22

»Sie glaubt, du hättest Santo umgebracht.«

Alan sprach erst, als sie ein gutes Stück von Adventures Unlimited entfernt waren. Er hatte Kerra aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern und den Korridor entlanggezerrt und die Treppe hinabgeführt. Sie hatte sich gewehrt und gefaucht: »Lass mich los! Alan! Gott verflucht, lass mich los!« Aber er hatte sich nicht erweichen lassen. Und er war stark. Wer hätte gedacht, dass jemand, der so schmächtig gebaut war wie Alan Cheston, so stark sein konnte?

Sie hatten das Hotel verlassen, durch die Tür des Speisesaals hinaus auf die Terrasse, die Steintreppe hinauf und den Pfad über die Anhöhe entlang in Richtung St. Mevan Beach. Es war kalt draußen, aber er hatte sich nicht damit aufhalten wollen, einen Pullover oder eine Jacke zu holen, die sie vor der steifen Brise hätte schützen können. Tatsächlich sah er nicht einmal so aus, als merkte er, wie scharf der Wind war.

Als sie den Strand erreicht hatten, hatte Kerra den Kampf schließlich aufgegeben und war einfach nur weitergetaumelt. Doch ihren Zorn hatte sie nicht aufgegeben. Er würde sich über Alans Haupt entladen, sobald sie am Ziel wären am Meerwasserpool, wie sich herausstellte, am Ende des Strandes. Sie waren die sieben verwitterten Stufen hinaufgestiegen und auf der Betonumrandung stehen geblieben. Dann hatten sie beide auf den sandbedeckten Boden des Beckens hinabgestarrt, und einen Moment lang hatte Kerra sich gefragt, ob er sie etwa hineinstoßen wollte.

Doch das tat er nicht. Er sagte nur: »Sie glaubt, du hättest Santo umgebracht.« Und dann ließ er sie los.

Hätte er irgendetwas anderes gesagt, wäre Kerra zum Angriff übergegangen, verbal ebenso wie körperlich. Doch seine Aussage erforderte eine Reaktion, die wenigstens halbwegs rational war. Sein Tonfall war verwirrt und geradezu furchtsam gewesen.

Schließlich sprach er weiter. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Du und deine Mutter! Das war eine Schlägerei! So was sieht man sonst nur…« Er brachte den Satz nicht zu Ende.

Typisch Alan. Er war eben nicht der Typ, der sich in Etablissements herumtrieb, wo man Frauen dabei zusehen konnte, wie sie aufeinander losgingen, sich an den Haaren zerrten, kratzten, schrien und kreischten. Zwar war auch Kerra nicht der Typ für dergleichen, aber Dellen hatte sie an ihre Grenzen getrieben. Und es gab einen Grund für das, was zwischen ihnen vorgefallen war. Wenigstens das würde Alan eingestehen müssen. Doch er redete einfach weiter: »Ich wusste überhaupt nicht, was ich tun sollte! So was habe ich noch nie…«

Sie rieb sich den Arm an der Stelle, wo er sie gepackt hatte. »Santo hat mir Madlyn weggenommen«, unterbrach sie ihn. »Er hat sie mir gestohlen, und dafür habe ich ihn gehasst. Dellen weiß das nur zu gut. Und wahrscheinlich dachte sie, da wäre es naheliegend zu behaupten, dass ich ihn ermordet hätte. Das sieht ihr ähnlich.«

Alan wirkte verwirrter denn je. »Man kann einem Menschen einen anderen Menschen nicht stehlen, Kerra.«

»In meiner Familie schon. In meiner Familie ist das geradezu eine Tradition — ein natürlicher Reflex sozusagen.«

»Das ist doch Blödsinn!«

»Madlyn und ich waren Freundinnen. Bis Santo kam. Er hat sie nur einmal angesehen, und schon war sie verrückt nach ihm. Sie konnte nicht einmal mehr über irgendetwas anderes reden, also hatten wir schließlich… Madlyn und ich… Wir hatten am Ende gar nichts mehr, weil sie und Santo… und was er getan hat… Gott, das war so typisch! Er war genau wie Dellen. Er wollte Madlyn gar nicht. Er wollte nur ausprobieren, ob er sie mir würde stehlen können.« Jetzt da sie es endlich in Worte gefasst hatte, stellte Kerra fest, dass sie gar nicht wieder aufhören konnte. Sie griff sich mit beiden Händen ins Haar, packte fest zu und riss daran, als könnte sie so etwas anderes fühlen als all das, was sie so lange gefühlt hatte. »Er brauchte Madlyn gar nicht! Er hätte jede andere haben können. So wie Dellen jeden haben konnte. Und sie hatte ja auch jeden sobald die Lust sie überkam. Dabei brauchte sie überhaupt nicht…«

Alan starrte sie an, als spräche sie eine Sprache, deren Worte er zwar kannte, deren Zusammenhang sich ihm aber nicht erschloss. Eine Welle schlug gegen die Poolmauer, und er fuhr zusammen. Die Gischt traf sie beide. Sie war frisch und kalt und salzig auf ihren Lippen. »Ich verstehe gar nichts mehr«, gestand Alan schließlich.

»Du weißt genau, wovon ich rede.«

»Zufälligerweise nein. Wirklich nicht.«

Er ließ ihr keine Wahl. Sie musste ihm den Beweis liefern, den sie gefunden hatte, und die Wahrheit aussprechen, so wie sie sie verstand. Kerra hatte die Postkarte zwar im Zimmer ihrer Mutter zurückgelassen, aber um ihn damit zu konfrontieren, benötigte sie sie nicht. »Ich war im Pink Cottage, Alan. Ich habe deine Sachen durchsucht.«

»Das weiß ich.«

»Na schön. Das weißt du. Ich habe die Postkarte gefunden.«

»Welche Postkarte?«

»Hier ist es. Diese Postkarte! Pengelly Cove, die Strandhöhle, Dellens rote Handschrift und ein Pfeil, der zur Höhle deutet. Wir wissen beide ganz genau, was das bedeutet.«

»Ach, wirklich?«

»Hör auf damit! Du hast mit ihr zusammen wie lange in diesem Marketingbüro gearbeitet? Ich hatte dich gebeten, es nicht zu tun. Ich habe dich tausendmal gebeten, dir einen anderen Job zu suchen. Aber das wolltest du ja nicht. Tag für Tag hast du mit ihr im Büro gesessen, und du kannst mir nicht weismachen… Du willst doch nicht behaupten, sie hätte nicht… Du bist ein Mann, Herrgott noch mal! Du kennst die Signale. Und es gab mehr als nur Signale, nicht wahr?«

Er starrte sie an. Sie hätte am liebsten mit dem Fuß aufgestampft. Er konnte doch unmöglich so dämlich sein. Er hatte sich offenbar entschieden, Ahnungslosigkeit zu heucheln, und zwar so lange, bis sie kapitulierte. Wie schlau von ihm. Aber so dumm war sie nicht.

»Wo warst du an dem Tag, als Santo gestorben ist?«, fragte sie ihn.

»Gott! Du kannst doch nicht glauben, ich hätte irgendetwas mit…«

»Wo warst du? Du warst verschwunden. Und sie auch. Und du hattest diese Postkarte in deinem Zimmer. Hier ist es. Wir wissen beide, was sie damit meinte. Es fängt immer mit Rot an. Der Lippenstift. Ein Schal. Ein Paar Schuhe. Und dann…« Kerra war zum Heulen zumute, aber allein der Gedanke, wegen dieser Geschichte zu heulen, ihretwegen, wegen der beiden, ließ den Zorn in ihrem Innern zu solcher Größe anschwellen, dass sie glaubte, er würde sich explosionsartig Bahn brechen — ein widerwärtiger Ausfluss, der alles verseuchen würde, was noch übrig war zwischen ihr und diesem Mann, den zu lieben sie sich entschlossen hatte. Denn sie liebte ihn. Doch die Liebe konnte ihr gefährlich werden. Sie konnte einen dorthin bringen, wo ihr Vater war, und das wollte Kerra nicht zulassen.

Alan schien allmählich zu dämmern, was all das zu bedeuten hatte. »Verstehe. Es geht überhaupt nicht um Santo, oder? Es geht um deine Mutter. Du glaubst, dass ich… mit deiner Mutter… am Tag, als Santo ums Leben kam. Und das soll sich in der Höhle auf dieser Postkarte zugetragen haben?«

Sie konnte nicht antworten. Sie konnte nicht einmal nicken. Sie war zu sehr damit beschäftigt, sich wieder unter Kontrolle zu bringen, damit sie für den Fall, dass sie etwas fühlte und dieses Gefühl würde zeigen müssen, einzig und allein Zorn zur Schau stellte.

»Kerra, deine Mutter und ich hatten über dieses Video gesprochen. Mit deinem Vater hatte ich auch schon darüber gesprochen. Und dann hat deine Mutter immer wieder von dieser Location an der Küste angefangen, die sie für geeignet hielt, wegen der Strandhöhlen und ihrer Atmosphäre. Sie hat mir diese Karte gegeben, und…«

»So dämlich bist du nicht! Und ich auch nicht.«

Er wandte den Blick ab, schaute aber nicht aufs Meer hinaus, sondern in Richtung Hotel. Vom Meerwasserpool aus war das alte King-George-Hotel nicht zu sehen, wohl aber die ordentliche blau-weiße Reihe der Strandhütten — der perfekte Ort für ein heimliches Stelldichein.

Alan seufzte. »Ich wusste genau, was sie im Schilde führte. Sie hat irgendwann vorgeschlagen, dass wir uns diese Höhle gemeinsam ansehen, und da wusste ich es. Sie ist leider ziemlich durchschaubar und nicht sonderlich subtil in ihren Andeutungen. Aber ich nehme an, das musste sie auch nie sein. Sie ist auf ihre Art immer noch eine attraktive Frau.«

»Hör auf«, bat Kerra. Endlich waren sie am entscheidenden Punkt angelangt, doch nun konnte sie es nicht ertragen, die Details zu hören. Im Grunde war es wieder und wieder die gleiche Geschichte mit dem ewig gleichen Verlauf. Nur die männlichen Hauptfiguren änderten sich.

»Das werde ich«, versprach Alan. »Aber erst wirst du mir zuhören und dann erst entscheiden, was du glauben willst. Sie hat behauptet, die Strandhöhlen seien perfekt für unser Video. Wir müssten unbedingt hinfahren und sie uns ansehen. Daraufhin habe ich ihr gesagt, ich müsste vorher noch ein paar Besorgungen machen, und wir könnten uns dann erst dort treffen, weil ich nicht im selben Wagen mit ihr dorthinfahren wollte. Also haben wir uns dort getroffen, und sie hat mir die Bucht gezeigt, das Dorf und die Höhlen. Nichts ist zwischen uns vorgefallen, denn ich hatte nicht die Absicht, dass jemals etwas zwischen uns vorfallen sollte.« Während er gesprochen hatte, hatte er den Blick unverwandt auf die Strandhütten gerichtet, doch jetzt sah er wieder Kerra an. Seine Miene war ernst, und in den Augen stand Wachsamkeit. Kerra hatte keine Ahnung, was das bedeutete.

»Jetzt musst du entscheiden, Kerra. Du hast die Wahl.«

Und sie verstand: Wem sollte sie glauben? Ihm oder ihren Instinkten? Was sollte sie wählen? Vertrauen oder Argwohn?

»Sie haben mir alles weggenommen, was ich je geliebt habe.« Tiefe Hoffnungslosigkeit lag in ihren Worten.

»Liebste Kerra«, sagte er leise. »So läuft das nicht.«

»Aber in unserer Familie ist es schon immer so gelaufen.«

»Vielleicht in der Vergangenheit. Vielleicht hast du Menschen verloren, die du nicht verlieren wolltest. Vielleicht hast du sie auch einfach losgelassen. Vielleicht sogar weggestoßen. Die Sache ist aber: Es lässt sich niemand wegnehmen, der nicht weggenommen werden will. Und wenn dir jemand weggenommen wird, dann sagt das nichts über dich aus. Wie könnte es das?«

Sie hörte die Worte und spürte deren Wärme. Die Wärme ließ sie innerlich ganz ruhig werden. Diese Empfindung war für Kerra seltsam und unerwartet. Sie fühlte, wie durch Alans Worte etwas in ihr aufriss, irgendetwas Undefinierbares, es gab nach, als löste ein riesiges innerliches Bollwerk sich in Rauch auf. Tränen brannten ihr in den Augen, aber sie wollte sie sich nicht gestatten.

»Dich«, flüsterte sie schließlich.

»Mich? Was?«

»Ich nehme an, ich wähle dich.«

»Du nimmst es nur an?«

»Mehr kann ich im Moment nicht, Alan…«

Er nickte. Dann fuhr er fort: »Ich hatte einen Kameramann dabei. Das war die Besorgung, die ich zu erledigen hatte, bevor ich nach Pengelly Cove fuhr. Ich musste den Kameramann abholen. Ich wollte nicht allein zu den Strandhöhlen gehen.«

»Warum hast du mir das denn nicht einfach erzählt? Warum hast du nicht gesagt…?«

»Weil ich wollte, dass du deine Wahl triffst. Ich wollte, dass du mir glaubst. Sie ist krank, Kerra. Jeder, der auch nur einen Funken Verstand besitzt, kann sehen, dass sie krank ist.«

»Sie war schon immer so…«

»Sie war schon immer krank. Und wenn du dein ganzes Leben damit zubringst, auf ihre Krankheit zu reagieren, macht dich das irgendwann selbst krank. Du musst entscheiden, ob du wirklich so leben willst. Ich jedenfalls will das nicht.«

»Sie wird trotzdem weiter versuchen…«

»Vermutlich ja. Oder aber ihr wird endlich geholfen. Entweder sie trifft die Entscheidung selbst, oder dein Vater muss darauf bestehen, oder sie endet eines Tages allein, auf der Straße, in der Gosse und spätestens dann wird sie sich gezwungen sehen, sich zu ändern, schon allein um zu überleben. Ich weiß auch nicht… Ich weiß nur: Ich will mein Leben selbst bestimmen, unbeeinflusst davon, wie deine Mutter ihres lebt. Und was genau willst du? Das Gleiche? Oder etwas anderes?«

»Das Gleiche«, räumte sie ein. Ihre Lippen fühlten sich taub an. »Aber ich habe… solche Angst.«

»Wir alle haben letztlich Angst, denn es gibt für nichts Garantien. So ist das Leben nun einmal.«

Sie nickte stumm. Wieder brach sich eine Welle an der Poolmauer. Kerra zuckte zusammen.

»Alan…«, sagte sie schließlich. »Ich habe… Ich hätte Santo niemals etwas getan.«

»Natürlich nicht. Genauso wenig wie ich.«


Bea war allein in der Einsatzzentrale, als sie den Computer einschaltete. Sie hatte Barbara Havers zurück nach Polcare Cove geschickt, um Daidre Trahair abzuholen. Sollte die Tierärztin nicht wieder zu Hause sein, werde Havers eine Stunde warten, hatte Bea ihr aufgetragen, und dann Feierabend machen, wenn Dr. Trahair sich immer noch nicht blicken ließ. Dann würden sie sie sich eben am nächsten Tag vorknöpfen.

Auch das restliche Team hatte sie nach einer ausführlichen Lagebesprechung heimgeschickt. »Essen Sie etwas Ordentliches, und schlafen Sie sich aus«, hatte sie den Kollegen mit auf den Weg gegeben. »Morgen früh werden die Dinge anders und klarer aussehen, und wir werden neue Möglichkeiten entdecken.« Jedenfalls hoffte sie das.

Als alle gegangen waren, fuhr sie den Computer hoch. Sie gab damit Constable McNultys fragwürdigem Ermittlungsansatz nach, aber dafür gab es einen Grund: Als sie und Sergeant Havers im Begriff gewesen waren, LiquidEarth zu verlassen, war Bea vor dem Poster stehen geblieben, das den jungen Constable so fasziniert hatte — der Surfer auf der monströsen Welle, und sie hatte gefragt: »Und das war die Welle, die ihn umgebracht hat?«

Beide Männer, Lew Angarrack und Jago Reeth, waren mit in den Vorderraum gekommen. Angarrack war derjenige, der nachgehakt hatte: »Wen?«

»Mark Foo. Ist das hier nicht Mark Foo auf der Mavericks-Welle, die ihn getötet hat?«

»Foo ist in Mavericks umgekommen, stimmt. Aber das hier ist ein jüngerer Surfer, Jay Moriarty«, hatte Lew geantwortet.

»Jay Moriarty?«

»Ja.« Er hatte den Kopf zur Seite geneigt und sie neugierig betrachtet. »Warum?«

»Mr. Reeth meinte, dies wäre Mark Foos letzte Welle.«

Angarrack hatte Jago Reeth einen überraschten Blick zugeworfen. »Wie kommst du denn auf Foo? Der hatte doch ein ganz anderes Brett.«

Jago hatte daraufhin seinen Posten an der Tür verlassen und war tiefer in den Verkaufsraum hineingetreten, wo das Poster an der Wand hing. Er hatte Bea anerkennend zugenickt: »Volle Punktzahl.« Und an Lew gewandt: »Sie machen ihre Arbeit gründlich und lassen sich nicht die kleinste Bemerkung entgehen, genau wie es sein sollte. Ich musste mich doch vergewissern, oder? Ich hoffe, Sie nehmen es nicht persönlich, Inspector.«

Bea war verärgert gewesen. Jeder, der das Mordopfer gekannt hatte, wollte in die Ermittlungen eingebunden sein. Aber sie hasste es, wenn man ihre Zeit verschwendete, und sie schätzte es überhaupt nicht, derart auf die Probe gestellt zu werden. Und noch weniger hatte sie den Blick geschätzt, mit dem Jago Reeth sie nach dieser Eröffnung betrachtet hatte: dieser wissende Ausdruck, den Männer so oft an den Tag legten, wenn sie es mit einer Frau zu tun bekamen, die sich ihnen gegenüber in einer überlegenen Position befand.

»Tun Sie das nie wieder«, hatte sie ihn gewarnt, und dann war sie zusammen mit Barbara Havers hinausgegangen. Doch als sie nun allein in der Einsatzzentrale saß, fragte sie sich, ob Jago Reeth seine Falschaussage wirklich gemacht hatte, um ihre Gründlichkeit zu testen, oder aus einem vollkommen anderen Grund. Bea sah nur zwei weitere Optionen: Er hatte den Surfer falsch identifiziert, weil er sich einfach geirrt hatte, was ihr jedoch unwahrscheinlich vorkam. Oder er hatte es absichtlich getan, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. In jedem Fall lautete die Frage: Warum? Doch sie fand auf die Schnelle keine Antwort darauf.

Die nächsten neunzig Minuten verbrachte sie damit, durch die endlosen Weiten des Internets zu driften. Sie suchte nach Informationen über Moriarty und Foo und fand heraus, dass beide tot waren — wie so viele andere Surfer auch. Sie folgte der Spur dieser gestaltlosen Individuen, bis sie schließlich ihre Gesichter vor sich sah. Sie studierte sie, hoffte auf irgendein Zeichen, das ihr verriet, was sie als Nächstes tun sollte, aber falls es eine Verbindung zwischen diesen verunglückten Wellenreitern und einem tödlichen Kletterunfall in Cornwall gab, entdeckte sie sie nicht. Schließlich gab sie die Suche auf.

Sie ging zur Magnettafel hinüber. Was hatten ihre tagelangen Bemühungen ihnen bisher eingebracht? Drei manipulierte Ausrüstungsteile, das blaue Auge des Opfers, Fingerabdrücke auf Santo Kernes Wagen, ein Haar in seiner Kletterausrüstung, den Leumund des Opfers, zwei Fahrzeuge in der näheren Umgebung der Unglücksstelle und die Tatsache, dass der Junge gleichzeitig eine Beziehung mit Madlyn Angarrack und mit einer Tierärztin aus Bristol gepflegt hatte. Das war alles. Absolut nichts Substanzielles, auf das sie aufbauen, geschweige denn eine Verhaftung gründen konnten. Kerne war seit über zweiundsiebzig Stunden tot, und eines war klar: Jede Stunde, die nach einem Mord verstrich, ohne dass eine Festnahme erfolgte, erschwerte die Lösung des Falls.

Bea betrachtete die Namensliste derer, die entweder unmittelbar oder indirekt mit diesem Fall in Verbindung standen. Es schien, als hätte jeder, der Santo Kerne gekannt hatte, zu irgendeinem Zeitpunkt Zugang zu seiner Kletterausrüstung gehabt. Es hatte also wenig Sinn, in diese Richtung weiterzuermitteln. Das Motiv hinter der Tat war alles, was Bea blieb.

Sex, Macht und Geld, dachte sie. Waren sie nicht seit jeher die besten Motive gewesen? Vielleicht waren sie in der Anfangsphase einer Ermittlung nicht immer sogleich offensichtlich, aber tauchten sie früher oder später nicht jedes Mal auf? Selbst wenn man Eifersucht, Zorn, Rache und Habgier zu ihren Wurzeln zurückverfolgte, waren es nicht wieder Sex, Macht und Geld, auf die man stieß? Und wenn es so war, wo steckten diese drei Urmotive in diesem Fall?

Bea machte den einzigen nächsten Schritt, der ihr einfiel: Sie erstellte eine Liste. Sie schrieb die Namen derer auf, die zum derzeitigen Stand der Ermittlung als Tatverdächtige infrage kamen, und ein mögliches Motiv daneben. Lew Angarrack rächte das gebrochene Herz seiner Tochter (Sex); Jago Reeth rächte das gebrochene Herz seiner Ersatzenkelin (wieder Sex); Kerra Kerne beseitigte ihren Bruder, um Alleinerbin von Adventures Unlimited zu sein (Macht und Geld); Will Mendick hoffte auf Madlyn Angarracks Zuneigung und beseitigte den Rivalen (wieder Sex); Madlyn rächte sich für Santos Zurückweisung und Untreue (schon wieder Sex); Alan Cheston strebte nach mehr Einfluss bei Adventures Unlimited (Macht); Daidre Trahair machte ihrer Position als Nebenfrau ein Ende, indem sie den Mann beseitigte (noch mal Sex). Santo Kernes Eltern schienen kein Motiv zu haben; ebenso wenig Tammy Penrule. Also, fragte sich Bea, was blieb? Reichlich Motive, reichlich Gelegenheiten, und auch die Mittel waren zur Hand gewesen. Die Netzschlinge war zerschnitten und dann mit Santos eigenem Klebeband geflickt worden. Zwei Klemmkeile waren…

Vielleicht waren die Klemmkeile der Schlüssel? Da das Kabel aus Strängen starken Drahts bestand, brauchte man ein spezielles Werkzeug, um es zu zerschneiden. Vielleicht einen Bolzenschneider. Eine Drahtschere. Musste sie dieses Werkzeug suchen, um den Mörder zu finden? Immerhin eine Möglichkeit.

Was jedoch auffiel, war die große Gelassenheit hinter dem Verbrechen. Der Mörder hatte sich darauf verlassen, dass der Junge die beschädigte Schlinge oder einen der Klemmkeile früher oder später benutzen würde; Zeit schien keine Rolle gespielt zu haben. Auch schien es dem Täter egal gewesen zu sein, ob der Junge auf der Stelle tot sein würde, denn Santo hätte sowohl die Schlinge als auch die Klemmkeile bei einer harmloseren Kletterübung verwenden können und wäre womöglich nur gefallen und hätte sich vielleicht nicht einmal verletzt, und dann hätte der Mörder sich einen neuen Plan ausdenken müssen.

Sie suchten also nicht nach jemand Ungeduldigem, der ein Verbrechen aus Leidenschaft begangen hatte. Sie suchten nach jemand Ausgefuchstem. Und Ausgefuchstheit deutete stets auf Frauen hin. Das tat die Vorgehensweise dieses Verbrechens ohnehin, denn wenn Frauen mordeten, legten sie in der Regel nicht unmittelbar Hand an.

Dieser Gedankengang führte sie zurück zu Madlyn Angarrack, Kerra Kerne und Daidre Trahair und zu der Frage, wo zum Teufel die Tierärztin den ganzen Tag gesteckt hatte. Und das brachte sie unweigerlich zu Thomas Lynley und seiner Anwesenheit in Polcare Cove an diesem Morgen, was sie schließlich bewog, zum Telefon zu greifen und die Nummer des Handys zu wählen, das sie ihm gegeben hatte.

»Also, was haben wir?«, fragte sie, als es ihr im dritten Anlauf gelang, ihn zu erreichen. »Und wo in Gottes Namen treiben Sie sich herum?«

Er sei auf dem Rückweg nach Casvelyn, antwortete er. Er habe den Tag in Newquay, Zennor und Pengelly Cove verbracht. Auf ihre Frage, was zum Henker das mit Daidre Trahair zu tun habe, die sie übrigens immer noch sprechen wolle, erzählte er ihr eine Geschichte von jugendlichen Surfern, Sex, Drogen, Alkohol, Partys, Strandhöhlen und Tod. Reiche Kids, arme Kids und Cops, die es nicht geschafft hatten, den Fall zu lösen, obwohl irgendjemand geredet hatte.

»Es geht um Ben Kerne«, sagte Lynley. »Seine Freunde haben von Anfang an geglaubt, Dellen sei diejenige gewesen, die ihn angeschwärzt hatte. Dellen Kerne, meine ich. Bens Vater glaubt das im Übrigen auch.«

»Und inwieweit ist das relevant?«, fragte Bea müde.

»Ich glaube, die Antwort hierauf liegt in Exeter.«

»Sind Sie jetzt auf dem Weg dorthin?«

»Morgen«, erwiderte er. Er hielt inne, ehe er hinzufügte: »Dr. Trahair habe ich heute übrigens nicht gesehen. Ist sie aufgetaucht?« Nach Beas Geschmack klang er viel zu gelassen, und sie war kein Dummkopf.

»Keine Spur von ihr. Das gefällt mir ganz und gar nicht.«

»Es kann alles Mögliche bedeuten. Vielleicht ist sie nach Bristol zurückgefahren.«

»Oh, ich bitte Sie! Das glaube ich keine Sekunde.«

Er schwieg. Das war Antwort genug.

»Ich habe Ihre Freundin Havers geschickt, um sie herzuschaffen, falls Dr. Trahair nach Hause gekrochen kommt«, berichtete Bea ihm.

»Sie ist nicht meine Freundin Havers«, entgegnete Lynley.

»Sagen Sie das nicht«, erwiderte Bea und beendete das Gespräch.

Keine fünf Minuten später rief besagte Sergeant Havers selbst sie auf dem Handy an.

»Nichts«, verkündete sie knapp, und in der schlechten Verbindung rauschte es unablässig. »Soll ich noch länger warten? Kann ich machen, wenn Sie wollen. Ich habe nicht oft Gelegenheit, in aller Ruhe eine Zigarette zu rauchen und der Brandung zu lauschen.«

»Sie haben lange genug gewartet«, entschied Bea. »Fahren Sie zurück ins Salthouse Inn. Ihr Superintendent Lynley ist auch schon auf dem Weg dorthin.«

»Er ist nicht mein Superintendent Lynley«, widersprach Havers.

»Was ist nur los mit euch beiden?«, seufzte Bea und legte auf, ehe Sergeant Havers antworten konnte.

Ihre letzte Amtshandlung, bevor auch sie nach Hause fahren wollte, war, Pete anzurufen und ihre mütterliche Sorge um seine Kleidung, Ernährung, Hausaufgaben und Fußball kundzutun und sich nach den Hunden zu erkundigen. Wäre es zufällig Ray, der ans Telefon ging, würde sie höflich, aber sachlich-distanziert bleiben.

Doch sie konnte sich die Mühe sparen; Pete nahm ihren Anruf selbst entgegen. Er war ganz aus dem Häuschen über einen neuen Spieler, den Arsenal eingekauft hatte, irgendjemanden mit einem unaussprechlichen Namen aus… hatte er wirklich gesagt, vom Südpol? Nein, er musste São Paulo gesagt haben.

Bea äußerte sich mit angemessener Begeisterung und strich im Geiste das Thema Fußball von ihrer Liste, arbeitete dann seine Mahlzeiten und Schularbeiten ab und wollte gerade zur Kleidung übergehen — er hasste es, bezüglich seiner Unterwäsche befragt zu werden, aber wenn sie es nicht verhinderte, trug er nun mal dieselbe Unterhose eine ganze Woche lang, — als er sie unterbrach: »Dad will, dass du ihm Bescheid gibst, wenn der nächste Sporttag in der Schule ist, Mum.«

»Ich gebe ihm immer Bescheid, wenn Sporttag ist«, erwiderte sie.

»Ja, aber ich meine, er will mit dir zusammen hingehen, nicht allein.«

»Er will das? Oder du?«, hakte Bea nach.

»Na ja, wär doch schön, oder? Dad ist in Ordnung.«

Rays Kampagne war also erfolgreich, erkannte Bea. Nun, im Moment konnte sie daran nichts ändern. »Wir werden sehen«, sagte sie und verabschiedete sich mit den Worten: »Ich hab dich lieb.«

Sie hielt kurz inne und setzte sich dann entgegen ihres Vorsatzes, endlich auch heimzufahren, zurück an den Computer. Sie rief die Webseite ihrer Partnervermittlung auf und loggte sich ein. Pete brauchte eine männliche Präsenz im Haus, und Bea war bereit für etwas Definitiveres als eine Verabredung und den gelegentlichen One-Night-Stand, wenn Pete bei seinem Vater übernachtete.

Sie überflog die Annoncen und versuchte, nicht immer zuerst auf die Fotos zu schauen. Sie sagte sich, es sei wichtig, unvoreingenommen zu bleiben. Aber eine Viertelstunde dieser Tätigkeit vermochte ihren Datingfrust zu steigern wie nichts anderes. Sie kam zu dem Schluss, wenn jeder, der von sich behauptete, romantische Strandspaziergänge bei Sonnenuntergang zu lieben, tatsächlich romantische Strandspaziergänge bei Sonnenuntergang unternähme, müsste es dort zur entsprechenden Tageszeit zugehen wie auf der Oxford Street am letzten Adventssamstag. Was für ein Unfug! Wer hatte denn schon wirklich Hobbys wie Essen bei Kerzenschein, romantische Spaziergänge, Weinproben in Bordeaux und vertrauliche Gespräche in der heißen Badewanne oder vor einem prasselnden Kaminfeuer im Lake District? Erwartete man im Ernst von ihr, dass sie das glaubte?

Zur Hölle damit, dachte sie. Die Datingszene war ein Albtraum. Sie wurde von Jahr zu Jahr schlimmer, was Bea in ihrem Entschluss bestärkte, sich mit ihren Hunden als Gefährten zu bescheiden. Die drei hätten vermutlich auch Spaß an einem heißen Bad, aber das pseudovertrauliche Geschwafel bliebe ihr erspart.

Sie schaltete den Computer ab und verließ das Gebäude. Manchmal war nach Hause zu gehen die einzige Antwort.


Ben Kerne hatte bei seiner Kletterpartie eine gute Zeit erzielt, und seine Muskeln brannten von der Anstrengung. Er hatte es genau so gemacht, wie Santo es beabsichtigt hatte: Er hatte sich abgeseilt und war dann von unten wieder nach oben geklettert, obwohl er ebenso gut unten in Polcare Cove hätte parken und es umgekehrt hätte angehen können. Er hätte auch zu Fuß über den Küstenpfad zur Klippe wandern und sich von dort oben nur abseilen können. Aber er hatte in Santos Fußstapfen folgen wollen, und das bedeutete, dass er seinen Austin nicht auf dem Parkplatz der Bucht abstellte, sondern in der Haltebucht unweit von Stowe Wood, wo auch Santo geparkt hatte. Von dort war Ben dem Pfad zum Meer gefolgt, so wie Santo es vermutlich getan hatte, und er hatte seine Schlinge an demselben steinernen Pfeiler befestigt, an dem Santos Schlinge versagt hatte. Der Rest war eine Frage von Muskeln und Erinnerung. Das Abseilen war ein Kinderspiel gewesen. Wieder nach oben zu klettern, hatte Können und Strategie erfordert, aber lieber hatte er die Anstrengung in Kauf genommen, als in der Nähe von Adventures Unlimited und Dellen zu sein.

Am Ende der Kletterpartie hatte Ben ausgepowert sein wollen. Es war Erschöpfung, die er gesucht hatte, doch er musste feststellen, dass er immer noch genauso aufgedreht war wie zuvor. Seine Muskeln waren müde, aber seine Gedanken jagten noch immer wie auf Autopilot.

Wie üblich war es Dellen, an die er dachte. Dellen und die Erkenntnis, was er seiner Frau damit angetan hatte, dass er nicht von ihr hatte lassen können.

Zu Anfang hatte er nicht verstanden, was sie meinte, als sie ihm entgegengeschleudert hatte: »Ich hab's gesagt!« Und als ihm schließlich dämmerte, was es zu bedeuten schien, wollte er ihr nicht glauben. Ihr zu glauben, hätte bedeutet, dass der Schatten des Verdachts, unter dem er in Pengelly Cove gelebt hatte — der ihn letztlich von dort verjagt und nach Truro geführt hatte, absichtlich von der Frau, die er liebte, herbeigeführt worden war.

Um diese Erkenntnis und deren Folgen von sich fernzuhalten, hatte er erwidert: »Wovon redest du?«, und er hatte sich einzureden versucht, dass sie ihn verletzen wollte, weil er ihr Vorwürfe gemacht, weil er ihre Tabletten aus dem Fenster geworfen und weil er damit etwas von ihr eingefordert hatte, dem sie im Moment nicht ins Auge sehen konnte.

Ihr Gesicht war wutverzerrt gewesen.

»Du weißt es!«, hatte sie geschrien. »Oh, du weißt es ganz genau. Du hast doch immer vermutet, dass ich es war, die dich angeschwärzt hat. Ich hab genau gesehen, wie du mich danach angesehen hast. Ich konnte es in deinen Augen lesen… Und dann bist du nach Truro verschwunden und hast mich mit den Konsequenzen allein zurückgelassen. Gott, wie ich dich gehasst habe! Aber dann auch wieder nicht, weil ich dich so geliebt habe. Und ich liebe dich immer noch. Und ich hasse dich. Warum kannst du mich nicht einfach in Frieden lassen?«

»Du warst der Grund, warum die Polizei wieder zu mir kam. Das willst du doch sagen. Du hast mit ihnen geredet.«

»Ich habe dich mit ihr gesehen. Du wolltest, dass ich es sehe, und ich habe dich gesehen, und ich wusste, dass du sie ficken wolltest, und was glaubst du wohl, wie ich mich dabei gefühlt habe?«

»Also hast du beschlossen, es mir heimzuzahlen? Du hast ihn runter zur Höhle gelockt, hast es mit ihm getrieben, und dann hast du ihn dort zurückgelassen und…«

»Ich konnte nicht diejenige sein, die du in mir sehen wolltest. Ich konnte dir nicht geben, was du wolltest, aber du hattest kein Recht, mit mir Schluss zu machen. Ich hatte doch gar nichts getan! Und dann ausgerechnet mit seiner Schwester… Ich hab's gesehen, weil du es so wolltest, weil du wolltest, dass ich leide, und darum wollte ich, dass du genauso leidest.«

»Also hast du ihn gevögelt.«

»Nein!« Ihre Stimme schwoll zu einem Schrei an. »Das habe ich nicht! Ich wollte, dass du fühlst, was ich fühle. Ich wollte, dass du so leidest wie ich, wie du mich hast leiden lassen, weil du all die Dinge von mir verlangt hast, die ich dir nie geben konnte. Warum hast du Schluss mit mir gemacht? Und warum, warum verlässt du mich jetzt nicht?«

»Also hast du mich beschuldigt…?« Da. Er hatte es unumwunden ausgesprochen.

»Ja! Weil du so gut bist. Du bist so gottverdammt gut, und es ist deine widerliche Tugend, die ich nicht aushalten konnte. Damals nicht und heute auch nicht. Immer hältst du die andere verdammte Wange hin, und jedes Mal, wenn du das tust, verachte ich dich. Und jedes Mal, wenn ich dich verachtet habe, hast du Schluss gemacht, und das war immer der Moment, da ich dich am meisten geliebt und gewollt habe.«

»Du bist verrückt«, war das Einzige, was ihm zu sagen blieb.

Und dann hatte er Abstand gewinnen müssen. Im Schlafzimmer zu bleiben, hätte bedeutet, der Erkenntnis ins Auge zu sehen, dass er sein Leben auf einer Lüge aufgebaut hatte. Denn als die Polizisten aus Newquay ihre Ermittlungen wochen- und monatelang auf ihn konzentriert hatten, hatte er sich auf der Suche nach Trost und Kraft an Dellen gewandt. Sie machte ihn stark, hatte er geglaubt. Sie machte ihn zu dem, was er war. Ja, sie war schwierig. Und ja, sie hatten gelegentlich ihre Probleme. Aber wenn es zwischen ihnen stimmte, waren sie dann nicht glücklicher, als sie es je mit jemand anderem hätten sein können?

Darum hatte er es akzeptiert, als sie ihm nach Truro gefolgt war. Mit bebenden Lippen hatte sie erklärt: »Ich bin schwanger«, und er hatte diese Eröffnung entgegengenommen, als wäre ihm ein Engel im Traum erschienen, als hätte der imaginäre Wanderstab, den er mit sich herumtrug, über Nacht Lilienblüten getrieben. Und als sie auch dieses Kind wieder abtrieb genau wie die vorherigen, seines und die beiden von anderen Vätern, hatte er sie getröstet und ihr beigepflichtet, dass sie noch nicht bereit wäre, dass sie beide nicht bereit wären, dass die rechte Zeit noch nicht gekommen wäre. Er schuldete ihr die gleiche Loyalität, die sie ihm erwiesen hatte, fand er. Sie war eine gequälte Seele. Er liebte sie, und darum konnte er damit fertig werden.

Als sie schließlich geheiratet hatten, war es ihm vorgekommen, als habe er einen exotischen Vogel eingefangen. Doch man vermochte Dellen nicht im Käfig zu halten. Er konnte sie nur haben, wenn er ihr die Freiheit ließ.

»Du bist der Einzige, den ich wirklich will«, hatte sie immer gesagt. »Verzeih mir, Ben. Du bist derjenige, den ich liebe.«

Bens Atmung normalisierte sich, nachdem er eine Weile oben auf der Klippe abgewartet hatte. Die Seebrise ließ den Schweißfilm auf seiner Haut erkalten, und ihm ging auf, wie spät es schon war. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, dass er sich zu exakt der Stelle abgeseilt haben musste, wo Santo gelegen hatte sterbend oder bereits tot. Und im selben Moment erkannte er, dass er zwar auf dem Pfad von der Straße hierher Santo nachgefolgt war, seine Schlinge an dem alten Steinpfosten befestigt, sich abgeseilt und wieder zum Aufstieg gerüstet hatte, dass er in all der Zeit jedoch kein einziges Mal an ihn gedacht hatte. Nur zu dem Zweck war er doch hierhergekommen; aber er hatte es nicht geschafft. Seine Gedanken waren vollauf mit Dellen beschäftigt gewesen wie immer.

Es erschien ihm wie der ultimative, monströse Verrat. Nicht dass Dellen ihn vor all den Jahren verraten hatte, indem sie einen unbegründeten Verdacht auf ihn gelenkt hatte. Sondern er selbst hatte Santo verraten. Eine Wallfahrt zu dem Ort, wo der Junge sein Leben gelassen hatte, war nicht ausreichend gewesen, um dessen Mutter aus seinem Kopf zu verjagen. Ben lebte und atmete sie, als wäre sie eine ansteckende Krankheit, die nur ihn allein befallen konnte. Versuchte er, auf Abstand zu gehen, war es doch immer so, als wäre sie bei ihm, und das war auch der Grund, warum er immer wieder zurückgekehrt war.

So gesehen war er genauso krank wie sie, dachte er, wenn nicht sogar kränker. Denn während sie nichts daran ändern konnte, wie sie seit jeher gewesen war, wäre er in der Lage gewesen aufzuhören, dieser pervers loyale Benesek zu sein, der es ihr immer viel zu leicht gemacht hatte.

Als er sich von dem Findling erhob, auf dem er gesessen und sich ausgeruht hatte, war sein Körper steif von der kalten Brise. Morgen früh würde er den Preis für den schnellen Aufstieg bezahlen müssen. Er ging zu dem steinernen Pfeiler, um den die Schlinge lag, zog das Seil nach oben, rollte es sorgsam auf und untersuchte es ebenso sorgsam auf Schwachstellen. Selbst dabei konnte er sich nicht auf Santo konzentrieren.

In all dem steckte eine moralische Frage, wusste Ben, aber ihm fehlte der Mut, sie zu stellen.


Daidre Trahair wartete bereits über eine Stunde in der Bar des Salthouse Inn, als Selevan Penrule hereinkam. Er sah sich um, und als er feststellte, dass sein Trinkkumpan nicht wie üblich mit einem Guinness vor sich in der Kaminecke saß, die er und Jago als ihren Stammplatz beanspruchten, trat er zu Daidre an ihrem Fenstertisch.

»Ich dachte, er wäre schon hier«, sagte Selevan ohne Vorrede und zog sich einen Stuhl heran. »Er hat angerufen, um Bescheid zu sagen, dass es ein bisschen später wird. Die Cops waren bei ihm und Lew. Sie reden mit allen und jedem. Mit Ihnen auch schon?«

Brian kam aus der Küche, und die beiden begrüßten sich mit einem Wink. »Das Übliche?«, fragte der Wirt.

»Ja, danke«, gab Selevan zurück, und dann an Daidre gewandt: »Sie haben sogar mit Tammy gesprochen. Nicht weil die Cops ihr hätten Fragen stellen wollen, sondern weil sie ihnen was zu sagen hatte. Na ja, warum hätten sie sie auch verhören sollen? Sie kannte den Jungen, gut, aber das war auch schon alles. Ich hätte es mir anders gewünscht, und daraus mach ich auch kein Geheimnis, aber sie hatte eben kein Interesse. War wohl besser so, wie sich jetzt herausstellt, was? Aber verdammt noch mal, ich wünschte, sie würden die Sache bald aufklären. Tut mir wirklich leid für die Familie.«

Daidre hätte es vorgezogen, der alte Mann wäre nicht an ihren Tisch gekommen, aber ihr fiel partout keine höfliche Formulierung ein, um ihm anzudeuten, dass sie ihre Ruhe wollte. Sie war nie zuvor ins Salthouse Inn gekommen, um Ruhe zu finden, wie also hätte Selevan das erahnen sollen? Das Salthouse Inn war der Ort, wo die Bewohner dieser Gegend sich für ein bisschen Klatsch und Gesellschaft einfanden, nicht zum Meditieren.

»Sie wollen mit mir sprechen«, antwortete sie und schob ihm die Nachricht zu, die sie an der Tür ihres Cottages gefunden hatte: Inckspector Hannafords Visitenkarte mit einer knappen Notiz auf der Rückseite. »Dabei habe ich schon mit ihnen geredet. An dem Tag, als Santo gestorben ist. Ich kann mir nicht erklären, warum sie mich noch einmal vernehmen wollen.«

Selevan betrachtete die Visitenkarte und drehte sie um. »Sieht ernst aus«, sagte er. »Wenn die ihre Karte hinterlässt und so.«

»Ich denke, es liegt eher daran, dass ich kein Telefon habe. Aber ich werde mit ihnen reden. Natürlich werde ich das.«

»Besorgen Sie sich lieber einen Anwalt. Tammy hatte keinen, aber das war, weil sie ihnen was zu erzählen hatte, wie gesagt, nicht umgekehrt. Ist nicht so, als hätte sie was zu verbergen. Sie hatte Informationen, also hat sie sie der Polizei gegeben.« Er neigte den Kopf zur Seite und sah Daidre an. »Und? Haben Sie was zu verbergen, Mädchen?«

Daidre lächelte, nahm dem alten Mann die Visitenkarte aus der Hand und steckte sie wieder ein. »Wir haben alle unsere Geheimnisse, oder etwa nicht? Brauchen wir deswegen gleich alle einen Anwalt?«

»Das hab ich nicht gesagt«, protestierte Selevan. »Aber Sie haben es faustdick hinter den Ohren, Dr. Trahair, das haben wir von Anfang an gewusst. Wenn Sie mich fragen: Keine Frau, die nicht irgendwelche finsteren Geheimnisse hat, spielt Darts wie Sie.«

»Ich fürchte, das dunkelste Geheimnis, das ich zu bieten habe, ist Roller-Derby.«

»Was ist denn das schon wieder?«

Sie tippte ihm mit den Fingerspitzen auf die Hand. »Das werden Sie schon selbst herausfinden müssen, mein Freund.«

Dann sah sie durchs Fenster den Ford über den unebenen Parkplatz des Hotels rumpeln. Lynley stieg aus und kam auf das Haus zu, doch er hielt inne, als ein zweiter Wagen auf den Parkplatz einbog: ein klappriger Mini, dessen Fahrer ihn anhupte, als stünde er im Weg.

Selevan konnte den Parkplatz von seinem Stuhl aus nicht sehen. »Ist das Jago?«, fragte er Daidre, und dann: »Danke, Kumpel«, als Brian ihm einen Glenmorangie hinstellte. Er nahm den ersten Schluck mit sichtlicher Befriedigung.

»Nein…«

Daidre hielt den Blick auf den Parkplatz gerichtet, während Selevan weiter über seine Enkelin sprach. Tammy hatte ihren eigenen Kopf, schien es, und nichts konnte sie von dem Kurs abbringen, den sie eingeschlagen hatte. »Man muss das Mädchen dafür bewundern«, räumte Selevan ein. »Vielleicht sind wir alle zu hart zu ihr gewesen.«

Daidre brummelte an den richtigen Stellen Zustimmung, aber sie konzentrierte sich vollauf auf das Wenige, was sie draußen beobachten konnte. Die Fahrerin des verschrammten Mini hatte Lynley angesprochen. Es handelte sich um eine unförmige Frau in ausgebeulter Kordhose und einer Steppjacke, die sie bis zum Kinn zugeknöpft hatte. Die Unterhaltung dauerte nur einen Moment. Die Frau ruderte ein wenig mit den Armen, was auf eine Debatte bezüglich Lynleys Fahrstil hinzudeuten schien.

Dann bog hinter ihnen Jago Reeths Defender in den Parkplatz ein. »Da kommt Mr. Reeth«, verkündete Daidre.

»Dann geh ich mal lieber unseren Platz reservieren«, erwiderte Selevan, erhob sich und schlenderte zur Kaminecke hinüber.

Daidre sah weiter aus dem Fenster. Lynley und die Frau verstummten, als Jago Reeth aus dem Wagen stieg. Reeth nickte ihnen höflich zu — von einem Pubbesucher zum anderen — und ging auf die Tür zu. Lynley und die Frau wechselten noch ein paar Worte, und dann trennten sie sich.

Daidre signalisierte Brian, sie wolle den Tee bezahlen, den sie getrunken hatte, um die Wartezeit zu verkürzen. Als sie schließlich den Durchgang zum Hotel betrat, saßen Jago Reeth und Selevan Penrule bereits in ihrer Kaminecke, die Frau vom Parkplatz war verschwunden, und Lynley selbst war offenbar zu seinem Wagen zurückgegangen, um einen verbeulten Pappkarton daraus hervorzuholen. Damit kam er nun ins Gasthaus. Daidre stand an der schlecht beleuchteten Rezeption. Sie fröstelte; hier war es kälter als in der Bar, vermutlich wegen des unebenen Steinfußbodens und weil die Haustür immer wieder offen stand. Ihr ging auf, dass sie ihren Mantel im Schankraum gelassen hatte.

Lynley entdeckte sie sofort. Lächelnd sagte er: »Hallo. Ich habe Ihren Wagen draußen gar nicht gesehen. Wollten Sie mich überraschen?«

»Ihnen auflauern. Was haben Sie denn da?«

Er sah auf den Karton in seinen Armen hinab. »Alte Ermittlungsakten. Oder vielmehr: die Akten eines alten Ermittlers. Na ja, irgendwie beides, schätze ich. Er ist Rentner und lebt unten in Zennor.«

»Sie waren heute in Zennor?«

»Dort und in Newquay. Und in Pengelly Cove. Ich bin heute Morgen bei Ihnen vorbeigefahren und wollte Sie zu dem Ausflug einzuladen, aber Sie waren nicht zu Hause. Haben Sie eine kleine Spritztour gemacht?«

»Ich fahre gern hier in der Gegend herum«, antwortete Daidre und nickte. »Das ist einer der Gründe, warum ich hierherkomme, wann immer ich kann.«

»Verständlich. Ich finde es auch sehr schön.«

Er stützte den Karton auf der Hüfte ab, auf diese männertypische Art — so ganz anders, als Frauen einen sperrigen Gegenstand hielten, dachte sie. Er betrachtete sie. Er sah besser aus als vor vier Tagen. Es war ein schwacher Funke Leben in ihm zu erkennen, der zuvor nicht da gewesen war. Sie fragte sich, ob es etwas damit zu tun hatte, dass er wieder in eine polizeiliche Ermittlung eingebunden war. Vielleicht war das etwas, was einen lebendig machte: die intellektuelle Herausforderung, das Rätsel eines Verbrechens zu lösen, und die physische Erregung der Jagd.

»Sie haben Arbeit zu erledigen.« Sie zeigte auf den Karton. »Ich hatte gehofft, Sie kurz sprechen zu können, falls Sie Zeit haben…«

»Wirklich?« Er zog eine Braue in die Höhe. Und wieder dieses Lächeln. »Natürlich können Sie mich sprechen. Lassen Sie mich das hier eben wegbringen. Wir treffen uns… in der Bar? In fünf Minuten?«

Jetzt da Jago Reeth und Selevan Penrule dort saßen, wollte sie nicht dorthin zurück. Obendrein würden mit jeder Minute weitere Stammgäste eintreffen, und Daidre war nicht sonderlich versessen darauf, dass über ihre vertrauliche Unterhaltung mit dem Detective von Scotland Yard getratscht wurde.

»Mir wäre ein etwas weniger öffentlicher Ort lieber«, gestand sie. »Können wir…?« Abgesehen vom Restaurant, dessen Türen noch verschlossen waren und dies auch für mindestens eine weitere Stunde bleiben würden, gab es nur eine naheliegende Option: sein Zimmer.

Er schien zu demselben Schluss zu gelangen. »Kommen Sie doch mit nach oben«, schlug er vor. »Mein Domizil hier ist zwar ein wenig spartanisch, aber ich kann Ihnen einen Tee anbieten, wenn Sie keine Vorbehalte gegen Teebeutel und diese scheußlichen kleinen Milchdöschen haben. Ich glaube, es gibt sogar Ingwerplätzchen.«

»Ich habe gerade einen Tee getrunken. Aber danke, ja, ich glaube, Ihr Zimmer wäre am besten.«

Sie folgte ihm die Treppe hinauf. Sie war noch nie im Obergeschoss des Salthouse Inn gewesen, und es fühlte sich eigenartig an, jetzt hier zu sein und einem Mann den schmalen Flur entlangzufolgen, als hätten sie ein Stelldichein. Sie hoffte, dass niemand sie sehen und die Situation falsch deuten würde, und dann fragte sie sich, warum sie das hoffte. Was spielte es schon für eine Rolle?

Die Tür war nicht verschlossen. »Es gibt nichts, was irgendjemand würde stehlen wollen«, bemerkte er. Dann trat er zur Seite und ließ ihr höflich den Vortritt.

Spartanisch, erkannte Daidre, war die einzig zutreffende Beschreibung. Das Zimmer war sauber und in hellen Farben gehalten, aber spärlich möbliert. Das Bett war die einzige Sitzgelegenheit, es sei denn, man wollte es mit der kleinen Kommode versuchen. In der winzigen Kammer erschien das Bett riesig, obwohl es nur ein Einzelbett war. Daidre spürte, wie ihr heiß wurde, als sie es betrachtete, also wandte sie den Blick ab.

Nachdem er den Karton behutsam an der Wand abgestellt hatte, trat Lynley auf das Waschbecken in der Ecke zu, hängte seine Jacke auf — Daidre konnte sehen, dass er ein Mann war, der sorgsam mit seiner Kleidung umging — und wusch sich die Hände.

Jetzt da sie hier war, war sie sich ihrer Sache nicht mehr sicher. Statt der Beunruhigung, die sie verspürt hatte, als Cilla Cormack ihr erzählt hatte, dass Scotland Yard sich für sie und ihre Familie in Falmouth interessierte, fühlte sie sich jetzt unbeholfen und schüchtern. Lag es daran, dass Thomas Lynley das Zimmer zu dominieren schien? Er war ein großer Mann, sicher an die eins neunzig. Sich mit ihm zusammen auf so engem Raum zu befinden, führte dazu, dass sie begann, sich wie eine viktorianische Jungfer in einer kompromittierenden Situation zu fühlen. Nicht dass er durch eine Geste, eine Äußerung Anlass geboten hätte. Es war einfach seine Präsenz und die tragische Aura, die ihn umgab trotz seines vermeintlich heiteren Auftretens. Doch allein die Tatsache, dass sie sich anders fühlte, als sie es sich gewünscht hätte, stimmte Daidre ungeduldig, mit sich selbst ebenso wie mit ihm.

Sie streckte ihm Detective Inspector Hannafords Visitenkarte entgegen und setzte sich dann auf die Bettkante. Ja, bemerkte er, Hannaford sei an diesem Morgen kurz nach ihm bei Daidres Cottage angekommen. »Sie sind begehrt«, schmunzelte er.

»Ich bin gekommen, um Sie um Rat zu fragen.« Das war nicht ganz richtig, aber zumindest ein guter Einstieg, fand sie. »Was soll ich tun?«

Er setzte sich neben sie. »Wegen Hannaford?« Er wies auf die Visitenkarte. »Ich würde Ihnen empfehlen, mit ihr zu reden.«

»Wissen Sie, worum es geht?«

Nein, erwiderte er nach einem entlarvenden Zögern. »Aber was immer es auch sei, ich kann Ihnen nur raten, vollkommen aufrichtig zu sein«, fügte er hinzu. »Es ist immer das Beste, Ermittlern die Wahrheit zu sagen. Eigentlich ist es immer das Beste, die Wahrheit zu sagen.«

»Und wenn die Wahrheit wäre, dass ich Santo Kerne getötet habe?«

Er zauderte wieder, ehe er antwortete: »Ich glaube offen gestanden nicht, dass das die Wahrheit ist.«

»Sind Sie selbst ein aufrichtiger Mensch, Thomas?«

»Ich versuche, es zu sein.«

»Auch mitten in einem Fall?«

»Ganz besonders dann. Wenn es angemessen ist. Im Umgang mit einem Verdächtigen ist es das jedoch nicht immer.«

»Bin ich denn eine Verdächtige?«

»Ja«, eröffnete er ihr. »Leider sind Sie das.«

»Ist das auch der Grund, warum Sie nach Falmouth gefahren sind und Fragen über mich gestellt haben?«

»Falmouth? In Falmouth war ich nicht.«

»Aber irgendjemand war da und hat mit den Nachbarn meiner Eltern gesprochen, wie ich erfahren habe. Jemand von New Scotland Yard. Wer könnte das gewesen sein, wenn nicht Sie? Und was ist es, das Sie über mich in Erfahrung bringen wollen, wonach Sie mich aber nicht direkt fragen konnten?«

Er stand auf, trat an ihr Ende des Bettes und hockte sich vor sie. Das brachte ihn ihr näher, als ihr lieb war, und sie machte Anstalten, sich zu erheben. Er hielt sie zurück, indem er ihr sacht die Hand auf den Arm legte. »Ich war nicht in Falmouth, Daidre«, wiederholte er. »Ich schwöre es Ihnen.«

»Wer dann?«

»Ich weiß es nicht.« Er sah ihr in die Augen. Sein Blick war ernst und stetig. »Daidre, haben Sie etwas zu verbergen?«

»Nichts, was Scotland Yard interessieren würde. Warum schnüffeln die in meinem Leben herum?«

»In einem Mordfall wird jede Person, die in irgendeiner Verbindung dazu steht, unter die Lupe genommen. In Ihrem Fall, weil der Junge in der Nähe Ihres Hauses ums Leben gekommen ist. Und… gibt es weitere Gründe? Gibt es etwas, was ich noch nicht weiß, was Sie mir vielleicht jetzt erzählen möchten?«

»Ich meine nicht, warum wird gegen mich ermittelt.« Daidre versuchte, gelassen zu klingen, aber sein eindringlicher Blick machte es ihr schwer. »Ich meine, warum Scotland Yard? Was hat Scotland Yard überhaupt hier verloren?«

Er stand wieder auf und wandte sich dem Wasserkocher zu. Sie stellte überrascht fest, dass sie ebenso erleichtert wie enttäuscht war, dass er auf Distanz zu ihr ging, denn in seiner Nähe lag eine Art von Sicherheit, die zu fühlen sie nicht erwartet hatte. Er antwortete nicht gleich. Stattdessen füllte er den Wasserkocher am Waschbecken und schaltete ihn ein.

»Thomas, warum sind Sie hier?«

Als er wieder das Wort ergriff und ihre Frage beantwortete, sah er sie immer noch nicht an. »Bea Hannaford hat nicht genügend Leute«, sagte er. »Ihr sollte eigentlich ein Team von Kriminalbeamten für den Fall zur Verfügung stehen, aber sie bekommt es nicht. Ich nehme an, die Personaldecke ist derzeit einfach zu dünn für den gesamten Distrikt, und die hiesige Polizeibehörde hat Scotland Yard um Unterstützung gebeten.«

»Ist das üblich?«

»Scotland Yard mit einzubeziehen? Nein. Üblich ist es nicht. Aber es kommt vor.«

»Und warum stellen Ihre Kollegen Fragen über mich? Und warum in Falmouth?«

Es herrschte Stille, während er sich mit Teebeutel und Tasse zu schaffen machte. Seine Stirn war gerunzelt. Draußen wurde eine Autotür zugeschlagen, dann eine zweite. Eintreffende Stammgäste begrüßten einander mit fröhlichen Rufen.

Endlich wandte er sich wieder zu ihr um. »Wie gesagt, in einer Mordermittlung werden alle beteiligten Personen genauestens überprüft, Daidre. Als Sie und ich nach Pengelly Cove gefahren sind, waren wir in einer ähnlichen Mission, um etwas über Ben Kerne herauszufinden.«

»Aber das ergibt doch keinen Sinn. Ich bin in Falmouth aufgewachsen. Ja, stimmt. Aber warum wird jemand dorthin geschickt und nicht nach Bristol, wo ich heute lebe?«

»Vielleicht ist jemand anderes nach Bristol gefahren«, erwiderte Lynckley. »Ist das denn so wichtig?«

»Natürlich ist es wichtig! Was für eine alberne Frage! Wie würden Sie sich wohl fühlen, wenn die Polizei in Ihren Privatangelegenheiten herumschnüffelte, und das aus keinem anderen Grund, als dass in der Nähe Ihres Cottages ein Junge von einer Klippe gestürzt wäre?«

»Wenn ich nichts zu verbergen hätte, schätze ich, wäre es mir gleichgültig. Und damit schließt sich der Kreis. Haben Sie etwas zu verbergen? Etwas, was Sie der Polizei verheimlichen? Vielleicht über Ihr Leben in Falmouth? Darüber, wer Sie sind oder was Sie tun?«

»Was könnte ich schon zu verbergen haben?«

Er betrachtete sie unverwandt, ehe er schließlich die Gegenfrage stellte: »Woher soll ich die Antwort wissen?«

Mit einem Mal war diese Situation aus dem Ruder gelaufen. Sie war hierhergekommen vielleicht nicht in heller Entrüstung, aber doch in dem Glauben, dass sie als die ungerecht Behandelte in der stärkeren Position sein würde. Doch nun hatte sich die Lage ins Gegenteil verkehrt; als hätte sie die Würfel zu wagemutig geworfen und er sie geschickt aufgefangen.

»Gibt es irgendetwas, was Sie mir sagen wollen?«, fragte er nochmals.

Und ihr blieb nur übrig zu sagen: »Ganz und gar nicht.«

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