29

Das Geschrei der Möwen schien anzuschwellen, und in der Tiefe unter ihnen donnerten die Wellen gegen den Fels und zeigten an, dass die Flut stieg. Ben wurde sich der Ironie des Ganzen bewusst, als ihm durch den Kopf schoss: exzellente Surfbedingungen heute.

Jago Reeths Keuchen verstummte. Der alte Mann hielt den Atem an, während er offensichtlich zu entscheiden versuchte, ob er glauben sollte, was Ben ihm gerade eröffnet hatte. Ben Kerne jedoch war es gleichgültig geworden, was irgendwer glaubte. Und endlich war ihm ebenso gleichgültig geworden, dass Santo nicht sein leibliches Kind gewesen war. Denn er erkannte, dass sie Vater und Sohn gewesen waren auf die einzige Weise, die zwischen einem Mann und einem Jungen von Bedeutung war, die von gemeinsamer Geschichte und Erfahrung bestimmt war und nicht von einem blind herumschwimmenden Samen, der durch puren Zufall mit einer Eizelle verschmolz. Darum waren seine Versäumnisse genauso schwerwiegend, wie es die eines leiblichen Vaters seinem Sohn gegenüber gewesen wären. Denn er hatte seine väterlichen Entscheidungen aus Angst getroffen, nicht aus Liebe, hatte stets darauf gewartet, dass Santos wahre Abstammung sich manifestierte. Nachdem sie beide dem Teenageralter entwachsen waren, hatte Ben nie auch nur einen einzigen der Liebhaber seiner Frau gekannt. Er hatte lediglich auf Dellens abscheulichste Charaktereigenschaften in Santo lauern können, und sobald sich irgendetwas auch nur entfernt Dellen-Artiges zeigte, hatte Ben all seine Aufmerksamkeit und Leidenschaft darauf konzentriert. Er selbst hatte Santo im Ebenbild seiner Mutter erschaffen, weil er jedem Wesenszug des Jungen, der ihren zu gleichen schien, so übergroße Beachtung geschenkt hatte.

»Er war nicht mein Sohn«, wiederholte Ben. Wie erbärmlich wahr, erkannte er jetzt.

»Sie sind ein verdammter Lügner«, entgegnete Jago Reeth. »Das waren Sie immer schon.«

»Ich wünschte, das wäre der Fall.« Ben erkannte ein weiteres Detail. Es fiel passend wie ein Puzzlestückchen an seinen Platz und korrigierte, was er sein Leben lang falsch gemutmaßt hatte: »Sie hat mit Ihnen gesprochen, nicht wahr?«, fragte er Reeth. »Ich dachte, sie meinte die Polizei, aber das stimmte gar nicht. Sie ist zu Ihnen gegangen.«

»Mr. Kerne, Sie brauchen überhaupt nichts zu sagen«, warf Detective Inspector Hannaford ein.

»Er muss die Wahrheit erfahren«, widersprach Ben. »Ich hatte nichts mit Jamies Tod zu tun. Ich war nicht dort.«

»Lügner!«, brach es aus Jago Reeth hervor. »Ist doch klar, dass Sie das behaupten.«

»Weil es die Wahrheit ist. Ich war mit ihm während der Party aneinandergeraten. Er hatte mich vor die Tür gesetzt. Ich bin ein Stück spazieren und dann nach Hause gegangen. Was Dellen Ihnen erzählt hat…« Er war einen Moment lang nicht sicher, ob er würde fortfahren können, aber er wusste, dass er es tun musste, und sei es nur, weil es das Einzige war, das er tun konnte, um Santos Tod zu rächen. »Was Dellen Ihnen erzählt hat, hat sie aus Eifersucht gesagt. Ich hatte mit Ihrer Tochter rumgemacht. Geknutscht. Wir waren ziemlich in Fahrt geraten. Dellen hatte es gesehen, und sie wollte es mir heimzahlen, denn so war es eben damals zwischen ihr und mir. Quidproquo, zusammen und getrennt, in Liebe und in Hass, ach, was auch immer irgendetwas verband uns — jedenfalls, von dem wir uns nicht befreien konnten.«

»Sie sind heute ein Lügner, genau wie damals.«

»Also ist sie zu Ihnen gekommen und hat Ihnen erzählt, ich hätte… was immer sie gesagt hat, was ich angeblich getan hätte. Aber was ich über jene Nacht weiß, ist einzig und allein das, was Sie auch wissen, und das ist alles, was ich je gewusst habe. Jamie, Ihr Sohn, ist nach der Party aus irgendeinem Grund zu der Höhle hinuntergegangen, und dort ist er gestorben.«

»Wagen Sie nicht, das zu behaupten«, fauchte Reeth. »Sie sind weggelaufen. Sie haben Pengelly Cove verlassen und sind nie zurückgekommen. Dafür gab es einen Grund, und den kennen wir beide.«

»Ja. Es gab einen Grund. Denn ganz gleich was ich sagte: Mein eigener Vater hat mich genau wie Sie für schuldig gehalten.«

»Und er hatte verdammt guten Grund dazu.«

»Wie Sie möchten, Mr. Parsons. Glauben Sie doch, was Sie wollen. Jetzt und bis in alle Ewigkeit. Aber ich war nicht dort, und darum scheint mir, Ihr Job ist noch nicht erledigt. Denn was immer sie Ihnen erzählt hat und es waren doch Sie, zu dem sie gegangen ist, oder?, sie hat gelogen.«

»Warum sollte sie das tun? Warum würde irgendwer so etwas tun?«

Ben wusste es nur zu gut. Er kannte den Grund und die Ursache. Jetzt, jenseits der Hassliebe und des ewigen Auf und Ab, das ihre Beziehung beinah dreißig Jahre lang ausgemacht hatte, jenseits aller Heimzahlung, begriff er. »Weil sie ist, wer sie ist«, antwortete er. »Weil es eben das ist, was sie tut.«

Er beließ es dabei und erhob sich. An der Tür zur Hütte hielt er kurz inne, denn eine Kleinigkeit war ihm noch unklar. »Haben Sie mich all die Jahre beobachtet, Mr. Parsons? War das wirklich alles, was Sie mit Ihrem Leben angefangen haben? Was war der Zweck Ihres Daseins? Zu warten, bis ich einen Jungen hätte, der so alt wäre wie Jamie bei seinem Tod, und ihn dann umzubringen?«

»Sie wissen ja nicht, wie es ist«, entgegnete Reeth. »Aber das werden Sie noch rausfinden, Mann. Verdammt, Sie werden es rausfinden.«

»Oder haben Sie mich gefunden, weil…« Ben dachte nach. »Weil wir für Adventures Unlimited geworben haben? Haben Sie rein zufällig die Zeitung aufgeschlagen, wo immer Sie auch waren, und den Artikel gelesen, für den der arme Alan sich so abgerackert hat? War es so? Die Story in der Mail on Sunday? Und dann sind Sie herbeigeeilt und haben sich eingerichtet und gewartet, weil Sie so verflucht gut darin geworden sind, Ihren Moment abzupassen? Weil Sie dachten — Sie glaubten, wenn Sie mir antun, was ich Ihrer unerschütterlichen Überzeugung nach Ihnen angetan hätte, dann… was? Dass Sie dann Frieden finden? Dass der Kreis sich endlich schließt? Die Dinge ein Ende nehmen? Wie können Sie so etwas nur glauben?«

»Das werden Sie schon noch herausfinden«, sagte Reeth. »Sie werden's erleben. Denn was ich hier gesagt habe — jedes einzelne Wort, ist reine Spekulation. Ich kenne meine Rechte. Ich habe meine Rechte eingehend studiert. Also, wenn ich hier rausgehe…«

»Verstehen Sie denn nicht? Es spielt keine Rolle«, erwiderte Ben. »Denn ich gehe zuerst hier hinaus.«

Und genau das tat er. Er schloss die Tür hinter sich und ging den Pfad zur Treppe entlang. Seine Kehle schmerzte von der Anstrengung, alles zurückzuhalten, was er im Laufe der Jahre zurückgehalten hatte, ohne es sich selbst einzugestehen. Jemand rief seinen Namen, und er wandte sich um.

Detective Inspector Hannaford trat zu ihm. »Er hat einen Fehler gemacht, Mr. Kerne. Sie machen immer einen Fehler, und wir werden ihn finden. Niemand kann je alles bedenken. Haben Sie Geduld.«

Ben schüttelte den Kopf. »Es spielt keine Rolle«, wiederholte er. »Würde es Santo zurückbringen?«

»Aber er muss büßen. So funktioniert das eben.«

»Er büßt doch schon. Und selbst wenn nicht, wird er irgendwann begreifen, dass das, was er getan hat, ihm keinen Frieden bringen wird. Er kann es nicht aus seiner Erinnerung löschen. Das kann keiner von uns.«

»Trotzdem«, beharrte Hannaford. »Wir bleiben dran.«

»Tun Sie, was Sie tun müssen«, erwiderte Ben. »Aber nicht um meinetwillen.«

»Dann um Santos willen. Er hat verdient…«

»O ja. Und wie. Aber dies hier hat er ganz bestimmt nicht verdient.«

Und mit diesen Worten ließ Ben sie stehen, ging den Weg entlang und die Steinstufen zur Klippe hinauf. Dort schritt er das kleine Stück über den Küstenpfad bis zu den Weiden, die sie überquert hatten, und zurück zu seinem Wagen. Sollten sie doch mit Jago Reeth oder Jonathan Parsons tun, was immer sie wollten. Oder was sie innerhalb der engen Grenzen des Gesetzes und der Rechte, die er so gut kannte, tun konnten. Denn ganz gleich was sie taten oder was sie nicht taten — es wäre nie genug, um Ben von der Verantwortung freizusprechen, die für immer seine Bürde sein würde. Diese Verantwortung ging weit über Santos Tod hinaus, erkannte er. Sie umfasste die Entscheidungen, die er wieder und wieder getroffen hatte und die das Leben derer bestimmt hatten, die zu lieben er verdammt gewesen war.

Er wusste, es würden Tage kommen, da er Tränen vergoss. Noch konnte er es nicht. Er war wie betäubt. Aber der Trauer entkam man nicht, und zum ersten Mal in seinem Leben akzeptierte er dies.

Als er nach Hause kam, machte er sich auf die Suche nach ihr. Alan war in seinem Büro bei der Arbeit. Den Telefonhörer in der Hand, stand er an der Magnettafel vor zwei Reihen Karteikarten, auf denen Ben den Plan für das Video erkannte, das Alan über Adventures Unlimited drehen wollte. Kerra war im Gespräch mit einem großen blonden Jungen — zweifellos ein potenzieller Übungsleiter. Ben zog sich zurück, ohne die beiden zu stören, und ging die Treppe hinauf. Weder in der Privatwohnung noch sonst irgendwo im Gebäude war sie zu finden. Er spürte ein Flattern in der Brust und trat an den Kleiderschrank, um nachzusehen, aber ihre Kleider waren noch da, und der Rest ihrer Sachen lag in der Kommode. Schließlich sah er sie durchs Fenster: eine schwarz gekleidete Gestalt am Strand, die er für einen Surfer in einem Neoprenanzug hätte halten können, doch er erkannte ihre Kontur und ihr Haar auf einen Blick. Dellen stand mit dem Rücken zum Hotel. Es war Flut, und der Großteil des Strandes lag bereits unter Wasser. Die Wellen umspülten ihre Knöchel. Um diese Jahreszeit war das Wasser immer noch eisig, doch sie trug keinerlei Schutz.

Er ging die Treppen hinunter und zu ihr hinüber. Als er sie erreichte, erkannte er, dass sie einen Stapel Fotos in der Hand hielt. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Sie wirkte beinah so betäubt, wie er selbst sich fühlte.

Er sagte ihren Namen. Mehr zu sich selbst als zu ihm, murmelte sie: »Ich habe seit Jahren nicht an ihn gedacht. Aber heute kam er mir plötzlich in den Sinn, als hätte er all die Zeit auf diese Gelegenheit gewartet.«

»Wer?«

»Hugo.«

Es war ein Name, den er nie zuvor gehört hatte, und er wollte ihn auch jetzt nicht hören. Er schwieg. Weit draußen auf dem Wasser warteten fünf Surfer auf ihren großen Moment. Eine Welle baute sich hinter ihnen auf, und Ben blickte hinüber, um zu sehen, wer sie nehmen würde. Keiner. Die Welle brach zu weit entfernt, sodass sie auf die nächste Gelegenheit warten mussten.

Dellen fuhr fort: »Ich war sein Liebling. Er hat immer so ein Aufhebens um mich gemacht, und dann hat er meine Eltern gefragt, ob er mich mit ins Kino nehmen dürfe. Und in die Robbenaufzuchtstation. Zum Weihnachtsspiel. Er hat mir Kleider gekauft, in denen er mich sehen wollte, weil ich seine Lieblingsnichte war. Wir zwei, wir haben da etwas ganz Besonderes, hat er immer gesagt. Ich würde dir nicht all diese Sachen kaufen und so schöne Ausflüge mit dir machen, wenn du nicht meine allerliebste Lieblingsnichte wärst.«

Draußen auf See hatte einer der Surfer die Chance ergriffen, sah Ben. Er sprang auf sein Brett und ritt die Welle, suchte, was jeder Surfer sucht, den rasenden grünen Tunnel, dessen schimmernde Wände aufsteigen und sich wölben und in ständiger Bewegung sind, ihn umschließen und wieder freigeben. Es war ein großartiger Ritt, und als er vorbei war, legte der Surfer sich bäuchlings auf sein Board und paddelte zu den anderen zurück, die ihm schon aus der Ferne einen jubelnden Empfang bereiteten. Als er endlich bei ihnen ankam, stieß einer übermütig mit der Faust an seine. Ben fühlte einen Stich, als er das sah. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Dellen und das, was sie sagte.

»Es fühlte sich falsch an, aber Onkel Hugo behauptete, es wäre Liebe. Er hätte mich ausgewählt, weil ich etwas ganz Besonderes wäre. Nicht meinen Bruder, nicht meine Cousins und Cousinen, sondern mich. Wenn er mich berührte und mich bat, ihn zu berühren, war denn das so schlimm? Oder war es nur etwas, was ich nicht verstehen konnte?«

Ben spürte ihren Blick auf sich und wusste, sie erwartete, dass er den Blick erwiderte. Er sollte ihr ins Gesicht sehen und erkennen, wie sehr sie gelitten hatte, und er sollte ihre Gefühle mit den seinen widerspiegeln. Aber er war dazu nicht in der Lage. Denn auch tausend Onkel Hugos änderten nicht eine einzige der Tatsachen. Wenn es Onkel Hugo denn überhaupt je gegeben hatte.

Er fühlte, dass sie sich regte, und sah, dass sie die Fotos durchblätterte. Er rechnete damit, dass sie Onkel Hugo aus dem Stapel ziehen würde, aber das tat sie nicht. Vielmehr zog sie eine Aufnahme hervor, die er kannte. Mum und Dad und zwei Kids im Sommerurlaub — eine Woche auf der Isle of Wight. Santo war acht gewesen, Kerra zwölf.

Sie saßen in einem Restaurant am Tisch, kein Essen weit und breit, also hatten sie wohl beim Eintreffen dem Kellner die Kamera gegeben und ihn gebeten, die glückliche Familie zu knipsen. Sie alle hatten pflichtschuldig gelächelt: Schaut nur, wie sehr wir uns amüsieren.

Auf Fotos konnte man glückliche Erinnerungen bannen. Und man konnte sie rückblickend nutzen, um die Wahrheit zu leugnen. Denn jetzt erkannte Ben darauf die Angst in Kerras schmalem Gesichtchen, den Wunsch, stark genug zu sein, um zu verhindern, dass das Rad sich ein weiteres Mal drehte. In Santos Zügen las er Verwirrung das kindliche Gespür für die Heuchelei, die ihm niemand erklärte. Bens eigener Gesichtsausdruck verriet die grimmige Entschlossenheit, alles wiedergutzumachen. Und in Dellens Gesicht… Das, was immer schon dort gewesen war: Wissen… und Erwartung. Sie trug einen roten Schal im Haar.

Die Familie auf dem Bild schien um sie zu kreisen wie Planeten um die Sonne. Alle saßen ihr leicht zugeneigt. Bens Hand lag auf ihrer, als wolle er sie festhalten, statt sie dorthin entfliehen zu lassen, wo sie zweifellos lieber sein wollte.

Sie kann nichts dafür, hatte er sich wieder und wieder gesagt. Sie kann sich nicht ändern. Was er nicht erkannt hatte, war jedoch, dass er selbst es sehr wohl konnte.

Er nahm ihr das Bild aus der Hand. »Es wird Zeit, dass du gehst.«

»Wohin?«

»Ich weiß es nicht«, bekannte er. »St. Ives. Plymouth. Zurück nach Truro. Vielleicht sogar nach Pengelly Cove. Deine Familie ist doch immer noch dort. Sie wird dir helfen, wenn du Hilfe brauchst. Wenn es das ist, was du willst.«

Sie schwieg. Er blickte von dem Foto zu ihr. Ihre Augen hatten sich verdunkelt. Sie fragte: »Ben, wie kannst du…? Nach allem, was passiert ist.«

»Hör auf«, entgegnete er. »Es ist Zeit, dass du gehst.«

»Bitte«, beschwor sie ihn. »Wie soll ich das überleben?«

»Du wirst schon überleben«, versicherte er ihr. »Das wissen wir doch beide.«

»Und was wird aus dir? Aus Kerra? Aus dem Betrieb?«

»Alan ist ja hier. Er ist wirklich ein guter Mann. Und davon abgesehen, werden Kerra und ich schon zurechtkommen. Darin haben wir ja sehr viel Übung.«


Nachdem die Polizei im Salthouse Inn aufgetaucht war, musste Selevan seine Pläne überdenken. Er würde nicht derart selbstsüchtig einfach mit Tammy zur schottischen Grenze aufbrechen können, ohne zu wissen, was hier vor sich ging, und vor allem ohne herauszufinden, ob er Jago irgendwie helfen konnte, falls sein Freund denn Hilfe benötigte. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, warum Jago Hilfe brauchen sollte, aber er hielt es für das Beste, abzuwarten und auf weitere Informationen zu harren. Es dauerte nicht allzu lange. Er hatte nicht angenommen, dass Jago zum Salthouse Inn zurückkehren würde, also war er nach Sea Dreams zurückgefahren. Dort war er eine Weile in seinem Caravan auf und ab gestreift, hatte dann und wann ein Schlückchen aus dem Flachmann genommen, den er sich für die lange Fahrt gefüllt hatte, und schließlich war er nach draußen und hinüber zu Jagos Wohnwagen gegangen.

Er trat jedoch nicht ein. Er hatte einen Zweitschlüssel, aber es fühlte sich nicht richtig an, selbst wenn Jago vermutlich nichts dagegen gehabt hätte. Er setzte sich auf die oberste der Metallstufen und wartete.

Etwa zehn Minuten später fuhr Jago vor. Mit knackenden Gelenken kam Selevan auf die Füße. Er stopfte die Hände in die Taschen und stapfte zu seinem Kumpel hinüber. »Alles in Ordnung?«, fragte er, als Jago ausstieg. »Sie haben dir auf der Wache doch keinen Ärger gemacht?«

»Ach was«, antwortete Jago. »Alles, was man bei den Cops braucht, ist ein bisschen gute Vorbereitung. Dann läuft es so, wie du es willst, und nicht, wie sie es wollen. Überrascht sie ein bisschen, aber so ist das Leben. Eine verdammte Überraschung nach der anderen.«

»Da hast du recht«, brummte Selevan zustimmend, aber ein Gefühl von Beunruhigung hatte ihn beschlichen, und er konnte nicht so recht sagen, wieso. Irgendetwas an Jagos Sprechweise und am Tonfall seiner Stimme war anders als früher. Er fragte argwöhnisch: »Sie haben dir doch nichts getan, oder?«

Jago lachte bellend. »Die zwei Schlampen? Wohl kaum. Wir haben uns nur unterhalten, das war alles. Ich habe das schon lange kommen sehen, und jetzt ist es vorbei.«

»Also, was ist los?«

»Gar nichts, Kumpel. Vor langer Zeit ist etwas passiert, aber das ist jetzt abgeschlossen. Meine Arbeit hier ist getan.«

Jago ging an Selevan vorbei und stieg die Stufen zum Wohnwagen hinauf. Er hatte die Tür nicht abgeschlossen, erkannte Selevan, sodass er gar nicht draußen hätte warten müssen. Jago trat ein, und Selevan folgte ihm, blieb jedoch unsicher an der Tür stehen, weil er nicht verstand, was in Teufels Namen hier vorging.

»Bist du rausgeflogen, Jago?«, fragte er.

Jago war in der Schlafkammer am Ende des Caravans verschwunden. Selevan konnte ihn nicht sehen, aber er hörte, wie eine Schranktür geöffnet und irgendetwas von dem Bord über der Kleiderstange heruntergezerrt wurde. Gleich darauf stand Jago wieder in der Tür, eine große Reisetasche in der Hand. »Was?«, fragte er.

»Ich hab gefragt, ob du rausgeflogen bist. Du hast gesagt, deine Arbeit sei getan. Hat er dir gesagt, dass er dich nicht mehr braucht, oder was?«

Jago sah aus, als müsse er über die Frage nachdenken, und das fand Selevan seltsam. Entweder war man gefeuert oder nicht. Darüber musste man doch wohl nicht nachgrübeln. Schließlich malte sich ganz langsam ein Lächeln auf Jagos Gesicht ab, das ihm kein bisschen ähnlich sah. »Genau so ist es, Kumpel«, sagte er dann. »Ich werde nicht mehr gebraucht. Schon lange nicht mehr.« Er schien versonnen, und mehr zu sich selbst sagte er dann: »Mehr als ein Vierteljahrhundert. Es hat lange gedauert.«

»Hä?« Selevan verspürte ein drängendes Bedürfnis, der Sache auf den Grund zu gehen. Der Mann, der ihm hier gegenüberstand, war nicht länger der Jago, mit dem er die vergangenen sechs oder sieben Monate abends in der Kaminecke gesessen hatte. Dem alten Jago gab er ganz entschieden den Vorzug einem Jago, der die Dinge unumwunden aussprach und nicht in Gleichnissen redete.

»Ist irgendetwas passiert bei diesen Cops, Kumpel?«, fragte er. »Haben die irgendwas…? Du klingst nicht wie du selbst!« Selevan konnte sich bildlich vorstellen, was die Cops getan haben konnten. Sicher, es waren Frauen gewesen, aber Tatsache war eben auch, Jago war ein alter Knacker, genau wie Selevan selbst, und darüber hinaus nicht gerade in allerbester gesundheitlicher Verfassung. Abgesehen davon, gab es auf der Wache garantiert auch männliche Beamte, die ihn sich vielleicht vorgenommen hatten. Und Cops verstanden sich darauf, genau das zu tun, ohne auch nur die geringste sichtbare Spur zu hinterlassen. Das wusste Selevan genau. Er hatte schließlich einen Fernseher und verbrachte mehr Zeit, als gut war, mit amerikanischen Filmen. Er wusste genau, wie sie es anstellten: ein bisschen Druck auf die Daumennägel. Ein, zwei Stecknadeln unter die Haut gerammt. Es brauchte sicher nicht viel bei einem Kerl wie Jago. Doch merkwürdigerweise benahm der sich überhaupt nicht wie jemand, der in den Händen der Polizei irgendeine Demütigung erlitten hatte.

Selevan stand einfach da, wusste nicht, ob er sich setzen sollte, ob er gehen oder bleiben sollte, und von seinem Standort aus sah er, wie Jago die Tasche aufs Bett stellte und die Schubläden der Einbauschränke öffnete. Und da endlich ging Selevan auf, was er hätte sehen sollen, sowie Jago die Tasche in Händen gehalten hatte: Sein Freund ging fort.

»Wo willst du denn hin?«, fragte er.

»Wie gesagt.« Jago kam wieder an die Tür, dieses Mal mit einem säuberlichen Stapel Shorts und Unterhemden in Händen. »Ich bin hier fertig. Wird Zeit für mich abzuhauen. Ich bleib sowieso nie lang an einem Ort. Folge der Sonne, den Wellen, dem Sommer…«

»Aber der Sommer hier fängt doch gerade erst an. Er wartet schon um die nächste Ecke. Wo willst du denn eine bessere Surfsaison finden als hier?«

Jago zögerte, halb dem Bett zugewandt. Es schien, als habe er über das Ziel seiner Reise noch gar nicht nachgedacht. Selevan sah, wie die Haltung der Schultern sich veränderte; irgendwie einen Deut weniger entschlossen.

»Und außerdem hast du hier doch Freunde! Das zählt doch was! Sind wir mal ehrlich: Bist du mit deinem Zittern schon mal beim Arzt gewesen? Ich schätze, das wird mit der Zeit nicht besser, und wie willst du dann zurechtkommen, immer so allein?«

Jago schien darüber nachzudenken. »Spielt keine große Rolle, wie gesagt. Meine Arbeit ist getan. Alles, was bleibt, ist das Warten.«

»Worauf?«

»Auf… Du weißt schon. Keiner von uns beiden ist mehr der Jüngste, Kumpel.«

»Auf den Tod, meinst du? Das ist doch Blödsinn! Du hast noch Jahre vor dir! Was zum Henker haben diese Bullen mit dir angestellt?«

»Nicht das Geringste.«

»Das glaube ich dir nicht, Jago. Wenn du vom Tod redest…«

»Dem Tod muss man ins Auge sehen. Genau wie dem Leben. Sie gehören zusammen. Das ist nur natürlich.«

Selevan spürte einen Hauch von Erleichterung, als er das hörte. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, dass Jago über den Tod nachgrübelte, denn das ließ nichts Gutes über die Absichten seines Freundes ahnen. »Ich bin froh, wenigstens das zu hören. Von wegen natürlich.«

»Weil…?« Jago begann zu lächeln, als ihm aufging, was Selevan meinte. Er schüttelte den Kopf wie ein nachsichtiger Großvater über den Unfug eines geliebten Enkels. »Oh, das. Ich könnte ohne große Mühe Schluss machen, denn ich bin hier fertig, und es scheint wenig Sinn darin zu liegen weiterzumachen. Und hier in der Gegend gäbe es jede Menge Möglichkeiten, es zu tun. Es würde wie ein Unfall aussehen, und keiner würde je das Gegenteil erfahren. Aber wenn ich das täte, endet es vielleicht für ihn, und das darf ich nicht zulassen. Nein. So was wie das hier darf einfach kein Ende nehmen, Kumpel. Nicht, wenn ich es verhindern kann.«


Cadan war gerade bei LiquidEarth angekommen, als das Telefon klingelte. Er hörte, dass sein Vater in der Shapingwerkstatt war, Jago war nirgends zu entdecken, also nahm er das Gespräch entgegen. Eine Männerstimme fragte: »Lewis Angarrack?«, und als Cadan verneinte, sagte die Stimme: »Holen Sie ihn ans Telefon, ich muss ihn sprechen.«

Cadan dachte nicht daran, Lew beim Shapen eines neuen Boards zu stören. Aber der Anrufer beharrte darauf, dass die Angelegenheit nicht warten könne, und eine Nachricht wollte er nicht hinterlassen.

Also ging Cadan seinen Vater holen. Um sich über das Heulen der Maschine Gehör zu verschaffen, öffnete er die Tür nicht, sondern donnerte heftig dagegen. Das Heulen verstummte. Lew erschien an der Tür, Atemschutzmaske und Brille um den Hals.

Als Cadan ihm sagte, da sei ein Anruf für ihn, blickte Lew stirnrunzelnd zu Jagos Arbeitsplatz hinüber und fragte: »Ist Jago noch nicht zurück?«

»Sein Wagen steht nicht draußen.«

»Und was tust du dann hier?«

Cadan spürte, wie der Mut ihn verlassen wollte. Er unterdrückte ein Seufzen. »Telefon«, erinnerte er ihn.

Lew streifte die Handschuhe ab und ging zum Verkaufstresen hinüber. Cadan folgte ihm unwillkürlich und warf im Vorbeigehen einen Blick in die Lackiererwerkstatt. Eine Reihe fertiger Bretter wartete dort auf die Lackierung, und an der Wand prangte ein Kaleidoskop bunter Farben, die dort ausprobiert worden waren.

Draußen hörte er seinen Vater fragen: »Was wollen Sie sagen…? Nein, natürlich nicht. Wo zum Henker ist er? Können Sie ihn mir geben?«

Cadan wandte sich wieder seinem Vater zu. Lew stand an der Theke, wo das Telefon inmitten des Durcheinanders von Papierkram auf dem Klapptisch stand, der ihm als Schreibtisch diente. Er warf Cadan einen Blick zu und schaute wieder weg.

»Nein«, sagte Lew zu dem Mann am Telefon. »Ich wusste nicht… Ich hätte es verdammt noch mal zu schätzen gewusst, wenn er mir etwas gesagt hätte… Ich weiß, dass es ihm gesundheitlich nicht gut geht. Aber ich kann Ihnen nur sagen, was er mir gesagt hat: Er müsse kurz weg, um einen Kumpel im Salthouse zu treffen, der irgendwelche Probleme hat… Sie? Dann wissen Sie mehr als ich…«

Auch Cadan fragte sich jetzt, wo Jago wohl steckte. Der alte Mann war ein Vorzeigeangestellter gewesen, seit er bei LiquidEarth angefangen hatte. Tatsächlich hatte Cadan manches Mal gedacht, dass Jagos Darbietung der perfekten Arbeitsbiene auch daran schuld sein mochte, dass Cadan selbst so schlecht dagestanden hatte. Immer pünktlich bei der Arbeit, niemals krankgemeldet, keine einzige Reklamation, immer fleißig und gewissenhaft bei seinen Aufgaben. Dass Jago jetzt nicht hier war, warf die Frage nach dem Warum auf und veranlasste Cadan, genauer hinzuhören, was sein Vater am Telefon sagte.

»Rausgeworfen? Gott, nein! Dazu besteht überhaupt kein Grund! Ich ersticke hier in Arbeit, und das Letzte, was mir einfallen würde, ist, irgendwen… Also, was genau hat er denn nun gesagt?… Fertig? Fertig?« Lew sah sich im Verkaufsraum um, und sein Blick fiel auf das Klemmbrett mit den Aufträgen. Darin steckte ein dicker Stapel Beweis für das Vertrauen, das langjährige Surfer Lew Angarrack entgegenbrachten. Hier mussten sie nicht mit Computerdesign oder Comckputershaping vorliebnehmen; hier entstand noch alles in Handarbeit. Es gab nur wenige Handwerker, die beherrschten, was Lew in der Lage war zu vollbringen eine aussterbende Spezies, die ihre Arbeit zu einer Kunstform erhoben hatte, die in die Surfgeschichte eingehen würde wie die ersten Longboards, die aus Holz gewesen waren. Eines Tages würden Hohlkernbretter sie vollends ersetzen, am Computer entworfen, alles in eine Maschine programmiert, die am Ende ein Produkt ausspuckte, das nicht mehr von einem Meister gefertigt war, der selbst surfte und daher genau wusste, welchen Einfluss ein zusätzlicher Channel oder der Neigungswinkel einer Finne auf das Verhalten eines Surfboards haben konnte. Es war eine Schande.

»Weggefahren mit all seinen Sachen?«, fragte Lew. »Verflucht… Nein. Ich kann Ihnen auch nicht mehr… Sie scheinen ohnehin mehr zu wissen als ich… Ich weiß es nicht… Ich war beschäftigt… Nein, er kam mir nicht verändert vor… Könnte ich nicht sagen.«

Als sie das Gespräch beendet hatten, stand Lew eine Weile da und starrte auf das Klemmbrett. »Jago ist weg«, sagte er schließlich.

»Was soll das heißen, weg?«, fragte Cadan. »Für heute? Für immer? Ist ihm was passiert?«

Lew schüttelte den Kopf. »Er ist einfach abgehauen.«

»Was? Er hat die Stadt verlassen?«

»So ist es.«

»Wer war das?« Cadan nickte zum Telefon hinüber, obwohl sein Vater ihn noch immer nicht ansah.

»Der Kerl, in dessen Caravanpark Jago gewohnt hat. Der hat mit ihm gesprochen, als er seine Sachen gepackt hat, aber er konnte nicht viel aus ihm rausholen.« Lew nahm die Ohrenschützer ab und warf sie auf den Tisch. Dann lehnte er sich an die Theke mit den Finnen, Wachsdosen und all dem anderen Zubehör, die Hände aufgestützt und den Kopf gesenkt, als studierte er die Auslage. »Tja, das bricht uns das Kreuz.«

Es war einen Moment still, und Cadan sah Lew die Hand heben und über den Nacken reiben, der ihm von der Arbeitshaltung beim Shaping immer steif wurde. »Dann ist es ja gut, dass ich vorbeigekommen bin«, bemerkte Cadan.

»Wieso?«

»Ich kann dir helfen.«

Lew hob den Kopf. »Cadan, ich bin einfach zu erledigt, um jetzt mit dir zu streiten.«

»Nein, es ist nicht, wie du denkst«, versicherte Cadan ihm. »Ich kann mir schon vorstellen, dass du glaubst, ich würde die Situation ausnutzen wollen, von wegen: Jetzt muss er mich die Bretter lackieren lassen. Aber darum geht's nicht.«

»Sondern worum?«

»Einfach… dir zu helfen. Ich kann auch shapen, wenn du willst. Nicht so gut wie du, aber du kannst es mir ja beibringen. Oder ich übernehme das Versiegeln. Oder das Lackieren. Oder das Schleifen. Ist mir gleich.«

»Und warum willst du das tun, Cadan?«

Cadan zuckte die Achseln. »Du bist mein Vater. Blut ist eben dicker als… na ja, du weißt schon.«

»Und was ist mit Adventures Unlimited?«

»Das hat nicht funktioniert.« Cadan sah den Ausdruck von Resignation im Gesicht seines Vaters. Hastig fügte er hinzu: »Ich weiß, was du jetzt denkst, aber die haben mich nicht rausgeschmissen. Es ist einfach so, dass ich lieber für dich arbeite. Wir haben hier etwas Gutes, und wir sollten es nicht einfach… sterben lassen.«

Sterben. Da war es wieder, dieses furchteinflößende Wort. Bis zu diesem Augenblick war Cadan nicht klar gewesen, wie furchteinflößend es war, weil er so lange, den größten Teil seines Lebens, auf ein ganz anderes Wort fixiert gewesen war: Fortgehen. Aber wie sehr man sich auch abrackerte, um dem Verlust immer einen Schritt voraus zu sein, verhinderte das den Verlust an sich letztlich nicht. Seine Mutter war und blieb verschwunden, und auch andere ließen einen im Stich. So wie Cadan selbst es wieder und wieder getan hatte, bevor es ihm angetan werden konnte. Und wie Cadans Vater es aus ganz ähnlichen Gründen getan hatte. Aber manche Dinge überdauerten die Zeit, trotz aller Ängste, und dazu gehörte eben auch die Verwandtschaft.

»Ich will dir helfen«, wiederholte Cadan. »Ich habe mich einfach blöd angestellt. Aber du bist der Fachmann, und ich schätze, du kannst mir alles beibringen, was ich hierfür wissen muss.«

»Willst du das wirklich? Dieses Handwerk erlernen?«

»Ja.«

»Und was ist mit deinem Fahrrad? Die X-Games oder wie das heißt?«

»Das hier ist im Moment wichtiger. Und ich werde tun, was ich kann, damit es wichtig bleibt.« Dann sah Cadan seinen Vater scharf an. »Reicht dir das, Dad?«

»Ich verstehe nicht, warum du das tun willst, Cadan.«

»Weil du mein Vater bist, du Idiot.«


Selevan hatte Jago nachgesehen, während er davonfuhr, und über all die Zeit nachgegrübelt, die er mit ihm verbracht hatte. Er fand keine Antworten auf die Fragen, die ihm unablässig durch den Kopf gingen. Ganz gleich wie er die Dinge betrachtete, er verstand einfach nicht, was Jago gemeint hatte, und irgendetwas sagte ihm, dass es womöglich sogar besser wäre, das ganze Thema nicht allzu genau zu ergründen. Trotzdem hatte er in der Hoffnung, Jagos Arbeitgeber könnte ein wenig Licht ins Dunkel bringen, bei LiquidEarth angerufen. Aber er hatte lediglich eines erfahren: Was immer Jago mit "fertig" gemeint hatte, es hatte nichts mit Surfbrettern zu tun. Darüber hinaus, erkannte Selevan, wollte er es lieber gar nicht so genau wissen. Vielleicht war er ja ein Feigling, aber, so befand er, manche Dinge gingen ihn einfach nichts an.

Tammy fiel allerdings nicht in diese Kategorie. Er verstaute ihre Habseligkeiten im Auto und fuhr zum Clean-Barrel-Surfshop. Es blieb noch ein wenig Zeit, bis sie den Laden für heute schloss, darum parkte er am Hafen und ging hinüber zu Jill's Juices, wo er einen extra starken Kaffee erstand.

Dann schlenderte er die nördliche Seite der Kaianlage entlang. Ein paar vertäute Fischerboote schaukelten fast unmerklich auf dem Wasser. Enten paddelten in der Nähe, eine ganze Familie mit Mutter, Vater und einem schier unglaublichen ganzen Dutzend Küken. Ein Kajakfahrer absolvierte eine Trainingseinheit am späten Nachmittag und ruderte lautlos in Richtung Launceston.

Die Luft fühlte sich nach Frühling an. Meteorologisch betrachtet, war natürlich schon seit etlichen Wochen Frühling, aber bis heute hatte Selevan dies nicht so empfunden. Endlich war jedoch auch das Wetter dementsprechend. Sicher, der Wind von der See war immer noch frisch, aber er fühlte sich jetzt anders an — so als würde das Wetter umschlagen. Er trug den Geruch von frisch umgepflügter Erde zu ihm herüber, und Selevan sah, dass in den Blumenkästen vor der öffentlichen Bücherei die winterlichen Stiefmütterchen durch Petunien ersetzt worden waren.

Er spazierte bis zum Ende des Kais, wo die alte Kanalschleuse geschlossen war und das Wasser zurückhielt, bis eines der Fischerboote aufs Meer hinauswollte. Von diesem Aussichtspunkt konnte er die Stadt nach Norden hin ansteigen sehen, mit dem alten King-George-Hotel auf der Anhöhe, das nun zu einem Spielplatz für abenteuerlustige Touristen werden sollte; dort waren sie offenbar in der neuen Welt angekommen.

Die Dinge wandeln sich, dachte Selevan bei sich. Das hatte sich sein ganzes Leben lang bewahrheitet, selbst wenn es ihm manchmal so vorgekommen war, als würden sich die wesentlichen Dinge niemals ändern. Er hatte zur Navy gehen wollen, um einem Leben endloser Eintönigkeit zu entkommen, aber dann hatten sich Details in diesem Leben verändert, was schließlich zu grundlegenderen Veränderungen geführt hatte, die wiederum mitnichten Eintönigkeit aufkommen ließen, wenn man ihnen nur seine volle Aufmerksamkeit schenkte. Die Kinder waren größer, er und seine Frau älter geworden, sie brauchten einen Bullen, um die Kühe zu decken, Kälber kamen zur Welt, der Himmel war an einem Tag blau und voll drohender Wolken am nächsten, David trat in die Army ein, Nan brannte durch, um zu heiraten… Man konnte es gut oder schlecht nennen oder einfach nur das Leben. Und das Leben ging weiter. Man bekam nicht immer das, was man wollte, aber so war es nun einmal. Man mochte toben und mit dieser Tatsache hadern, oder man konnte damit fertig werden. Irgendwann einmal hatte er so ein blödes Plakat in der Bücherei gesehen und sich darüber lustig gemacht: »Wenn das Leben dir Zitronen beschert, mach Limonade daraus!« Wie unglaublich dämlich, hatte er damals gedacht. Aber eigentlich war es das gar nicht, erkannte er jetzt.

Er atmete tief durch. Hier konnte man das Salz in der Luft schmecken. Besser als in Sea Dreams; dort war man zu weit oben über der Klippe. Aber hier war man dem Meer ganz nah. Es lag nur ein paar Meter entfernt, schlug auf die Riffs und schliff sie unermüdlich ab, angezogen von den Mächten der Natur oder der Physik oder von Magnetismus oder was auch immer. Er wusste es nicht, und es war ihm egal.

Er leerte seinen Kaffeebecher und zerdrückte ihn in der Hand. Dann trug er ihn zu einem Mülleimer, wo er kurz anhielt, um sich eine Zigarette anzuzünden, die er auf dem Weg zum Surfshop rauchte.

Tammy stand an der Kasse. Die Schublade vor ihr war offen, und sie zählte die Tageseinnahmen ganz allein im Geschäft. Sie hatte ihn nicht eintreten hören.

Er beobachtete sie schweigend. Mit einem Mal erkannte er Dot in ihr, und das war seltsam; die Ähnlichkeit war ihm nie zuvor aufgefallen. Aber jetzt sah er sie nur zu deutlich, an der Art, wie sie den Kopf schräglegte und ein Ohr dabei entblößte. Und die Form dieses Ohrs… die kleine Vertiefung am Ohrläppchen… Auch das war Dot, und er erinnerte sich daran, weil… Oh, das war das Schlimmste, aber er hatte dieses Ohrläppchen ungezählte Male gesehen, wenn er sie bestieg und seinen lieblosen Akt an ihr vollzog, und die arme Frau hatte nie das kleinste bisschen Freude daran haben können, was er heute bedauerte. Er hatte sie nicht geliebt, aber das war nicht ihre Schuld gewesen, auch wenn er ihr die Schuld gegeben hatte, weil sie nicht diejenige war, die sie seiner Meinung nach hätte sein müssen, damit er sie hätte lieben können. Mit einem Mal war in seinem Innern alles ganz zugeschnürt. Er räusperte sich kräftig.

Tammy hob den Kopf, und als sie ihren Großvater entdeckte, wurde ihre Miene ein wenig argwöhnisch. Es wunderte ihn nicht; es war schließlich nicht immer einfach gewesen mit ihnen beiden. Seit er diesen Brief unter ihrer Matratze gefunden und ihr damit vor der Nase herumgewedelt hatte, hatte sie nur noch in einsilbiger Höflichkeit mit ihm geredet und nur dann, wenn er sie direkt angesprochen hatte.

»Du solltest nicht allein hier sein«, sagte er.

»Warum nicht?« Sie legte die Hände links und rechts von der Kassenschublade auf die Theke, und für einen Moment glaubte Selevan, sie fürchtete, er werde sich auf die Tageseinnahmen stürzen und sie vorn in sein Hemd stopfen. Aber dann nahm sie die ganze Schublade heraus und trug sie ins Hinterzimmer, wo neben dem Warenlager und den Putzmitteln ein übergroßer, altmodischer Safe stand. Sie stellte die Geldschublade hinein, schloss die schwere Tür und drehte das Kombinationsschloss. Dann schloss sie die Tür zum Hinterzimmer, verriegelte auch diese und legte den Schlüssel in ein Versteck unter dem Telefon.

»Du rufst besser deinen Chef an, Kind«, eröffnete Selevan ihr. Er wusste, dass seine Stimme grantig klang, aber das tat sie immer, wenn er mit ihr sprach. Daran konnte er nichts ändern.

»Warum?«, fragte sie zurück.

»Weil es Zeit wird, dass du von hier verschwindest.«

Ihre Miene veränderte sich nicht, wohl aber ihre Augen. Die Form. Genau wie bei ihrer Tante Nan, dachte Selevan. Genau wie Nan damals, als er sie angeschrien hatte, sie solle sich verpissen, wenn ihr die Hausregeln nicht gefielen, zu denen auch — nein: vor allen — Dingen zählte, dass verflucht noch mal ihr Vater entschied, mit wem seine Tochter sich traf und wann, und eines kannst du mir glauben, Mädchen, es wird nicht dieser Rocker mit dem Motorrad sein, nur über meine Leiche. Fünf Stück, das musste man sich mal vorstellen. Fünf verdammte Motorräder, und jedes Mal hatte er Nan angebrüllt, wenn der Kerl wieder mit einem neuen angebraust kam, die Fingernägel ölverschmiert, die Knöchel schwarz, und wer zum Henker hätte denn darauf kommen sollen, dass er ein Geschäft daraus machen und diese Dinger bauen würde… Wie hießen sie gleich wieder? Chopping? Chopped? Nein, Chopper, das war's, Chopper. Genau wie in Amerika, wo die Leute alle verrückt und reich genug waren, um sich Gott weiß was zu kaufen. Ist es das, was du willst?, hatte er Nan angebrüllt. Das hier? Das hier?

Doch Tammy stritt nicht mit ihm, wie Nan es getan hatte. Sie stampfte nicht auf und warf auch nicht mit Sachen um sich. Sie machte auch jetzt keine Szene. Sie sagte nur: »Wie du willst, Granddad«, und es klang resigniert. »Aber ich nehme es nicht zurück«, fügte sie hinzu.

»Was?«

»Was ich zu dir gesagt habe.«

Selevan runzelte die Stirn und versuchte, sich an ihre letzte Unterhaltung zu erinnern, die tatsächlich eine Unterhaltung gewesen war und nicht bloß die Bitte, Salz, Senf oder die braune Soße herüberzureichen. Er entsann sich ihrer Reaktion, als er sie mit dem Brief konfrontiert hatte. »Ach das«, sagte er. »Na ja. Da kann man nichts machen, stimmt's?«

»Kann man sehr wohl. Aber ist jetzt auch schon egal. Das hier ändert überhaupt nichts, weißt du, ganz gleich was du denkst.«

»Was meinst du?«

»Das hier. Mich wegzuschicken. Mum und Dad haben auch gedacht, es würde etwas ändern, als sie mich aus Afrika weggeschickt haben. Aber es wird nichts ändern.«

»Das glaubst du, ja?«

»Ich weiß es.«

»Ich meine nicht das Wegschicken oder dass sich damit irgendetwas daran ändern könnte, woran du glaubst. Ich meine… was ich denke.«

Sie schien verwirrt, und dann änderte sich plötzlich und unvermittelt ihr Ausdruck. War das bei allen Teenagern so?, fragte er sich.

»Mal angenommen, an deinem Großvater wäre mehr dran, als man auf den ersten Blick sieht«, sagte er. »Hast du daran schon jemals gedacht? Ich wette, nein. Also, hol dein Zeug, und ruf deinen Chef an. Sag ihm, wo du den Schlüssel lässt, und dann lass uns aufbrechen.«

Damit ließ er sie allein im Laden zurück und trat vor die Tür. Er sah dem dicht fließenden Verkehr auf der Küstenstraße nach. Die Einwohner der Stadt kamen vom Gewerbegebiet am Ortsrand oder von noch weiter her zurück nach Hause. Manche mussten zur Arbeit bis nach Okehampton fahren. Als Tammy endlich den Laden hinter sich abschloss, machten sie sich auf den Rückweg zum Kai. Sie schlenderte in langsamerem Tempo hinter ihm her, und er nahm an, das sollte ihm sagen, dass sie zögernd und nur unter Vorbehalt mit den Plänen, die ihr Großvater für sie gemacht hatte, kooperierte.

»Du hast deinen Pass bei dir, richtig?«, fragte er. »Wie lang ist es her, dass du ihn aus seinem Versteck geholt hast?«

»Eine Weile«, räumte sie ein.

»Was hattest du damit vor?«

»Wusste ich zuerst nicht.«

»Aber jetzt weißt du's?«

»Ich habe Geld gespart.«

»Wofür?«

»Um nach Frankreich zu gehen.«

»Frankreich, ja? Du willst ins schöne Paris?«

»Lisieux«, erwiderte sie.

»Li-was?«

»Lisieux. Da ist… Du weißt schon.«

»Oh. Eine Wallfahrt? Oder noch etwas anderes?«

»Es spielt keine Rolle. Ich hab sowieso noch nicht genug Geld zusammen. Aber wenn ich es hätte, würde ich von hier weggehen.« Sie schloss zu ihm auf, und sie gingen ein Stück Seite an Seite, bis sie sagte, als gäbe sie schließlich nach: »Es ist nichts Persönliches, Granddad.«

»So hab ich's auch nicht aufgefasst. Aber ich bin froh, dass du nicht weggelaufen bist. Wär nicht so einfach gewesen, das deinen Eltern zu erklären. »Sie hat sich nach Frankreich abgesetzt, betet am Schrein irgendeiner Heiligen, über die sie in ihren Heiligenbüchern gelesen hat, die sie ja eigentlich nicht hätte lesen dürfen, aber ich hab sie gelassen, weil ich dachte, dass Worte ihr nicht schaden würden.««

»Das ist nicht ganz richtig.«

»Na ja. Wie gesagt, ich bin froh, dass du nicht ausgebüxt bist, denn dafür hätten deine Mutter und dein Vater mich gevierteilt. Das weißt du doch, oder?«

»Ja, aber manchmal kann man auf so etwas keine Rücksicht nehmen, Granddad.«

»Und das hier ist so ein Fall?«

»Genau.«

»Und du bist dir ganz sicher? Denn das ist es, was sie alle sagen, wenn die Sekten sie in die Finger kriegen und raus auf die Straße zum Betteln schicken. Das Geld knöpfen sie ihnen dann übrigens wieder ab. Und so sind sie gefangen wie Ratten auf einem sinkenden Schiff. Das weißt du doch, oder? Irgendein großer Guru, der auf Mädchen wie dich steht, und sie alle müssen seine Babys bekommen, so wie bei einem Scheich im Zelt mit zwei Dutzend Frauen. Oder bei diesen Polygammern.«

»Polygamisten«, verbesserte sie ihn. »Du glaubst hoffentlich nicht ernsthaft, dass dies hier etwas mit solchen Dingen zu tun hat, Granddad. Du machst nur Witze darüber. Nur für mich ist es nicht komisch, verstehst du?«

Sie waren bei seinem Wagen angekommen. Sie sah beim Einsteigen auf die Rückbank und entdeckte ihre alte Reisetasche. Sie schürzte die Lippen, zwang sich dann aber wieder zu einem neutralen Gesichtsausdruck. Heim nach Afrika, sagte ihre Miene, was bedeutete, heim zu Mum und Dad, bis die sich etwas Neues einfallen ließen, um sie in ihren Überzeugungen zu erschüttern. "Zu ihrem Großvater schicken" würden sie von ihrer Liste streichen und einen neuen Plan schmieden. Als Nächstes würde kommen: "nach Sibirien schicken". Oder "in den australischen Busch".

Sie schnallte sich an und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann stierte sie stur geradeaus auf den Kanal, und ihre Miene hellte sich nicht einmal auf, als sie die Entenküken sah und wie deren große Paddelfüße sie fast aus dem Wasser hoben, während sie ihrer Mutter nacheilten. Sie sahen aus wie winzige Sprinter auf der Wasseroberfläche des Kanals, wandelten übers Wasser, und Selevan hätte gedacht, dass solch ein kleines Wunder seiner Enkelin eigentlich hätte gefallen müssen, doch da hatte er sich offenbar getäuscht. Ihre Gedanken waren auf das gerichtet, was sie zu wissen glaubte: die lange Autofahrt nach Heathrow oder Gatwick und die Frage, ob ihr Flug nach Afrika heute Abend noch oder womöglich erst morgen ging. Wohl eher morgen, und das bedeutete eine lange Nacht in irgendeinem Hotel. Vielleicht könnte sie fliehen. Aus dem Hotelfenster oder die Treppe hinab und dann ab nach Frankreich ganz egal wie.

Er überlegte, ob er sie in ihrem Irrtum belassen sollte. Aber es schien ihm grausam, das arme Kind leiden zu lassen. Sie hatte genug gelitten. Sie war standhaft geblieben trotz allem, was man mit ihr angestellt hatte, und das musste doch etwas zu bedeuten haben, selbst wenn das, was es bedeutete, alle anderen mit Schrecken erfüllte.

Als er den Motor startete, sagte er: »Ich hab sie angerufen. Vor ein, zwei Tagen.«

Sie sagte mutlos: »Na ja, das musstest du ja wohl auch.«

»Das stimmt. Sie sagten, du sollst ruhig kommen. Sie wollten auch gleich mit dir reden, aber ich hab ihnen gesagt, du wärst gerade im Moment nicht da.«

»Wenigstens etwas. Danke.« Tammy wandte den Kopf ab und betrachtete die Umgebung. Sie fuhren durch Stratton und dann auf die A39 in Richtung Norden. Es gab keinen einfacheren Weg hinaus aus Cornwall, aber das war seit jeher Teil des Charmes dieser Gegend gewesen. »Ich hätte auch kein großes Bedürfnis gehabt, mit ihnen zu reden, Granddad. Wir haben uns alles gesagt, was es zu sagen gab.«

»Das glaubst du, ja?«

»Wir haben geredet und geredet. Wir haben uns gestritten. Ich habe versucht, es ihnen zu erklären, aber sie verstehen es nicht. Sie wollen es nicht verstehen. Sie haben ihre Pläne, ich habe meine, und so ist es nun einmal.«

»Ich wusste gar nicht, dass du mit ihnen gesprochen hast.« Selevan ließ seine Stimme versonnen klingen, als überdenke er die Folgen dessen, was seine Enkelin ihm eröffnet hatte.

»Was soll das heißen, du weißt nicht, dass ich mit ihnen gesprochen habe?«, verlangte Tammy zu wissen. »Das haben wir pausenlos getan, bevor ich hierhergekommen bin. Ich habe geredet, Mum hat geweint. Ich habe geredet, Dad hat gebrüllt. Ich habe geredet, sie haben mir widersprochen. Nur wollte ich nicht mit ihnen streiten, denn soweit ich sehen kann, gibt es nichts, worüber man streiten könnte. Entweder man versteht es oder nicht, und sie verstehen es eben nicht. Na ja, wie auch? Ich meine, Mums ganzer Lebensstil hätte mir vor Augen führen müssen, dass sie es niemals begreifen würde. Ein Leben in Kontemplation? Wohl kaum, wenn dein einziges Interesse darin besteht, Mode- und Klatschzeitschriften zu lesen und zu überlegen, wie du dich in Posh Spice verwandeln kannst, und das ausgerechnet an einem Ort, wo es nicht besonders viele Designerläden gibt. Und du zudem ungefähr hundert Kilo mehr wiegst als Posh Spice oder wie immer sie sich heutzutage nennt.«

»Wer?«

»Was meinst du, wer? Posh Spice. Posh wie auch immer. Mum lässt sich Hello! und OK! mit dem Laster dorthinbringen und Vogue und Tatler und was sonst noch, und das ist ihre Ambition. So wie all diese Frauen auszusehen und so wie sie zu leben. Aber das ist nicht mein Ziel, Granddad. Das wird es niemals werden, also du kannst mich gerne nach Hause schicken, aber ändern wird sich nichts. Ich will nicht, was sie wollen. Das habe ich nie und werde ich auch nie.«

»Ich wusste nicht, dass du mit ihnen gesprochen hast«, wiederholte er. »Sie haben gesagt, sie hätten nicht mit dir geredet.«

»Wie meinst du das?« Sie warf sich im Sitz herum, sodass sie ihn ansehen konnte.

»Diese Mutter… wie nennt man sie noch gleich?«, fragte er. »Die Abt-Dame. Wie nennt man sie?«

Tammy geriet ins Stocken. Ihre Zunge schnellte hervor, fuhr über die Lippen, dann nahm sie die Unterlippe zwischen die Zähne und saugte daran wie ein kleines Mädchen. Selevan spürte seine Brust bei dem Anblick eng werden. Sie war in so vieler Hinsicht noch ein kleines Mädchen. Er verstand, dass ihren Eltern der Gedanke unerträglich war, sie könnte hinter Klostermauern verschwinden. Vor allem so ein Kloster, wo niemand mehr herauskam, es sei denn, in einem Sarg. Sie konnten einfach keinen Sinn darin erkennen. Es war so… so unmädchenhaft. Tammy hätte sich doch eigentlich für spitze Schuhe mit hohen Absätzen begeistern sollen, für Lippenstifte und Haardingsbums. Für kurze Röcke, lange Röcke oder Zwischendrin-Röcke, für die Frage, ob Jacke oder nicht, Weste oder nicht, für Musik und Jungen und Filmstars und an welchem Punkt in ihrem Leben sie sich einen Kerl an die Wäsche gehen lassen sollte. Aber womit sie sich mit siebzehn nicht befassen sollte, waren der Zustand der Welt, Krieg und Frieden, Hunger und Krankheit, Armut und Unwissenheit. Und woran sie ganz sicher nicht denken sollte, waren Sackleinen und Asche oder was immer die in solchen Häusern trugen, eine kleine Zelle mit einer Pritsche, einer Gebetsbank und einem Kruzifix, Rosenkranz und Aufstehen im Morgengrauen, um zu beten, zu beten und wieder zu beten, für alle Zeiten der Welt abgekehrt.

»Granddad…«, sagte Tammy. Aber sie schien sich nicht zu trauen, den Satz zu beenden.

»Das bin ich«, erwiderte er. »Der Granddad, der dich liebt.«

»Wo hast du…?«

»Na ja, das stand doch in dem Brief, oder? Rufen Sie die Mutter Dingsda an, um einen Besuchstermin zu vereinbaren. »Manchmal stellen Mädchen fest, dass sie nicht damit fertig werden. Sie glauben, dieses Leben wäre irgendwie romantisch, aber ich versichere Ihnen, das ist nicht der Fall, Mr. Penrule. Doch wir bieten Besinnungstage für Einzelpersonen oder Gruppen an, und wenn sie daran teilnehmen möchte, ist sie herzlich willkommen.«

Wieder erinnerten Tammys Augen ihn an Nans. Oder Nans Augen, wie sie hätten sein sollen, wenn sie ihren Vater ansah. Nicht wie sie gewesen waren, wenn sie sich sein Gebrüll hatte anhören müssen.

»Granddad, du bringst mich nicht zum Flughafen?«

»Natürlich nicht«, erwiderte er, als wäre es für ihn das Selbstverständlichste auf der Welt, die Wünsche ihrer Eltern zu missachten und seine Enkelin an die schottische Grenze zu fahren, damit sie dort eine Woche in einem Karmeliterinnenkloster verbringen konnte. »Sie wissen nichts davon und werden es auch nie erfahren.«

»Aber wenn ich mich dazu entschließe, dort zu bleiben… Wenn ich bleiben will… Wenn ich feststelle, dass es das ist, was ich glaube und was ich brauche… dann musst du's ihnen sagen. Und was dann?«

»Lass das nur meine Sorge sein.«

»Das würden sie dir nie verzeihen! Wenn ich entscheide… Wenn ich es für das Beste halte… Sie würden niemals zustimmen. Sie würden nie denken…«

»Sie werden denken, was sie denken, Kind«, erklärte Selevan seiner Enkelin. Er griff in die Seitentasche der Fahrertür und förderte einen Straßenatlas von Großbritannien ans Licht, den er ihr reichte. »Schlag den mal auf. Wenn wir den weiten Weg nach Schottland fahren wollen, brauche ich einen verdammt guten Navigator. Meinst du, das bist du?«

Ihr Lächeln konnte einen geradezu blenden. Es zwängte ihm das Herz zusammen. »Das bin ich«, versicherte sie.

»Dann auf in den Norden.«


Nach den Ereignissen des Tages wollte Bea Hannaford von allen möglichen Dingen am dringendsten einen Schuldigen finden. Sie fing mit Ray an. Er schien der naheliegendste Quell all jener Schwierigkeiten, die dazu geführt hatten, dass ein Mörder ungestraft davonkam. Hätte Ray ihr das Team von Kriminalbeamten geschickt, das sie von Anfang an gebraucht hätte, sagte sie sich, hätte sie sich nicht auf die Taucherstaffel verlassen müssen, auf Beamte, deren Fachwissen sich auf das Bergen schwerer Lasten beschränkte, die aber keine Ahnung von einer Mordermittlung hatten. Ebenso wenig hätte sie sich auf Constable McNulty als Teil ihres Teams verlassen müssen, der entscheidende Informationen an die Familie des Mordopfers ausgeplaudert hatte, sodass die Polizei praktisch nichts mehr in Händen hielt, was nur sie und der Täter wussten. Sergeant Collins war ja noch erträglich gewesen, denn der hatte die Wache nie lang genug verlassen, um Mist zu bauen. Aber was Detective Sergeant Havers und Thomas Lynley betraf… Bea wollte auch ihnen irgendetwas vorwerfen, und sei es nur diese nervtötende Loyalität zueinander, doch sie brachte es nicht übers Herz. Abgesehen davon, dass Lynley Informationen über Daidre Trahair zurückgehalten hatte, die sich dann jedoch als unmaßgeblich erwiesen hatten, ganz gleich wie stur sie selbst an das Gegenteil geglaubt hatte, hatten die beiden mehr oder minder nur das getan, was sie angeordnet hatte.

Was sie lieber nicht allzu genau bedenken wollte, war, dass die Verantwortung letztlich bei ihr selbst gelegen hatte, denn schließlich hatte sie ja diese Ermittlung geleitet und in mehr als einer Hinsicht eine störrische Uneinsichtigkeit an den Tag gelegt. Angefangen von Daidre Trahairs Verwicklung in das Verbrechen bis hin zu ihrer beharrlichen Forderung, hier in der Stadt eine Einsatzzentrale einzurichten und nicht, wo Ray vorgeschlagen hatte: nämlich dort, wo sich Einsatzzentralen üblicherweise befanden und wo besser qualifiziertes Personal stationiert war. Sie hatte sich in ihre Forderung verbissen, von Casvelyn aus zu arbeiten, weil Ray gesagt hatte, es sei ein Fehler.

Auch wenn also Ray die Schuld trug, war sie selbst doch gleichermaßen verantwortlich. Und ein Scheitern dieser Größenordnung brachte ihre Zukunft in Gefahr.

Kein Fall fürs Gericht. Konnte es vier schrecklichere Wörter geben? Oh, vielleicht: Unsere Ehe ist vorbei. Die waren genauso schlimm, und weiß Gott genug Polizisten bekamen sie von Partnern zu hören, die das Leben mit einem Cop nicht mehr aushielten. Aber Kein Fall fürs Gericht bedeutete, eine trauernde Familie in der Schwebe zu lassen, ohne dass ein Schuldiger zur Rechenschaft gezogen wurde. Es hieß, dass ihnen trotz der vielen Arbeitsstunden, all der Mühsal, des Durchsiebens von Daten, der rechtsmedizinischen Berichte, der Vernehmungen, der Diskussionen, des Betrachtens der Fakten von allen Seiten nichts mehr übrig blieb, als noch einmal von vorn zu beginnen und auf ein anderes Ergebnis zu hoffen oder die Akte offen zu lassen und irgendwann als ungeklärt abzulegen. Aber wie konnte der Fall ungeklärt bleiben, wenn sie doch genau wussten, wer der Mörder war, er aber einfach davonkam? Das hier war kein offener Fall. Eine offene Akte enthielt immer noch den Hoffnungsschimmer, dass sich etwas Neues ergeben konnte. Aber in diesem Fall schimmerte rein gar nichts. Die regionale Polizeibehörde würde sie eventuell fragen, welche Mittel sie benötigte, um die Angelegenheit in Casvelyn in Ordnung zu bringen, aber das war wohl eher ein Wunschtraum. Viel wahrscheinlicher war, dass die regionale Polizeibehörde sie fragen würde, wie sie es geschafft hatte, diese Sache so gründlich zu versenken.

Einzig und allein dank Ray hatte sie dies geschafft, redete sie sich ein. Ray hatte kein Interesse an ihrem Erfolg. Im Gegenteil: Er hatte ihr fünfzehn Jahre der Entfremdung heimzahlen wollen, ganz gleich ob er sie nun selbst verschuldet hatte oder nicht.

Weil sie nicht wusste, welche Richtung sie sonst hätte vorgeben sollen, hieß sie ihr Team, alle Fakten nochmals zu sichten und nach irgendetwas zu suchen, um Jago Reeth alias Jonathan Parsons diesen Mord nachzuweisen. Was hätten sie, fragte sie sie, das sie dem Staatsanwalt geben konnten, das ihm Feuer unterm Hintern machte und seinen Jagdinstinkt weckte? Es musste irgendetwas geben! Also würden sie am folgenden Tag mit diesem Prozess beginnen, und bis dahin sollten alle nach Hause fahren und sich einmal vernünftig ausschlafen, denn bis diese Geschichte erledigt sei, würden sie nicht mehr zur Ruhe kommen. Und dann befolgte sie ihren eigenen Befehl.

Als sie nach Holsworthy kam, öffnete sie den Schrank, wo sie Schrubber und Wischmopp ebenso verwahrte wie ihre Weinvorräte. Wahllos griff sie nach einer Flasche und nahm sie mit in die Küche. Rot, stellte sie fest. Ein Shiraz. Ein Wein aus Südafrika mit dem Namen Alte Ziegen streifen durchs Dorf. Das klang interessant. Sie konnte sich nicht erinnern, wann und wo sie ihn gekauft hatte, aber sie war einigermaßen überzeugt, dass sie ihn nur wegen des Namens und Etiketts erworben hatte.

Sie öffnete ihn, füllte einen Kaffeebecher bis zum Rand und setzte sich an den Küchentisch. Ihr Blick fiel auf den Wandkalender. Dies erwies sich als ebenso deprimierend, wie über die vergangenen sechs Tage nachzusinnen, weil es sie an ihr letztes Internetdate erinnerte, das ungefähr vier Wochen zurücklag. Ein Architekt. Auf dem Bildschirm hatte er gut ausgesehen; am Telefon hatte er sich gut angehört. Ein bisschen geschwätzig, ein nervöses Lachen, aber damit war ja zu rechnen, oder etwa nicht? Schließlich war das nicht der normale Weg, auf dem Männer und Frauen sich kennenlernten. Was immer man heute auch normal nennen mochte — sie wusste es nicht mehr. Vielleicht gehen wir mal einen Kaffee trinken?, hatten sie einander gefragt. Ein Bier? Sicher. In Ordnung. Er war mit Fotos von seinem Ferienhaus gekommen, noch mehr Fotos von seinem Boot, von sich selbst im Skiurlaub und von seinem Auto, bei dem es sich möglicherweise um einen Mercedes-Oldtimer handelte, aber als sie bei dem Auto angekommen waren, war es Bea so oder so egal. Ich, ich, ich. Etwas anderes hatte es für ihn nicht gegeben. Nur ich, Baby, und immer nur ich. Ihr war danach gewesen zu heulen oder zu schlafen. Als sie sich schließlich trennten, hatte sie zwei Martini intus und hätte eigentlich nicht mehr fahren dürfen, aber ihr Fluchtinstinkt war stärker gewesen als der Verstand, also war sie die Straßen entlanggeschlichen und hatte gebetet, dass sie nicht angehalten würde. Mit einem liebenswürdigen Lächeln hatte er gesagt: »Verdammt. Jetzt habe ich die ganze Zeit nur von mir geredet, was? Beim nächsten Mal…« Und sie hatte gedacht: Ein nächstes Mal wird's nicht geben, Herzchen. Und das hatte sie bei allen gedacht.

Gott, wie erbärmlich! Das konnte doch nicht alles im Leben sein. Und jetzt… Sie kam nicht einmal mehr auf seinen Namen. Nur auf den Spitznamen, den sie ihm gegeben hatte und der ihn von all den anderen Wichsern unterschied: Boots-Wichser. Gab es einen Weg, fragte sie sich, in ihrer Altersgruppe einen Mann ohne Altlasten zu finden, vielleicht einen, der in erster Linie eine Persönlichkeit war und erst in zweiter der Repräsentant eines Berufes, der ihm die Anschaffung aller möglichen Eigentümer ermöglichte? Nein, fing sie an zu glauben, es sei denn, es handelte sich um einen Repräsentanten der Kategorie Scheidungsopfer, die sie jedoch gleichermaßen getroffen hatte. Männer, die nichts vorzuweisen hatten außer eine alte Schrottkarre, ein Einzimmerapartment und einen Berg von Kreditkartenrechnungen. Aber es musste doch noch etwas zwischen diesen beiden Extremen geben. Oder war das hier, so wie es sein sollte, wenn eine ungebundene Frau das erreichte, was man früher mit "ein gewisses Alter" umschrieben hatte?

Bea kippte ihren Wein hinunter. Sie wusste, sie sollte etwas essen. Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie noch irgendetwas im Kühlschrank hatte, aber eine Dosensuppe würde sie bestimmt auftreiben können. Oder vielleicht ein paar von diesen Minisalamis, die Pete so gern als Snack aß? Einen Apfel? Vielleicht. Ein Glas Erdnussbutter? Wenigstens Marmite und altes Brot. Das hier war schließlich England.

Schwerfällig kam sie auf die Füße und öffnete den Kühlschrank. Sie starrte in seine kalte, herzlose Tiefe. Ein Rest Karamellbiskuit stand darin, also war für den Nachtisch schon gesorgt. Ganz weit hinten lag noch ein altes Wurstbrötchen. Das taugte vielleicht als Hauptgericht. Und als Vorspeise…? Eine Minutenterrine? Für die Gemüsebeilage ließe sich doch bestimmt eine Konserve finden. Kichererbsen? Karotten und Pastinaken? Bea fragte sich, wo sie mit ihren Gedanken gewesen war, als sie das letzte Mal eingekauft hatte. Offenbar weit weg. Wahrscheinlich hatte sie den Wagen durch die Gänge geschoben ohne die geringste Ahnung, was sie kochen wollte. Vermutlich hatte ihr Anspruch, zumindest Pete gesund zu ernähren, sie zu einem spontanen Besuch auf dem Markt veranlasst, aber dort hatte sie irgendetwas abgelenkt, ein Anruf auf dem Handy etwa, und das Ergebnis war… das hier. Sie holte das Karamellbiskuit heraus und beschloss, Vorspeise, Hauptgang und Beilage zu überspringen und gleich mit dem Dessert anzufangen. Warum sollte sie sich das verwehren, wo sie doch Aufheiterung brauchte, und die Süßspeise hatte das größte Potenzial, sie ihr zu gewährleisten.

Sie wollte sich gerade darüber hermachen, als das vertraute Klopfzeichen an ihrer Tür ertönte, gefolgt von Rays Schlüssel im Schloss und seiner strengen Stimme: »… Wesen eines Kompromisses, Kumpel.«

Worauf Pete erwiderte: »Pizza ist doch schon ein Kompromiss, Dad, wenn man eigentlich McDonald's will.«

»Wage ja nicht, ihm einen Big Mac zu kaufen«, rief Bea.

»Siehst du?«, sagte Ray. »Mum ist ganz meiner Meinung.«

Mit diesen Worten traten sie in die Küche. Beide trugen die gleiche Baseballkappe, und Pete hatte sein Arsenal-Trikot an. Ray trug Jeans und eine farbbespritzte Windjacke. Petes Jeans hatte ein großes Loch über dem Knie.

»Wo sind die Hunde?«, fragte Bea.

»Bei mir«, antwortete Ray. »Wir waren…«

»Mum, Dad hat einen Paintball-Platz gefunden. Total irre«, verkündete Pete. »Es war fantastisch. Peng!« Er zielte mit dem Finger auf seinen Vater. »Wumm! Zack! Peng! Man zieht solche Overalls an, und dann wird man aufgeladen, und es geht los. Ich hab's ihm ordentlich gegeben, stimmt's nicht, Dad? Ich hab mich angeschleicht…«

»Angeschlichen«, verbesserte Bea geduldig. Sie betrachtete ihren Sohn und musste unwillkürlich lächeln, als er vorführte, wie er seinen Vater mit Farbe bespritzt hatte. Sie hatte sich immer geschworen, dass ihr Sohn niemals etwas Derartiges spielen dürfte: eine Nachahmung von Krieg. Und doch, blieben Jungen am Ende nicht immer einfach Jungen?

»Du hättest nie gedacht, dass ich so gut bin, oder?«, fragte Pete seinen Vater und boxte ihn freundschaftlich auf den Arm.

Ray streckte den Arm aus, legte ihn um Petes Hals und zerrte den Jungen zu sich heran. Er platzierte einen geräuschvollen Kuss auf seinem Kopf und fuhr ihm mit den Fingerknöcheln durchs dichte Haar. »Los, geh deine Sachen holen, du Paintball-Wunder. Wir müssen uns ums Abendessen kümmern.«

»Pizza!«

»Curry oder chinesisch. Das ist das Äußerste, wozu ich bereit bin. Oder Kalbsleber mit Zwiebeln zu Hause. Mit einer Beilage aus Blumenkohl und dicken Bohnen.«

Pete buhte lautstark, stürmte aus der Küche, und sie hörten ihn die Treppe hinaufpoltern.

»Er wollte seinen CD-Spieler«, erklärte Ray. Er lächelte, als sie Pete in seinem Zimmer herumstöbern hörten. »Die Wahrheit ist, er will einen iPod. Und sein Plan ist, mir vorzuführen, wie viele CDs er mit sich herumschleppen muss, wo er doch stattdessen nur dieses Gerät von der Größe… Wie groß sind die Dinger eigentlich? Ich komm bei den neuen Technologien einfach nicht mehr mit.«

»Dazu hat man heutzutage Kinder. In Hightech-Fragen bin ich ohne Pete völlig aufgeschmissen.«

Ray betrachtete sie einen Moment, während sie einen Löffel Karamellbiskuit zum Mund führte. Ein wenig verlegen wedelte sie ihm damit zu. »Wieso habe ich das Gefühl, das ist dein Abendessen, Beatrice?«

»Weil du Polizist bist.«

»Es stimmt also?«

»Hm-m.«

»Bist du auf dem Sprung?«

»So würde ich weder meinen momentanen Betriebszustand noch den Zustand der Ermittlung beschreiben.«

Sie beschloss, es ihm zu erzählen. Er würde es früher oder später ohnehin erfahren. Dann also lieber früher und von ihr selbst. Als sie ihm sämtliche Details geliefert hatte, wartete sie auf seine Reaktion.

»Verflucht«, sagte er. »Das ist ein totaler…« Er schien nach einem passenden Wort zu suchen.

»Schlamassel?«, offerierte sie. »Von mir höchstpersönlich angerichtet?«

»So würde ich es nicht ausdrücken.«

»Aber gedacht hast du es.«

»Was den Schlamassel angeht, ja. Was dich angeht, nein.«

Bea konnte den Ausdruck freundschaftlichen Mitgefühls auf seinem Gesicht nicht länger ertragen und wandte sich ab. Sie starrte aus dem Fenster, das bei Tageslicht einen Ausblick auf einen Teil des Gartens bot oder was als ihr Garten herhalten musste, der um diese Jahreszeit längst hätte gemulcht sein müssen, wie sie wusste, stattdessen aber offen für die Samenkörnchen dalag, die die Feldlerchen und Hänflinge herbeitrugen. Aus diesen Samen wuchs Unkraut, und in ein oder zwei Monaten würde ihr ein Riesenberg Arbeit bevorstehen. Nur gut, dass sie im Fenster nichts als ihr Spiegelbild sah und das von Ray hinter ihr. Dies lenkte sie ab von der Herkulesaufgabe, die sie sich selbst durch mangelnde Aufmerksamkeit für ihren Garten aufgehalst hatte.

»Ich war wild entschlossen, dir die Schuld daran zu geben.«

»Woran?«

»An dem Schlamassel. Die unzureichende Einsatzzentrale. Für Geld und gute Worte kein Team von Kriminalisten zur Verfügung zu haben. Und ich stand da mit Constable McNulty und Sergeant Collins und wen immer du mir sonst noch zu schicken beliebtest…«

»So war es nicht.«

»Oh, das weiß ich.« Ihre Stimme klang erschöpft, und genau das war sie. Sie fühlte sich, als wäre sie viel zu lange stromaufwärts geschwommen. »Aber ich war diejenige, die Constable McNulty ausgeschickt hat, um den Kernes mitzuteilen, dass es Mord war. Ich hatte gedacht, er würde seinen Verstand gebrauchen, aber natürlich habe ich mich geirrt. Und als ich erfuhr, was er ausgeplaudert hatte, hab ich gedacht, wir finden schon noch etwas anderes, irgendeine Kleinigkeit, irgendein Detail… egal was. Irgendetwas, was als Stolperdraht dienen würde, sobald der Mörder vorbeigeschlendert käme. Aber wir hatten nichts…«

»Vielleicht findest du noch etwas.«

»Das bezweifle ich. Es sei denn, eine Bemerkung über ein Surfposter zählt, aber damit kann die Staatsanwaltschaft wohl kaum etwas anfangen.« Sie stellte die Biskuitschachtel ab. »Ich habe mir immer eingeredet, es gäbe keinen perfekten Mord. Die Kriminaltechnik ist zu weit entwickelt. Solange es Leichen gibt, gibt es einfach zu viele Testmethoden und Experten. Niemand kann morden, ohne eine Spur von sich zu hinterlassen. Es ist unmöglich. Einfach nicht zu schaffen.«

»Und das stimmt, Beatrice.«

»Aber was ich nicht gesehen habe, sind die Schlupflöcher. All die Möglichkeiten, die ein Mörder hat, um dieses… dieses ultimative Verbrechen zu planen, zu organisieren und auszuführen, und das auf eine Weise, dass es für jedes Detail eine harmlose Erklärung gibt. Dass selbst die flüchtigsten forensischen Beweise als gewöhnliche Spuren eines unschuldigen Alltagslebens interpretiert werden können. Das habe ich nicht gesehen. Und warum nicht?«

»Vielleicht weil dir andere Dinge durch den Kopf gingen. Du warst abgelenkt.«

»Zum Beispiel?«

»Andere Bereiche deines Lebens. Denn dein Leben hat andere Bereiche, egal wie sehr du versuchst, es zu leugnen.«

Sie wollte ihm ausweichen. »Ray…«

Er hatte offenbar nicht die Absicht, das zuzulassen. »Du bist nicht ausschließlich ein Cop«, sagte er. »Herrgott noch mal, Beatrice, du bist doch keine Maschine.«

»Das bezweifle ich manchmal.«

»Nun, ich nicht.«

Dröhnende Musik kam von oben: Pete bei der CD-Auswahl. Einen Moment lauschten sie dem Kreischen einer elektrischen Gitarre. Pete bevorzugte Oldies. Jimi Hendrix war sein Idol, aber im Notfall tat es auch Duane Allman mit seinem Bottleneck.

»Gott«, sagte Ray. »Kauf dem Jungen einen iPod!«

Sie grinste und kicherte dann schelmisch vor sich hin. »Es ist schon was Besonderes, dieses Kind.«

»Unser Kind, Beatrice«, verbesserte Ray leise.

Sie antwortete nicht. Stattdessen nahm sie die Packung Karamellbiskuit und warf sie in den Mülleimer. Dann wusch sie den Löffel ab und legte ihn auf die Spüle.

Ray fragte: »Können wir jetzt darüber reden?«

»Wirklich großartiges Timing…«

»Beatrice, ich will schon seit Ewigkeiten mit dir darüber reden. Das weißt du ganz genau.«

»Das stimmt. Aber im Moment… Du bist doch ein Cop und nicht mal ein schlechter. Du siehst genau, was mit mir los ist. Du schnappst den Verdächtigen in einem schwachen Moment. Du führst den schwachen Moment herbei, wenn du kannst. Das ist simples, polizeiliches Grundwissen, Ray.«

»Das hier nicht.«

»Was?«

»Das hier ist nicht simpel. Beatrice, wie oft muss ein Mann dir sagen, dass er im Irrtum war? Und wie oft willst du erwidern, dass Vergebung nicht Bestandteil deines… was? Deines Repertoires ist? Als ich dachte, dass Pete nicht…«

»Sprich es nicht aus.«

»Ich muss es sagen, und du musst es hören. Als ich dachte, dass Pete nicht zur Welt kommen sollte… als ich gesagt habe, du solltest abtreiben…«

»Genau das wolltest du.«

»Ich wollte so viele Dinge. Ich will noch immer viele Dinge. Und manchmal äußere ich meine Wünsche, ohne nachzudenken. Besonders wenn ich…«

»Was?«

»Ich weiß nicht. Wenn ich Angst habe, nehm ich an.«

»Vor einem Kind? Wir hatten doch schon eines großgezogen.«

»Nicht davor. Aber vor Veränderungen. Die Veränderungen, die es in unser Leben bringen würde, so wie wir es uns eingerichtet hatten.«

»Solche Dinge passieren.«

»Ich weiß. Und ich wäre damals auch zu dieser Einsicht gekommen, wenn du mir die Zeit zugestanden hättest…«

»Es war nicht nur eine einzelne Debatte, Ray.«

»Ja. In Ordnung. Das will ich auch nicht behaupten. Aber was ich sagen will, ist, dass ich im Irrtum war. In absolut jeder einzelnen Debatte, die wir darüber geführt haben, war ich im Irrtum, und seit Jahren bereue ich das. Seit vierzehn Jahren, um genau zu sein. Länger, wenn du die Schwangerschaft dazurechnest. Ich wollte nicht, dass es so kommt. Und das will ich immer noch nicht.«

»Und… die anderen?«, fragte sie. »Du hast doch Ablenkung gefunden.«

»Was? Frauen? Meine Güte, Beatrice, ich bin kein Mönch. Ja, es gab Frauen im Laufe der Jahre. Eine ganze verdammte Karawane. Janice und Sheri und Sharon und Linda und wie sie alle hießen, denn ich kann mich nicht an alle erinnern. Was daran liegt, dass ich sie gar nicht wollte. Ich wollte nur… das hier vergessen.« Seine Geste umfasste die Küche, das ganze Haus und die Menschen darin. »Also, worum ich dich bitte, ist, mich wieder hineinzulassen, denn hier gehöre ich hin, und das wissen wir beide.«

»Wirklich?«

»Wirklich. Und Pete weiß es auch. Sogar die verdammten Hunde wissen es.«

Sie schluckte. Es wäre so einfach… Aber andererseits auch nicht. Ein Mann und eine Frau zusammen — das war niemals einfach.

»Mum!«, rief Pete von oben. »Wo hast du meine Led-Zeppelin-CD hingetan?«

»Mein Gott«, murmelte Bea mit einem Schaudern. »Könnte irgendwer diesem Jungen bitte auf der Stelle einen iPod kaufen?«

»Mum! Mummyyyyyyy!«

Sie sagte zu Ray: »Ich liebe es, wenn er mich manchmal noch so nennt. Oft kommt es nicht mehr vor. Er wird so groß.« Und dann rief sie zurück: »Keine Ahnung, Liebling! Sieh mal unter deinem Bett nach! Und wenn du schon da unten bist, wirf alle Kleidungsstücke, die du da findest, in die Wäsche! Und die alten Käse-Sandwiches in den Müll. Aber scheuch vorher die Mäuse runter.«

»Sehr witzig!«, brüllte er und fuhr fort, oben herumzupoltern. »Dad!«, rief er dann. »Bring sie dazu, es mir zu sagen! Sie weiß ganz bestimmt, wo die CD ist! Sie kann sie nicht leiden, und darum hat sie sie irgendwo versteckt.«

Ray rief zurück: »Ich kann diese Frau schon seit Jahren nicht mehr dazu bringen, irgendetwas zu tun, mein Sohn!« Dann fuhr er leise fort: »Ist es nicht so, Liebes? Denn wenn ich es könnte, wüsstest du genau, was es wäre.«

Sie erwiderte: »Aber das kannst du nicht.«

»Zu meinem unendlichen Bedauern.«

Sie dachte über die Dinge nach, die er gerade und die er zuvor gesagt hatte. Dann antwortete sie: »Na ja, unendlich…«

Sie hörte ihn schlucken. »Ist das dein Ernst, Beatrice?«

»Ich schätze schon.«

Sie sahen einander an, und das Fenster hinter ihnen spiegelte das Bild von Mann und Frau, die in exakt demselben Moment einen zögernden Schritt aufeinander zumachten. Pete kam die Treppe heruntergestapft. Er brüllte: »Hab sie! Bereit zum Aufbruch, Dad!«

»Bist du das auch?«, fragte Ray Bea leise.

»Zum Essen?«

»Und für alles, was nach dem Essen kommt.«

Sie atmete genauso tief durch wie er. »Ich glaube, ja«, antwortete sie.

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