5

Cadan war guter Dinge, dass er Pooh mit den Schinkenchips zu einem Kunststück würde bewegen können. Schinkenchips waren das bevorzugte Leckerchen des Papageis, und in der Regel spornten sie ihn zu Höchstleistungen an. Allein dass Cadan die Tüte in die Hand nahm, reichte normalerweise bereits aus, um die Aufmerksamkeit des Vogels zu erregen. Er führte artig sein Repertoire vor, selbst wenn er den knusprigen Inhalt der Tüte noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte. Pooh mochte ein Papagei sein, aber wenn es ums Fressen ging, war er alles andere als dumm.

Doch heute Abend war er abgelenkt. Er war nicht allein mit Cadan im Zimmer, und die anderen drei Personen waren offenbar interessanter als die Chips. Auf einem kleinen Gummiball den Kaminsims entlangzubalancieren, war einfach weniger verlockend als der Lutscher in der Hand eines sechsjährigen Mädchens. Denn wenn man den Papagei mit dem Lutscherstiel an der richtigen Stelle liebkoste, nämlich dort, wo man seine Ohren vermutete, garantierte das Ekstase. Ein Schinkenchip hingegen versprach lediglich eine kurze Gaumenfreude. So kam es, dass Cadan sich zwar heldenhaft, aber vergebens bemühte, Ione Soutar und ihre zwei Töchter zu unterhalten, weil Pooh sich störrisch weigerte, besagte Unterhaltung zu liefern.

»Warum will er denn nicht, Cadan?«, fragte Jennie Soutar. Sie war die Jüngere der beiden. Ihre große Schwester Leigh, die mit zehn Jahren schon Glitzerlidschatten, Lippenstift und Haarverlängerungen trug, sah so aus, als hätte sie ohnehin nicht daran geglaubt, dass der Vogel überhaupt irgendetwas Besonderes könnte und es kümmerte sie auch nicht, denn er war ja schließlich kein Popstar und würde auch nie einer werden. Statt der missglückten Papageienvorstellung zu folgen, blätterte sie in einer Modezeitschrift und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die Bilder; sie weigerte sich stur, eine Brille zu tragen, und versuchte beharrlich, ihre Mutter zu überreden, ihr Kontaktlinsen zu kaufen bislang jedoch ohne Erfolg.

»Es liegt an dem Lutscher«, erklärte Cadan. »Er hat ihn genau gesehen. Er will damit gekitzelt werden.«

»Darf ich ihn streicheln? Kann ich ihn halten?«

»Jennifer, du weißt, was ich von diesem Vogel halte.« Das war ihre Mutter. Ione Soutar stand am Erkerfenster und schaute auf die Victoria Road hinaus. Das tat sie seit dreißig Minuten, und sie sah nicht so aus, als wollte sie bald damit aufhören. »Vögel übertragen alle möglichen Krankheiten und Ungeziefer.«

»Aber Cadan fasst ihn doch auch an!«

Ione warf ihrer Tochter einen Blick zu, der zu sagen schien: Und schau dir Cadan doch bitte einmal an!

Jennie interpretierte den Gesichtsausdruck ihrer Mutter genau so, wie diese es beabsichtigt hatte. Sie warf sich zurück ins Sofa, die Beine vor sich ausgestreckt, und machte einen Schmollmund die Mimik, so stellte Cadan verblüfft fest, eine unbeabsichtigte Imitation ihrer Mutter. Zweifellos war das Gefühl, das ihr zugrunde lag, ebenfalls das gleiche: Enttäuschung. Cadan war versucht, Ione Soutar zu erklären, dass sie auch weiterhin enttäuscht würde, so lange sie die Absicht hatte, seinen Vater zu heiraten. Oberflächlich betrachtet, sah es so aus, als passten die beiden perfekt zusammen: zwei unabhängige Geschäftsleute mit Werkstätten, die nicht weit auseinander am Binner Down lagen, beides Eltern, die seit Jahren ohne Partner lebten, beide surften, sie hatten jeweils zwei Kinder, zwei davon Mädchen, die sich ebenfalls fürs Surfen interessierten, und ein drittes, älteres Mädchen, das als Vorbild und Lehrerin fungieren konnte, sie waren familienorientiert… vermutlich hatten sie obendrein guten Sex, aber darüber wollte Cadan lieber nicht nachdenken, denn die Vorstellung von seinem Vater in leidenschaftlicher Umarmung mit Ione verursachte ihm eine Gänsehaut. Der äußere Anschein hätte tatsächlich den Schluss nahegelegt, dass diese Beziehung nach nunmehr drei Jahren zu einer gewissen Bindungswilligkeit bei Lew Angarrack hätte führen können. Aber das war nicht der Fall, und Cadan hatte genug Telefonate mitangehört jedenfalls was den Part seines Vaters anging, um zu wissen, dass Ione mit der Situation nicht länger zufrieden war.

Gerade jetzt war sie außerdem auch noch sauer. Zwei Pukka-Pizzas standen in der Küche und waren längst kalt geworden, während sie auf Lews Heimkehr wartete. Ihr Warten erschien Cadan von Minute zu Minute sinnloser. Sein Vater hatte geduscht, sich umgezogen und war zu einer ganz und gar vergeblichen Mission aufgebrochen.

Cadan hatte den Eindruck, dass der Grund für Lews plötzlichen Aufbruch Will Mendicks Besuch gewesen war. Will war in seinem asthmatischen, alten Käfer die Victoria Road heraufgekommen, und als er seine schlaksige Gestalt aus dem Wagen geschält und an der Haustür geklopft hatte, hatte Cadan ihm schon an seinem geröteten Gesicht angesehen, dass ihm etwas auf der Seele lag.

Will hatte ohne Umschweife nach Madlyn gefragt, und als Cadan entgegnete, sie sei nicht zu Hause, fragte Will: »Wo ist sie denn dann? In der Bäckerei war sie auch nicht.«

»Noch haben wir sie nicht mit einem Peilsender versehen, Will«, erklärte Cadan. »Das machen wir erst nächste Woche.«

Will war anscheinend nicht nach Scherzen zumute. »Ich muss sie finden.«

»Warum?«

Also erzählte Will, was er im Clean-Barrel-Surfshop erfahren hatte: Santo Kerne war tot, sein Schädel zermatscht oder was immer passierte, wenn man beim Abseilen stürzte.

»Er ist allein geklettert?« Dass er überhaupt klettern gewesen war, schien merkwürdig; Cadan wusste, was Santo Kerne in Wirklichkeit am liebsten tat, nämlich surfen und vögeln und vögeln und surfen, und beides fiel ihm mühelos zu.

»Ich hab nichts davon gesagt, dass er allein war«, entgegnete Will scharf. »Ich weiß nicht, ob jemand bei ihm war, und wenn ja, wer. Wie kommst du darauf, dass er allein war?«

Cadan musste nicht antworten, denn Lew hatte offenbar Wills Stimme gehört und aus dem Tonfall herausgelesen, dass irgendetwas Schreckliches passiert sein musste. Er war aus dem rückwärtigen Teil des Hauses gekommen, wo er am Computer gearbeitet hatte, und Will setzte auch ihn ins Bild. »Ich bin hier, um es Madlyn zu sagen«, erklärte er.

Oh, klar doch, dachte Cadan. Jetzt war der Weg zu Madlyn frei, und Will war kein Typ, der an einer offenen Tür achtlos vorüberging.

»Verdammt«, murmelte Lew nachdenklich. »Santo Kerne.«

Die Nachricht hat keinen von uns übermäßig erschüttert, gestand Cadan sich im Stillen ein. Er selbst war vielleicht noch am meisten betroffen, aber das lag daran, dass für ihn dabei am wenigsten auf dem Spiel stand.

»Dann mach ich mich mal auf die Suche nach ihr«, hatte Will Mendick gesagt. »Habt ihr eine Ahnung, wo…«

Wer konnte das schon wissen? Madlyn hatte seit der Trennung von Santo eine Achterbahnfahrt der Gefühle durchgemacht. Zuerst war sie untröstlich gewesen, dann war der Kummer einem blinden und rasenden Zorn gewichen. Cadan war in dieser Zeit dankbar gewesen für jeden Augenblick, den er nicht mit seiner Schwester hatte verbringen müssen, bis sie die obligatorische letzte Phase Rachedurst durchlaufen hatte und wieder normal geworden war. Sie konnte gerade überall sein und alles Mögliche tun: Banken ausrauben, Fenster zertrümmern, Männer in Pubs aufreißen, sich die Augenlider tätowieren lassen, kleine Kinder verprügeln oder surfen in unbekannten Gefilden. Bei Madlyn konnte man das einfach nie wissen.

»Seit dem Frühstück haben wir sie nicht mehr gesehen«, murmelte Lew.

»Mist.« Will knabberte an seinem Daumen. »Aber irgendwer muss ihr doch sagen, was passiert ist.«

Wieso eigentlich?, dachte Cadan, aber er sprach es nicht aus. Stattdessen fragte er: »Und du meinst, das solltest ausgerechnet du tun?« Und unklugerweise fügte er hinzu: »Wach endlich auf, Mann. Wann kapierst du es endlich? Du bist nicht ihr Typ.«

Wills Teint wurde zusehends dunkler, was seine Pickel unvorteilhaft betonte.

»Cadan«, mahnte Lew.

»Ist doch wahr«, protestierte Cadan. »Komm schon, Mann…«

Will hatte keine Lust, sich den Rest von Cadans Tirade auch noch anzuhören. Er war aus dem Zimmer und zur Tür hinaus, noch ehe Cadan ein weiteres Wort sagen konnte.

»Herrgott noch mal!«, schimpfte Lew sein väterlicher Kommentar zu Cadans Taktgefühl. Dann ging er nach oben, um zu duschen.

Nach dem Surfen war er noch nicht unter der Dusche gewesen, darum hatte Cadan angenommen, sein Vater wollte sich wie üblich erst mal Sand und Salz von der Haut waschen. Aber dann hatte er das Haus verlassen und war bislang nicht wieder zurückgekommen. Das hatte Cadan in die Verlegenheit gebracht, Ione und ihre Töchter bei Laune halten zu müssen, während sie auf seinen Vater warteten.

»Er sucht Madlyn«, hatte Cadan der Freundin seines Vaters erklärt. Er hatte sie knapp über Santo in Kenntnis gesetzt, aber mehr hatte er nicht gesagt. Ione war über die Sache mit Madlyn und Santo längst im Bilde. Mit Lew Angarrack zusammen zu sein und das nicht mitzubekommen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Das verhinderte allein schon Madlyns überentwickelte Neigung zu dramatischen Auftritten.

Ione war in die Küche gegangen, hatte die Pizza abgelegt, den Tisch gedeckt und einen gemischten Salat angerichtet. Dann war sie ins Wohnzimmer zurückgekommen. Nach vierzig Minuten wählte sie Lews Handynummer. Wenn er das Telefon bei sich trug, war es jedenfalls nicht eingeschaltet.

»Wie kann man nur so blöd sein«, bemerkte sie. »Was, wenn Madlyn nach Hause kommt, während er noch unterwegs ist, um sie zu suchen? Wie sollen wir ihn dann erreichen?«

»Daran hat er wahrscheinlich nicht gedacht«, erklärte Cadan. »Er ist Hals über Kopf losgestürmt.«

Das stimmte nicht ganz, aber es schien… na ja, glaubwürdiger, dass ein besorgter Vater überstürzt aufbrach, und nicht so wie Lew es getan hatte, nämlich in aller Seelenruhe, als wäre er in irgendeiner Frage zu einem düsteren Schluss gekommen oder wüsste irgendetwas, was sonst niemand wusste.

Leigh hatte inzwischen ihre Zeitschrift durchgeblättert und meldete sich zu Wort mit diesem bizarren Tonfall, den nur Teenager beherrschen, die sich zu viele schlechte Serien im Fernsehen anschauen. »Mum, ich hab Hunger«, verkündete sie. »Ich bin total ausgehungert, okay? Guck mal auf die Uhr, ja? Essen wir vielleicht mal bald?«

»Willst du Schinkenchips?«, bot Cadan an.

»Igitt!«, erwiderte Leigh. »Junkfood?«

»Und was genau ist Pizza?«, fragte Cadan höflich.

»Pizza hat einen hohen Nährwert, okay?«, belehrte Leigh ihn. »Sie enthält mindestens zwei Nahrungsgruppen, und außerdem hatte ich nicht vor, mehr als ein Stück davon zu essen, okay?«

»Verstehe«, antwortete Cadan. Er hatte schon des Öfteren Gelegenheit gehabt, Leigh bei der Nahrungsaufnahme zu beobachten, und er wusste genau, wenn es um Pizza ging, vergaß sie regelmäßig, dass sie die neue Kate Moss werden wollte. Der Tag, an dem sie sich auf ein einziges Stück Pizza beschränkte, würde der Tag sein, da die Schweine scharenweise das Fliegen lernten.

»Ich hab auch Hunger«, sagte Jennie. »Können wir schon mal essen, Mummy?«

Ione warf einen letzten, resignierten Blick auf die Straße. »Meinetwegen«, antwortete sie.

Sie ging in die Küche. Jennie hüpfte vom Sofa, folgte ihrer Mutter und kratzte sich unterwegs am Hintern. Leigh bildete das Schlusslicht, und als zöge sie auf einem Catwalk ihre Kreise, bedachte sie Cadan im Vorbeigehen mit einem vernichtenden Blick. »Was für ein dämlicher Vogel! Der kann ja nicht mal sprechen. Was für 'n Papagei ist denn das, der nicht mal spricht?«

»Einer, der sich sein Vokabular für intelligentere Unterhaltungen aufspart«, teilte Cadan ihr mit.

Leigh streckte ihm die Zunge heraus und verließ das Wohnzimmer.

Nach einer freudlosen Mahlzeit aus Pizza, die zu lange herumgestanden hatte, und einem Salat, den eine Köchin, die in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt gewesen war, mit zu viel Essig verdorben hatte, erbot sich Cadan, den Abwasch zu übernehmen. Er hoffte, Ione und ihre Brut auf diese Weise loszuwerden. Doch weit gefehlt. Sie blieb noch volle neunzig Minuten, setzte Cadan während dieser Zeit Leighs schnippischen Kommentaren zu seinen Spülkünsten aus und rief weitere viermal auf Lews Handy an, ehe sie endlich mitsamt ihren Töchtern verschwand.

Cadan blieb sich selbst und seinen Gedanken überlassen, und er fühlte sich dabei nicht sonderlich wohl in seiner Haut. Er war mehr als erleichtert, als das Telefon klingelte und er endlich erfuhr, wo Madlyn steckte. Weniger erleichtert war er indes darüber, dass der Anrufer mitnichten sein Vater war. Und er war regelrecht beunruhigt, als er mit einer beiläufig eingestreuten Frage in Erfahrung brachte, dass sein Vater auf der Suche nach Madlyn noch nicht einmal bei dem Anrufer vorbeigeschaut hatte. Er war kurz davor, die Nerven zu verlieren — ein Zustand, über den er lieber gar nicht nachdenken wollte. Als sein Vater kurz nach Mitternacht nach Hause kam, war Cadan entsprechend sauer auf ihn, weil er dieserart Gefühle in ihm hervorgebracht hatte.

Er hatte vor dem Fernseher gesessen, als die Küchentür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Dann war Lew an der Wohnzimmertür erschienen, aber im Schatten des Flurs stehen geblieben.

Ohne sich nach ihm umzudrehen, sagte Cadan knapp: »Sie ist bei Jago.«

»Was?«

»Madlyn«, erwiderte Cadan. »Sie ist bei Jago. Er hat angerufen. Er sagt, sie schläft.«

Sein Vater zeigte keinerlei Reaktion. Cadan überlief ein eisiger Schauer, ohne dass er so recht verstand, warum. Um nicht weiter über die Teilnahmslosigkeit seines Vaters nachdenken zu müssen, griff er nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.

»Du wolltest sie doch suchen, oder nicht?« Er wartete keine Antwort ab. »Übrigens, Ione war hier. Mit den Mädchen. Also ehrlich, diese Leigh ist vielleicht ein Früchtchen, wenn du mich fragst!«

Schweigen. Also hakte Cadan nach: »Du hast sie doch gesucht?«

Lew wandte sich ab und ging in die Küche zurück. Cadan hörte die Kühlschranktür, dann wurde etwas in einen Topf gegossen. Sein Vater setzte offenbar die Milch für seine allabendliche Ovaltine auf. Für einen Augenblick verspürte auch Cadan Lust darauf bis ihm dämmerte, dass er vielmehr daran interessiert war, seinen Vater zu beobachten und zu durchschauen. Oder vielleicht lieber doch nicht? Zögerlich begab er sich ebenfalls in die Küche.

»Ich habe Jago gefragt, was sie bei ihm verloren hat. Du weißt schon, einfach: "Was zum Geier tut sie bei dir?", denn erstens: Warum sollte sie die Nacht bei Jago verbringen wollen? Er ist… was? Siebzig? Das find ich ein bisschen krass, wenn du weißt, was ich meine. Klar, er ist schon irgendwie in Ordnung, aber eben kein Verwandter oder so… Und zweitens…«

Doch ihm fiel kein Zweitens mehr ein. Er schwafelte nur noch, weil das beharrliche Schweigen seines Vaters ihn immer nervöser machte. »Jago hat erzählt, dass er oben im Salthouse Inn war, mit Mr. Penrule, als dieser Typ reinkam, zusammen mit der Frau, der das Cottage in Polcare Cove gehört. Sie hat gesagt, da draußen liege eine Leiche, und Jago hat gehört, wie sie gesagt hat, sie glaube, es sei Santo. Darum ist Jago zur Bäckerei gegangen, um Madlyn abzuholen und es ihr schonend beizubringen. Er hat nicht eher hier angerufen, weil… Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist sie total ausgerastet, als er's ihr gesagt hat, und er hatte alle Hände voll mit ihr zu tun.«

»Hat er das gesagt?«

Cadan war so erleichtert, seinen Vater endlich reden zu hören, dass er erwiderte: »Wer? Was?«

»Hat Jago das gesagt? Dass Madlyn ausgerastet ist?«

Cadan dachte kurz nach; nicht so sehr darüber, ob Jago Reeth das tatsächlich gesagt hatte, sondern eher warum sein Vater ausgerechnet diese Frage stellte. Es schien ein derart seltsames Detail, dass Cadan seinerseits wiederholte: »Du warst sie doch suchen, oder? Ich meine, das hab ich Ione jedenfalls gesagt. Wie gesagt, sie war hier, mit den Mädchen. Zum Pizzaessen.«

»Ione!«, murmelte Lew. »Das hatte ich völlig vergessen… Ich nehme an, sie ist stinkwütend?«

»Sie hat versucht, dich anzurufen. Aber du hattest dein Handy…«

»Es war ausgeschaltet.«

Die Milch auf dem Herd fing an zu dampfen. Lew stellte seinen Newquay-Becher bereit und löffelte reichlich Ovaltinepulver hinein, dann reichte er es Cadan, der inzwischen seine eigene Tasse vom Bord über der Spüle geangelt hatte.

»Ich rufe sie gleich an«, sagte Lew pflichtschuldig.

»Es ist schon nach Mitternacht«, klärte Cadan ihn unnötigerweise auf.

»Glaub mir, besser spät als morgen.« Und damit verließ Lew die Küche und ging in sein Zimmer. Cadan verspürte einen unbezähmbaren Drang herauszufinden, was da vor sich ging teils aus Neugier, teils um sich zu beruhigen, ohne hinterfragen zu müssen, warum er derart beunruhigt war. Er folgte seinem Vater die Treppe hinauf, um an seiner Tür zu lauschen, doch er stellte fest, dass das gar nicht nötig war. Kaum hatte er die oberste Stufe erreicht, hörte er dessen erhobene Stimme und wusste, dass das Gespräch keinen sehr glücklichen Verlauf nahm. Lews Beitrag bestand großteils aus: »Ione… bitte hör mir zu… so viel um die Ohren… total überlastet… völlig vergessen… stecke mitten in der Herstellung eines Surfboards, Ione, und zwei Dutzend weitere… ja, ja. Es tut mir wirklich leid, aber du hast mir nicht gesagt… Ione…«

Das war alles. Dann Stille. Cadan trat näher an die Tür heran. Lew saß auf der Bettkante. Seine Hand ruhte noch immer auf dem Telefonhörer, den er gerade zurück auf die Gabel gelegt hatte. Er sah auf, blickte Cadan ins Gesicht, sagte aber nichts. Stattdessen stand er auf und holte seine Jacke, die er über einen Rattanstuhl in der Ecke geworfen hatte, und streifte sie über. Anscheinend wollte er noch einmal weg.

»Was ist los?«, fragte Cadan.

Lew sah ihn nicht an, als er antwortete: »Sie hat Schluss gemacht.«

Er klang… Cadan sann darüber nach. Bedauernd? Müde? Niedergeschlagen? Resigniert ob der Tatsache, dass, solange man sich nicht änderte, die Vergangenheit immer die Zukunft bestimmte? Cadan bemerkte vorsichtig: »Na ja, du hast den Karren ganz schön in den Dreck gefahren. Euer Date einfach zu vergessen und so.«

Lew klopfte seine Taschen ab, als suchte er nach etwas Bestimmtem. »Tja. Vielleicht. Aber sie wollte nicht zuhören.«

»Was hättest du ihr denn sagen wollen?«

»Es war nur ein Pizzaessen, Cadan. Das war alles. Eine Pizza! Wie kann sie erwarten, dass ich an so etwas denke?«

»Das ist ziemlich kaltschnäuzig«, pflichtete Cadan ihm bei.

»Außerdem geht es dich nichts an.«

Cadan verkrampfte sich unwillkürlich. »Klar. Vermutlich hast du recht. Aber deine Freundin bei Laune zu halten, während du dich irgendwo rumtreibst und Gott weiß was machst, das geht mich schon etwas an, ja?«

Lew ließ die Hand sinken, die seine Taschen abgesucht hatte. »Gott… Es tut mir leid, Cadan. Ich stehe ziemlich unter Strom. Es ist… Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll.«

Das ist es ja gerade, dachte Cadan. Was genau war hier eigentlich los? Sicher, sie hatten von Will Mendick gehört, dass Santo Kerne tot war, und das war bedauerlich, keine Frage. Aber warum sollte diese Nachricht sie ins Chaos stürzen, wenn sie denn tatsächlich ins Chaos gesunken waren?


Der Geräteraum von Adventures Unlimited befand sich in einem ehemaligen Speisesaal. Dieser Speisesaal war in der Glanzzeit des King-George-Hotels einmal ein Tanztee-Pavillon gewesen. Die Glanzzeit das war zwischen den beiden Weltkriegen gewesen, und wenn Ben Kerne sich im Geräteraum aufhielt, stellte er sich oft vor, wie es ausgesehen haben musste, als der Parkettboden noch blank poliert war, die Decke im Glanz der Kronleuchter erstrahlte und Frauen in duftigen Sommerkleidern in den Armen von Männern in Leinenanzügen einherschwebten. In glückseliger Ahnungslosigkeit hatten sie ihre Runden gedreht, überzeugt, dass der Krieg, der alle weiteren Kriege beenden sollte, tatsächlich seinen Zweck erfüllt hatte. Gar zu bald waren sie eines Besseren belehrt worden. Aber der Gedanke an diese Menschen hatte für Ben immer etwas Besänftigendes gehabt, genau wie die Musik, die in seiner Vorstellung ein Orchester zum Besten gab, während weiß behandschuhte Kellner winzige Sandwiches auf Silbertabletts herumreichten. Er stellte sich die Tänzer vor, meinte fast, ihre Geister sehen zu können, und spürte ein schmerzliches Bedauern über das Verrinnen der Zeit. Gleichzeitig fühlte er sich seltsam getröstet. Menschen kamen und gingen im King-George-Hotel, aber die Erde drehte sich weiter.

Dieses Mal verschwendete er im Geräteraum jedoch keinen Gedanken an den Tanztee der Dreißigerjahre. Er stand vor einer Schrankreihe und hatte eine der Türen geöffnet. Üblicherweise hing hier Kletterausrüstung an diversen Haken, lag ordentlich in Plastikbehältern oder zusammengerollt auf den Regalen. Seile, Gurte, Schlingen, Friends und Grigris, Klemmkeile, Karabiner… alles Mögliche. Seine eigene Ausrüstung bewahrte er an einem anderen Ort auf, denn es war ihm zu lästig, hier herunterzukommen, wenn er einmal einen freien Nachmittag zum Klettern hatte. Hier hatte Santos Equipment gelagert, und Ben selber hatte voller Stolz ein Schild an die Schranktür geklebt: »Bitte nicht benutzen!« Trainer und Gäste sollten wissen, dass diese Ausrüstung heilig war. Sie hatte über drei Weihnachtsbescherungen und vier Geburtstage einen stattlichen Umfang erreicht.

Doch jetzt war der Schrank leer. Ben wusste, was das bedeutete. Die fehlende Kletterausrüstung war Santos Abschiedsnachricht an seinen Vater. Ben spürte die Monstrosität dieser Nachricht, ihre Bürde, und ihm wurde erschreckend klar: Seine eigenen Worte hatten dies heraufbeschworen, Worte, die er gedankenlos ausgesprochen hatte, getrieben von sturer Selbstgefälligkeit. Trotz aller Bemühungen, trotz der Tatsache, dass er und Santo nicht verschiedener hätten sein können, sowohl was ihr Erscheinungsbild als auch den Charakter betraf, trotz alledem hatte die Geschichte sich wiederholt, jedenfalls in ihrer äußeren Beschaffenheit, wenn auch nicht in ihrer Substanz. Seine eigene Geschichte sprach von falschen Entscheidungen, Verbannung und Jahren der Entfremdung. Santos hingegen sprach nun von Denunziation und Tod. Nicht in Worten, sondern mit der offenen Zurschaustellung seiner Enttäuschung hatte Ben die Frage herausgeschleudert, so deutlich, als hätte er sie geschrien: Was für ein Jammerlappen bist du nur, dass du so etwas tun konntest? Und du willst ein Mann sein?

Natürlich hatte Santo diese ungestellte Frage genau verstanden und so reagiert, wie jeder Sohn eines jeden Vaters reagiert hätte, nämlich mit der Empörung, die ihn schließlich auf die Klippen hinausgetrieben hatte. Ben selbst hatte auf seinen Vater im gleichen Alter in gleicher Weise reagiert: Ausgerechnet du willst mir erklären, was es heißt, ein Mann zu sein? Ich zeig dir, was ein Mann ist.

Während das oberflächliche Warum ihrer Auseinandersetzung nicht ergründet werden musste, weil Santo genau wusste, was dahintersteckte, blieb der wahre Grund dafür unerforscht. Es wäre viel zu furchteinflößend gewesen, ihn verstehen zu wollen. Stattdessen hatte Ben sich lediglich wieder und wieder vorgebetet, dass Santo eben einfach der war, der er war.

»Es ist einfach so passiert«, hatte Santo seinem Vater gestanden. »Hör mal, ich will nicht…«

»Du?«, hatte Ben ihn ungläubig unterbrochen. »Den Rest kannst du dir sparen, denn was du willst, interessiert mich nicht. Was du getan hast, hingegen schon. Was du zustande gebracht hast. Das Ergebnis deiner verdammten Selbstsucht…«

»Warum regst du dich eigentlich so auf? Was kümmert es dich? Wenn es etwas zu regeln gegeben hätte, hätte ich das getan, aber das war ja überhaupt nicht der Fall. Es gibt nichts. Nichts. Okay?«

»Menschliche Wesen regelt man nicht«, hatte Ben entgegnet. »Sie sind keine Maschinen. Keine Handelsware.«

»Du verdrehst mir das Wort im Mund.«

»Und du verdrehst das Leben anderer Menschen.«

»Das ist ungerecht. Das ist so was von ungerecht!«

So wie Santo das ganze Leben ungerecht finden würde, war es Ben durch den Kopf gefahren. Nur hatte er nicht lange genug gelebt, um das herauszufinden. Und wessen Fehler ist das, Benesek?, fragte er sich. War der Moment den Preis wert, den du nun zahlst?

Jener Moment hatte aus einer einzigen Bemerkung bestanden, die teils der Zorn, vor allem jedoch die blanke Angst hervorgebracht hatte: »Ungerecht ist es, ein wertloses Stück Dreck zum Sohn zu haben.« Einmal ausgesprochen, hingen die Worte da wie schwarze Farbe, die über eine weiße Wand geschleudert worden war. Seine Strafe für diesen Ausbruch würde die Erinnerung an diese erbärmlichen Worte sein und die Erinnerung daran, was sie nach sich gezogen hatten: Santos kalkweißes Gesicht und die Tatsache, dass ein Vater seinem Sohn den Rücken gekehrt hatte. Du willst mir erklären, was es heißt, ein Mann zu sein? Ich zeig's dir. Tausendfach, wenn's sein muss. Aber ich zeig's dir.

Ben wollte nicht daran denken, was er gesagt hatte. Am liebsten wollte er nie wieder an überhaupt irgendetwas denken. Er wünschte, sein Geist würde völlig leer und bliebe es auch, sodass er sein Leben wie ein Roboter beschließen könnte, bis sein Körper den Dienst einstellte und er sich zur ewigen Ruhe betten durfte.

Er schloss den Schrank und hängte das Vorhängeschloss wieder ein. Er atmete langsam durch den Mund, bis er die Beherrschung wiedererlangt hatte und seine Eingeweide sich entkrampften. Dann ging er zum Aufzug und drückte den Rufknopf. Die Kabine schwebte mit vornehmer, antiquierter Langsamkeit herab. Sie kam knarrend zum Stehen, und Ben schob das Eisengitter beiseite, stieg zu und fuhr ins Obergeschoss, wo die Wohnung der Familie lag und wo Dellen wartete.

Doch statt zu seiner Frau ging er erst einmal in die Küche. Dort saß Kerra mit ihrem Freund. Alan Cheston sah sie unverwandt an, und Kerra selbst lauschte, den Kopf in Richtung Schlafzimmer gewandt. Ben wusste, sie wartete auf ein Zeichen, das ihr verriet, wie die Dinge standen.

Als Ben durch die Tür trat, musterte sie ihn kurz und beantwortete die Frage, die er noch nicht einmal hatte stellen müssen: »Still.«

»Gut«, erwiderte er.

Dann ging er zum Herd hinüber. Kerra hatte den Kessel aufgesetzt, bei kleiner Flamme, sodass der Dampf lautlos entwich und das Wasser heiß blieb, aber nicht kochte. Sie hatte vier Becher aus dem Schrank geholt. In jedem lag ein Teebeutel. Ben füllte zwei mit Wasser, stand dann da und sah zu, wie der Tee zog. Seine Tochter und ihr Freund schwiegen, doch er spürte ihre Blicke auf sich und die Fragen, die sie stellen wollten. Nicht nur ihm, sondern auch einander. Allenthalben lauerten unausgesprochene Fragen.

Er konnte den Gedanken an eine Unterhaltung nicht ertragen. Als der Tee dunkel genug war, gab er daher Milch und Zucker in den einen Becher, ließ den anderen, wie er war, und trug beide aus der Küche. Im Flur stellte er einen kurz ab, damit er Santos Zimmertür öffnen konnte, und trat dann in die Dunkelheit, zwei Becher Tee in Händen, den keiner von ihnen würde trinken können oder wollen.

Sie hatte kein Licht angemacht, und da Santos Zimmer zur Rückseite des Hotels lag, drängte auch keine der Straßenlaternen die Dunkelheit zurück. Jenseits der halbmondförmigen Bucht von St. Mevan Beach funkelten zwar Lichter auf einem Wellenbrecher und an der Kanalschleuse im Regen, aber sie waren zu weit weg, um bis hierher zu reichen. Nur aus dem Flur fiel ein milchiger Lichtstreifen auf den Flickenteppich am Boden. Dort lag seine Frau, zusammengekauert in embryonaler Stellung. Sie hatte die Laken und Decken von Santos Bett gerissen und sich darin eingewickelt. Der Großteil ihres Gesichts lag im Schatten, aber Ben sah genug, um zu erkennen, dass es völlig versteinert war. Er fragte sich, ob der Gedanke in ihrem Kopf war: Wäre ich nur hier gewesen… Wäre ich nur nicht den ganzen Tag fortgeblieben…

Er hatte Zweifel. Reue war nie Dellens Stil gewesen.

Mit dem Fuß schloss Ben die Tür. Dellen regte sich. Für einen kurzen Augenblick dachte er, sie wollte etwas sagen, aber stattdessen zog sie die Laken nur bis zu ihrem Gesicht hoch, drückte sie sich an die Nase und sog Santos Geruch ein wie ein Muttertier, und genau wie ein Tier war sie von Instinkten getrieben. Das hatte von dem Tag an, da er ihr begegnet war, ihren Reiz ausgemacht: zwei Heranwachsende, er lüstern, sie willig.

Alles, was sie bislang wusste, war, dass Santo tot war, die Polizei sie heimgesucht hatte, ein Sturz ihn umgebracht und dieser Sturz sich während einer Kletterpartie in den Klippen ereignet hatte. Weiter war Ben mit seinem Bericht nicht gekommen. Sie hatte ihn unterbrochen: »Er war klettern?« Und dann hatte sie die Miene ihres Mannes gelesen, wie sie es schon seit so langer Zeit vermochte, und hinzugefügt: »Das hast du ihm angetan.«

Das war alles. Sie hatten in der Rezeption des alten Hotels gestanden, denn er hatte sie nicht bewegen können, mit nach oben zu kommen. Bei ihrer Heimkehr hatte sie sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmte, und sie hatte zu wissen verlangt, was geschehen war. Nicht um von der naheliegenden Frage abzulenken, wo sie all die Stunden gesteckt hatte, sie war nicht der Meinung, dass dies irgendwen etwas anging, sondern weil etwas passiert war, was jedwede Neugier bezüglich ihres Tagesablaufs überschattete. Er hatte sich bemüht, sie nach oben ins Wohnzimmer zu führen, doch sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Also war er dort, an Ort und Stelle, mit der Sprache herausgekommen.

Sie war zur Treppe gegangen. Auf der untersten Stufe hatte sie kurz innegehalten und das Geländer umklammert, als brauchte sie Halt. Dann war sie hinaufgestiegen.

Ben stellte den Tee mit Milch und Zucker neben sie auf den Fußboden, ehe er sich auf die Bettkante setzte.

Sie sagte: »Du gibst mir die Schuld. Ich kann es förmlich riechen, Ben.«

»Ich gebe dir nicht die Schuld«, widersprach er. »Ich weiß nicht, wie du darauf kommst.«

»Weil wir hier sind. In Casvelyn. Das war doch nur meinetwegen.«

»Nein. Das war für uns alle. Außerdem hatte ich auch die Nase voll von Truro. Das weißt du doch.«

»Du wärst bis in alle Ewigkeit in Truro geblieben.«

»Das stimmt nicht, Dellen.«

»Und wenn du die Nase voll hattest was ich nicht glaube, hatte es nichts mit dir zu tun. Oder mit Truro. Oder irgendeiner anderen Stadt. Ich kann deinen Abscheu spüren, Ben. Er stinkt wie eine Kloake.«

Er schwieg. Eine Windbö erfasste das Gebäude und ließ die Fenster klirren. Ein Sturm braute sich zusammen. Ben kannte die Anzeichen. Der Wind war auflandig und würde schwereres Wetter vom Atlantik hereinbringen. Sie hatten die Sturmsaison noch nicht hinter sich.

»Ich selbst trage die Schuld«, gestand er. »Wir haben gestritten. Ich habe Dinge zu ihm gesagt…«

»Oh, das kann ich mir vorstellen. Du Heiliger. Du verfluchter Heiliger.«

»Es ist nichts Heiliges daran, konsequent zu sein und zu akzeptieren…«

»Das war nicht das Problem zwischen dir und Santo. Denk nicht, ich wüsste das nicht! Du bist doch wirklich ein Drecksack!«

»Du weißt genau, wie es dazu gekommen ist.« Ben stellte seinen Becher auf den Nachttisch. Dann schaltete er die Lampe ein. Sollte sie ihn anschauen, wollte er, dass sie sein Gesicht sah und seinen Blick las. Sie sollte wissen, dass er die Wahrheit sagte. »Ich habe ihn gewarnt. Er hätte vorsichtiger sein müssen. Ich habe ihm erklärt, dass Menschen real sind und kein Spielzeug. Ich wollte ihm vor Augen führen, dass sein Leben nicht nur daraus besteht, seinem Vergnügen nachzujagen.«

Ihre Stimme war voller Verachtung. »Als ob er das getan hätte.«

»Du weißt, dass er das tut. Er kann gut mit Menschen umgehen, mit allen Menschen. Aber er darf diese… Gabe nicht missbrauchen, um ihnen Unrecht zu tun oder sie auszunutzen. Aber er will nicht einsehen…«

»Will? Er ist tot, Ben. Es gibt kein will mehr.«

Ben dachte, sie würde anfangen zu weinen, aber das tat sie nicht. »Es ist keine Schande, seine Kinder zu lehren, das Richtige zu tun, Dellen«, erklärte er.

»Das, was du für das Richtige hältst, ja? Nicht seine Definition, sondern deine. Er sollte dein Abbild werden, nicht wahr? Aber er war nicht wie du, Ben. Und nichts hätte ihn je zu deinem Abbild machen können.«

»Das weiß ich.« Ben spürte das unerträgliche Gewicht dieser Worte. »Glaub mir, das weiß ich.«

»Das weißt du nicht, und das hast du auch nie gewusst. Und damit konntest du nicht umgehen. Du musstest ihn unbedingt zu dem formen, was du haben wolltest.«

»Dellen, ich weiß, dass ich schuld bin. Denkst du, das wäre mir nicht klar? Ich trage die Schuld hierfür ebenso wie…«

»Nein!« Sie setzte sich auf die Knie auf. »Wage es ja nicht!«, schrie sie. »Fang jetzt bloß nicht wieder damit an, denn wenn du das tust… Ich schwöre, wenn du das tust… Wenn du es auch nur erwähnst… davon anfängst… wenn du versuchst… wenn du…« Sie konnte nicht weitersprechen. Völlig unvermittelt griff sie nach dem Becher, den er auf den Boden gestellt hatte, und warf ihn nach Ben. Der Becherrand traf sein Brustbein, und heißer Tee brannte auf seiner Haut. »Ich hasse dich!«, schrie sie. Und dann noch lauter und immer lauter: »Ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich hasse dich!«

Er ließ sich vom Bett auf den Boden fallen und packte sie. Sie schrie ihm immer noch ihren Hass entgegen, als er sie an sich zog, und ihre Fäuste trommelten auf seine Brust, sein Gesicht und den Hals nieder, ehe es ihm gelang, ihre Arme festzuhalten.

»Warum konntest du ihn nicht einfach so sein lassen, wie er war? Er ist tot, und das Einzige, was du je hättest tun müssen, war, ihn in Frieden zu lassen! War das zu viel verlangt?«

»Sch-sch«, murmelte Ben. Er hielt sie, wiegte sie, vergrub die Finger in ihrem dichten blonden Haar. »Dellen. Dellen. Del. Wir können um ihn weinen. Das können wir. Das müssen wir.«

»Ich will nicht! Lass mich los! Lass mich los!«

Sie versuchte, sich zu befreien, aber er hielt sie fest. Er wusste, er konnte sie nicht aus dem Zimmer lassen. Sie stand am Rande des Abgrunds, und wenn sie stürzte, würde sie sie alle mitreißen. Das durfte er nicht zulassen. Nicht jetzt, nicht nach Santo.

Er war stärker als sie, darum begann er, sie niederzudrücken, noch während sie sich wehrte. Er zwang sie zu Boden und hielt sie mit seinem Körpergewicht fest. Sie wand sich und versuchte, ihn abzuwerfen.

Dann bedeckte er ihren Mund mit seinem. Einen Moment spürte er noch ihren Widerstand, doch mit einem Mal war er verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Sie zerrte an ihm, an seiner Kleidung: Sie riss an seinem Hemd, der Gürtelschnalle, sie schob seine Jeans ungeduldig abwärts.

Ja!, dachte er, und es war keine zärtliche Geste, mit der er ihr den Pullover über den Kopf zog. Er schob ihren BH hoch und fiel über ihre Brüste her. Sie keuchte und zog den Reißverschluss ihrer Hose auf. Roh schlug er ihre Hand weg. Er würde es tun. Er würde sie besitzen.

In wütender Hast zog er sie aus. Sie wölbte sich ihm entgegen und schrie, als er sie nahm.

Danach weinten sie beide.


Kerra hatte alles gehört. Was hätte sie dagegen tun sollen? Die Privatwohnung war so kostengünstig wie möglich, aus einer Flucht ehemaliger Gästezimmer im obersten Stock des Hotels entstanden. Weil das Geld anderweitig gebraucht worden war, hatten sie auf die Schallisolierung der Wände nicht allzu viel verwendet. Die Wände waren zwar nicht eben papierdünn, aber es kam einem so vor.

Zuerst hörte sie ihre Stimmen — die ihres Vaters leise, dann die ihrer Mutter anschwellend und dann das Geschrei, das sie nicht ignorieren konnte, schließlich den Rest. Heil dem siegreichen Eroberer, dachte sie.

Teilnahmslos sagte sie zu Alan: »Du gehst jetzt besser.« Und ein Teil von ihr fragte ihn gleichzeitig: Begreifst du jetzt?

»Nein«, widersprach Alan. »Wir müssen reden.«

»Mein Bruder ist gestorben. Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas müssen.«

»Santo«, verbesserte Alan leise. »Der Name deines Bruders war Santo.«

Sie waren immer noch in der Küche, allerdings saßen sie nicht mehr am Tisch, wo Ben zu ihnen gestoßen war. Als der Radau aus Santos Zimmer immer unüberhörbarer wurde, war Kerra aufgestanden und neben die Spüle geflüchtet. Dort hatte sie das Wasser aufgedreht und einen Topf gefüllt, ohne zu wissen, was sie damit anfangen würde.

Sie war stehen geblieben, nachdem sie den Hahn abgedreht hatte. Durch das Fenster sah sie den höher gelegenen Teil von Casvelyn, wo die St. Issey Road auf den St. Mevan Crescent stieß. Ein unansehnlicher Supermarkt mit dem Namen "Blue Star Grocery" hatte sich wie ein hässlicher Gedanke in der V-förmigen Einmündung breitgemacht, ein Bunker aus Ziegel und Glas, und Kerra fragte sich, warum moderne Zweckarchitektur immer so hässlich sein musste. Der Supermarkt war für die späten Einkäufer noch erleuchtet, und dahinter zeigten weitere Lichtpunkte, wo Autos sich behutsam die Straßen nordwestlich und südöstlich des St. Mevan Down entlangtasteten. Arbeitnehmer fuhren nach Feierabend heim in die zahllosen Weiler, die im Lauf der Jahrhunderte entlang der Küste wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Schmugglerhäfen, dachte Kerra. Cornwall war seit jeher ein gesetzloser Ort gewesen.

»Bitte geh«, sagte sie.

Alan entgegnete: »Willst du mir nicht sagen, worum es hier geht?«

»Hier geht es um Santo«, antwortete sie, und sie sprach den Namen mit übertriebener Sorgfalt aus.

»Du und ich, wir sind ein Paar, Kerra. Wenn Menschen…«

»Ein Paar«, unterbrach sie. »O ja. Wie wahr.«

Er ignorierte den Sarkasmus in ihrer Stimme. »Wenn Menschen ein Paar werden, meistern sie die Dinge gemeinsam. Ich bin hier. Ich bleibe. Und ich überlasse es dir, was du gemeinsam mit mir meistern willst.«

Sie warf ihm einen Blick zu und hoffte, er würde den Spott darin erkennen. Alan hatte kein Recht, so zu sein, in dieser Situation schon gar nicht. Sie hatte ihn nicht als Partner gewählt, damit er ihr nun eine Seite von sich zeigte, die ihr offenbarte, dass sie ihn eigentlich gar nicht kannte. Ihr Alan, ihr Alan Cheston, war ein bisschen schwach auf der Brust, sodass die Winter ihm zu schaffen machten, und manchmal so extrem vorsichtig, dass er einen in den Wahnsinn treiben konnte, Kirchgänger, gehorsamer Sohn, unsportlich. Ein Schaf, nicht der Hirte. Obendrein respektvoll. Und respektabel. Er war der Typ, der fragte: »Darf ich…?«, bevor er ihre Hand nahm. Doch jetzt…

Dieser Mensch hier war nicht der Alan, der kein einziges Sonntagsessen bei Mum und Dad versäumt hatte, seit er die Universität und die verfluchte London School of Economics verlassen hatte. Der käsige Alan mit dem schütteren Haar, der Yoga machte und Essen auf Rädern ausfuhr und niemals in den Meerwasserpool von St. Mevan Beckach springen würde, ohne zuvor einen Zeh hineinzustecken, um die Wassertemperatur zu prüfen. Eigentlich sollte nicht er derjenige sein, der ihr sagte, wie die Dinge liefen.

Doch nun stand er hier und tat genau das. Er stand da, vor dem Edelstahlkühlschrank, und wirkte… unnachgiebig, dachte Kerra. Bei diesem Anblick bekam sie ein Gefühl, als hätte sie Eis in den Adern.

»Sprich mit mir«, verlangte er. Seine Stimme klang fest.

Das gab ihr den Rest. Darum antwortete sie: »Ich kann nicht.«

Es war nicht einmal das, was sie hatte sagen wollen. Doch sein Blick, der für gewöhnlich so unterwürfig war, war nun unerbittlich. Sie wusste, es kam von Macht, Wissen und Furchtlosigkeit, und eben das bewog Kerra, sich abzuwenden. Sie würde kochen, entschied sie. Sie mussten schließlich alle etwas essen.

»Na schön«, sagte Alan zu ihrem Rücken. »Dann rede ich eben.«

»Ich muss etwas zu essen auf den Tisch bringen«, erklärte sie. »Wir müssen zusehen, dass wir bei Kräften bleiben, sonst wird alles nur noch schlimmer. In den nächsten Tagen wird viel zu regeln sein. Vorkehrungen, Telefonate. Irgendjemand muss meine Großeltern anrufen. Santo war ihr Liebling. Ich bin das älteste von ihren Enkelkindern wir sind übrigens siebenundzwanzig alle zusammen, und ist das nicht obszön, wenn man an die Bevölkerungsexplosion und all so was denkt?, aber Santo war ihr Liebling. Wir waren oft bei ihnen, Santo und ich. Manchmal für einen Monat. Einmal sogar neun Wochen. Sie müssen es irgendwann erfahren, und mein Vater wird sie nicht anrufen. Er und Granddad reden nicht mehr miteinander. Nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss.«

Sie griff nach einem Kochbuch. Sie besaß eine ansehnliche Sammlung davon, die zwischen Buchstützen auf der Arbeitsplatte stand und die sie bei ihren zahlreichen Kochkursen angehäuft hatte. Einer der Kernes hatte schließlich lernen müssen, gesunde, preiswerte und schmackhafte Mahlzeiten für die großen Besuchergruppen von Adventures Unlimited zusammenzustellen. Natürlich würden sie beizeiten einen Koch einstellen, aber es war günstiger, wenn jemand anderes als er den Speiseplan erstellte. Kerra hatte sich für diese Aufgabe freiwillig gemeldet. Sie interessierte sich nicht für die Dinge, die in einer Küche vonstatten gingen, aber sie wusste, auf Santo konnten sie nicht bauen, und sich auf Dellen zu verlassen, wäre lächerlich gewesen. Ersterer konnte zwar in bescheidenem Maßstab passabel kochen, doch er ließ sich zu leicht ablenken, sei es von einem Popsong im Radio oder dem Anblick eines Tölpels, der in Richtung Sawsneck Down flog. Und was Letztere betraf: Alles an Dellen konnte sich von einer Sekunde auf die andere komplett ändern, einschließlich ihrer Bereitschaft, sich in familiären Angelegenheiten zu engagieren.

Kerra schlug das Kochbuch auf und blätterte nach etwas Kompliziertem. Etwas, was ihre gesamte Aufmerksamkeit erfordern würde. Sie suchte nach einer imposanten Zutatenliste; was sie nicht im Haus hatten, würde sie Alan bei Blue Star holen schicken. Und wenn er sich weigerte, würde sie selbst gehen. So oder so würde sie beschäftigt sein, und genau das brauchte sie jetzt.

»Kerra«, sagte Alan.

Sie ignorierte ihn. Sie entschied sich für Jambalaya mit Naturreis und grünen Bohnen, gefolgt von einem süßen Auflauf. Es würde Stunden dauern, das zuzubereiten. Hühnchen, Würstchen, Krabben, grüne Paprika, Muschelfond… Die Liste war schier endlos. Kerra beschloss, genug für die ganze Woche zu kochen. Die Ablenkung würde ihr guttun, und sie alle würden sich eine Portion davon in der Mikrowelle aufwärmen können, wenn sie Hunger verspürten. War die Mikrowelle nicht eine großartige Erfindung? Hatte sie das Leben nicht vereinfacht? Gott, wäre es nicht die Antwort auf die Gebete jeder jungen Frau, wenn es eine Mikrowelle gäbe, in die man auch Menschen stecken könnte? Nicht um sie aufzuwärmen, sondern um sie zu verändern. Wen hätte sie wohl zuerst hineingesteckt?, überlegte sie. Ihre Mutter? Ihren Vater? Santo? Alan?

Santo natürlich. Ganz ohne Zweifel Santo. Rein mit dir, Bruder. Ich programmiere den Timer, stelle die Wattzahl ein und warte, bis jemand Neues dabei herauskommt…

Aber das war nun nicht mehr nötig. Santo war jetzt ganz entschieden verändert. Er würde nie mehr wieder wie ein Irrlicht durch die Welt ziehen, sich sorglos treiben lassen und in seiner unendlichen Gedankenlosigkeit alles das tun, was seinem Vergnügen diente. Es gibt Wichtigeres im Leben als das, und ich schätze, jetzt hast du's endlich begriffen, Santo. Im letzten Moment hast du es gewusst. Du hast es einfach wissen müssen. Du bist abgestürzt, die Felsen kamen immer näher, und als im letzten Augenblick kein Wunder geschah, hast du erkannt, dass die anderen Leute in deinem Leben tatsächlich menschliche Wesen sind und du verantwortlich bist für den Schmerz, den du ihnen zufügst. Aber da war es schon zu spät, um dich zu bessern, wo doch gerade bei Selbsterkenntnis der Grundsatz gilt: Besser spät als nie.

Kerra fühlte sich, als stiegen Blasen in ihr auf. Sie waren heiß, wie die Blasen des kochenden Wassers, die sich ihren Weg suchten, hinaus aus dem kochenden Wasser, und zwar um jeden Preis. Kerra unterdrückte den Impuls, sie hinauszulassen, und holte eine Flasche Olivenöl aus dem Schrank, wandte sich wieder zur Arbeitsplatte, griff nach dem Messlöffel und überlegte: Wie viel Olivenöl…?, als ihr die Flasche aus der Hand rutschte. Sie zerschellte am Boden, und das Öl spritzte in alle Richtungen, über den Herd, den Schrank und Kerras Kleidung. Sie sprang zur Seite, aber sie entkam ihm nicht.

»Verflucht!«, schrie sie und spürte plötzlich, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie sagte zu Alan: »Würdest du bitte endlich verschwinden?« Dann rollte sie mehrere Blätter Küchenpapier ab und legte sie in die Ölpfütze. Sie waren sofort vollkommen durchweicht.

»Lass mich das machen, Kerra«, bat Alan. »Setz dich hin. Ich mach das.«

»Nein«, protestierte sie. »Ich hab die Schweinerei angerichtet, also werde ich sie auch beseitigen.«

»Kerra…«

»Nein! Ich sagte: Nein! Ich brauche deine Hilfe nicht. Und ich will deine Hilfe auch nicht. Ich will, dass du gehst. Verschwinde!«

In einem Zeitungsständer nahe der Tür lagen mehrere Ausgaben des Watchman. Alan nahm sich einen Stapel und führte Casvelyns Lokalzeitung einer sinnvollen Anwendung zu. Kerra sah einfach nur reglos zu, während das Öl in die bedruckten Seiten sickerte. Alan tat es ihr gleich. Sie standen sich gegenüber, die Pfütze zwischen ihnen. Für Kerra war diese Pfütze eine unüberwindbare Kluft, für ihn jedoch, wusste sie, höchstens eine vorübergehende Unannehmlichkeit.

»Mach dir keine Vorwürfe, weil du wütend auf Santo warst«, riet Alan. »Du hattest ein Anrecht auf deine Wut. Er mag es irrational gefunden haben, sogar dumm, dass du dich mit etwas belastet hast, was ihm nebensächlich erschien. Aber es gab einen Grund für deine Gefühle, und du warst im Recht. Davon abgesehen, hast du ein Anrecht auf alles, was du fühlst. So liegen die Dinge.«

»Ich hatte dich gebeten, die Stelle hier nicht anzunehmen.« Ihre Stimme war ausdruckslos; innerlich war sie vollkommen leer.

Er schien verwirrt. Ihr war klar, dass es ihm vorkommen müsse, als stehe diese Bemerkung in keinerlei Zusammenhang zu der momentanen Situation, aber ihre Worte umfassten alles, was sie empfand und nicht ausdrücken konnte.

»Kerra, Jobs fallen nicht vom Himmel. Ich bin gut in dem, was ich mache. Ich habe es geschafft, dass dieses Unternehmen Aufmerksamkeit erregt. Wir waren sogar in der Mail on Sunday! Seit dieser Artikel erschienen ist, kommen Tag für Tag neue Buchungen rein. Es ist nicht leicht hier draußen, und wenn wir uns eine Lebensgrundlage in Cornwall aufbauen wollen…«

»Das wollen wir nicht«, entgegnete sie. »Wir können nicht. Jetzt nicht mehr.«

»Wegen Santo?«

»Ach, hör doch auf, Alan.«

»Wovor hast du denn Angst?«

»Ich habe keine Angst. Ich habe niemals Angst.«

»Blödsinn. Du bist wütend, weil du Angst hast. Aber Wut ist einfacher. Sie kommt dir näherliegend vor.«

»Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest.«

»Mag sein. Aber dann erklär es mir.«

Sie konnte nicht. Zu viel stand auf dem Spiel, um zu reden. Zu viel gesehen, zu viel passiert, über zu viele Jahre. Sie war einfach unfähig, Alan das alles zu erklären. Er musste ihr einfach glauben und entsprechend handeln.

Dass er das nicht getan hatte und sich auch jetzt noch weigerte, es zu tun, bedeutete, dass die Totenglocke für ihre Beziehung läutete. Kerra redete sich ein, dass schon allein aus diesem Grund nichts mehr von dem, was heute passiert war, eine Rolle spielte.

Noch während sie das dachte, erkannte sie, dass sie sich selbst belog. Aber auch das spielte keine Rolle mehr.


Selevan Penrule hielt das alles für Humbug. Trotzdem nahm er seine Enkelin bei den Händen. Sie saßen sich an dem schmalen Tisch im Caravan gegenüber, und Tammy schloss die Augen und begann zu beten. Selevan hörte nicht richtig hin, aber er erfasste in etwa, worum es ging. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Hände seiner Enkelin. Sie waren trocken und kühl, aber so dürr, dass es ihm vorkam, als könnte er sie zermalmen, wenn er nur ein wenig fester zupackte.

»Sie isst nicht richtig, Vater Penrule«, hatte seine Schwiegertochter ihm erklärt. Er hasste es, wenn sie ihn so nannte. "Vater Penrule" hörte sich an, als wäre er ein Priester auf Abwegen. Aber er hatte Sally Joy nicht korrigiert. Er war froh, dass sie überhaupt mit ihm redeten. Weder sie noch ihr Mann hatte sich seit Ewigkeiten die Mühe gemacht. Also hatte er gebrummelt, er würde das Mädchen schon aufpäppeln. »Es liegt an Afrika, Sally Joy, verstehst du das denn nicht? Wenn ihr das Kind nach Rhodesien verschleppt…«

»Simbabwe, Vater Penrule. Wir sind derzeit in…«

»Mir ist egal, wie die es nennen. Wenn ihr sie nach Rhodesien verschleppt und sie wer weiß welchen Erlebnissen aussetzt, müsst ihr euch nicht wundern, dass es ihr den Appetit verschlägt.«

Selevan ahnte, dass er zu ruppig gewesen war, denn Sally Joy schwieg für einen Moment. Er stellte sie sich vor, da unten in Rhodesien oder wo immer sie steckten; er sah sie mit lang ausgestreckten Beinen in Rattansesseln auf der Veranda sitzen, auf dem Beistelltisch ein Glas… vermutlich Limonade, Limonade mit Schuss… Was ist es, Sally Joy? Was ist in dem Glas, womit du dir Rhodesien schöntrinkst?

Er räusperte sich vernehmlich und sagte: »Na ja, es ist ja auch egal. Schickt sie mir. Ich bring sie schon wieder auf Vordermann.«

»Du achtest darauf, dass sie isst?«

»Mit Argusaugen«, versprach er.

Und das hatte er getan. Sie hatte heute Abend neununddreißig Bissen gegessen. Neununddreißig Löffel einer Grütze, die selbst Oliver Twist zu einer bewaffneten Rebellion verleitet hätte. Keine Milch, keine Rosinen, kein Zimt, kein Zucker. Nur wässrigen Porridge und ein Glas Wasser. Nicht einmal die Koteletts und das Gemüse ihres Großvaters hatten sie in Versuchung führen können.

»… denn Dein Wille ist es, den wir suchen. Amen«, sagte Tammy, und als er die Augen öffnete, fand er ihren Blick auf sich ruhen. Ihr Ausdruck verriet Zuneigung. Hastig ließ er ihre Hände los.

»Das ist verdammter Blödsinn«, erklärte er barsch. »Das weißt du hoffentlich, oder?«

Sie lächelte. »Du hast es mir oft genug gesagt.« Sie lehnte sich bequem zurück, als wartete sie darauf, dass er es ihr noch einmal sagte, und stützte das Kinn auf eine Hand.

»Wir beten doch schon vor dem verfluchten Essen«, schimpfte er. »Warum müssen wir danach noch mal beten?«

Sie leierte ihre Standardantwort herunter, aber nichts wies darauf hin, dass sie dieser Diskussion müde wurde, die sie mindestens zweimal wöchentlich führten, seit sie zu ihm gekommen war. »Zu Beginn sprechen wir ein Dankgebet. Wir danken Gott für unser Essen. Und dann am Ende beten wir für diejenigen, die nicht genug zu essen haben, um sich zu ernähren.«

»Wenn sie noch leben, haben sie ja offenbar doch genug, um sich zu ernähren«, konterte er grantig.

»Granddad, du weißt genau, was ich meine. Es gibt einen Unterschied zwischen so gerade noch am Leben sein und ausreichender Ernährung. Ausreichende Ernährung bedeutet mehr. Es bedeutet, genügend Nährstoffe zu sich zu nehmen, um handlungsfähig zu sein. Nimm zum Beispiel den Sudan…«

»Jetzt warte mal, Missy! Und rühr dich nicht vom Fleck!« Er glitt von der Bank und trug seinen Teller den kurzen Weg zur Spüle, um vorzugeben, mit dem Abwasch beginnen zu wollen. Doch stattdessen nahm er ihren Rucksack vom Haken an der Tür und sagte: »Lass uns mal hier reingucken.«

»Granddad«, sagte sie geduldig. »Du kannst mich nicht davon abhalten, das weißt du doch.«

»Ich weiß nur, dass ich deinen Eltern gegenüber eine Verpflichtung habe. Das ist alles, was ich weiß.«

Er trug den Rucksack zum Tisch, leerte ihn aus, und da war sie auch schon: eine Zeitschrift, von deren Titelseite ihm eine junge schwarze Mutter in Stammestracht mit einem Kind auf dem Arm entgegensah. Ihr Blick war kummervoll; beide sahen hungrig aus. Verschwommen im Hintergrund sah man weitere Menschen, die hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verwirrung auf irgendetwas warteten. Die Zeitschrift hieß Crossroads. Selevan rollte sie auf und ließ sie in seine Handfläche klatschen.

»Also«, sagte er. »Du isst noch eine Portion Porridge. Entweder das oder ein Kotelett. Du kannst es dir aussuchen.« Er steckte die Zeitschrift in die hintere Tasche seiner ausgebeulten Hose. Er würde sie später entsorgen, wenn Tammy schlafen gegangen war.

»Ich bin satt«, gab sie zurück. »Ehrlich. Granddad, ich esse genug, um gesund und am Leben zu bleiben, und das ist es, was Gott will. Wir haben kein Recht, überflüssiges Gewicht mit uns herumzutragen. Abgesehen davon, dass es ungesund ist, ist es auch Unrecht.«

»Oh, eine Sünde, ja?«

»Na ja… Das kann es sein, richtig.«

»Also ist dein Granddad ein Sünder? Er kommt geradewegs in die Hölle auf einem Teller Bohnen, während du mit den Engelchen Harfe spielst?«

Sie lachte. »Du weißt, das ist es nicht, was ich glaube.«

»Was du glaubst, ist ein Karren voll Mist! Was ich weiß, ist, dass diese Phase, die du durchmachst…«

»Eine Phase? Und woher willst du das wissen, wenn du und ich doch erst wie lange ist es? Zwei Monate zusammenleben? Vorher hast du mich nicht mal gekannt, Granddad. Nicht richtig, jedenfalls.«

»Wie lange wir schon zusammenwohnen, spielt keine Rolle. Ich kenne die Frauen. Und du bist eine Frau, trotz allem, was du tust, um wie ein zwölfjähriger Rotzlöffel auszusehen.«

Sie nickte versonnen, und er sah an ihrer Miene, dass sie im Begriff war, ihm das Wort im Munde zu verdrehen und gegen ihn zu richten, was sie so virtuos beherrschte. »Also, lass mich mal überlegen«, sagte sie. »Du hast vier Söhne und eine Tochter, und deine Tochter also Tante Nan ist mit sechzehn von zu Hause ausgezogen und außer zu Weihnachten und hier und da mal zu einem Feiertag nie zurückgekommen. Somit bleiben Gran und die Freundinnen oder Ehefrauen, die deine Söhne mit heimgebracht haben, richtig? Also, wie kommt es, dass du die Frauen kennst, wo du doch nur so begrenzte Erfahrungen mit ihnen hast, Granddad?«

»Werd mir ja nicht neunmalklug! Ich war sechsundvierzig Jahre mit deiner Großmutter verheiratet, ehe die arme Frau tot umgefallen ist. Ich hatte reichlich Zeit, deine Sorte kennenzulernen.«

»Meine Sorte?«

»Die Frauen. Und was ich weiß, ist, dass Frauen Männer brauchen, so wie Männer Frauen brauchen, und jeder, der etwas anderes behauptet, sollte besser mal seinen Kopf untersuchen lassen.«

»Und was ist mit Männern, die Männer brauchen, und Frauen, die Frauen brauchen?«

»Darüber müssen wir gar nicht erst reden.« Er war empört. »In meiner Familie gibt es keine Perversen, schreib dir das hinter die Ohren!«

»Ah. Das ist es also, was du denkst. Es ist pervers.«

»Ich denke das nicht, das weiß ich.« Er hatte ihre Habseligkeiten zurück in den Rucksack gestopft und diesen wieder an seinen Haken gehängt, ehe ihm aufging, wie sie ihn von seinem Thema abgelenkt hatte. Dieses verflixte Mädchen war wie ein frisch gefangener Fisch, wenn man mit ihm reden wollte: Es zappelte und schlug Purzelbäume, um dem Netz zu entgehen. Aber heute Abend würde es nicht damit durchkommen. Er war Tammys Gerissenheit gewachsen. Die Schläue in ihren Adern war verdünnt verwässert, weil Sally Joy ihre Mutter war. Seine hingegen war dies nicht.

»Eine Phase«, wiederholte er. »Und damit Punkt. Mädchen in deinem Alter haben alle ihre Phasen. Diese hier sieht vielleicht anders aus als bei anderen Mädchen, aber eine Phase bleibt eine Phase. Und du kannst mir glauben, ich erkenne eine Phase, wenn sie mir ins Auge blickt.«

»Ach wirklich?«

»Wirklich. Es gibt eindeutige Anzeichen, falls du glauben solltest, ich erfinde das nur. Ich habe dich mit ihm gesehen.«

Sie antwortete nicht. Stattdessen trug sie ihr Glas und die Schale zur Spüle und begann mit dem Abwasch. Sie schob die Knochen von seinem Teller in den Abfall und stapelte Töpfe, Teller, Besteck und Gläser in der Reihenfolge auf die Arbeitsplatte, in der sie sie zu spülen gedachte. Dann ließ sie das Wasser ein. Dampf stieg auf. Manchmal fürchtete er, sie würde sich verbrühen, aber die Wassertemperatur schien ihr nie etwas auszumachen.

Er trat neben sie und nahm sich ein Geschirrtuch. »Hast du mich gehört, Missy? Ich hab dich mit ihm gesehen, also versuch nicht, deinem Granddad zu erzählen, du hättest kein Interesse. Ich weiß, was ich gesehen habe, und ich weiß, was ich weiß. Wenn eine Frau einen Mann anguckt, so wie du ihn angeguckt hast… Es verrät mir, dass du nicht weißt, was du willst, ganz egal was du mir erzählst.«

»Und wo genau soll diese Sichtung stattgefunden haben, Granddad?«, fragte sie.

»Was spielt das für eine Rolle? Ihr hattet die Köpfe zusammengesteckt und die Arme umeinandergelegt so wie ein Liebespaar es tut…«

»Und hat dich das beunruhigt? Dass wir ein Liebespaar sein könnten?«

»Fang ja nicht so an, Missy! Versuch das bloß nicht noch mal! Einmal am Abend ist genug, und dein Granddad ist kein solcher Dummkopf, dass er zweimal darauf reinfällt.« Sie hatte ihr Wasser- und sein Bierglas gespült, und nun schnappte er sich Letzteres, stopfte das Geschirrtuch hinein und wischte es von innen aus. »Du warst an ihm interessiert, erzähl mir nichts«, fuhr er fort.

Sie hielt inne. Sie blickte aus dem Fenster auf die vier Reihen von Caravans, die sich unterhalb des ihren zur Klippe und zum Meer hin erstreckten. Nur einer war zu dieser Jahreszeit bewohnt, der direkt an der Klippe, und das Küchenlicht war eingeschaltet. Es blinzelte in die Regennacht hinaus.

»Jago ist zu Hause«, bemerkte Tammy. »Wir sollten ihn mal wieder zum Essen einladen. Es ist nicht gut für ältere Menschen, so viel allein zu sein. Und er ist jetzt bestimmt… Er wird Santo furchtbar vermissen, auch wenn er's vermutlich nie zugeben würde.«

Ah. Na bitte. Der Name war heraus. Jetzt konnte Selevan ungehindert von dem Jungen sprechen. »Du willst behaupten, es war nichts. Eine vorübergehende Laune. Ein kleiner Flirt. Aber ich habe euch gesehen, und ich weiß, dass du willig warst. Wenn er den ersten Schritt gemacht hätte…«

Sie griff nach einem Teller und spülte ihn gründlich. Ihre Bewegungen waren bedächtig. Alles, was Tammy tat, tat sie mit Ruhe. »Granddad, du ziehst falsche Schlüsse«, erklärte sie. »Santo und ich waren Freunde. Er hat mit mir geredet. Er brauchte jemanden, mit dem er reden konnte, und seine Wahl ist auf mich gefallen.«

»Also ging es von ihm aus.«

»Quatsch! Ich hab mich darüber gefreut. Ich kam prima mit ihm zurecht. Ich war froh, diejenige zu sein… na ja, an die er sich wenden konnte.«

»Pah! Lüg mir nichts vor.«

»Warum sollte ich lügen? Er hat geredet, ich hab zugehört. Und wenn er zu irgendetwas meine Meinung hören wollte, hab ich sie ihm gesagt.«

»Ich hab euch Arm in Arm gesehen, Kind.«

Tammy betrachtete ihn mit zur Seite geneigtem Kopf. Eingehend studierte sie sein Gesicht, und dann lächelte sie. Sie nahm die Hände aus dem Wasser und schlang sie tropfnass, wie sie waren, um seinen Hals. Er versteifte sich und wollte sich losmachen, aber da drückte sie ihm schon einen Kuss auf und sagte: »Liebster Granddad! Arm in Arm bedeutet heute nicht mehr das, was es früher vielleicht mal hieß. Es bedeutet Freundschaft. Und das ist die Wahrheit, ehrlich.«

»Ehrlich? Pah!«

»Aber es stimmt! Ich versuche immer, ehrlich zu sein.«

»Auch zu dir selbst?«

»Ganz besonders zu mir selbst.« Sie wandte sich wieder dem Abwasch zu, spülte sorgfältig ihre Porridgeschale aus und begann mit dem Besteck. Erst als sie damit fertig war, sprach sie wieder, und das mit so leiser Stimme, dass Selevan es vielleicht überhört hätte, wenn er nicht in der Erwartung, etwas ganz anderes zu hören, die Ohren gespitzt hätte. »Ich habe ihm geraten, auch ehrlich zu sein«, murmelte sie. »Vielleicht hätte ich das nicht tun dürfen, Granddad… Ich mach mir ziemliche Sorgen deswegen.«

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