt, einfach so? Völlig problemlos? Es war ein Kinderspiel für dich. So einfach wie das Laufen. Oder Atmen.«

»Ja. Meinetwegen. Du hast recht.«

»Und das heißt… Wie lange hast du gesurft, ehe du aufgehört hast?«

Ihr Vater hob das T-Shirt auf und legte es ordentlich zusammen, obwohl es völlig durchfeuchtet war. »Fast mein ganzes Leben«, antwortete er. »Das war es eben, was wir damals gemacht haben. Es gab keine Alternativen. Du weißt doch, wie deine Großeltern leben. Wir hatten den Strand im Sommer und im restlichen Jahr die Schule. Zu Hause wartete immer nur Arbeit auf uns, weil wir ständig dagegen ankämpfen mussten, dass das verdammte Haus in sich zusammenfiel. Aber wenn wir einmal Freizeit hatten, sind wir runter zum Strand… Wir hatten kein Geld, um in Urlaub zu fahren. Es gab noch keine Billigflüge nach Spanien. Es war anders als heute.«

»Aber du hast aufgehört.«

»Ich habe aufgehört. Manchmal verändern sich die Dinge, Kerra.«

»Ja. Sie ist aufgetaucht. Das war die Veränderung. Du hast dich mit ihr eingelassen, und als du erkannt hast, wie sie wirklich war, war es bereits zu spät. Du kamst nicht mehr von ihr los. Du musstest eine Wahl treffen, und du hast sie gewählt.«

»So einfach ist es nicht.« Er ging an ihr vorbei, aus der kleinen Kammer zurück in den größeren Geräteraum. Er wartete, bis sie ihm folgte, und als sie neben ihm stand, schloss und verriegelte er die Tür.

»Wusste Santo davon?«

»Wovon?«

»Hiervon.« Sie wies auf die Tür. »Du warst ziemlich gut, oder? Ich habe genug Surfer gesehen, um das erkennen zu können. Also, warum…« Plötzlich war sie den Tränen näher als je zuvor in den vergangenen schrecklichen dreißig Stunden.

Er blickte sie unverwandt an. Sie sah, dass er unsagbar traurig war, und diese Traurigkeit führte ihr vor Augen, dass sie zwar eine Familie sein mochten — früher zu viert, jetzt nur noch zu dritt, — aber auch nur dem Namen nach. Abgesehen von diesem gemeinsamen Namen, waren sie nichts weiter als ein Hort der Geheimnisse, und das waren sie auch schon immer gewesen.

Sie hatte geglaubt, all diese Geheimnisse hätten mit ihrer Mutter zu tun, mit deren Problemen und Phasen bizarrer Persönlichkeitsveränderung. Es waren Geheimnisse, die auch sie selbst lange gehütet hatte, denn man konnte kaum darüber hinwegsehen, wenn jede Heimkehr von der Schule einen mitten hinein in eine Situation führen konnte, die mitunter gerne als "ein bisschen peinlich" bezeichnet wurde. Kein Wort zu Dad, Liebling! Aber Dad wusste es ohnehin. Sie alle wussten es, aufgrund der Kleidung, die sie trug, der Neigung ihres Kopfes, wenn sie sprach — sie erkannten es am Rhythmus ihrer Sätze, am Trommeln ihrer Finger auf dem Tisch beim Essen und an der Rastlosigkeit in ihrem Blick. Und am Rot. Das Rot verriet sie immer. Für Kerra und Santo war diese Farbe stets die Ankündigung eines längeren Besuchs bei ihren Großeltern gewesen. »Was treibt die Schlampe denn jetzt schon wieder?«, hatte Granddad dann gefragt. Aber ihr Marschbefehl hatte immer gelautet: »Sagt euren Großeltern nichts davon, verstanden?« Und Kerra und Santo hatten sich daran gehalten. Sie waren loyal geblieben, hatten das Geheimnis gehütet, und früher oder später war wieder Normalität eingekehrt, was immer Normalität im Hause Kerne bedeuten mochte.

Doch jetzt erkannte Kerra, dass es immer schon mehr Geheimnisse gegeben hatte als nur die ihrer Mutter. Ein verborgenes Wissen, das über Dellens verschlungene Psyche hinausging und auch Kerras Vater betraf. Und diese erschütternde Erkenntnis führte Kerra einmal mehr vor Augen, dass es in ihrem Leben nie festen Grund gegeben hatte, auf den sie ihren Fuß hätte setzen können, um der Zukunft entgegenzuschreiten.

»Ich war dreizehn«, sagte sie schleppend. »Da war dieser Junge, den ich mochte. Stuart. Er war vierzehn und hatte furchtbare Pickel. Ich hatte ihn trotzdem gern. Die Pickel machten ihn irgendwie… unantastbar, verstehst du? Irgendwie… sicher. Nur war er das leider nicht. Eigentlich ist es komisch, denn ich bin nur mal kurz in die Küche gegangen, um uns ein paar Kekse und etwas zu trinken zu holen. Es hat keine fünf Minuten gedauert, aber das hat gereicht. Stuart hat gar nicht kapiert, was da passierte. Aber ich wusste es natürlich, war ich doch mit diesem Wissen aufgewachsen. Genau wie Santo. Nur war er tatsächlich sicher, denn — sind wir doch mal ehrlich — er war genau wie sie.«

»Nicht in jeder Hinsicht«, widersprach ihr Vater. »Nein, nicht das.«

»O doch«, gab sie zurück. »Und das weißt du auch. Das. Und auch in einer Art und Weise, die mich betraf.«

»Du meinst Madlyn.«

»Sie war meine beste Freundin. Ehe Santo sie in die Finger bekam.«

»Kerra, Santo hatte nie die Absicht…«

»Doch. Genau das war seine Absicht. Und das Schlimmste daran war, dass er es gar nicht nötig hatte, hinter ihr her zu sein. Er war doch schon hinter… keine Ahnung… drei anderen Mädchen her. Oder war er mit den anderen dreien schon fertig?« Sie wusste, sie klang verbittert, und das war sie auch. Aber in diesem Moment kam es ihr so vor, als wäre nichts in ihrem Leben je vor Verwüstung sicher gewesen.

»Kerra, die Menschen sind eben so, wie sie sind«, sagte ihr Vater. »Du kannst nichts dagegen tun.«

»Glaubst du das wirklich? Ist das deine Entschuldigung für sie? Oder für ihn?«

»Ich entschuldige nicht…«

»Das tust du sehr wohl. Das hast du immer getan, jedenfalls soweit es sie betrifft. Sie hat dich zum Narren gehalten, so lange ich lebe, und ich wette, sie hat dich schon von dem Moment an zum Narren gemacht, als du ihr begegnet bist.«

Wenn ihre Worte Ben gekränkt hatten, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken. »Ich rede nicht von deiner Mutter, Liebes«, erwiderte er stattdessen. »Und auch nicht von Santo. Ich meine diesen Jungen. Stuart. Und Madlyn Angarrack.« Er unterbrach sich kurz, ehe er fortfuhr: »Und Alan, Kerra. Ich meine jeden, jeder Mensch ist so, wie er eben ist. Du tust dir selbst einen Gefallen, wenn du sie gewähren lässt.«

»So wie du es gemacht hast, meinst du?«

»Ich kann es nicht besser erklären.«

»Weil es ein Geheimnis ist?«, fragte sie, und es war ihr gleichgültig, dass es sich so anhörte, als verhöhnte sie ihn. »So wie alles andere in deinem Leben? So wie das Surfen?«

»Wir können uns nicht aussuchen, wen wir lieben.«

»Das machst du mir nicht weis«, entgegnete sie. »Erklär mir, warum du nicht wolltest, dass Santo surft.«

»Weil ich geglaubt habe, dass nichts Gutes dabei herauskommen würde.«

»War es das, was dir passiert ist?«

Er antwortete nicht. Einen Moment lang glaubte Kerra, er würde überhaupt nichts mehr sagen. Doch schließlich kam genau das, was Kerra erwartet hatte: »Ja. Absolut nichts Gutes ist für mich dabei herausgekommen. Darum habe ich das Surfboard beiseitegelegt und mit meinem Leben weitergemacht.«

»Mit ihr«, berichtigte Kerra.

»Ja. Mit deiner Mutter.«

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