28

Sie fuhren gen Westen. Sie sprachen sehr wenig. Was Lynley wissen wollte, war, warum sie in Bezug auf Details gelogen hatte, die sich so einfach überprüfen ließen. Über Paul, den Affenpfleger, beispielsweise. Es hatte nicht mehr als einen einzigen Anruf gekostet, um herauszufinden, dass es keinen Paul gab, der im Zoo nach den Primaten sah. Ob ihr denn nicht klar gewesen sei, wie das auf die Polizei wirken musste?

Sie warf ihm einen Blick zu. Sie trug heute keine Kontaktlinsen, und eine sandfarbene Haarsträhne war nach vorn gefallen und lag auf dem Rand ihrer Brille. »Ich schätze, ich habe Sie einfach nicht als Polizisten angesehen, Thomas«, sagte sie. »Und die Antworten auf die Fragen, die Sie mir gestellt haben und die Fragen, die Sie im Kopf hatten, aber nie gestellt haben, waren persönlicher Natur, oder etwa nicht? Sie hatten nichts mit Santo Kernes Tod zu tun.«

»Aber diese Antworten zurückzuhalten, hat Sie verdächtig gemacht. Das müssen Sie doch einsehen.«

»Ich war gewillt, das Risiko einzugehen.«

Eine Weile fuhren sie schweigend weiter. Die Landschaft veränderte sich, als sie sich der Küste näherten. Das raue, mit Gesteinsbrocken übersäte Farmland, dessen Begrenzungen aus flechtenbewachsenen Bruchsteinmauern bestanden, und die welligen Weiden und Wiesen gingen über in Hügel und Talmulden, und am Horizont malten sich die Maschinenhäuser der stillgelegten Minen ab. Daidre fuhr nach St. Agnes, einem Schiefer- und Granitdorf, das sich einen Hügel hinab zur See erstreckte. Die wenigen steilen Straßen schlängelten sich malerisch dahin, links und rechts erhoben sich Cottages und Läden, die gleich einem Fluss unausweichlich der steinigen Bucht von Trevaunance Cove entgegenstrebten. Bei Niedrigwasser zogen hier Traktoren Skiffe in die See, und bei ansteigender Flut kamen brauchbare Wellen von Westen und Südwesten und lockten in Scharen die Surfer aus der Umgebung herbei, die um einen Platz auf dem Wasser rangelten. Doch anders als Lynley angenommen hatte, fuhr Daidre nicht zur Bucht hinab, sondern verließ das Städtchen wieder und folgte in nördlicher Richtung den Schildern nach Wheal Kitty.

»Ich konnte schwerlich ignorieren«, nahm er ihre Unterhaltung wieder auf, »dass Sie behauptet haben, Santo Kerne nicht zu erkennen, als Sie die Leiche gesehen hatten. Warum haben Sie gelogen? Verstehen Sie denn nicht, dass Sie das verdächtig machte?«

»Das durfte in dem Moment keine Rolle spielen. Hätte ich zugegeben, dass ich ihn kannte, hätte das weitere Fragen nach sich gezogen. Und diese Fragen zu beantworten, hätte mich gezwungen, andere Menschen in die ganze Sache mit hineinzuziehen…« Sie sah ihn wieder an. Ihr Ausdruck war verdrossen und ungläubig. »Können Sie sich wirklich nicht vorstellen, wie es ist, Menschen, die man kennt, in eine polizeiliche Ermittlung zu verstricken? Sie müssen doch verstehen, wie sich das anfühlt! Sie sind doch nicht gefühllos! Es ging um private Dinge… Dinge, die geheim zu halten ich versprochen hatte. Oh, was rede ich denn eigentlich? Ihr Sergeant hat sie doch bestimmt längst ins Bild gesetzt. Sie haben doch sicher mit ihr zusammen gefrühstückt, wenn Sie sich nicht sogar gestern Abend noch gesehen haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Sie über die Dinge im Unklaren gelassen hat.«

»In Ihrer Garage waren Reifenspuren. Von mehr als einem Fahrzeug.«

»Santos. Aldaras. Sergeant Havers hat Ihnen doch sicher von Aldara erzählt, nehme ich an. Von Santos Geliebter. Und davon, dass sie sich in meinem Cottage getroffen haben.«

»Warum haben Sie das nicht von Anfang an ausgesagt? Hätten Sie das getan…«

»Was dann? Hätte es Sie davon abgehalten, in meiner Vergangenheit zu wühlen, Ihren Sergeant nach Falmouth zu schicken und die Nachbarn zu befragen, im Zoo anzurufen und… was sonst noch? Haben Sie auch mit Lok gesprochen? Haben Sie ihn aufgespürt? Haben Sie ihn gefragt, ob er wirklich verkrüppelt ist oder ob ich mir das nur ausgedacht habe? Es klingt ein bisschen weit hergeholt, oder? Ein chinesischer Bruder mit Spina bifida. Hochbegabt, aber missgebildet. Was für eine faszinierende Geschichte.«

»Ich weiß, dass er in Oxford ist.« Lynley bedauerte es, aber was er getan hatte, ließ sich nun mal nicht ändern. Es war Teil seiner Arbeit. »Das ist alles.«

»Und das haben Sie wie herausgefunden?«

»Das war eine Kleinigkeit, Daidre. Auf der ganzen Welt kooperieren Polizeibehörden, und hierzulande erst recht. Heutzutage ist es einfacher denn je.«

»Verstehe.«

»Das tun Sie nicht. Das können Sie gar nicht. Sie sind keine Polizistin.«

»Das waren Sie auch nicht. Das sind Sie nicht. Oder hat sich das alles geändert?«

Darauf hatte er keine Antwort. Er wusste sie schlichtweg nicht. Vielleicht hatte man manche Dinge im Blut, vielleicht konnte man sie auch nicht einfach abschütteln, selbst wenn man nichts lieber täte.

Sie sprachen nicht weiter. Irgendwann sah er sie am Rande seines Blickfelds die Hand an die Wange heben, und er glaubte, sie weinte. Doch als er sich ihr zuwandte, sah er, dass sie sich lediglich die Haarsträhne von der Brille strich und umständlich hinters Ohr steckte.

In Wheal Kitty fuhren sie nicht zum Maschinenhaus oder den umliegenden Gebäuden, die sich in der Ferne erhoben. Autos waren dort geparkt. Im Gegensatz zu fast allen anderen Maschinenhäusern in Cornwall war das von Wheal Kitty restauriert worden. Es beherbergte inzwischen unterschiedliche neuere Betriebe, und weitere hatten sich in der Umgebung angesiedelt, in langen, niedrigen Gebäuden, die mitnichten an die Epoche erinnerten, in der Wheal Kitty entstanden war, aber immerhin aus dem hiesigen Stein erbaut worden waren. Lynley war erfreut, das zu sehen. Der Anblick der geisterhaften Schornsteine und verfallenen Maschinenhäuser, die das Landschaftsbild prägten, stimmte ihn immer ein wenig bekümmert. Es war gut zu sehen, dass sie hier wieder einen Zweck erfüllten, denn die Gegend rund um St. Agnes war der reinste Friedhof stillgelegter Minen, vor allem oberhalb von Trevaunance Coombe, wo eine Geisterstadt aus Maschinenhäusern und den dazugehörigen Schloten das Bild dominierte — stumme Zeugen des Rückeroberungsprozesses der Natur nach der industriellen Heimsuchung. Das Land selbst war ein Meer aus Heide und Ginster, die inmitten grauer Granitkegel gediehen und den Möwen, Dohlen und Krähen als Nistplätze dienten. Bäume gab es kaum; sie hätten es zu schwer, in dieser ewig windgepeitschten Gegend zu wachsen.

Nördlich von Wheal Kitty verengte sich die Straße. Sie wurde erst zu einer schmalen Nebenstraße, dann zu einem unbefestigten Weg, und führte abwärts in ein enges Flusstal. Der Weg war gerade breit genug für Daidres Vauxhall und verlief in Haarnadelkurven, links von Findlingen und rechts von einem eiligen Wasserlauf begrenzt.

Der Weg endete schließlich an einem Maschinenhaus, das in noch viel schlimmerem Zustand war als alle, die sie auf der Fahrt von Redruth gesehen hatten. Es war weitgehend überwuchert, und dahinter ragte der Stumpf eines verfallenen Schornsteins in den Himmel.

»Da sind wir«, sagte Daidre. Aber sie stieg nicht aus. Stattdessen wandte sie sich ihm zu. »Stellen Sie sich vor: Ein Vagabund beschließt, dem ziellosen Herumziehen ein Ende zu setzen, denn im Gegensatz zu seinen Eltern und Großeltern und der Generation davor wünscht er sich etwas anderes für sein Leben. Er hat eine Idee, die nicht besonders praktikabel ist, denn ehrlich gestanden: Nichts, was er je getan hat, war besonders praktikabel. Aber er will es zumindest versuchen. Also kommt er hierher, in der Überzeugung, dass ausgerechnet mit der Gewinnung von Zinn ein Lebensunterhalt zu verdienen wäre. Er kann nicht gut lesen, aber er hat sich im Rahmen seiner Möglichkeiten schlaugemacht und vom Zinnwaschen gehört. Wissen Sie, was das ist?«

»Ja.« Lynley sah an ihr vorbei, über ihre Schulter. Vielleicht sechzig, siebzig Meter entfernt stand ein alter Wohnwagen. Er war einmal weiß gewesen, jetzt aber mit einem Netz aus Rostspuren überzogen, die vom Dach und den Fensterrahmen herabzubluten schienen. In den Fenstern hingen schlaffe, vergilbte Vorhänge mit einem Blumenmuster. Ein verfallener Schuppen stand in der Nähe sowie ein winziges Gebäude mit einem Dach aus Teerpappe, das aussah wie ein Toilettenhäuschen. »Man sucht in einem Flussbett nach zinndurchzogenen Steinen und folgt dem Wasserlauf auf der Suche nach größeren Gesteinsbrocken.«

»Zinnstein, genau«, sagte Daidre. »Man folgt ihm, genauer gesagt, weiter bis zur eigentlichen Ader, aber wenn man die nicht findet, macht es eigentlich auch nichts, denn man hat ja immer noch das Zinn in den kleineren Steinen. Daraus kann man machen… was immer man will. Oder man verkauft es an Metallverarbeiter oder Schmuckhersteller, aber das Wichtigste ist: Man kann davon leben — sehr bescheiden, wenn man nur hart genug arbeitet und ein bisschen Glück hat. Das ist es jedenfalls, was dieser Vagabund beschließt zu tun. Natürlich macht es viel mehr Arbeit, als er angenommen hat, und es ist auch kein sehr gesundes Leben. Und es gibt Hindernisse: Gemeindeverwaltungen, die Regierung und alle möglichen Gutmenschen tauchen auf, um das Gelände zu inspizieren. Das bedeutet eine unwillkommene Ablenkung, also zieht der Vagabund schließlich weiter, bis er den richtigen Fluss in der richtigen Lage gefunden hat, ein bisschen versteckt, wo man ihn in Ruhe nach seinem Zinn suchen lässt. Aber wohin er auch geht, es gibt immer wieder Probleme, denn er muss drei Kinder und eine Frau ernähren, und da er den Unterhalt allein nicht bestreiten kann, müssen sie alle mit anpacken. Er beschließt, dass die Kinder zu Hause unterrichtet werden, damit sie nicht jeden Tag stundenlang ausfallen, weil sie zur Schule müssen. Seine Frau soll den Unterricht übernehmen. Aber das Leben ist hart, und zu diesem Unterricht kommt es nie. Und auch alles andere, was mit der Versorgung der Kinder zu tun hat, kommt viel zu kurz. Vernünftige Ernährung zum Beispiel. Oder ordentliche Kleidung. Impfungen gegen dieses oder jenes. Zahnärztliche Versorgung. Eigentlich alles. All die Dinge, die im Leben normaler Kinder selbstverständlich sind. Wenn ein Sozialarbeiter vorbeischaut, verstecken sich die Kinder, und weil die Familie gelegentlich weiterzieht, fallen sie schließlich durchs Netz, alle drei. Jahrelang. Als sie entdeckt werden, ist das älteste Mädchen dreizehn, die Zwillinge, Bruder und Schwester, sind zehn. Sie können weder lesen noch schreiben, ihre Haut ist mit einem grässlichen Ausschlag überzogen, sie haben schlechte Zähne, sie waren noch nie im Leben beim Arzt, und das Mädchen — ich meine die Große — hat keine Haare mehr. Sie sind nicht etwa abrasiert, sondern ausgefallen. Die Kinder werden der Familie sofort entzogen, mit großem Spektakel und Geschrei. Die Lokalzeitungen bringen die Story, natürlich mit Fotos. Die Zwillinge kommen zu einer Familie in Plymouth, die Dreizehnjährige kommt nach Falmouth. Dort wird sie schließlich von den Pflegeeltern adoptiert. Sie ist so… so angefüllt von deren Liebe, dass sie ihre Vergangenheit ganz und gar hinter sich lassen will. Sie ändert ihren Namen und sucht sich einen aus, den sie hübsch findet. Natürlich hat sie keine Ahnung, wie man ihn schreibt, buchstabiert ihn falsch, und ihre neuen Eltern finden das hinreißend. Also bleibt es bei Daidre, entscheiden sie. Willkommen in deinem neuen Leben, Daidre. Und sie kehrt nie zurück, um diejenige zu besuchen, die sie einmal war. Niemals. Sie lässt es hinter sich und spricht niemals davon, und niemand — kein Mensch in ihrem neuen Leben — weiß etwas davon, denn sie schämt sich so sehr dafür. Können Sie das verstehen? Nein, wie könnten Sie. Aber so ist es, und so bleibt es auch, bis eines Tages, nach vielen Jahren, ihre Schwester sie ausfindig macht und darauf besteht, sie anfleht, dass sie hierherkommt. Der letzte Ort der Welt, den zu besuchen sie ertragen kann. Der Ort, von dem niemand aus ihrem jetzigen Leben je erfahren soll, das hat sie sich einst geschworen.«

»Ist das der Grund, warum Sie Detective Inspector Hannaford über Ihre Route nach Cornwall belogen haben?«, fragte Lynley.

Daidre antwortete nicht. Sie öffnete die Tür, und Lynley tat es ihr gleich. Sie stiegen aus und betrachteten einen Moment das Heim, das sie vor achtzehn Jahren verlassen hatte. Außer dem Wohnwagen — der unvorstellbarerweise einmal fünf Menschen als Behausung gedient hatte — gab es nur einen windschiefen Schuppen, der die Geräte enthielt, die man brauchte, um Zinn zu gewinnen. Drei antike Schubkarren lehnten an der Wand, daneben zwei verrostete Fahrräder mit alten Satteltaschen. Irgendwann hatte jemand einmal ein paar Geranien in Tontöpfe gepflanzt, doch sie waren nicht sonderlich gediehen. Zwei der Töpfe waren umgestürzt und zerbrochen, und die Pflanzen lagen am Boden wie arme Seelen, die um ein gnädiges Ende flehten.

»Mein Name war Edrek Udy«, sagte Daidre. »Wissen Sie, was Edrek bedeutet, Thomas?«

Er musste verneinen. Er stellte fest, dass er nicht wollte, dass sie fortfuhr. Und es erfüllte ihn mit unendlicher Traurigkeit, dass er so gedankenlos in ein Leben eingebrochen war, das sie um jeden Preis hatte vergessen wollen.

»Edrek ist das kornische Wort für Reue«, sagte Daidre. »Kommen Sie, und lernen Sie meine Familie kennen.«


Jago Reeth schien nicht im Mindesten überrascht. Und ebenso wenig schien er beunruhigt. Er sah genauso aus wie beim ersten Mal, als Bea ihm bei LiquidEarth begegnet war: hilfsbereit. Sie fragte sich, ob sie sich im Irrtum befanden, was ihn betraf.

Natürlich könnten sie ihn sprechen, versicherte er. Sie sollten sich entweder zu ihm und seinem Freund in der Kaminecke gesellen, oder sie würden den Wirt um einen separaten Raum bitten müssen.

Bea erwiderte, sie würden die Unterhaltung lieber in der Polizeiwache in Casvelyn führen, wenn er nichts dagegen hätte.

Höflich entgegnete er: »Ich fürchte, dagegen habe ich in der Tat etwas. Nehmen Sie mich fest, Madam?«

Das "Madam" brachte sie ins Stocken. Es lag an der Art, wie er es sagte, so als glaube er, er habe hier die Oberhand.

»Denn wenn ich mich nicht irre, muss ich Ihre Einladung nicht annehmen«, fuhr er fort.

»Gibt es irgendeinen Grund, warum Sie lieber nicht mit uns sprechen wollen, Mr. Reeth?«

»Absolut nicht«, versicherte er. »Aber wenn wir uns unterhalten, muss es irgendwo sein, wo ich mich wohlfühle, und das wäre in einer Polizeiwache eher nicht der Fall, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Sein liebenswürdiges Lächeln entblößte Zähne, die von Tee und Kaffee verfärbt waren. »In mir schnürt sich alles zu, wenn ich zu lange drinnen bin. Und zugeschnürt kann ich gar nicht viel sagen. Und eines weiß ich: In einer Polizeiwache wäre ich wahrscheinlich ganz und gar zugeschnürt. Wenn Sie wissen, was ich meine.«

Bea verengte die Augen. »Tatsächlich?«

»Habe ein bisschen mit Platzangst zu tun.«

Reeths Gefährte sah gespannt von einem zum anderen und fragte schließlich dazwischen: »Was hat das zu bedeuten, Jago?«

»Möchten Sie Ihren Freund ins Bild setzen?«, schlug Bea vor.

Reeth antwortete: »Sie wollen mit mir über Santo Kerne reden. Schon wieder. Sie waren seinetwegen ja schon mal bei mir.« Und an Bea gewandt: »Aber ich bin gerne bereit, noch einmal über ihn zu sprechen. Sooft Sie wollen. Lassen Sie uns einfach nach draußen gehen… Da können wir entscheiden, wann und wo wir reden.«

Sergeant Havers wollte etwas sagen, aber Bea hielt sie mit einem Blick zurück. Noch nicht. Bea wollte abwarten, was Jago Reeth im Schilde führte. Entweder war er vollkommen ahnungslos oder erstaunlich gerissen. Bea glaubte zu wissen, was von beidem der Fall war.

Sie folgten ihm in den Windfang des Hotels; die Tür zur Bar fiel hinter ihnen zu, und der Wirt, der seine Gläser poliert und ihnen dabei neugierig nachgesehen hatte, verschwand aus ihrem Blickfeld. Selevan Penrule rief seinem Freund noch nach: »Sei vorsichtig, Kumpel.« Dann waren sie allein und ungestört.

Mit plötzlich veränderter Stimme nicht nur anders als noch vor einem Augenblick, sondern auch verändert gegenüber der Stimme, die er bei jeder ihrer früheren Begegnungen gehabt hatte, sagte Jago Reeth: »Ich fürchte, Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Nehmen Sie mich fest, Inspector?«

»Sollte ich das?«, konterte Bea. »Und danke, dass Sie das Theaterspielen eingestellt haben.«

»Bitte, Inspector. Halten Sie mich nicht für einen Dummkopf. Sie werden feststellen, dass ich meine Rechte besser kenne als die meisten. Man könnte tatsächlich sagen, ich habe meine Rechte eingehend studiert. Sie können mich also festnehmen, wenn Sie möchten, und beten, dass Sie genug in der Hand haben, um mich für sechs Stunden festzuhalten. Oder maximal neun, da Sie die Überprüfung erst nach den sechs Stunden vornehmen würden, richtig? Aber danach… Welcher Superintendent der Welt würde eine Befragung von vierundzwanzig Stunden genehmigen nach dem, was Ihre Ermittlungen bislang erbracht haben? Sie müssen sich also entscheiden, was Sie von mir wollen: Wenn Sie eine Unterhaltung wünschen, dann muss ich Sie davon in Kenntnis setzen, dass solch eine Unterhaltung nicht in einem geschlossenen Raum stattfinden wird. Wenn Sie mich hingegen einsperren wollen, muss ich auf der Anwesenheit eines Anwalts bestehen. Und ich würde vermutlich von meinem obersten Recht Gebrauch machen, das so viele derer vergessen, die hilfsbereit sein wollen.«

»Und das wäre?«

»Bitte stellen Sie sich nicht dumm. Sie wissen so gut wie ich, dass ich kein weiteres Wort zu Ihnen sagen müsste…«

»Ganz gleich wie das aussähe?«

»Offen gestanden, mir ist vollkommen egal, wie das aussähe. Also, was ziehen Sie und Ihre Assistentin hier vor? Eine offene Aussprache oder meinen wohlwollenden, aber schweigenden Blick auf Sie, den Fußboden oder die Wand des Verhörzimmers gerichtet? Und wenn es die Aussprache sein soll, werde ich bestimmen, wo sie stattfindet, nicht Sie.«

»Sie scheinen sich Ihrer selbst sehr sicher, Mr. Reeth. Oder soll ich Sie Mr. Parsons nennen?«

»Sie dürfen mich nennen, wie Sie wollen, Inspector.« Er rieb sich die Hände wie jemand, der sie nach dem Backen von Mehl oder nach der Gartenarbeit von überschüssiger Erde befreite. »Also. Was soll es sein?«

Wenigstens hatte sie die Antwort auf die Frage, ob unwissend oder gerissen, dachte Bea. »Wie Sie wünschen, Mr. Reeth. Sollen wir hier im Hotel nach einem separaten Raum fragen?«

»Ich weiß einen besseren Ort«, erwiderte er. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen, ich muss noch meine Jacke holen. Die Bar hat übrigens einen zweiten Ausgang, falls Sie also befürchten sollten, dass ich davonlaufen könnte, sollten Sie mitkommen.«

Bea nickte Sergeant Havers zu. Diese schien nur zu gewillt, sich an Jago Reeths Fersen zu heften. Die beiden verschwanden für den kurzen Moment, den er brauchte, um seine Sachen zu holen und seinem Freund in der Kaminecke zu sagen, was immer er für angebracht hielt. Dann kamen sie zurück, und Jago führte sie ins Freie. Sie werden das Auto nehmen müssen, um dorthinzugelangen, sagte er und fragte, ob eine der Beamtinnen ein Handy bei sich trage. Die Frage war ausgenommen höflich formuliert. Er schien genau zu wissen, dass sie Handys hatten. Sicher würde er als Nächstes verlangen, dass sie die Handys zurückließen, vermutete Bea, was unter keinen Umständen infrage kam. Aber dann äußerte er eine unerwartete Bitte.

»Ich hätte Mr. Kerne gerne dabei.«

»Das ist ausgeschlossen«, lehnte Bea kategorisch ab.

Wieder dieses Lächeln. »Oh, ich fürchte, das ist es keineswegs, Inspector Hannaford. Es sei denn, Sie wollen mich festnehmen und für die neun Stunden, die Sie haben, einsperren. Nun also zu Mr. Kerne…«

»Nein«, beharrte Bea.

»Eine kurze Fahrt nach Alsperyl. Ich versichere Ihnen, es wird ihm gefallen.«

»Ich werde Mr. Kerne nicht bitten…«

»Sie werden feststellen, dass er sich nicht lange wird bitten lassen. Sie müssen ihm nur ein Angebot machen: eine Unterhaltung über Santo mit Jago Reeth. Oder mit Jonathan Parsons, wenn Sie das vorziehen. Mr. Kerne wird die Gelegenheit nur zu gern wahrnehmen. Das würde jeder Vater, der wissen will, was genau an dem Tag oder in der Nacht passiert ist, als sein Sohn starb. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Inspector«, sagte Sergeant Havers eindringlich. Bea wusste, Havers wollte sie warnen: Geben Sie diesem Kerl keine Macht in die Hand. Nicht er bestimmt, wie die Dinge ablaufen, sondern wir tun das. Wir sind die Cops.

Aber das war inzwischen eine Spitzfindigkeit. Ganz sicher war Vorsicht geboten, doch diese Vorsicht würden sie in einem Szenario walten lassen müssen, das ihr Verdächtiger bestimmte. Das gefiel Bea nicht, aber sie sah keine Alternative, außer ihn ziehen zu lassen. Sie konnten ihn tatsächlich für neun Stunden in Gewahrsam nehmen, aber auch wenn neun Stunden in einer Zelle oder auch nur in einem Verhörzimmer ausreichten, um manch anderen zu entnerven und zum Reden zu bewegen, war sie doch ziemlich sicher, dass weder neun noch neunzig Stunden genug wären, um Jago Reeth dazu zu bringen.

Schließlich sagte sie: »Nach Ihnen, Mr. Reeth. Ich rufe Mr. Kerne vom Auto aus an.«


Im Innern des Wohnwagens befanden sich zwei Personen. Eine Frau lag in einer schmalen Koje unter einer ausgefransten Decke. Ihr Kopf ruhte auf einem unbezogenen Kissen, das von Schweißflecken gesäumt war. Die Frau war älter als er, erkannte Lynley, aber es war unmöglich zu sagen, wie alt. Sie war ausgemergelt, das Haar dünn, grau und ungekämmt. Ihre Haut wirkte kränklich, die Lippen waren rissig.

Die jüngere Frau, die bei ihr saß, hätte ebenso gut fünfundzwanzig wie vierzig sein können. Ihr Haar war sehr kurz, und die Farbe deutete auf Wasserstoffperoxyd hin. Sie trug einen langen Faltenrock mit einem gelb-blauen Karomuster, rote Kniestrümpfe und einen dicken Pullover, weder Schuhe noch Make-up. Als die Besucher eintraten, blinzelte sie in ihre Richtung, so als trüge sie normalerweise oder brauchte zumindest eine Brille.

»Mum«, verkündete sie schleppend. »Edrek ist gekommen.« Sie klang erschöpft. »Und sie hat einen Mann mitgebracht. Sie sind doch kein Arzt, oder? Du hast doch keinen Arzt hergebracht, Edrek? Ich hab dir doch gesagt, mit denen sind wir fertig.«

Die Frau in der Koje bewegte die Beine ein wenig, wandte aber nicht den Kopf. Sie blickte zu den Wasserflecken an der Decke auf, die wie Wolken aussahen, jeden Moment bereit, Rost auf sie herabzuregnen. Ihr Atem war flach und schnell, was deutlich an ihren Händen ablesbar war, die sie hoch auf der Brust gefaltet hatte, sodass sie in beunruhigender Weise an einen Leichnam erinnerte.

Daidre stellte die beiden Frauen vor: »Das ist Gwynder, meine jüngere Schwester. Und meine Mutter. Das heißt, meine Mutter bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr. Sie heißt Jen Udy.«

Lynley sah Daidre an. Sie sprach, als betrachteten er und sie eine Bühnenszene. »Thomas Lynley«, stellte er sich selbst vor. »Ich bin kein Arzt. Nur ein… Freund.«

»Vornehme Stimme«, bemerkte Gwynder und reichte der Frau in der Koje ein Glas. Es enthielt eine milchige Flüssigkeit. »Das musst du trinken, Mum.«

Jen Udy schüttelte den Kopf. Sie hob zwei Finger, ließ sie kraftlos wieder fallen.

»Wo ist Goron?«, fragte Daidre. »Und wo ist… euer Vater?«

»Er ist auch dein Vater, ob's dir nun passt oder nicht.« Gwynders Wortwahl hätte Verbitterung ausdrücken können, aber das tat sie nicht.

»Wo sind sie?«

»Wo sollen sie schon sein? Ist doch noch hell draußen.«

»Am Fluss oder im Schuppen?«

»Keine Ahnung. Wo auch immer. Mum, du musst das trinken. Tut dir gut.«

Die Finger hoben und senkten sich erneut. Sie bewegte den Kopf ein wenig, so als versuche sie, sich den Blicken der Besucher zu entziehen.

»Helfen sie dir denn nicht, sie zu versorgen, Gwynder?«, fragte Daidre.

»Hab ich dir doch erklärt. Wir können sie nicht mehr versorgen. Nur noch warten. Hier könntest du deinen Beitrag leisten.« Gwynder setzte sich oben neben dem fleckigen Kissen auf die Kante der Koje. Sie stellte das Glas auf ein Bord, das unter dem Fenster verlief. Die dünnen Vorhänge sperrten das Tageslicht aus und warfen einen gelbsüchtigen Schimmer auf Jen Udys Gesicht. Gwynder hob das Kissen mitsamt dem Kopf ihrer Mutter an und schob den Arm darunter. Dann griff sie wieder nach dem Glas. Sie setzte es Jen mit der einen Hand an die Lippen, mit der anderen, die den Kopf stützte, zwang sie ihr den Mund auf. Flüssigkeit rann hinein und wieder heraus. Die Halsmuskeln der Frau bewegten sich, als sie wenigstens einen Teil hinunterschluckte.

»Ihr müsst sie hier wegschaffen«, sagte Daidre. »Das hier tut ihr doch nicht gut! Und euch auch nicht. Es ist ungesund, kalt und elendig.«

»Meinst du, das wüsste ich nicht?«, konterte Gwynder. »Darum will ich sie ja nach…«

»Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass das etwas nützen würde.«

»Sie will es so.«

»Gwynder, sie ist doch gar nicht religiös. Wunder geschehen nur für Gläubige. Sie den ganzen Weg nach… Schau sie dir doch an! Sie hat keine Kraft mehr für die Reise. Sieh sie dir an, Herrgott noch mal!«

»Wunder passieren für alle. Und das ist es, was sie will. Was sie braucht. Wenn sie nicht hinfährt, stirbt sie.«

»Sie stirbt sowieso.«

»Ist es das, was du willst? Oh, ich schätze, das ist es. Du mit deinem vornehmen Freund da. Ich kann nicht fassen, dass du ihn hergebracht hast.«

»Er ist nicht mein… Er ist Polizist.«

Gwynder krallte eine Hand in ihren Pullover, als sie das hörte. »Warum hast du ihn…?« Und an Lynley gewandt, fügte sie hinzu: »Wir verstoßen gegen kein Gesetz. Sie können uns nicht wegjagen. Die Gemeindeverwaltung weiß Bescheid… Wir haben die Rechte des fahrenden Volkes. Wir stören niemanden.« Und zu Daidre: »Sind noch mehr da draußen? Bist du hier, um sie abzuholen? Sie wird nicht kampflos gehen. Sie fängt an zu schreien. Ich kann nicht fassen, dass du ihr das antust! Nach allem…«

»Wonach genau, Gwynder?« Daidres Stimme klang gepresst. »Nach allem, was sie für mich getan hat? Für euch? Für uns drei? Du scheinst ein sehr kurzes Gedächtnis zu haben.«

»Und deines reicht zurück bis zum Beginn der Zeit, ja?« Gwynder zwang noch einen Schluck der Flüssigkeit in den Mund ihrer Mutter. Das Ergebnis war das Gleiche wie zuvor. Ein Rinnsal floss über ihre Wange auf das Kissen. Gwynder versuchte mit wenig Erfolg, es wegzuwischen.

»Wir können sie in ein Hospiz bringen«, schlug Daidre vor. »Es muss hier nicht so weitergehen.«

»Und sie dort allein lassen? Ohne ihre Familie? Sie wegsperren und warten, bis wir Bescheid kriegen, dass sie tot ist? Also, da mach ich nicht mit. Und wenn du gekommen bist, um mir zu sagen, dass das alles ist, was du uns an Hilfe anzubieten hast, dann kannst du mitsamt deinem schicken Typen wieder abhauen. Wer er auch immer sein mag. Denn ein Cop ist der nicht. Cops reden nicht so.«

»Gwynder, nimm doch Vernunft an!«

»Verschwinde, Edrek! Ich hab dich um Hilfe gebeten, und du hast Nein gesagt. So sieht's aus, und wir werden damit fertig.«

»Ich bin bereit, innerhalb vernünftiger Grenzen zu helfen. Aber ich werde euch nicht nach Lourdes oder Medjugorje oder Knock oder wohin auch immer schicken, denn es ist unvernünftig, sinnlos — es gibt keine Wunder…«

»Gibt's ja wohl! Und ihr könnte eins passieren.«

»Sie stirbt! Sie hat Bauchspeicheldrüsenkrebs. Das überlebt niemand. Sie hat nur noch ein paar Wochen oder Tage oder vielleicht nur Stunden und… Willst du, dass sie so stirbt? Hier? In diesem Loch? Ohne Luft oder Licht oder ein Fenster, von dem aus sie das Meer sehen kann?«

»Mit Menschen, die sie lieben.«

»Hier gibt es keine Liebe. Die gab es nie.«

»Sag das nicht!« Gwynder fing an zu weinen. »Nur weil… nur weil… Sag so was nicht!«

Daidre machte einen Schritt auf sie zu, hielt dann aber inne. Sie legte eine Hand an den Mund. Durch ihre Brillengläser sah Lynley, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten.

»Dann lass uns unsere Wochen, Tage oder Stunden«, sagte Gwynder. »Verschwinde einfach.«

»Braucht ihr…«

»Verschwinde!«

Lynley legte die Hand auf Daidres Arm. Sie sah ihn an. Dann nahm sie die Brille ab und wischte sich mit dem Ärmel der Jacke über die Augen.

»Kommen Sie«, sagte er und schob sie behutsam in Richtung Tür.

»Gefühllose Fotze«, sagte Gwynder in ihrem Rücken. »Hörst du mich, Edrek? Du bist eine gefühllose Fotze. Behalt dein Geld! Behalt deinen Kerl! Behalt dein Leben! Wir brauchen dich nicht und wollen dich nicht, also komm nicht wieder her! Hast du mich gehört, Edrek? Ich hätte dich nie um Hilfe bitten dürfen. Komm nicht wieder her!«

Draußen vor dem Wohnwagen blieben sie stehen. Lynley sah, wie Daidres Körper bebte. Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Es tut mir so leid«, sagte er und drückte die Wange auf ihren Scheitel.

»Wer zum Teufel sind Sie?«, rief eine Stimme. Lynley fuhr herum. Zwei Männer waren aus dem Schuppen getreten. Das mussten Goron und Daidres Vaters sein, erkannte er. Sie eilten auf sie zu. »Was ist hier los?«, verlangte der ältere Mann zu wissen.

Der Jüngere sagte nichts. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Er kratzte sich ungeniert im Schritt, schniefte laut, und genau wie seine Zwillingsschwester blinzelte er kurzsichtig. Er nickte ihnen freundlich zu; nicht so sein Vater.

»Was wollen Sie hier?«, blaffte er. Sein Blick glitt von Lynley zu Daidre und zurück. Er schien sie genauestens unter die Lupe zu nehmen, aber ihre Schuhe aus irgendeinem Grunde ganz besonders. Lynley erkannte, warum, als sein Blick auf Udys Füße fiel. Der Mann trug Stiefel, die ihre besten Tage lange hinter sich hatten. Die Sohlen waren vorne eingerissen.

»Nur ein kurzer Besuch…« Daidre war einen Schritt beiseitegetreten, sodass Lynley den Arm von ihrer Schulter nehmen musste. Jetzt da sie ihrem Vater gegenüberstand, war keinerlei Ähnlichkeit zu ihm oder ihrem Bruder zu erkennen.

»Was wollen Sie hier?«, fragte Udy. »Wir brauchen hier keine Wohltäter. Wir haben es immer allein geschafft, und das tun wir auch jetzt. Also hauen Sie ab! Das hier ist Privatgelände, und wir haben ein Schild aufgestellt.«

Lynley ging auf, dass zwar die Frauen im Wohnwagen wussten, wer Daidre war, diese Männer hier hingegen nicht. Gwynder hatte ihre Schwester aus irgendeinem Grunde auf eigene Faust ausfindig gemacht, vielleicht weil sie wusste, dass ihre Mission hoffnungslos sein würde. Udy hatte indes keine Ahnung, dass er seine Tochter vor sich hatte. Doch als Lynley darüber nachdachte, erschien es ihm gar nicht so seltsam. Die Dreizehnjährige, die seine Tochter gewesen war, gehörte der Vergangenheit an. Die kultivierte, gebildete Frau, die neben ihm stand, war eine Fremde. Lynley wartete darauf, dass Daidre sich zu erkennen gab. Doch das tat sie nicht.

Stattdessen gab sie sich einen sichtlichen Ruck, nestelte am Reißverschluss ihrer Jacke, als suche sie Beschäftigung für ihre Hände, und dann sagte sie zu Udy: »Ja. Wir gehen.«

»Dann mal los«, trieb er sie an. »Wir haben hier einen Betrieb, und außerhalb der Saison wollen wir keine Besucher. Wir öffnen im Juni, und dann gibt's hier reichlich Steinchen zu kaufen.«

»Danke. Ich werde daran denken.«

»Und beachten Sie das Schild. Da steht: "Zutritt verboten", und das ist verdammt noch mal auch so gemeint. Der Zutritt bleibt so lange verboten, bis wir öffnen, kapiert?«

»Sicher. Wir haben verstanden.«

Tatsächlich hatte Lynley kein Schild gesehen, weder eines, das ihnen den Zutritt verboten hätte, noch einen Hinweis darauf, dass sich an diesem gottverlassenen Ort ein Betrieb befand. Aber es schien wenig sinnvoll, den Mann darauf aufmerksam zu machen. Es war klüger, sich davonzumachen und diesen Ort, seine Menschen und ihre Lebensweise hinter sich zu lassen. In diesem Moment begriff er, dass Daidre genau das hatte tun wollen und auch getan hatte. Und er verstand auch, welchen Kampf sie nun auszufechten hatte.

»Gehen wir«, sagte er, legte wieder den Arm um ihre Schultern und führte sie zum Wagen. Er fühlte die Blicke der beiden Männer im Rücken, und aus Gründen, die er nicht recht verstand, hoffte er, sie würden Daidre nicht im letzten Moment noch erkennen. Er wusste, was geschehen würde, falls das passierte. Gewiss nichts Bedrohliches — jedenfalls nicht in der Art, die man typischerweise als bedrohlich empfand. Hier lauerten andere Gefahren als nur die körperlicher Versehrtheit. Das emotionale Minenfeld etwa, das zwischen Daidre und diesen Menschen lag. Es drängte ihn, sie von diesem Ort wegzubringen.

Am Auto angekommen, bot Lynley an zu fahren. Doch Daidre schüttelte den Kopf. »Nein, nein«, widersprach sie. »Es geht schon.« Aber als sie eingestiegen waren, startete sie nicht sofort den Motor, sondern angelte ein Papiertaschentuch aus dem Handschuhfach und putzte sich die Nase. Dann legte sie die Arme auf das Lenkrad und blickte zurück auf den Wohnwagen in der Ferne.

»Jetzt verstehen Sie es vielleicht«, sagte sie.

Er antwortete nicht. Wieder war eine Haarsträhne vor ihre Brille gerutscht. Wieder wollte er sie wegstreichen. Wieder tat er es nicht.

»Sie wollen nach Lourdes. Sie hoffen auf ein Wunder. Sie haben nichts sonst, worauf sie hoffen können, aber eben auch kein Geld, um ihren Wunsch zu realisieren. Und da komme ich ins Spiel. Darum hat Gwynder mich ausfindig gemacht. Soll ich es für sie tun? Soll ich diesen Leuten vergeben, was sie getan haben? Wie wir gelebt haben? Was sie nicht sein konnten? Bin ich jetzt für sie verantwortlich? Was schulde ich ihnen denn bis auf das Leben selbst? Ich meine, die schiere Tatsache des Lebens, und nicht, was ich daraus gemacht habe. Und was bedeutet das denn eigentlich, der Frau etwas schuldig zu sein, die einen geboren hat? Das ist doch wohl nicht der schwierigste Teil am Muttersein, oder? Das glaube ich jedenfalls nicht. Aber den Rest, alles, was Elternschaft eigentlich ausmacht, haben sie total verhunzt.«

Schließlich berührte er sie doch. Er tat, was er sie selbst hatte tun sehen: Er strich ihr die Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Finger berührten ihr Ohr. Behutsam fragte er: »Warum sind Ihre Geschwister zurückgekommen? Wurden sie nicht adoptiert?«

»Es gab… Die Pflegeeltern nannten es einen Unfall. Angeblich hat Goron mit einer Plastiktüte gespielt, aber ich glaube, es steckte mehr dahinter. Ich vermute, es war eine schiefgegangene Disziplinarmaßnahme an einem hyperaktiven kleinen Jungen. Auf jeden Fall war er danach "beschädigt" und darum in den Augen der Menschen, die ihn kennenlernten, nicht adoptierbar. Gwynder hätte vielleicht Adoptiveltern gefunden, aber sie wollte um keinen Preis von ihm getrennt werden. Also zogen sie zusammen von Heim zu Heim, jahrelang. Als sie alt genug waren, kamen sie hierher zurück.« Mit einem freudlosen Lächeln sah sie ihn an. »Ich wette, dieser Ort — diese Geschichte ist nicht gerade das, was Sie gewöhnt sind.«

»Ich glaube nicht, dass das eine Rolle spielt.« Er wollte noch mehr sagen, wusste aber nicht, wie er es in Worte fassen sollte. Schließlich sagte er lediglich: »Wollen Sie mich nicht Tommy nennen, Daidre? Meine Familie und Freunde…«

Sie hob eine Hand. »Ich glaube nicht.«

»Wegen all dem hier?«

»Nein. Sondern weil es für mich sehr wohl eine Rolle spielt.«


Jago Reeths Worte waren unmissverständlich, als er Ben Kerne allein forderte, ohne jedwedes Anhängsel seiner Familie. Er schlug Hedras Hütte als Austragungsort vor, und er benutzte das Wort Austragungsort, als würde dort irgendeine Art Veranstaltung stattfinden.

Bea schimpfte ihn verrückt, wenn er tatsächlich glaubte, sie alle würden auf die Klippen hinauswandern, wo die alte Behausung stand.

Verrückt oder nicht, erwiderte er, wenn sie mit ihm reden wolle, gedenke er nun einmal, von seinen Rechten Gebrauch zu machen. Und als sie einwandte, zu seinen Rechten gehöre nicht, den Ort festzulegen, wo ihr Treffen mit Ben Kerne stattfinden solle, lächelte er nur und sagte, da sei er anderer Ansicht. Es mochte nicht sein verbrieftes Recht sein, aber sie wolle doch gewiss, dass er redete. Und der richtige Ort zum Reden sei Hedras Hütte. Dort hätten sie es schön gemütlich. Geschützt vor Kälte und Wind. Warm und kuschelig.

»Er hat ein Ass im Ärmel«, lautete Sergeant Havers' Einschätzung der Lage, als sie Jago Reeths Defender in Richtung Alsperyl folgten. Sie würden an der Dorfkirche auf Mr. Kerne warten. »Rufen Sie lieber den Superintendent an, und lassen Sie ihn wissen, wohin wir fahren«, fuhr Havers fort. »Fordern Sie Verstärkung an. Die Jungs von der Wache… Es muss doch irgendeine Möglichkeit geben, wie sie sich in der Nähe der Hütte verstecken können.«

»Nur wenn sie sich als Kühe, Schafe oder Möwen tarnen«, entgegnete Bea. »Dieser Kerl hat alle Eventualitäten bedacht.«

Lynley ging nicht ans Handy, stellte Bea fest. Sie verfluchte ihn und fragte sich, wozu sie ihm überhaupt ein Telefon besorgt hatte. »Wo ist dieser schreckliche Mensch denn jetzt schon wieder hinverschwunden?«, fragte sie und antwortete sich dann selbst mit der grimmigen Feststellung: »Ich wette, wir kennen die Antwort, nicht wahr?«

Alsperyl lag nicht weit vom Salthouse Inn entfernt. Sie parkten in der Nähe der Kirche und blieben in ihren Autos sitzen. Als Ben Kerne schließlich zu ihnen stieß, waren sie bereits eine knappe halbe Stunde dort. In der Zwischenzeit hatte Bea die Wache angerufen, um dort mitzuteilen, wo sie hinwollten, und zuvor Ray aus demselben Grund. Ray war außer sich gewesen: »Beatrice, hast du den Verstand verloren? Ist dir eigentlich klar, wie regelwidrig das ist?«

»Sonnenklar«, hatte sie ihm versichert. »Aber ich stehe mit völlig leeren Händen da, es sei denn, dieser Kerl gibt mir irgendetwas, womit ich weiterkomme.«

»Du glaubst doch nicht, dass er die Absicht hat…«

»Ich habe keine Ahnung, was seine Absichten sind. Aber wir werden zu dritt sein, er allein, und wenn wir damit nicht fertig werden…«

»Du filzt ihn aber vorher?«

»Ich mag ein Idiot sein, Ray, aber kein Vollidiot.«

»Ich finde heraus, wer in der Gegend auf Streife ist, und schicke ihn dir.«

»Tu das nicht! Wenn ich Verstärkung brauche, kann ich sie in Casvelyn anfordern.«

»Mir ist egal, was du kannst oder nicht kannst. Ich denke dabei auch an Pete. Und wenn du's genau wissen willst, an mich selbst denke ich ebenso. Ich werde keine Ruhe haben, wenn ich nicht weiß, dass du vernünftige Verstärkung hast. Gott, das ist so regelwidrig…«

»Das sagtest du bereits.«

»Wer ist im Moment bei dir?«

»Sergeant Havers.«

»Die Frau? Wo zum Henker ist Lynley? Und was ist mit diesem Sergeant von der Wache? Er schien ganz brauchbar. Um Himmels willen, Bea…«

»Ray! Dieser Mann ist ungefähr siebzig. Er hat irgendeine Art Schüttellähmung. Wenn wir mit ihm nicht fertig werden, dann sollte man uns alle aufs Altenteil schicken.«

»Trotzdem…«

»Wiedersehen, Liebling.« Sie hatte die Verbindung getrennt und das Handy zurück in die Tasche gestopft, sich dann aber eines Besseren besonnen und auch Sergeant Collins und Constable McNulty Bescheid gegeben. Dann fuhr Ben Kerne vor.

Er stieg aus dem Wagen und schloss den Reißverschluss seiner Windjacke bis zum Kinn. Verwirrt sah er zu Jagos Defender hinüber. Dann entdeckte er Bea und Barbara Havers in dem Wagen, der an der flechtenbewachsenen Friedhofsmauer stand, und kam zu ihnen herüber. Sie stiegen aus, und Jago Reeth folgte ihrem Beispiel.

Bea sah, dass Jago Reeths Blick auf Santo Kernes Vater fixiert war. Der Ausdruck von Liebenswürdigkeit, den er im Salthouse Inn an den Tag gelegt hatte, war verschwunden. Jetzt glomm es in seinen Augen. Es war der Blick eines kampferprobten Kriegers, der endlich den Nacken seines Feindes unter dem Fuß und die Schwertklinge an seine Kehle gelegt hatte.

Jago Reeth sprach zu keinem von ihnen. Er nickte lediglich zu der kleinen Schwingtür am Westende des Parkplatzes, gleich neben dem Schaukasten der Kirchengemeinde.

»Wenn wir Sie begleiten sollen, Mr. Reeth, dann habe ich auch eine Bedingung.«

Er zog eine Braue in die Höhe, offenbar die einzige Art von Kommunikation, zu der er bereit war, bis sie sein avisiertes Ziel erreicht hatten.

»Legen Sie die Hände auf den Kofferraum, und spreizen Sie die Beine. Und glauben Sie mir, ich habe kein Interesse daran festzustellen, wie dick Ihre Eier sind.«

Jago folgte ihrem Befehl. Havers und Bea tasteten ihn ab. Seine einzige Waffe war ein Kugelschreiber. Havers warf ihn über die Friedhofsmauer. Mit einem verächtlichen Ausdruck schien er sie zu fragen: Na? Zufrieden?

»Gehen Sie weiter!«, forderte Bea ihn auf, und er schritt auf das Schwingtörchen zu. Er wartete nicht, um zu sehen, ob sie ihm folgten. Er schien sich dessen vollkommen sicher.

Ben Kerne fragte Bea: »Was geht hier vor? Warum haben Sie mich gebeten… Wer ist das, Inspector?«

»Sie kennen Mr. Reeth nicht?«

»Das ist Jago Reeth? Santo hat hin und wieder von ihm erzählt. Es ist der alte Surfer, der bei Madlyns Vater arbeitet. Santo mochte ihn gern. Aber ich bin ihm bis heute nie begegnet.«

»Ich bezweifle, dass er ein Surfer ist, obwohl er den Fachjargon beherrscht. Kommt er Ihnen überhaupt nicht bekannt vor?«

»Sollte er das?«

»Vielleicht unter dem Namen Jonathan Parsons?«

Ben Kerne öffnete den Mund, sagte aber nichts. Sein Blick wanderte zurück zu Reeth, der durch die Schwingtür trat. »Wohin geht er?«

»Dorthin, wo er gewillt ist zu reden. Mit uns und mit Ihnen.« Bea legte ihm die Hand auf den Arm. »Aber Sie müssen ihn nicht anhören. Sie müssen auch nicht mitgehen. Seine Bedingung für ein Gespräch mit uns war Ihre Anwesenheit, aber mir ist klar, dass das ebenso verrückt wie gefährlich ist. Doch er hat uns — ich meine die Polizei, nicht Sie — in der Hand, und der einzige Weg, ein Wort aus ihm herauszubekommen, ist im Moment, nach seiner Pfeife zu tanzen.«

»Am Telefon haben Sie den Namen Parsons nicht erwähnt.«

»Ich wollte nicht, dass Sie wie ein Irrer hierherfahren. Und ich will auch jetzt nicht, dass Sie die Fassung verlieren. Wir haben es hier schon mit einem Verrückten zu tun; ein zweiter wäre einfach zu viel. Mr. Kerne, ich kann Ihnen nicht sagen, wie weit ich mich mit dieser Vorgehensweise aus dem Fenster lehne, darum versuche ich es gar nicht erst. Sind Sie in der Lage anzuhören, was er zu sagen hat? Und vor allem: Sind Sie gewillt?«

»Hat er…?« Kerne schien nach einer Formulierung zu suchen, die das, was er sagen musste, zu keiner Tatsache machte, die er würde akzeptieren müssen. »Hat er Santo getötet?«

»Darüber werden wir mit ihm reden. Schaffen Sie das?«

Er nickte. Er vergrub die Hände in den Jackentaschen und bekundete mit einer Kopfbewegung, dass er bereit war. Sie stießen das Schwingtörchen auf.

Jenseits davon lag eine Kuhweide, und der Weg zum Meer führte an einem Stacheldrahtzaun entlang. Er war schlammig und uneben. Traktorenräder hatten tiefe Furchen hineingezogen. An die Weide grenzte eine zweite, abgeteilt durch einen weiteren Stacheldrahtzaun und wiederum ein Schwingtörchen. Ihr Fußmarsch betrug etwa eine halbe Meile und führte sie schließlich zum Küstenpfad, der die zweite Weide hoch über dem Meer kreuzte.

Der auflandige Wind war hier stark und kam in anhaltenden Böen, auf denen Seevögel dahinglitten. Dreizehenmöwen schrien und erhielten Antwort von Silbermöwen. Eine einsame Krähenscharbe schoss aus der Felswand empor, als Jago Reeth sich dem Rand der Klippe näherte. Der Vogel stieß hinab, stieg wieder auf und begann zu kreisen. Bea sah, wie er im aufgewühlten Wasser nach Beute suchte.

Sie folgten dem Küstenpfad in südlicher Richtung, aber nach zwanzig Metern fand sich eine Lücke im Ginster, der zwischen dem Weg und dem Abgrund wuchs, und dort begann eine steile Felstreppe. Hier sollte es hinuntergehen, erkannte Bea, als Jago Reeth den Abstieg begann.

»Warten Sie einen Moment«, sagte sie zu ihren Begleitern und ging voran, um herauszufinden, wohin die Treppe führte. Vermutlich zum Strand, der etwa sechzig Meter unterhalb der Klippe lag. Sie war entschlossen, Jago Reeth zu sagen, sie werde hier weder ihr Leben noch das von Havers oder Ben Kerne riskieren, indem sie ihm auf solch einer gefährlichen Route zum Meer hinabfolgten. Doch sie stellte fest, dass die Treppe nur fünfzehn Stufen abwärts führte und in einem weiteren Pfad mündete, der schmal und an beiden Seiten dicht mit Ginster und Riedgras bewachsen war. Auch dieser Weg führte nach Süden, aber nur ein kurzes Stück. Die uralte Hütte, die zum Teil in die Klippe hineingebaut war, war von ihrem Standpunkt aus bereits zu sehen. Jago Reeth hatte soeben die Tür erreicht und stemmte sie auf. Dann sah er reglos zu Bea zurück. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment, ehe er das alte Häuschen betrat.

Bea kehrte zum Küstenpfad zurück und rief gegen das Tosen des Windes, des Meeres und gegen das Geschrei der Vögel an: »Er ist gleich da unten in der Hütte. Gut möglich, dass er dort irgendwas versteckt hat, also gehe ich zuerst rein. Sie können auf dem Pfad warten, aber kommen Sie nicht näher, bis ich Ihnen ein Zeichen gebe!«

Sie ging die Treppe hinab und den Pfad entlang. Der Ginster kratzte ihr über die Hosenbeine. Schließlich erreichte sie die Hütte und stellte fest, dass Jago Reeth in der Tat Vorbereitungen für diesen Moment getroffen hatte. Allerdings nicht, indem er sich bewaffnet hatte: Er oder irgendjemand anderes hatte einen Campingkocher, einen Wasserkanister und eine kleine Kiste mit Vorräten in die Hütte geschafft. So unglaublich es schien: Der Mann kochte Tee.

Die Hütte war aus dem Treibholz verunglückter Schiffe gebaut, von denen es im Laufe der Jahrhunderte zahllose gegeben hatte. Es war ein kleines Gebäude, eine Bank umlief drei der Wände, und der Steinfußboden war uneben. Seit jeher hatten Menschen ihre Initialen in die Wände geritzt, sodass sie inzwischen aussahen wie eine hölzerne Ausgabe des Steins von Rosette. In diesem Falle jedoch waren die Inschriften auf einen Blick zu entziffern und sprachen von Liebespaaren ebenso wie von Menschen, deren innere Nichtigkeit sie bewog, eine äußerliche Ausdrucksform zu finden, um ihrer Existenz Bedeutung zu verleihen.

Bea forderte Reeth auf, von dem Campingkocher zurückzutreten, was er bereitwillig tat. Sie nahm den Kocher ebenso in Augenschein wie die spärlichen Vorräte: Plastikbecher, Zucker, Tee, Milchpulvertütchen und ein Löffel für alle. Sie war überrascht, dass der alte Knabe nicht auch für Teekuchen gesorgt hatte.

Rückwärts trat sie aus der Tür und winkte Havers und Ben Kerne zu sich. Als sie alle vier im Innern der Hütte standen, war kaum genug Platz, sich zu rühren. Dennoch gelang es Jago Reeth, seinen Tee zu kochen, und er drängte wie die Gastgeberin einer Hausparty in König Edwards Zeiten jedem von ihnen einen Becher auf. Dann erstickte er die Flamme und stellte den Kocher auf den Steinboden unter der Bank, vielleicht um sie wissen zu lassen, dass es nicht seine Absicht war, ihn als Waffe einzusetzen. Das veranlasste Bea, ihn nochmals zu filzen, um auf Nummer sicher zu gehen. Da er den Kocher vor ihrer Ankunft in die Hütte gebracht hatte, konnte man schließlich nicht wissen, was er hier noch alles deponiert hatte. Doch er war so unbewaffnet wie zuvor.

Nachdem sie die Doppeltür geschlossen und verriegelt hatten, drangen die Laute von Wind und Möwen nur noch gedämpft zu ihnen durch. Die Atmosphäre war beinah klaustrophobisch; kaum ein Wort war bislang gesprochen worden. »Nun haben Sie uns hierher gelotst, Mr. Reeth«, eröffnete Bea schließlich die Runde. »Was haben Sie uns zu sagen?«

Er hielt seinen Teebecher in beiden Händen. Er nickte, aber es war nicht Bea, sondern Ben Kerne, zu dem er sprach, und sein Tonfall war freundlich. »Einen Sohn zu verlieren, ist das Schlimmste, was einem Mann passieren kann. Sie haben mein tiefes Mitgefühl.«

»Jedes Kind zu verlieren, ist ein schwerer Schlag.« Ben Kerne klang misstrauisch. Es schien Bea, als versuche er, Jago Reeth und die Gedanken hinter dessen Worten zu durchschauen. Die Luft schien vor Spannung zu knistern. Es sah fast wie eine Verlegenheitsgeste aus, als Sergeant Havers ihr Notizbuch hervorholte und es aufschlug. Bea rechnete schon damit, dass Reeth sie auffordern würde, es wieder wegzustecken, doch stattdessen nickte der alte Mann und sagte: »Ich habe nichts dagegen.« Und an Kerne gewandt: »Sie?« Als Ben den Kopf schüttelte, fügte Jago hinzu: »Meinetwegen könnten Sie sogar verwanzt sein, Inspector. Eine Situation wie diese muss schließlich dokumentiert werden.«

Er hatte wirklich an alles gedacht. Doch noch hoffte Bea darauf, einen Winkel zu erkennen, zu hören oder zu spüren, den er vergessen hatte zu berücksichtigen. Es musste ihn geben, und sie wollte bereit sein, sich darauf zu stürzen, wenn er zutage trat.

»Fahren Sie fort«, sagte sie.

»Aber es ist noch schlimmer, wenn man einen Sohn verliert«, sagte Jago Reeth zu Ben Kerne. »Anders als eine Tochter trägt der Sohn den Namen weiter. Er ist das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und letzten Endes ist es weit mehr als nur der Name. Er trägt den Sinn — von allem in sich. Den Grund hierfür…« Er sah sich in der Hütte um, als enthielte sie die ganze Welt und die Milliarden von Leben auf dieser Welt.

»Ich bin nicht sicher, ob es für mich diese Unterscheidung gibt«, erwiderte Ben Kerne. »Jeder Verlust… eines Kindes… ganz gleich welches Kindes…« Er räusperte sich und verstummte dann.

Jago Reeth wirkte zufrieden. »Einen Sohn durch Mord zu verlieren, ist jedenfalls entsetzlich, nicht wahr? Die Tatsache seiner Ermordung ist fast so schlimm, wie den Namen des Mörders zu kennen, aber keinen Finger rühren zu können, um den verdammten Scheißkerl seiner gerechten Strafe zuzuführen.«

Kerne blieb stumm. Auch Bea und Barbara Havers schwiegen. Nach einer Weile stellte Kerne den Teebecher, von dem er keinen Schluck genommen hatte, behutsam auf die Erde. Aus dem Augenwinkel sah Bea, dass Havers an ihrer Seite sich regte.

»Das ist furchtbar«, fuhr Jago fort. »Genau wie die Ungewissheit.«

»Ungewissheit in Bezug worauf, Mr. Reeth?«, fragte Bea.

»In Bezug auf die Hintergründe der Tat. Auf den Hergang. Ein Mann kann den Rest seines Lebens damit verbringen, sich nachts schlaflos im Bett zu wälzen und zu rätseln, zu fluchen und zu wünschen. Ich nehme an, Sie wissen, was ich meine. Wenn Sie es jetzt noch nicht wissen, werden Sie es jedenfalls herausfinden. Es ist die Hölle auf Erden, und es gibt kein Entkommen. Ich fühle mit Ihnen, Mann. Bei dem, was Sie jetzt durchmachen, und bei dem, was noch kommen wird.«

»Danke«, sagte Ben Kerne leise. Bea sah seine weißen Knöchel und musste ihn für seine Beherrschung bewundern.

»Ich kannte Ihren Santo. Netter Junge. Ein bisschen großspurig, wie alle Jungen in dem Alter, aber nett. Und seit diese Tragödie passiert ist…«

»Seit er ermordet wurde«, verbesserte Bea ihn.

»Mord ist eine Tragödie, Inspector«, entgegnete Reeth. »Selbst wenn ihr Polizisten einen Mordfall für eine Schnitzeljagd halten mögt. Es ist eine Tragödie, und wenn sie einen trifft, besteht die einzige Hoffnung auf Frieden darin zu wissen, was passiert ist, und auch anderen die Wahrheit mitteilen zu können. Falls Sie wissen, was ich meine«, fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu. »Und weil ich Santo kannte, habe ich mir wieder und wieder den Kopf darüber zerbrochen, was dem Jungen passiert sein könnte. Und ich habe beschlossen, wenn ein alter, abgehalfterter Knacker wie ich Ihnen ein bisschen Frieden geben kann, Mr. Kerne, dann bin ich es Ihnen schuldig.«

»Sie schulden mir überhaupt nichts…«

»Wir alle schulden einander etwas«, fiel Jago ihm ins Wort. »Das zu vergessen, ist es, was uns die Tragödien beschert.« Er hielt inne, als wolle er diesen Worten besonderen Nachdruck verleihen. Er leerte seinen Becher und stellte ihn neben sich auf die Bank. »Was ich darum tun will, ist, Ihnen zu sagen, was meiner Meinung nach mit Ihrem Jungen passiert ist. Denn ich habe darüber nachgedacht, verstehen Sie, und ich bin sicher, das haben Sie auch, genau wie die Cops hier. Wer würde einem so netten Jungen so etwas antun?, habe ich mich tagelang gefragt. Und wie hat er es angestellt? Und warum?«

»Aber nichts von alldem bringt Santo zurück, oder?«, fragte Ben Kerne.

»Natürlich nicht. Aber das Wissen… es letzten Endes voll und ganz zu verstehen… Ich wette, darin liegt Frieden, und den habe ich Ihnen zu bieten. Frieden. Also hier ist, was ich glaube…«

»Nein. So wird es nicht laufen, Mr. Reeth.« Bea ahnte plötzlich, was Reeth vorhatte, und mit dieser Ahnung kam ihr die Erkenntnis, wohin es führen würde.

Doch Ben Kerne ging dazwischen: »Lassen Sie ihn bitte fortfahren. Ich will ihn anhören, Inspector.«

»Das gibt ihm die Möglichkeit…«

»Bitte, lassen Sie ihn weiterreden!«

Höflich, fast schon liebenswürdig wartete Reeth auf Beas Einwilligung. Sie nickte knapp, aber sie war nicht glücklich. Das Ganze war nicht mehr nur regelwidrig und verrückt, sondern auch noch geradezu anmaßend provokant.

»Ich habe mir Folgendes überlegt«, begann Jago Reeth. »Jemand hat da eine offene Rechnung, und er beschließt, dass es Ihr Junge sein soll, der sie bezahlt. Was für eine Rechnung?, fragen Sie sich. Könnte alles Mögliche sein, oder? Eine Rechnung aus jüngster Zeit, eine uralte Rechnung; es spielt keine Rolle. Aber irgendwann muss abgerechnet werden, und Santo soll die Zeche zahlen. Also macht dieser Mörder — könnte ein Mann sein oder eine Frau, auch das spielt keine Rolle, denn das Entscheidende ist der Junge und die Tatsache, dass der Junge tot ist, verstehen Sie, und das ist etwas, was Cops wie diese beiden hier immer vergessen… Der Mörder schließt also Bekanntschaft mit Ihrem Jungen, denn ihn zu kennen, bedeutet, Zugang zu ihm zu haben. Und den Jungen zu kennen, liefert auch die Mittel zur Tat, denn Ihr Sohn ist von der offenherzigen Sorte und redet gern. Über alles Mögliche, aber wie sich herausstellt, redet er vor allem über seinen Vater. So wie es die meisten Jungen tun. Er erzählt, dass sein Vater ihm ständig zusetzt: wegen aller möglichen Sachen, aber vor allem, weil er dem Surfen und Frauen den Vorzug gibt vor einem geregelten Leben. Wer kann ihm daraus schon einen Vorwurf machen? Er ist ja erst achtzehn! Doch sein Vater hat eigene Ziele für seinen Sohn, was dazu führt, dass der Junge rebelliert und redet und noch ein bisschen mehr rebelliert. Und das bringt ihn dazu, nach… Wie nennt man so jemanden?… nach einem stellvertretenden Vater zu suchen…«

»Ersatzvater.« Bens Stimme klang belegt.

»Das ist der richtige Ausdruck. Oder vielleicht auch eine Ersatzmutter. Oder… irgendeine andere Art Ersatz. Priester. Beichtvater. Priesterin. Was auch immer. Auf jeden Fall sieht diese Person Mann oder Frau, jung oder alt, wie sich die Tür des Vertrauens öffnet, und marschiert geradewegs hindurch, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Er ließ sich alle Optionen offen, schloss Bea. Er war kein Dummkopf, wie er selbst gesagt hatte, und der Vorteil, den er in dieser Situation hatte, waren all die Jahre, die er darüber hatte nachdenken können, welchen Ansatz er wählen sollte, wenn der Zeitpunkt endlich gekommen war.

»Also, diese Person — nennen wir sie in Ermangelung eines besseren Begriffs den Beichtvater — kocht becherweise Tee und heiße Schokolade und noch mehr Tee und noch mehr Schokolade und tischt Kekse auf, aber noch wichtiger: Er bietet Santo einen Platz, wo er tun kann, was er will, und sein kann, wer er will. Und dann wartet der Beichtvater. Und bald geht ihm auf, dass ihm die Mittel zur Verfügung stehen, die Rechnung, die da noch aussteht, zu begleichen. Der Junge ist schon wieder mit seinem Vater aneinandergeraten. Es ist ein Streit, der zu nichts führt, wie immer, aber dieses Mal hat der Junge seine ganze Kletterausrüstung von ihrem üblichen Aufbewahrungsort geholt, wo sie jahrelang gleich neben der des Vaters gehangen hatte, und in seinen Kofferraum gepackt. Was hat er vor? Es ist die klassische Reaktion: Ich werd's ihm zeigen! Ich zeig ihm, was für ein Kerl ich bin. Er denkt, ich bin eine Null, aber ich zeig's ihm. Und was könnte besser sein, als ihn in seiner eigenen Disziplin zu schlagen? Das bringt die Kletterausrüstung in Reichweite des Beichtvaters, und der sieht, was wir einmal… den Weg nennen wollen.«

Bea sah, wie Ben Kerne den Kopf senkte, und sprach ihn an: »Mr. Kerne, ich glaube, es ist…«

»Nein«, unterbrach er sie, und unter Mühen richtete er sich wieder auf. »Weiter!«

»Der Beichtvater wartet nur noch auf die richtige Gelegenheit, die sich schließlich einstellt. Denn der Junge ist vertrauensselig und nachlässig mit seinem Eigentum, auch mit seinem Auto. Es ist nicht schwierig hineinzugelangen, denn es ist niemals abgeschlossen, und mit einem Handgriff öffnet sich der Kofferraum, und da liegt alles. Die richtige Auswahl ist der Schlüssel. Vielleicht ein Klemmkeil oder Karabiner. Oder eine Schlinge. Selbst die Gurte wären geeignet. Oder vielleicht alles auf einmal? Nein, das wäre vermutlich zu viel des Guten. Die Schlinge wäre überhaupt kein Problem, denn die ist aus Nylon und ließe sich mit einer Schere, einem scharfen Messer, einer Rasierklinge oder womit auch immer durchtrennen. Mit den anderen Utensilien wäre es ein bisschen schwieriger. Denn bis auf das Seil und das Seil wäre eine gar zu offensichtliche und augenfällige Option — besteht alles aus Metall, also brauchte man ein Schneidewerkzeug. Aber wie sollte man da drankommen? Kaufen? Nein. Das ließe sich zurückverfolgen. Leihen? Auch da gilt: Irgendjemand würde sich daran erinnern. Eines benutzen, ohne dass der Eigentümer es mitbekäme? Das wäre schon eher möglich und auf jeden Fall klüger; aber woher nehmen? Von einem Freund, Bekannten oder am Arbeitsplatz? Bei irgendwem, dessen Tagesablauf einem genauestens bekannt ist, weil man ihn akribisch beobachtet hat? Alles denkbar, richtig? Der Beichtvater muss also nur den passenden Moment abwarten, und schon ist es passiert. Ein Schnitt reicht, und hinterher ist nichts davon zu sehen, weil der Beichtvater, wie gesagt, kein Dummkopf ist, und er weiß oder sie, denn wir wollen nicht vergessen, dass es ebenso gut eine Frau sein könnte, dass es allesentscheidend ist, keine Beweise zu hinterlassen. Das Beste an der Sache aber ist, dass der Junge seine Ausrüstung selbst mit Klebeband markiert hat. Oder vielleicht hat das sogar sein Vater getan. Jedenfalls ist sie dadurch von dem Kletterzeug aller anderen Leute einfach zu unterscheiden. Die meisten Kletterer tun das, sie markieren ihre Ausrüstung, weil sie so oft zu mehreren klettern gehen. Zusammen zu klettern, ist sicherer, verstehen Sie? Und all das sagt dem Beichtvater, dass so gut wie keine Gefahr besteht, dass irgendjemand anderes außer der Junge selbst diese Schlinge, diesen Karabiner oder jenes Gurtzeug hernehmen wird. Oder was immer es war, das manipuliert wurde; denn ich weiß es natürlich nicht. Aber ich habe mir das hier überlegt: Das Einzige, womit der Beichtvater wirklich aufpassen muss, ist das Klebeband, mit dem die Teile markiert worden sind. Wenn er oder sie neues Band nachkaufen muss, besteht die Gefahr, dass es nicht absolut identisch ist oder zurückverfolgt werden kann. Keine Ahnung wie, aber die Chance besteht, also ist es wichtig, darauf zu achten, das schon vorhandene Klebeband herzunehmen. Es gelingt dem Beichtvater tatsächlich, und das ist gar nicht einfach, denn dieses Band ist steif, wie Isoliertape. Er oder sie, wie gesagt, klebt es hinterher einfach wieder drüber. Vielleicht hält es nicht mehr so gut wie vorher, aber wenigstens ist es dasselbe Band, sodass es dem Jungen vermutlich nicht auffallen wird. Oder falls doch, was wird er wohl tun? Es andrücken und vielleicht noch ein Stück darüberkleben. Also, nachdem all das bewerkstelligt und die Ausrüstung wieder an Ort und Stelle ist, muss man nur noch warten. Und nachdem dann passiert ist, was passiert ist und es ist eine Tragödie, daran gibt es keinen Zweifel, bleibt nichts, was man nicht irgendwie logisch erklären könnte.«

»Irgendetwas gibt es immer, Mr. Reeth«, widersprach Bea.

Jago betrachtete sie mit Nachsicht. »Fingerabdrücke auf dem Kofferraumdeckel? Im Auto? Auf den Wagenschlüsseln? Im Innern des Kofferraums? Der Beichtvater und der Junge haben viele Stunden miteinander verbracht, vielleicht sogar zusammen gearbeitet bei… sagen wir, im Hotel seines Vaters. Jeder ist mal im Wagen des anderen mitgefahren, sie waren befreundet, sie waren Kumpel, sie waren Ersatzvater und Ersatzsohn füreinander, sie waren Ersatzmutter und Ersatzsohn, sie waren Ersatzbrüder, sie waren ein Liebespaar oder was auch immer. Es spielt keine Rolle, verstehen Sie? Denn es lässt sich alles erklären. Ein Haar im Kofferraum? Gehört es dem Beichtvater? Oder jemand anderem? Dafür gilt das Gleiche. Der Beichtvater kann absichtlich das Haar eines anderen dort platziert haben oder sogar sein eigenes oder ihr eigenes, denn wie wir bereits festgehalten haben, könnte es ja auch eine Frau gewesen sein. Wie steht es mit Fasern? Kleidungsfasern… vielleicht auf dem Klebeband, mit dem die Ausrüstung markiert war. Wäre das nicht wunderbar? Aber der Beichtvater könnte geholfen haben, die Ausrüstung zu markieren, oder er hat sie angefasst, weil… weil der Kofferraum auch für andere Zwecke benutzt wurde — vielleicht für eine Surfausrüstung, und darum musste das ganze Zeug gelegentlich ein- und wieder ausgeladen werden. Und wie steht es mit dem Zugang zur Kletterausrüstung? Den hatte jeder. Jede Person im Umfeld des armen Jungen. Und das Motiv? Tja, es scheint, auch das hatte so ziemlich jeder. Am Ende gibt es also keine Antwort. Nur Spekulationen, aber keine beweisbaren Fakten für den Staatsanwalt, was der Mörder vermutlich als das Beste an seinem Verbrechen ansieht, aber in Wahrheit ist es wie Sie und ich wissen, Mr. Kerne, die schier unerträgliche Grausamkeit daran: Denn der Mörder kommt ungeschoren davon. Jeder weiß, wer es getan hat, jeder. Alle schütteln den Kopf und sagen: Was für eine Tragödie. Was für ein sinnloser, frustrierender…«

»Ich glaube, es reicht, Mr. Reeth. Oder Mr. Parsons«, sagte Bea.

»… Horror, dass der Mörder einfach davonkommt, nachdem er oder sie, versteht sich — die Tat begangen hat.«

»Ich sagte, es reicht.«

»Und die Polizei kommt einfach nicht an den Mörder heran. Das Einzige, was die Cops tun können, ist dasitzen und Tee trinken und warten und hoffen, dass sie irgendwann irgendwo irgendetwas finden… Aber sie sind ja immer so beschäftigt. Sie haben andere Fälle zu lösen. Also schieben sie Sie beiseite und sagen, rufen Sie uns nicht jeden Tag an, Mann, denn wenn ein Fall erst einmal kalt ist, so wie es mit diesem passieren wird, hat es keinen Zweck, ständig anzurufen. Wir rufen Sie an, sobald — nein: falls — wir jemanden verhaften. Aber diese Verhaftung kommt nie. Und am Ende bleibt Ihnen nichts als Asche in einer Urne, und sie hätten Sie ebenso gut mit seinem Leichnam verbrennen können, denn Ihre Seele ist ohnehin gestorben.«

Er war offenbar fertig, hatte seinen Vortrag abgeschlossen. Alles, was blieb, war ein schweres Atemgeräusch. Es kam von Jago Reeth. Und draußen, gedämpft, der Schrei der Möwen, das Heulen des Windes und das Brausen der Brandung. In einem Fernsehfilm von angemessener Dramatik würde Jago Reeth nun auf die Füße kommen, dachte Bea. Er würde zur Tür hasten und sich von der Klippe stürzen, nachdem er endlich Rache geübt hatte und nunmehr keinen weiteren Sinn in seinem Leben sah. Er würde springen, um endlich mit seinem toten Jamie vereint zu sein. Aber dies hier war kein Film.

Sein Gesicht schien von einem Leuchten erfüllt. In den Mundwinkeln hatte sich Speichel gesammelt. Das Zittern hatte sich verschlimmert. Bea sah, dass er auf Ben Kernes Reaktion wartete, auf das Anerkennen einer Wahrheit, die niemand ändern und niemand auflösen konnte.

Als Ben Kerne schließlich den Kopf hob, sagte er schleppend: »Santo war nicht mein Sohn.«

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