2

Cadan Angarrack war der Regen egal. Ebenso egal war ihm der Anblick, den er der kleinen Welt von Casvelyn bot. Er trat in die Pedale seines Freestyle-BMX. Seine Knie hoben sich bis auf Hüfthöhe, und seine Ellbogen standen ab wie Warndreiecke. Er wollte nur nach Hause kommen, um die Neuigkeiten zu verkünden. Pooh hockte auf seiner Schulter, protestierte kreischend und schrie dann und wann "Scheiß Landratte" in Cadans Ohr immer noch besser, als wenn er auf sein Ohrläppchen eingehackt hätte, was in der Vergangenheit gelegentlich vorgekommen war, ehe er den Vogel Manieren gelehrt hatte. Also versuchte Cadan gar nicht erst, ihn zum Schweigen zu bringen. Stattdessen antwortete er: »Ja, gib's ihnen, Pooh«, woraufhin der Papagei krakeelte: »Spreng Löcher im Speicher« eine Redewendung, auf die Cadan sich überhaupt keinen Reim machen konnte.

Hätte er sein Fahrrad zu Trainingszwecken gefahren und nicht als Transportmittel, hätte er den Vogel nicht bei sich gehabt. Zu Anfang hatte er Pooh immer mitgenommen und ihm einen Platz in der Nähe des leeren Swimmingpools gesucht, während er sein Programm absolvierte und nicht nur seine Tricks verbesserte, sondern auch seine Trainingsstrecke ausbaute. Aber irgendeine dämliche Lehrerin von der Grundschule neben dem Freizeitzentrum hatte sich über Poohs Vokabular beklagt und insbesondere darüber, was es den zarten Kinderseelen antun mochte, die sie mühevoll zu formen versuchte, und Cadan war zurechtgewiesen worden: Lass den Vogel zu Hause, wenn er nicht den Schnabel halten kann und du weiterhin den leeren Pool nutzen willst. Es war ihm nichts anderes übrig geblieben. Er konnte nur den Pool benutzen, weil er bei der Stadtverwaltung niemanden für seine Idee hatte gewinnen können, am Binner Down eine Airjump-Strecke einzurichten. Sie hatten ihn dort nur angeglotzt, als wäre er nicht ganz dicht, und Cadan hatte gewusst, was sie dachten dasselbe, was sein Vater nicht nur dachte, sondern auch aussprach: »Zweiundzwanzig Jahre alt, und du spielst immer noch mit deinem Fahrrad herum? Was ist eigentlich los mit dir?«

Nichts, dachte Cadan. Absolut gar nichts. Wenn ihr denkt, es wäre einfach Tabletop, Tailwhip, dann versucht es doch mal selbst.

Natürlich taten sie das nicht. Weder die Verwaltungstypen noch sein Vater. Sie gafften ihn nur an, und ihr Ausdruck war unmissverständlich: Mach was aus deinem Leben. Beschaff dir endlich einen Job, Herrgott noch mal.

Und genau das war es, was er seinem Vater zu berichten hatte: Er hatte sich eine bezahlte Arbeit gesucht. Trotz Pooh auf der Schulter war es ihm tatsächlich gelungen, einen neuen Job zu finden. Sein Dad musste natürlich nicht unbedingt erfahren, wie er das angestellt hatte. Cadan hatte eigentlich nur bei den Leuten von Adventures Unlimited angefragt, ob ihnen überhaupt klar sei, was sich mit dem verfallenen Minigolfplatz anfangen lasse. Und am Ende hatten sie ihm angeboten, ihnen bei der Instandsetzung des alten Hotels zu helfen. Als Gegenleistung durfte er den Minigolfplatz als Trainingsstrecke zur Perfektionierung seiner Fahrradakrobatik nutzen. Allerdings würde er vorher die kleinen Häuschen und Hindernisse abbauen müssen. Lew Angarrack musste nur eines wissen: Nachdem er seinen Sohn für dessen zahllose Unzulänglichkeiten aus dem Familienunternehmen gefeuert hatte aber wer wollte schon Surfbretter bauen?, hatte dieser nichtsnutzige Sohn es tatsächlich fertiggebracht, Job A binnen zweiundsiebzig Stunden mit Job B zu ersetzen. Das war rekordverdächtig, fand Cadan. Meistens gab er seinem Dad mindestens fünf oder sechs Wochen lang Gelegenheit, stinksauer auf ihn zu sein.

Er rumpelte den unbefestigten Pfad hinter der Victoria Road entlang und wischte sich den Regen aus den Augen, als sein Vater ihn im Auto überholte. Lew Angarrack schaute ihn zwar nicht an, aber der säuerliche Gesichtsausdruck verriet Cadan, dass er sehr wohl wahrgenommen hatte, was für einen Anblick sein Sohn bot. Und wahrscheinlich erinnerte er sich auch gerade an den Grund, warum dieser Versager mit dem Rad durch den Regen fuhr, statt hinter dem Steuer seines Autos zu sitzen.

Cadan sah seinen Vater aus dem RAV4 steigen und das Garagentor öffnen. Rückwärts setzte er den Toyota hinein, und als Cadan sein Rad durch das Törchen in den Garten schob, hatte Lew sein Surfboard bereits abgespritzt. Er holte den Neoprenanzug aus dem Wagen, um ihn ebenfalls abzuspülen, während der Schlauch auf dem Rasen lag und gluckernd Wasser von sich gab.

Cadan betrachtete seinen Vater einen Moment. Er wusste, dass er ihm äußerlich nachschlug, aber damit endete alle Ähnlichkeit. Sie hatten die gleiche untersetzte Statur, Schultern und Brust breit, sodass sie wie Keile gebaut waren, und das gleiche Übermaß an dunklem Haar, welches sich bei seinem Vater zunehmend auch am Körper zeigte. Er wurde dem Spitznamen "Gorillamann", den Cadans Schwester ihm insgeheim gegeben hatte, zunehmend gerecht. Aber das war auch schon alles. In jeder anderen Hinsicht waren sie so verschieden wie Feuer und Wasser. Für seinen Vater war die Welt in Ordnung, wenn alles an seinem zugewiesenen Platz war und sich niemals irgendetwas änderte, und zwar bis ans Ende seiner Tage. Wohingegen Cadan… Nun, er selbst hatte ganz andere Vorstellungen. Für seinen Vater bestand die ganze Welt aus Casvelyn. Niemals würde er es bis an den Nordstrand von O'ahu schaffen. Träum nur weiter, Dad. Das wäre das größte Wunder, das die Welt je gesehen hätte. Cadan hingegen hatte große Pläne, und die beinhalteten seinen Namen in riesigen Leuchtbuchstaben, die X-Games, Goldmedaillen und sein grinsendes Konterfei auf dem Cover von Ride BMX.

Er wandte sich an seinen Vater: »Auflandiger Wind heute. Warum warst du draußen?«

Lew antwortete nicht. Er ließ das Wasser über den Anzug laufen, schlug ihn um und tat das Gleiche mit der Rückseite. Er wusch die Stiefel, Kapuze und Handschuhe aus, ehe er ganz gemächlich den Blick erst auf Cadan und dann auf den mexikanischen Papagei auf dessen Schulter richtete. »Sieh lieber zu, dass du den Vogel aus dem Regen schaffst.«

»Der macht ihm nichts aus. Da, wo er herkommt, regnet es andauernd. Du hattest keine guten Wellen, was? Die Flut steigt ja gerade erst. Wo warst du?«

»Ich brauchte keine Wellen.« Sein Vater las den Neoprenanzug vom Rasen auf und hängte ihn an seinen angestammten Platz über die Rückenlehne eines alten Gartenstuhls aus Aluminium, dessen geflochtene Sitzfläche vom Gewicht unzähliger Hinterteile eingedellt war. »Ich wollte nachdenken. Zum Denken braucht man keine Wellen, oder?«

Warum dann all die Mühe, die Ausrüstung zusammenzusuchen und zum Strand runterzuschaffen?, wollte Cadan fragen, hielt sich dann aber zurück, denn hätte er gefragt, hätte er auch eine Antwort bekommen und erfahren, worüber sein Vater nachgedacht hatte. Da gab es drei Möglichkeiten, und weil eine davon Cadan selbst und die Liste seiner Fehltritte war, beschloss er, diesen ganzen Themenkomplex zu meiden. Er folgte seinem Vater ins Haus, wo Lew sich das Haar mit einem schlaffen Handtuch frottierte, das nur zu diesem Zweck an einem Haken hinter der Tür hing. Dann ging er zur Anrichte und schaltete den Wasserkocher ein. Jetzt kam also der Nescafé. Ein Löffel Zucker, keine Milch. Immer in demselben Kaffeebecher, dem mit der Aufschrift "Newquay Invitational". Während er seinen Kaffee trank, stand er am Fenster und starrte hinaus in den Garten, und war der Becher geleert, wurde er umgehend gespült. Sein Vater war die Spontaneität in Person.

Cadan wartete, bis Lew den Becher in der Hand hielt und wie üblich ans Fenster trat. Er nutzte die Zeit, um Pooh im Wohnzimmer auf seinen Stammplatz zu setzen. Dann kehrte er in die Küche zurück und verkündete: »Ich hab 'nen Job, Dad.«

Sein Vater trank einen Schluck. Völlig lautlos. Kein Schlürfen von heißem Kaffee, kein zustimmender Brummlaut. Als er sich schließlich entschloss zu sprechen, fragte er: »Wo ist deine Schwester?«

Cadan gedachte nicht, sich ablenken zu lassen. »Hast du gehört, was ich gesagt hab?«, fragte er. »Ich habe einen Job. Einen vernünftigen.«

»Und hast du gehört, was ich dich gefragt habe? Wo ist Madlyn?«

»Es ist ein normaler Werktag. Ich nehme an, sie ist bei der Arbeit.«

»Da bin ich vorbeigefahren. Da war sie nicht.«

»Dann weiß ich auch nicht, wo sie ist. Vermutlich sitzt sie irgendwo und heult in die Suppe, statt sich zusammenzureißen, wie jeder andere es täte. Man könnte glatt meinen, es wäre das Ende der Welt.«

»Ist sie in ihrem Zimmer?«

»Ich hab dir doch gesagt…«

»Wo?«

Lew hatte sich immer noch nicht vom Fenster abgewandt, was Cadan auf die Palme brachte. Am liebsten hätte er ein halbes Dutzend Pints vor den Augen seines Vaters geleert, nur damit der ihm endlich seine Aufmerksamkeit schenkte. »Ich sag doch, ich weiß nicht, wo…«

»Wo hast du einen Job bekommen?« Lew wandte sich um. Nicht nur eine Drehung des Kopfes, sondern des ganzen Körpers. Er lehnte sich an die Fensterbank. Sein Blick ruhte auf seinem Sohn, und Cadan wusste, er wurde gelesen, abgeschätzt und für unzulänglich befunden. Auf dem Gesicht seines Vaters lag ein Ausdruck, den er kannte, seit er sechs war.

»Adventures Unlimited«, antwortete er. »Ich soll das Hotel auf Vordermann bringen, bis die Saison anfängt.«

»Und was dann?«

»Wenn alles klappt, werde ich Trainer.« Dies zu behaupten, war zwar ein bisschen voreilig, aber es stand immerhin zu hoffen; schließlich waren sie im Moment ja wirklich dabei, Trainer für den Sommer auszuwählen. Abseilen, klettern, Kajak fahren, schwimmen, segeln… Er konnte all das, und selbst wenn sie ihn dafür nicht wollten, hatte er ja immer noch das Freestyle-BMX-Fahren in der Hinterhand und seinen Plan, den Minigolfplatz umzugestalten. Doch das erzählte er seinem Vater nicht. Eine Silbe über Freestyle, und Lew würde das Wort "Hintergedanken" hineininterpretieren, als stünde es auf Cadans Stirn tätowiert.

»Wenn alles klappt.« Lew stieß die Luft durch die Nase aus. Das war seine Version eines verächtlichen Schnaubens, und es sagte mehr aus, als ein dramatischer Monolog es vermocht hätte. »Und wie willst du dort hinkommen? Auf dem Ding da draußen?« Womit er das Fahrrad meinte. »Denn deinen Autoschlüssel bekommst du von mir nicht zurück, und auch nicht deinen Führerschein. Also bild dir ja nicht ein, ein Job würde daran etwas ändern.«

»Hab ich dich vielleicht um den Schlüssel gebeten?«, konterte Cadan. »Oder um den Führerschein? Ich geh zu Fuß. Oder wenn's sein muss, nehm ich das Rad. Mir ist egal, wie das aussieht. Heute bin ich ja auch mit dem Rad hingefahren.«

Wieder dieses Schnauben. Cadan wünschte sich, sein Vater würde einfach sagen, was er dachte, statt es mit Mimik und nicht sonderlich subtilen Lauten auszudrücken. Hätte Lew Angarrack geradeheraus gesagt: »Du bist ein Versager, Junge«, dann hätte Cadan wenigstens etwas gehabt, worüber er mit ihm streiten konnte: sein Versagen als Sohn gegenüber Lews andersgeartetem Versagen als Vater. Aber Lew wählte immer den indirekten Weg, nämlich den des Schweigens, vielsagender Atemgeräusche oder, wenn gar nichts anderes half, den Vergleich zwischen Cadan und seiner Schwester: der heiligen Madlyn, einer Weltklassesurferin auf dem Weg nach ganz oben. Jedenfalls bis vor Kurzem.

Cadan bedauerte seine Schwester um das, was ihr passiert war, aber ein kleiner, hässlicher Teil in ihm jauchzte vor Freude. Für ein so kleines Mädchen hatte sie einen viel zu langen Schatten geworfen, und das jahrelang.

Er fragte: »Und das ist alles? Kein "Gut gemacht, Cadan"? Oder "Glückwunsch"? Oder wenigstens "Jetzt hast du mich aber echt mal überrascht"? Ich habe einen Job gefunden, übrigens sogar einen gut bezahlten, aber das ist dir scheißegal, weil… Warum eigentlich? Ist er nicht gut genug? Oder weil er nichts mit Surfen zu tun hat? Er ist…«

»Du hattest einen Job, Cadan. Du hast ihn vermasselt.« Lew trank den letzten Schluck Kaffee und stellte den Becher in die Spüle. Dort schrubbte er ihn gründlich, wie er es mit allen Dingen tat. Keine Flecken, keine Keime.

»Das ist doch Blödsinn«, entgegnete Cadan. »Es war von Anfang an eine miserable Idee, für dich zu arbeiten, und das haben wir beide gewusst, selbst wenn du's nicht zugeben willst. Ich bin eben nicht so detailversessen. Das war ich noch nie. Ich hab dafür einfach nicht… ich weiß nicht… die Geduld oder was auch immer.«

Lew trocknete Becher und Löffel ab und räumte beides weg. Dann wischte er die verschrammte alte Edelstahlspüle aus, obwohl nicht ein einziger Krümel darin zu entdecken war. »Das Problem mit dir ist: Du erwartest, dass alles im Leben Spaß machen soll. Aber so ist das Leben einfach nicht, und das willst du nicht einsehen.«

Cadan wies auf den Garten und die Surfausrüstung hinaus, die sein Vater gerade vom Salzwasser gereinigt hatte. »Und dabei geht's nicht um Spaß? Du hast jede freie Minute deines ganzen Lebens damit zugebracht, Wellen zu reiten. Ist das denn was anderes? Eine Art nobles Streben, wie die Suche nach einem Aids-Medikament? Oder der Kampf gegen die weltweite Armut? Du machst mich fertig, weil ich tue, was ich tun will, aber hast du nicht immer genau das Gleiche getan? Nein, warte! Antworte nicht! Ich weiß schon. Bei allem, was du tust, geht es nur darum, einen zukünftigen Champion zu fördern. Ein Ziel zu haben. Während das, was ich tue…«

»Gegen ein Ziel ist nichts einzuwenden.«

»Nein, das stimmt. Und ich hab meins. Es ist eben nur ein anderes als deines. Oder Madlyns. Oder was einmal Madlyns war.«

»Wo ist sie?«, fragte Lew.

»Ich hab dir doch gesagt…«

»Ich weiß, was du gesagt hast. Aber du wirst doch zumindest eine Ahnung haben, wo deine Schwester stecken könnte, wenn sie nicht zur Arbeit gegangen ist. Du kennst sie. Und ihn kennst du mindestens genauso gut.«

»Hey. Häng mir das nicht an! Sie wusste, was er für einen Ruf hat. Das weiß doch jeder. Aber sie wollte ja auf niemanden hören. Außerdem geht es dir gar nicht darum, wo sie sich gerade aufhält, sondern allein um die Tatsache, dass sie aus der Bahn geworfen ist. So wie du.«

»Sie ist nicht aus der Bahn geworfen.«

»Das ist sie sehr wohl! Und was bleibt dir jetzt, Dad? Du hast deine Träume auf sie projiziert, statt deine eigenen zu leben.«

»Sie wird wieder anfangen.«

»Darauf würde ich nicht wetten.«

»Untersteh dich…« Lew unterbrach sich abrupt.

Sie starrten einander über die Küche hinweg an. Es waren nur drei Meter, aber gleichzeitig war es eine Kluft, die von Jahr zu Jahr breiter wurde. Jeder stand auf seiner Seite am Rand des Abgrunds, und Cadan kam es so vor, als würde einer von ihnen über kurz oder lang hineinstürzen.


Selevan Penrule ließ sich auf dem Weg zum Clean-Barrel-Surfshop alle Zeit der Welt, denn er war zu dem Schluss gekommen, es wäre unziemlich gewesen, Hals über Kopf aus dem Salthouse Inn zu stürzen, sowie das Gerücht über Santo Kerne die Runde machte. Er hätte Grund genug dafür gehabt, aber er wusste, es hätte nicht gut ausgesehen. Außerdem war er in einem Alter, da man überhaupt nirgendhin mehr Hals über Kopf stürzte. Zu viele Jahre hatte er Kühe gemolken und die blöden Rindviecher von einer Weide zur anderen getrieben, sodass sein Rücken jetzt für alle Zeit krumm war und seine Hüften im Eimer. Mit achtundsechzig fühlte er sich wie achtzig. Er hätte fünfunddreißig Jahre eher verkaufen und den Caravanpark eröffnen sollen, und das hätte er auch getan, wenn er das Geld, den Schneid, die Vision, keine Frau und keine Kinder gehabt hätte. Sie alle waren jetzt fort, das Haus abgerissen und die Farm umfunktioniert. "Sea Dreams" hatte er es getauft: vier ordentliche Reihen von Feriencaravans, die wie Schuhkartons auf den Klippen über der See standen.

Er fuhr vorsichtig. Gelegentlich liefen Hunde über die engen Landsträßchen. Auch Katzen. Kaninchen. Vögel. Selevan hasste die Vorstellung, ein Tier zu überfahren, nicht wegen des schlechten Gewissens, das er verspüren würde, wenn er ein Leben beendete, sondern wegen der Unannehmlichkeiten, die dies mit sich brächte. Er würde anhalten müssen, und er verabscheute es anzuhalten, wenn er einmal einen Kurs eingeschlagen hatte. In diesem Fall führte sein Kurs ihn hinüber nach Casvelyn zu dem Surfshop, wo seine Enkelin arbeitete. Er wollte derjenige sein, der Tammy die Nachricht überbrachte.

Als er in die Stadt kam, parkte er am Kai, die Nase seines altersschwachen Landrovers auf den Casvelyn Canal gerichtet, einen schmalen Wasserlauf, der früher einmal Holsworthy und Launceston mit dem Meer verbunden hatte, heute aber nur noch sieben Meilen landeinwärts mäandrierte, ehe er abrupt endete wie ein unterbrochener Gedanke. Selevan hatte auf der falschen Seite angehalten; das Stadtzentrum und der Surfshop befanden sich am gegenüberliegenden Ufer, aber dort drüben gab es keine Parkplätze, ganz gleich zu welcher Jahreszeit. Außerdem kam der kurze Spaziergang ihm gelegen. Das Wetter und die Jahreszeit waren ihm egal. Auf dem Weg die halbmondförmige Straße entlang, die den südwestlichen Stadtrand markierte, würde er Zeit zum Nachdenken haben. Er musste sich eine Strategie zurechtlegen, wie er die Neuigkeiten wohldosierte und gleichzeitig ihre Reaktion darauf ablesen konnte. Denn was Tammy war und was Tammy zu sein behauptete, stand nach Selevan Penrules Meinung in krassem Gegensatz zueinander. Das war ihr nur noch nicht bewusst.

Als er ausstieg, nickte er ein paar Fischern zu, die im Regen zusammenstanden und rauchten, ihre Boote am Kai vertäut. Sie waren durch die Kanalschleuse am entlegenen Ende des Kais vom Meer hereingekommen, und sie sahen so ganz anders aus als die Boote und Bootsführer, die mit Beginn des Sommers nach Casvelyn kommen würden. Selevan zog diese Gruppe hier eindeutig vor. Sicher, er verdiente sein Auskommen mit dem Fremdenverkehr, aber das musste ihm ja nicht gefallen.

Er ging in Richtung Stadtzentrum, vorbei an einer Reihe Läden. Er machte bei Jill's Juices halt, um sich einen Kaffee zu holen, und erstand ein Päckchen Dunhill und eine Rolle Pfefferminzbonbons bei Pukkas Pizza Etcetera (wobei der Schwerpunkt auf dem Etcetera lag, denn die Pizza war ungenießbar). Dann stieß er auf die Promenade, die in Richtung Stadtzentrum ein wenig anstieg. Der Clean-Barrel-Surfshop befand sich an einer Straßenecke, und auf dem Weg dorthin passierte er einen Frisör, einen schmuddeligen Nachtclub, zwei extrem heruntergekommene Hotels und einen Fish-and-Chips-Laden.

Bis er am Surfshop ankam, hatte er seinen Kaffee ausgetrunken. Er konnte keinen Mülleimer entdecken, also faltete er den Pappbecher zusammen und steckte ihn sich in die Jackentasche. Ein paar Schritte entfernt stand ein junger Mann mit Haaren von undefinierbarer Farbe. Er war offenbar in ein ernstes Gespräch mit Nigel Coyle vertieft, dem Inhaber von Clean Barrel. Das dürfte Will Mendick sein, dachte Selevan. Er hatte große Hoffnungen in Will gesetzt, aber bislang war nichts daraus geworden.

Selevan hörte, wie Will zu Nigel Coyle sagte: »Ich geb ja zu, dass es ein Fehler war, Mr. Coyle. Ich hätte es ihm nicht vorschlagen sollen. Aber es ist ja nicht so, als hätt ich so was früher schon mal gemacht.«

»Du bist kein besonders guter Lügner«, erwiderte Coyle, und dann stapfte er davon und ließ den Wagenschlüssel in seiner Hand klimpern.

Will murmelte finster vor sich hin: »Scheiß auf dich, Mann.« Und als Selevan zu ihm trat: »Hallo, Mr. Penrule. Tammy ist drinnen.«

Selevan traf seine Enkelin im Laden an, als sie gerade dabei war, einen Ständer mit bunten Prospekten zu füllen. Er betrachtete sie, so wie er sie immer betrachtete, nämlich wie eine Art Säugetier, das ihm nie zuvor untergekommen war. Er missbilligte das meiste dessen, was er sah: Sie war nur Haut und Knochen und ganz in Schwarz gekleidet. Schwarze Schuhe, schwarze Nylons, schwarzer Rock und schwarzer Pulli. Das Haar zu dünn und zu kurz geschnitten, und sie tat nicht einmal mehr etwas von diesem Klebezeug hinein, um es in Form zu bringen. So hing es lediglich schlaff an ihrem Schädel herunter.

Selevan hätte mit der Magerkeit und der Vorliebe für schwarze Kleidung leben können, wäre das Mädchen in anderer Hinsicht wenigstens ansatzweise normal gewesen. Er hätte es verstanden, wenn sie ihre Augen mit Kohlestift geschwärzt und Silberringe in ihren Augenbrauen und Lippen oder einen Stecker in der Zunge getragen hätte. Nicht dass ihm das gefiel, aber er hätte es verstanden. Das war nun einmal die Mode bei gewissen Leuten in ihrem Alter, und man konnte nur hoffen, dass sie zu Verstand kamen, ehe sie sich vollkommen entstellten. Waren sie erst einmal einundzwanzig oder vielleicht fünfundzwanzig und stellten fest, dass ihnen gut bezahlte Jobs nicht gerade vor die Füße fielen, dann besannen sie sich schon wieder selbst eines Besseren. So wie Tammys Vater. Und was war der jetzt? Lieutenant Colonel in der Army und in Rhodesien stationiert oder wo auch immer denn Selevan kam bei den häufigen Versetzungen nicht mehr mit, und für ihn würde es immer Rhodesien bleiben und auch so heißen, ganz egal wie es sich heutzutage nannte. Jedenfalls hatte er eine glänzende Karriere eingeschlagen.

Aber Tammy? »Können wir sie zu dir schicken, Dad?«, hatte ihr Vater Selevan gefragt. Seine Stimme am Telefon hatte so deutlich geklungen, als stünde er im Nachbarzimmer und nicht in irgendeinem afrikanischen Hotel, wo er seine Tochter geparkt hatte, nur um sie wenig später in den Flieger nach England zu setzen. Was hätte ihr Großvater da noch tun können? Sie hatte ihr Ticket bereits in der Tasche. Sie war quasi schon unterwegs. »Wir können sie dir doch schicken, Dad, oder? Das hier ist nicht die richtige Umgebung für sie. Sie sieht hier zu viel. Wir glauben, das ist das Problem.«

Selevan hatte seine eigene Theorie, was das Problem war, aber ihm gefiel der Gedanke, dass ein Sohn sich auf die Weisheit seines Vaters berief. »Schick sie mir«, hatte er also zu David gesagt. »Aber wenn sie bei mir wohnt, lasse ich mir nicht auf der Nase herumtanzen. Sie muss ordentlich essen und ihr Zeug aufräumen und…«

Das sei doch selbstverständlich, versicherte sein Sohn ihm.

Und so war es auch. Das Mädchen hinterließ kaum eine Spur irgendwo. Selevan hatte geglaubt, sie würde ihm Kummer bereiten, aber er hatte gelernt, dass der Kummer, den sie ihm machte, darin bestand, dass sie ihm nicht einen Hauch von Kummer machte. Das war nicht normal, und das war der Kern des Problems. Denn, verdammt noch mal, sie war doch seine Enkelin. Und das hieß, sie sollte normal sein.

Sie schnipste den letzten Prospekt an seinen Platz, rückte dann den ganzen Stapel gerade und trat einen Schritt zurück, so als wollte sie ihr Werk begutachten, als Will Mendick eintrat. »Hat nichts genützt«, eröffnete er Tammy. »Coyle stellt mich nicht wieder ein.« Und an Selevan gewandt: »Sie sind heute früh dran, Mr. Penrule.«

Tammy fuhr herum. »Grandpa! Hast du meine Nachricht nicht bekommen?«

»Ich war noch nicht zu Hause«, erklärte Selevan.

»Oh. Ich wollte… Will und ich hatten vor, nach Feierabend noch einen Kaffee trinken zu gehen.«

»Ach, wirklich?« Selevan war erfreut. Vielleicht hatte er sich ja doch getäuscht, was Tammys Einstellung zu dem jungen Mann betraf.

»Er fährt mich anschließend nach Hause.« Dann runzelte sie die Stirn, als ihr aufging, dass es noch viel zu früh war, um von ihrem Großvater abgeholt zu werden. Sie sah auf die Uhr, die locker um ihr dürres Handgelenk schlackerte.

»Ich komme gerade vom Salthouse Inn«, erklärte Selevan. »Draußen in Polcare Cove hat es einen Unfall gegeben.«

»Geht es dir gut?«, fragte sie. »Du hast dich doch nicht verletzt?« Sie klang besorgt, und das freute Selevan. Tammy liebte ihren alten Großvater. Er war streng mit ihr, aber das nahm sie ihm nicht übel.

»Hatte nichts mit mir zu tun«, stellte er klar, und als er fortfuhr, ließ er sie nicht aus den Augen: »Es war Santo Kerne.«

»Santo? Was ist mit ihm?«

Hatte ihre Stimme sich gehoben? Hörte er Panik? Ein Sich-Wappnen gegen schlechte Neuigkeiten? Selevan hätte das gerne geglaubt, aber er brachte ihren Tonfall nicht in Einklang mit dem Blick, den sie mit Will Mendick tauschte.

»Soweit ich weiß, ist er von der Klippe gestürzt«, sagte er. »Unten in Polcare Cove. Dr. Trahair kam mit irgend so einem Wanderer in den Pub, um die Polizei zu rufen. Dieser Kerl der Wanderer hat den Jungen gefunden.«

»Geht es ihm gut?«, erkundigte sich Will Mendick, und im selben Moment fragte Tammy: »Aber Santo ist nichts passiert, oder?«

Das gefiel Selevan außerordentlich: die überstürzte Art, wie Tammy die Worte hervorbrachte und was das über ihre Gefühle aussagte auch wenn man kaum einen Kerl finden konnte, der die Zuneigung eines jungen Mädchens weniger verdiente als Santo Kerne. Wenn denn Zuneigung bestand, war das ein gutes Zeichen, und aus genau diesem Grund hatte Selevan Penrule Santo Kerne in jüngster Zeit Zutritt zum Gelände von Sea Dreams gewährt. Er hatte ihm die Erlaubnis erteilt, die Abkürzung zu den Klippen und zum Meer zu nehmen; und wer mochte schon wissen, was daraufhin in Tammys Herz gedieh? Und das war doch das Ziel gewesen, oder? Dass Tammy gedieh und Ablenkung fand.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Selevan. »Ich weiß nur, dass Dr. Trahair reingekommen ist und zu Brian vom Salthouse Inn gesagt hat, dass Santo Kerne unten auf den Felsen in Polcare Cove liegt. Mehr weiß ich nicht.«

»Das klingt nicht gut«, meinte Will Mendick.

»War er draußen zum Surfen, Grandpa?«, fragte Tammy. Aber es war nicht ihr Großvater, den sie bei der Frage ansah. Ihr Blick war auf Will gerichtet.

Das bewog Selevan, den jungen Mann ein wenig genauer in Augenschein zu nehmen. Will atmete ein bisschen komisch, stellte er fest, wie ein Sprinter, aber sein Gesicht war bleich geworden. Von Natur aus hatte er eine frische Farbe, darum fiel es auf, wenn ihm das Blut aus den Wangen wich.

»Keine Ahnung, was er dort getrieben hat«, gab Selevan zurück. »Aber fest steht: Irgendetwas ist ihm passiert. Und es sieht schlimm aus.«

»Wieso?«, fragte Will.

»Weil sie den Jungen kaum allein dort auf den Felsen hätten liegen lassen, wenn er nur verletzt gewesen wäre und nicht…« Er hob die Schultern.

»Doch nicht etwa tot?«, fragte Tammy leise.

»Tot?«, wiederholte Will.

»Du gehst jetzt besser, Will«, fuhr Tammy herum.

»Aber wie soll ich…«

»Dir fällt schon was ein. Los jetzt. Wir gehen ein andermal Kaffee trinken.«

Das war anscheinend alles, was er hören wollte. Will nickte Selevan zu und wandte sich zur Tür. Im Vorbeigehen berührte er Tammy an der Schulter. »Danke, Tammy«, murmelte er noch. »Ich ruf dich an.«

Selevan versuchte, das als gutes Zeichen zu werten.


Das Tageslicht schwand rasch, als Detective Inspector Bea Hannaford in Polcare Cove eintraf. Als ihr Handy geklingelt hatte, war sie gerade dabei gewesen, für ihren Sohn ein Paar Fußballschuhe zu erwerben, und hatte daraufhin den Kauf schnellstmöglich abgewickelt, ohne Pete Gelegenheit zu geben, jedes weitere verfügbare Paar anzuprobieren, wie er es sonst üblicherweise tat. Sie hatte ihm angedroht: »Entweder wir kaufen sie jetzt, oder du kommst ein andermal mit deinem Vater wieder.« Das hatte gewirkt. Sein Vater hätte ihm das preiswerteste Paar aufgezwungen, und zwar ohne auch nur die Spur einer Debatte zuzulassen.

Eilig hatten sie das Schuhgeschäft verlassen und waren durch den Regen zum Auto gehastet. Unterwegs hatte sie Ray angerufen. Er war heute Abend zwar nicht mit Pete an der Reihe, aber Ray war flexibel. Er war selbst Polizist und wusste, welche Anforderungen dieser Job stellte. Er werde sie in Polcare Cove treffen, hatte er vorgeschlagen. »Ist einer gesprungen?«, fragte er.

»Weiß ich noch nicht«, antwortete sie.

In diesem Teil der Welt waren Leichen am Fuß der Klippen leider keine Seltenheit. Dummköpfe wählten sich bröckelige Steilwände zum Klettern, andere traten zu nah an den Rand und stürzten, und wieder andere sprangen. Bei Flut kam es vor, dass die Leichen niemals gefunden wurden. Bei Ebbe hatte die Polizei wenigstens die Chance herauszufinden, wie sie dort unten gelandet waren.

»Da ist bestimmt alles blutüberströmt«, plapperte Pete aufgeregt. »Wahrscheinlich ist der Kopf aufgeplatzt wie ein faules Ei, und sein Hirn und die Gedärme sind überall verteilt.«

»Peter!« Bea warf ihm einen strengen Blick zu. Er lehnte lässig gegen die Beifahrertür, die Einkaufstasche mit den Schuhen an die Brust gepresst, als fürchtete er, irgendwer könnte sie ihm wieder entreißen. Er hatte Pickel im Gesicht — der Fluch der Pubertät, erinnerte sich Bea, obwohl ihre eigene schon vierzig Jahre zurücklag und trug eine Zahnspange. Wenn sie sich den vierzehnjährigen Jungen so betrachtete, war es ihr unmöglich, den Mann in ihm zu sehen, der er eines Tages werden würde.

»Was denn? Du hast doch selbst gesagt, da ist einer ab über die Klippen. Ich wette, er ist mit dem Kopf voraus gefallen, und sein Schädel ist geplatzt. Ich wette, er ist gesprungen. Ich wette…«

»So würdest du nicht reden, wenn du auch nur ein einziges Mal jemanden gesehen hättest, der von der Klippe gestürzt ist.«

»Krass«, flüsterte Pete.

Das macht er absichtlich, dachte Bea. Er versucht, einen Streit vom Zaun zu brechen. Er war wütend, weil er zu seinem Vater musste, und noch wütender darüber, dass ihre Pläne für den Abend zunichte waren: einen Abend mit Pizza und einer DVD. Er hatte sich einen Fußballfilm ausgesucht, aber im Gegensatz zu seiner Mutter würde sein Vater kein Interesse daran haben. Wenigstens wenn es um Fußball ging, waren Bea und ihr Sohn sich einig.

Sie beschloss, sich nicht von dem Jungen provozieren zu lassen. Sie hatte jetzt keine Zeit, sich um seine Befindlichkeiten zu kümmern, und außerdem musste er lernen, damit fertig zu werden, wenn Pläne sich änderten. Kein Plan war je in Stein gemeißelt.

Als sie sich Polcare Cove näherten, goss es in Strömen. Bea Hannaford war nie zuvor an diesem Ort gewesen, also sah sie konzentriert zwischen den Scheibenwischern hindurch und kroch aufmerksam die Serpentinen durch den Wald entlang, ehe sie aus dem Schatten der knospenden Bäume tauchten. Ab hier stieg der Weg wieder an und schlängelte sich an Feldern vorüber, die von dichten Hecken gesäumt waren. Dann führte er ein letztes Mal abwärts zur See, und das Land öffnete sich zu einer Wiese, an deren nordwestlichem Rand ein senffarckbenes Cottage mit zwei Außengebäuden stand die einzige menschliche Behausung weit und breit.

Ein Streifenwagen stand halb auf der Straße, halb in der Einfahrt des Cottages, Stoßstange an Stoßstange mit einem weiteren Polizeifahrzeug, das seinerseits gleich hinter einem weißen Vauxhall vor dem Haus parkte. Bea hielt nicht an, denn damit hätte sie die Straße vollends blockiert, und sie wusste, es würden noch jede Menge Fahrzeuge kommen, die möglichst nah an den Strand heranmussten, ehe sie hier heute fertig wurden. Also fuhr sie weiter in Richtung Meer, bis sie etwas fand, was als Parkplatz herhalten konnte: einen Flecken unbewachsener Erde, der von Schlaglöchern durchsiebt war. Dort parkte sie den Wagen.

Pete tastete nach dem Türgriff, doch sie hielt ihn zurück: »Du wartest hier.«

»Aber ich will doch sehen…«

»Pete, du hast mich gehört. Warte hier! Dein Vater ist unterwegs. Wenn er herkommt, und du bist nicht im Auto… Muss ich mehr sagen?«

Pete warf sich zurück in den Sitz, seine Miene missmutig. »Ich will doch nur mal kurz gucken! Und außerdem bin ich heute gar nicht dran, bei Dad zu schlafen.«

Ah. Da hatten sie's. Er verstand es, den perfekten Moment zu wählen genau wie sein Vater. »Flexibilität, Pete«, sagte sie. »Wie du weißt, ist sie der Schlüssel zu jedem Spiel, und das gilt auch für das Spiel des Lebens. Und jetzt warte hier.«

»Aber, Mum…«

Sie zog ihn an sich und verpasste ihm einen ruppigen Kuss auf die Schläfe. »Du wartest«, befahl sie.

Ein Klopfen am Wagenfenster ließ sie herumfahren. Ein Constable in Regenkleidung stand dort draußen, Wassertropfen in den Wimpern und eine Taschenlampe in der Hand. Die Taschenlampe war nicht eingeschaltet, aber bald würden sie sie brauchen. Bea stieg aus, schloss den Reißverschluss ihrer Jacke gegen den stark böigen Wind und den Regen, zog die Kapuze hoch und stellte sich vor: »Detective Inspector Hannaford. Was haben wir?«

»Einen Jugendlichen. Tot.«

»Ist er gesprungen?«

»Nein. Er war klettern. Ich schätze, er ist beim Abseilen gestürzt. Das Grigri klemmt noch am Seil.«

»Wer ist drüben im Cottage? Da steht ein Streifenwagen.«

»Der diensthabende Sergeant von Casvelyn. Er vernimmt die beiden, die den Toten gefunden haben.«

»Bringen Sie mich hin. Wer sind Sie überhaupt?«

Er stellte sich als Mick McNulty vor, Constable der Polizeiwache Casvelyn. Ein Constable, ein Sergeant — mehr Beamte gab es auf dieser Wache nicht; es war ein Arrangement, wie es auf dem Land typisch war.

McNulty ging voraus. Der Leichnam lag knapp dreißig Meter oberhalb der Wasserlinie, aber ein gutes Stück von der Klippe entfernt, von der er gestürzt sein musste. Der Constable hatte die Geistesgegenwart besessen, ihn mit einer leuchtend blauen Plastikplane abzudecken und diese mithilfe von Felsbrocken so anzuheben, dass sie den Leichnam nicht berührte. Bea nickte ihm zu, und McNulty lüpfte die Plane ein wenig, sodass der Tote sichtbar, aber weiterhin vor dem Regen geschützt war. Die Folie knisterte und schlug wie ein blaues Segel im Wind. Bea hockte sich hin, verlangte nach der Taschenlampe und richtete den Strahl auf den jungen Mann, der auf dem Rücken lag. Er hatte sonnengebleichtes blondes Haar, das sein Gesicht in feinen Locken umrahmte wie einen Cherub. Die Augen waren blau und blicklos, die Haut durch den Sturz abgeschürft. Blutergüsse hatte er auch und ein Veilchen, doch das schien schon älter zu sein. Es hatte sich bereits gelblich verfärbt und war am Abklingen. Er trug Kletterkleidung und hatte ein Sicherheitsgeschirr umgeschnallt, von dem mindestens zwei Dutzend Metallteile und -gerätschaften baumelten. Ein Seil, das an einen Karabiner geknotet war, lag zusammengerollt auf seiner Brust. Doch woran der Karabiner befestigt gewesen war… Das war die Frage.

»Wissen wir schon, wer es ist?«, fragte Bea. »Haben wir seinen Ausweis?«

»Er hatte nichts bei sich.«

Sie schaute zum Riff hinüber. »Wer hat ihn bewegt?«

»Ich und der Kerl, der ihn gefunden hat.« Er fuhr hastig fort, ehe sie ihn zurechtweisen konnte: »Ohne seine Hilfe hätt ich ihn schleifen müssen, Chef. Allein konnte ich ihn nicht tragen.«

»Wir werden Ihre Kleidung brauchen. Seine auch. Sie sagten, er ist oben im Cottage?«

»Meine Kleidung?«

»Was dachten Sie denn, Constable?« Sie zückte ihr Handy und klappte es auf. Ein kurzer Blick auf das Display, und sie seufzte. Kein Empfang.

Doch Constable McNulty trug ein Funkgerät über der Schulter, und sie wies ihn an, dafür zu sorgen, dass so schnell wie möglich ein Rechtsmediziner herkam. Ihr war klar, dass das eine Weile dauern würde, denn der Rechtsmediziner würde aus Exeter anreisen müssen, und das auch nur dann, wenn er oder sie sich tatsächlich gerade in Exeter aufhielt und nicht in einem anderen Fall andernorts im Einsatz war. Es würde ein langer Abend und eine noch längere Nacht werden.

Während McNulty wie befohlen den Funkspruch absetzte, wandte sie sich wieder dem Leichnam zu. Ein Teenager. Er sah gut aus: fit, athletisch und muskulös. Wie so viele Kletterer seines Alters hatte er keinen Kopfschutz getragen. Der hätte ihn vielleicht retten können vielleicht aber auch nicht. Das konnte nur die Obduktion klären.

Ihr Blick wanderte von dem Toten zu der Klippe, die der junge Mann hinabgestürzt war. Der Küstenpfad jener Wanderweg, der auf dem kornischen Küstenabschnitt von Marsland Mouth bis Cremyll verlief beschrieb einen verschlungenen Weg von einem Parkplatz zu dieser Anhöhe hinauf. Der Kletterer zu ihren Füßen musste dort oben irgendetwas hinterlassen haben. Es war zu hoffen, dass Ausweispapiere dabei waren. Ein Auto, ein Motorrad oder Fahrrad. Sie waren hier mitten im Nirgendwo, und es war höchst unwahrscheinlich, dass er zu Fuß hergekommen war. Sie würden schon herausbekommen, um wen es sich handelte. Aber einer von ihnen musste dort hinaufklettern, um nachzuschauen.

»McNulty, sehen Sie mal nach, was Sie oben an der Klippe von ihm finden. Aber seien Sie vorsichtig. Der Pfad ist bestimmt mörderisch im Regen.«

Sie tauschten einen Blick, als ihnen beiden ihre Wortwahl bewusst wurde. Es war noch zu früh, aber bald würden sie wissen, ob hier mörderische Absichten im Spiel gewesen waren.

Загрузка...