16

Am nächsten Morgen ertappte Lynley sich dabei, dass er unter der Dusche summte. Das Wasser rauschte über seinen Kopf und den Rücken, und er war mitten in Tschaikowskys Dornröschen-Walzer, als er abrupt innehielt und merkte, was er da tat. Schuldgefühle überkamen ihn, aber nur für einen kurzen Augenblick. Den Schuldgefühlen folgte die Erinnerung an Helen — die erste seit ihrem Tod, die ihn zum Lächeln brachte. In Sachen klassische Musik war sie schier hoffnungslos gewesen, mit Ausnahme einer einzigen Mozart-Komposition, die sie unfehlbar und voller Stolz erkannte. Als sie zum ersten Mal mit ihm zusammen Domröschen gehört hatte, hatte sie gerufen: »Walt Disney! Tommy, Darling, seit wann hörst du Walt Disney? Das sieht dir überhaupt nicht ähnlich.«

Er hatte sie verständnislos angestarrt, bis er sich an den alten Zeichentrickfilm erinnerte, den sie wohl kürzlich während eines Besuches bei ihren Nichten und Neffen gesehen hatte. Mit ernster Miene hatte er erklärt: »Walt Disney hat sich bei Tschaikowsky bedient, Liebling.« Woraufhin sie sich empört hatte: »Das ist doch nicht möglich! Hat Tschaikowsky auch den Text geschrieben?« Er hatte das Gesicht zur Decke gewandt und gelacht.

Doch Helen war nicht gekränkt gewesen. Das hatte ihrer Natur einfach ferngelegen. Stattdessen hatte sie die Hand an den Mund gelegt und gefragt: »Hab ich's schon wieder getan? Siehst du, das ist der Grund, warum ich andauernd Schuhe kaufen muss. So viele Fettnäpfe — da muss ich sie einfach ständig ersetzen.«

Sie war absolut unmöglich gewesen, dachte er. Hinreißend, anziehend, nervtötend und urkomisch. Und weise. Sie hatte eine Weisheit des Herzens besessen, die er nicht für menschenmöglich gehalten hatte. Was ihn betraf ebenso wie alles, was zwischen ihnen von Bedeutung war. Er vermisste sie schmerzlich in diesem Augenblick, aber gleichzeitig feierte er sie. Und damit einher ging eine leichte Veränderung in seinem Innern — die erste seit ihrer Ermordung.

Er summte weiter, während er sich abtrocknete. Er summte immer noch, das Handtuch um die Hüften geschlungen, als er die Tür zu dem schmalen Korridor öffnete.

Und fand sich Auge in Auge mit Detective Sergeant Barbara Havers.

»Mein Gott«, entfuhr es ihm.

»Ich bin schon schlimmer betitelt worden«, bemerkte Havers. Sie fuhr mit der Hand durch ihren unmöglich geschnittenen und jetzt auch noch ungekämmten Schopf. »Sind Sie immer so munter vor dem Frühstück, Sir? Falls ja, ist heute das letzte Mal, dass ich das Badezimmer mit Ihnen teile.«

Er konnte einen Moment nichts anderes tun als sie anstarren, so unvorbereitet war er auf den Anblick seiner ehemaligen Partnerin gewesen. In Ermangelung von Hausschuhen trug sie dicke himmelblaue Socken an den Füßen, darüber einen rosa Schlafanzug, der mit Schallplatten, Noten und Zitaten aus Rockklassikern bedruckt war. Sie schien zu merken, dass er ihre Aufmachung begutachtete, und erklärte: »Oh. Das war ein Geschenk von Winston.«

»Die Socken oder der Rest?«

»Der Rest. Er hat ihn in einem Katalog entdeckt. Konnte nicht widerstehen, hat er gesagt.«

»Ich werde mit Sergeant Nkata über impulsives Verhalten und Selbstbeherrschung sprechen müssen.«

Sie kicherte in sich hinein. »Ich hab's doch gewusst: Sollten Sie diesen Schlafanzug je sehen, würden Sie hingerissen sein.«

»Das Wort "hingerissen" wird meinen Gefühlen nicht einmal ansatzweise gerecht.«

Sie nickte zum Badezimmer hinüber. »Sind Sie da drin fertig mit Ihrer Morgen-was-auch-immer?«

Er trat beiseite. »Es gehört Ihnen.«

Sie schob sich an ihm vorbei, hielt aber inne, ehe sie die Tür schloss. »Tee?«, fragte sie. »Kaffee?«

»Kommen Sie einfach nachher bei mir vorbei.«

Als sie schließlich in ihrer üblichen Montur in sein Zimmer trat, war er inzwischen angezogen und hatte Tee gekocht — für Instantkaffee war er nicht verzweifelt genug. Sie hatte angeklopft und überflüssigerweise gerufen: »Ich bin's!«

Er hatte ihr die Tür geöffnet, und sie hatte sich sogleich neugierig umgesehen. »Ich sehe, Sie haben das elegantere Zimmer für sich beansprucht. Meines war mal der Dachboden. Ich fühle mich wie Aschenputtel vor dem gläsernen Schuh.«

Er hielt die Blechkanne mit dem Tee hoch. Sie nickte und ließ sich auf sein Bett fallen, das er ordentlich gemacht hatte. Havers hob die alte Tagesdecke an, um zu inspizieren, wie er das hinbekommen hatte. »Ordentliche Ecken, wie bei einem Krankenhausbett«, stellte sie anerkennend fest. »Gut gemacht, Sir. Haben Sie das in Eton gelernt? Oder zu einem anderen Zeitpunkt Ihrer wechselvollen Vergangenheit?«

»Von meiner Mutter«, erklärte er. »Die Kunst des Bettenmachens und der korrekte Einsatz von Leinenservietten spielten in ihrer Erziehung eine zentrale Rolle. Soll ich Milch und Zucker für Sie dazugeben, oder tun Sie das lieber selbst?«

»Machen Sie nur«, antwortete sie. »Mir gefällt die Vorstellung, dass Sie mich bedienen. Das ist die erste und womöglich auch letzte Gelegenheit, also werde ich es einfach genießen.«

Er reichte ihr den Tee, schenkte sich selbst eine Tasse ein und setzte sich in Ermangelung eines Stuhles zu Barbara aufs Bett. »Was haben Sie hier verloren, Havers?«, fragte er.

Sie zeigte mit der Teetasse auf die Zimmertür. »Sie haben mich doch eingeladen.«

»Sie wissen genau, was ich meine.«

Sie trank einen Schluck. »Sie wollten Informationen über Daidre Trahair.«

»Die Sie mir problemlos am Telefon hätten übermitteln können.« Er dachte nach und rief sich ihr Gespräch in Erinnerung. »Sie saßen im Auto, als ich Sie auf dem Handy angerufen habe. Waren Sie unterwegs hierher?«

»So ist es.«

»Barbara…«, und in seiner Stimme lag die unmissverständliche Warnung: Halten Sie sich aus meinem Leben heraus.

»Bilden Sie sich ja nichts ein, Superintendent.«

»Tommy. Oder Thomas. Oder was auch immer. Aber nicht Superintendent.«

»Tommy? Thomas? Das können Sie sich abschminken! Können wir uns auf "Sir" einigen?« Und als er die Schultern zuckte, fügte sie hinzu: »Detective Inspector Hannaford hat kein Kripo-Team für den Fall. Als sie bei Scotland Yard angerufen hat, um Ihre Identität zu überprüfen, hat sie die Situation erklärt. Ich wurde leihweise hergeschickt.«

»Und das ist alles?«

»Das ist alles.«

Lynley studierte ihr Gesicht. Es war ausdruckslos das perfekte Pockkerface, das jeden, der sie weniger gut kannte als er, hinters Licht geführt hätte. »Erwarten Sie im Ernst, dass ich das glaube, Barbara?«

»Sir, da gibt es nichts weiter zu glauben.«

Sie sahen einander in die Augen wie Westernhelden vor dem Showdown. Aber letzten Endes war damit nichts zu gewinnen. Sie hatte zu lange mit ihm zusammengearbeitet, um sich von seinem Schweigen und dem, was es implizieren mochte, einschüchtern zu lassen. Schließlich erklärte sie: »Ihre Kündigung ist übrigens niemals an die Personalabteilung weitergeleitet worden. Offiziell haben Sie Sonderurlaub wegen eines Trauerfalls, und zwar auf unbestimmte Zeit, wenn's sein muss.« Sie trank noch einen Schluck Tee. »Und, muss es sein?«

Lynley wandte den Blick ab. Er sah durchs Fenster in den grauen Tag hinaus. Der Efeu, welcher auf dieser Seite die Mauer emporkletterte, schlug im Wind gegen die Scheibe. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er. »Ich glaube, ich bin damit fertig, Barbara.«

»Sie haben die Stelle ausgeschrieben. Nicht Ihre alte, sondern die, die Sie wahrgenommen hatten, als… Sie wissen schon. Webberlys Job, die Stelle des Detective Superintendent. John Stewart bewirbt sich. Andere auch. Ein paar von außen, ein paar von uns. Stewart hat sozusagen einen Standortvorteil, aber ganz unter uns: Es wäre eine Katastrophe, wenn er die Stelle bekäme.«

»Es könnte schlimmer kommen.«

»Das sehe ich anders.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. Das kam so selten vor, dass er sie ansehen musste.

»Kommen Sie zurück, Sir.«

»Ich glaube nicht, dass ich das kann.« Er stand auf, ging auf Abstand — nicht zu ihr, sondern zu der Vorstellung, wieder bei Scotland Yard arbeiten zu müssen. Dann fragte er: »Aber warum hier? Mitten im Nirgendwo? Sie könnten in der Stadt wohnen, was viel näher läge, wenn Sie mit Bea Hannaford arbeiten.«

»Das könnte ich Sie genauso fragen, Sir.«

»Ich wurde am ersten Abend hierhergebracht. Es schien das Einfachste hierzubleiben. Es lag am nächsten.«

»Am nächsten?«

»Zum Fundort der Leiche. Warum werde ich eigentlich zum Ermittlungsgegenstand gemacht? Was geht hier vor?«

»Das hab ich Ihnen doch schon gesagt.«

»Nicht alles.« Er sah sie wieder an. Wenn sie gekommen war, um ein Auge auf ihn zu haben, was vermutlich der Fall war — denn Havers war nun einmal Havers, dann konnte es dafür nur einen Grund geben. »Was haben Sie über Daidre Trahair herausgefunden?«

Sie nickte. »Sehen Sie? Ihre Spürnase funktioniert immer noch.« Sie leerte ihre Tasse und streckte sie ihm entgegen. Er schenkte ihr nach und gab ein Päckchen Zucker und zwei der kleinen Milchdöschen hinzu. Sie sagte nichts, bis er ihr die Tasse zurückgegeben und sie einen Schluck getrunken hatte. »Es gibt eine Familie Trahair, die seit Langem in Falmouth lebt. Also, der Teil ihrer Geschichte ist in Ordnung. Der Vater ist Reifenhändler, selbstständig. Die Mutter verkauft Hypothekenkredite. Aber es gibt keine Grundschulunterlagen für eine Tochter namens Daidre. Damit lagen Sie richtig. In manchen Fällen könnte das heißen, dass sie nach guter alter Tradition aufs Internat geschickt wurde, weggeschickt mit fünf oder so, nur in den Ferien zu Hause, aber ansonsten hat keiner was von ihr gehört oder gesehen, bis die gehobene Bildungsmaschinerie« sie fauchte das "sch" geradezu, um ihre Verachtung auszudrücken »sie mit achtzehn wieder ausgespuckt hat.«

»Ersparen Sie mir die Sozialkritik«, warf Lynley ein.

»Da sprechen aus mir Neid und Wut, versteht sich«, erwiderte Havers. »Nichts wäre mir lieber gewesen, als auf ein Internat verfrachtet zu werden, sobald ich gelernt hatte, mir selbstständig die Nase zu putzen.«

»Havers…«

»Den Tonfall überstrapazierter Geduld haben Sie immer noch drauf«, bemerkte sie. »Kann ich hier drinnen eine Zigarette rauchen?«

»Sind Sie von Sinnen?«

»War ja nur 'ne Frage, Sir.« Sie umschloss die Teetasse mit beiden Händen. »Es wäre durchaus möglich, dass sie eine Internatsgrundschule absolviert hat, aber irgendwie ist das unwahrscheinlich, denn mit dreizehn taucht sie plötzlich in einer ganz normalen weiterführenden Schule in Falmouth auf. Da hat sie Feldhockey gespielt. Sich in der Fechtmannschaft hervorgetan. Im Schulchor gesungen. Mezzosopran, falls es Sie interessiert.«

»Und aus welchem Grund glauben Sie nicht, dass sie vorher im Internat war?«

»Zum einen, weil es keinen Sinn ergäbe. Andersherum könnte ich es mir vorstellen: normale Grundschule und anschließend, mit zwölf oder dreizehn, aufs Internat. Aber die Grundschule im Internat und dann für die weiteren Schuljahre zurück nach Hause? Es ist eine Mittelklassefamilie. Welche Familie aus dieser Schicht würde das tun?«

»Aber es ist schon vorgekommen. Was ist zum anderen?«

»Zum anderen? Oh. Zum anderen gibt es keinen Nachweis über ihre Geburt. Absolut nichts. Jedenfalls nicht in Falmouth.«

Lynley überlegte, was das bedeuten mochte. Er sagte: »Sie hat mir erzählt, sie sei zu Hause zur Welt gekommen.«

»Trotzdem hätte die Geburt binnen zweiundvierzig Tagen beim Standesamt gemeldet werden müssen. Und wenn es eine Hausgeburt gewesen wäre, wäre doch eine Hebamme dagewesen, oder nicht?«

»Wenn aber ihr Vater die Mutter entbunden hat…?«

»Hat sie das erzählt? Wenn Sie und Daidre so intime Details ausgetauscht haben…«

Er warf ihr einen argwöhnischen Blick zu, aber ihr Gesicht gab nichts preis.

»… hätte sie das dann nicht erwähnt? Mutter schafft es aus irgendeinem Grund nicht bis ins Krankenhaus. Vielleicht war's eine dunkle, stürmische Nacht. Oder das Auto springt nicht an. Stromausfall. Ein Wahnsinniger macht die Straßen unsicher. Ein Militärputsch, der irgendwie der öffentlichen Wahrnehmung entgangen ist. Eine Ausgangssperre aufgrund von Rassenunruhen. Die Wikinger haben eine Zeitreise gemacht, die Ostküste aber verpasst — denn wir wissen ja, was für einen grottenschlechten Orientierungssinn die Wikinger hatten — und sind an der Südküste Englands gelandet. Oder Aliens. Was auch immer der Grund gewesen sein mag — Mutter liegt in den Wehen, und Vater macht Wasser heiß, ohne zu wissen, was er damit tun soll, aber die Natur nimmt trotzdem ihren Lauf, und siehe da: Ein kleines Mädchen wird geboren und Daidre genannt.« Sie stellte die Teetasse auf den Nachttisch. »Was immer noch nicht erklärt, warum sie die Geburt nicht gemeldet haben.«

Er schwieg.

»Also gibt es irgendetwas, was sie Ihnen nicht erzählt hat, Sir. Ich frage mich, warum.«

»Aber die Geschichte mit dem Zoo stimmt«, entgegnete Lynley. »Sie arbeitet als Veterinärin für Großtiere im Zoo von Bristol, ja?«

»Zugegeben«, räumte Havers ein. »Ich bin zum Haus der Trahairs gefahren, nachdem ich das Geburtenregister durchgesehen hatte. Es war niemand da, also habe ich mit einer Nachbarin gesprochen. Es gibt definitiv eine Daidre Trahair. Sie wohnt in Bristol und arbeitet im Zoo. Aber als ich ein bisschen tiefer gebohrt habe, um mehr Informationen zu bekommen, wurde die Frau plötzlich stumm. Es kam nur noch: "Dr. Trahair macht ihren Eltern und sich selbst alle Ehre, und das können Sie schön in Ihr Notizbuch schreiben. Und wenn Sie mehr wissen wollen, muss ich vorher mit meinem Anwalt sprechen." Danach schlug sie mir die Tür vor der Nase zu. Es laufen einfach zu viele Krimiserien im Fernsehen«, schloss sie finster. »Das macht unsere Chance, irgendwen noch einzuschüchtern, völlig zunichte.«

Lynley stellte fest, dass ihm etwas zu schaffen machte, und das hatte nichts mit Daidre Trahair zu tun. »Sie sind zu ihrem Haus gefahren?«, fragte er. »Sie haben mit einer Nachbarin gesprochen? Havers, das sollte vertraulich sein. Hatten Sie das nicht verstanden?«

Sie runzelte die Stirn. Dann biss sie sich auf die Unterlippe und betrachtete ihn schweigend. Von unten klangen die fernen Geräusche von klappernden Töpfen und Pfannen herauf. Im Salthouse Inn wurde das Frühstück vorbereitet.

Schließlich sagte sie: »Das sind die üblichen Hintergrundermittlungen, Sir. Bei Mord muss die Geschichte aller Beteiligten beleuchtet werden. Das ist kein Geheimnis.«

»Aber nicht jede Hintergrundermittlung wird von New Scotland Yard durchgeführt. Und Sie haben sich der Nachbarin zu erkennen gegeben und ihr Ihren Dienstausweis gezeigt. Sie haben ihr gesagt, woher Sie kamen, richtig?«

»'türlich.« Havers sprach behutsam, und es erschreckte ihn, dass seine frühere Partnerin derart mit ihm umging, ganz gleich aus welchem Grund. »Aber mir ist nicht klar, welche Rolle das spielen soll, Sir. Wenn Sie nicht über die Leiche gestolpert wären… Haben Sie mal dran gedacht, dass…«

»Es spielt sehr wohl eine Rolle«, unterbrach Lynley. »Sie weiß, dass ich bei Scotland Yard arbeite. Gearbeitet habe. Wenn Scotland Yard und nicht die hiesige Polizei jetzt Erkundigungen über sie einzieht… Verstehen Sie nicht, was ihr das sagen wird?«

»Dass Sie vielleicht derjenige sind, der hinter der Ermittlung steckt«, antwortete Havers. »Sie stecken ja auch dahinter, und mit verdammt gutem Grund. Sir, lassen Sie mich zu Ende bringen, was ich sagen wollte. Sie wissen, wie es läuft. Wenn Sie nicht über Santo Kerne gestolpert wären, wäre Daidre Trahair die erste Person am Fundort gewesen. Und Sie wissen genau, was dann in Gang gekommen wäre. Das muss ich Ihnen nicht erklären.«

»Herrgott noch mal, sie hat Santo Kerne nicht umgebracht! Sie hat nicht einen Moment versucht vorzugeben, sie hätte den Leichnam gefunden. Sie kam in ihr Cottage und hat mich dort entdeckt, und ich habe sie zu der Leiche geführt, weil sie sie sehen wollte. Sie sagte, sie sei Ärztin. Sie wollte feststellen, ob sie noch irgendetwas für ihn tun konnte.«

»Dafür könnte es ein Dutzend Gründe geben, und an oberster Stelle steht: Es hätte verdammt seltsam ausgesehen, wenn sie es nicht getan hätte.«

»Sie hat absolut kein Motiv…«

»Okay. Was, wenn alles, was sie behauptet, der Wahrheit entspricht? Was, wenn sie diejenige ist, für die sie sich ausgibt, und sich alles als wahr erweist? Was spielt es dann für eine Rolle, wenn sie weiß, dass wir ihre Geschichte überprüfen? Dass ich sie überprüfe, dass Sie sie überprüfen? Dass der verdammte Weihnachtsmann sie überprüft? Wieso sollte sie das aufregen?«

Er stieß hörbar Luft aus. Er wusste einen Teil der Antwort, aber eben nur einen Teil.

Er leerte seine Tasse. Er wollte Simplizität, wo es keine gab. Er wollte Antworten, die Ja oder Nein lauteten, statt einer endlosen Kette von Vielleichts.

Das Bett knarrte, als Havers aufstand. Der Fußboden knarrte ebenfalls, als sie ein paar Schritte machte und sich hinter Lynley stellte. »Wenn sie weiß, dass wir sie überprüfen, dann wird sie nervös, und genau so wollen wir sie haben. So wollen wir sie doch alle. Nervöse Menschen verraten sich. Und das spielt uns in die Hände.«

»Mir will nicht einleuchten, was eine offene Überprüfung dieser Frau…«

»O doch, es leuchtet Ihnen ein. Das weiß ich sehr wohl.« Sie legte ihm einen Moment die Hand auf die Schulter. Ihre Stimme war zurückhaltend und gütig gleichermaßen. »Sie sind… Sie sind ziemlich durcheinander, Sir, und das ist völlig normal nach all dem, was Sie durchgemacht haben. Ich wünschte, es gäbe keine Menschen, die die emotionale Schieflage anderer ausnutzen, aber Sie und ich wissen, was für eine Welt das hier ist.«

Die Güte in ihrer Stimme machte ihm zu schaffen. Das war der Hauptgrund, warum er seit Helens Beerdigung alle Menschen gemieden hatte. Seine Freunde, seine Bekannten, Kollegen und letztlich sogar seine Familie. Er konnte ihre Güte und ihr grenzenloses Mitgefühl nicht ertragen, weil sie ihn wieder und wieder an das erinnerten, was er so verzweifelt zu vergessen suchte.

»Sie müssen vorsichtig sein«, sagte Havers. »Mehr will ich gar nicht sagen. Nur so viel noch: Wir müssen sie genauso unter die Lupe nehmen wie alle anderen auch.«

»Das weiß ich«, erwiderte er.

»Wissen ist immer eine Sache, Superintendent. Glauben ist etwas anderes.«


Daidre saß auf einem Schemel am Kopf der Arbeitsplatte in der Küche. Sie hatte die Postkarte, die sie am vorherigen Nachmittag an dem Flohmarktstand in St. Sithy erstanden hatte, gegen eine Linsendose gelehnt. Sie betrachtete den Zigeunerwagen und die Landschaft, in der er stand. Ein müdes Pferd graste in der Nähe. Pittoresk, dachte sie. Ein bezauberndes Bild einer längst vergangenen Zeit. Gelegentlich sah man diese Gefährte noch auf einem Landsträßchen in diesem Teil der Welt. Aber heutzutage dienten die Wagen mit ihren gerundeten Dächern und bunt bemalten Seitenwänden in erster Linie Touristen, die für kurze Zeit Zigeunerleben spielen wollten.

Als sie die Postkarte so lange angesehen hatte, wie sie es ohne handeln zu müssen vermochte, verließ sie das Haus. Sie stieg ins Auto, setzte zurück und fuhr in Richtung Polcare Cove und zum Strand hinunter. Die Nähe zum Strand erinnerte sie an den gestrigen Abend, an den sie lieber nicht gedacht hätte, aber er ging ihr einfach nicht aus dem Kopf: der gemächliche Rückweg zum Auto mit Thomas Lynley, die ruhige Stimme, mit der er ihr von seiner toten Frau erzählt hatte. Es war fast vollkommen dunkel gewesen, sodass sie, abgesehen von den gelegentlichen Lichtern der Häuser und Cottages oben auf der Klippe, nichts hatte sehen können als sein beunruhigendes Patrizierprofil.

Helen war ihr Name gewesen, und sie hatte aus einer ähnlichen Familie wie er selbst gestammt. Als Tochter eines Earls, die einen Earl geheiratet hatte, hatte sie sich mühelos in der Welt bewegt, in welche sie geboren worden war. Aufgrund ihrer unzureichenden Bildung anscheinend von Selbstzweifeln geplagt — auch wenn Daidre diese Information über Helen Lynley kaum glaubhaft fand — und gleichzeitig doch außergewöhnlich gütig, geistreich, amüsant, gesellig und unternehmungslustig. Ausgestattet mit bewunderns- und beneidenswerten Eigenschaften.

Daidre konnte sich nicht vorstellen, wie er den Verlust einer solchen Frau überlebt haben oder wie jemand sich mit einem derartigen Verlust je abfinden sollte, der durch Mord hervorgerufen worden war.

»Zwölf Jahre alt«, hatte er erzählt. »Niemand weiß, warum er auf sie geschossen hat.«

»Es tut mir so leid«, hatte sie erwidert. »Sie klingt wunderbar.«

»Das war sie.«

Daidre bog an derselben Stelle ab wie immer, nutzte den kleinen Parkplatz von Polcare Cove als Wendepunkt, um ihren Wagen in die Richtung zu bringen, die sie von hier fortführen würde. Hinter sich hörte sie die Brecher auf dem zerklüfteten Schieferriff, und vor sich sah sie das uralte, weite Tal und oberhalb davon Stowe Wood, wo die Bäume auszuschlagen begannen. Bald würden Sternhyazinthen in ihren Schatten blühen und einen saphirblauen Teppich über den Waldboden legen, der in der Frühlingsbrise wogte.

Sie fuhr hügelan und aus der Bucht heraus, folgte dem Zickzackkurs der Sträßchen, den die Natur dieses Landes und die Besitzverhältnisse vorgegeben hatten. So gelangte sie zur A39 und fuhr nach Süden. Sie hatte eine lange Fahrt vor sich. An der Columb Road hielt sie vor einer Bäckerei an und erstand einen Becher Kaffee und ein Pain au Chocolat. Mit dem jungen Mann hinter der Theke führte sie ein längeres Gespräch über Schokoladenkonsum ohne schlechtes Gewissen und ließ sich sogar eine Quittung für ihren Einkauf geben, die sie in ihre Brieftasche steckte. Man konnte schließlich nie wissen, wann die Polizei ein Alibi verlangte, dachte sie säuerlich. Es schien das Beste, über jeden ihrer Schritte einen Nachweis zu führen und dafür zu sorgen, dass die Menschen, deren Geschäfte man unterwegs aufsuchte, sich später lebhaft daran erinnerten. Und was das Pain au Chocolat betraf: Was waren schon ein paar überflüssige Kalorien, gemessen an dem Unterfangen, die Behauptung ihrer Unschuld zu untermauern?

Als sie wieder aufbrach, erreichte sie nach kurzer Zeit den Kreisverkehr, der sie zur A30 brachte. Von dort aus war es nicht mehr weit, und die Strecke war ihr vertraut. Sie umfuhr Redruth, bog einmal falsch ab, wendete aber gleich wieder und gelangte schließlich zu der Kreuzung der B3297 und eines namenlosen Sträßchens, wo ein Hinweisschild in Richtung Carnkie wies.

Daidre parkte ihren Wagen auf der unkrautüberwucherten Kiesfläche, wo die beiden Straßen aufeinandertrafen, verschränkte die Hände oben auf dem Lenkrad und bettete das Kinn darauf. Sie sah auf das frühlingsgrüne Land hinaus, das in der Ferne von der See begrenzt und in regelmäßigen Abständen von verfallenen Türmen unterbrochen war, wie man sie ähnlich auch in Irland fand die Domizile von Poeten, Eremiten und Mystikern. Hier repräsentierten die Türme indessen das, was von Cornwalls großer Bergbaugeschichte übrig geblieben war: riesige Maschinenhäuser, die über einem unterirdischen Netzwerk aus Tunneln, Gruben und Höhlen standen. Die Minen hatten einst Zinn und Silber, Kupfer und Blei, Arsen und Wolfram hervorgebracht, und die Häuser hatten die Maschinen beherbergt, mit denen jene Minen betrieben wurden: Pumpen, die die Schächte vom Grundwasser befreiten, und Räderwerke, die sowohl das Erz als auch das überflüssige Gestein in Förderkörben an die Oberfläche brachten.

Genau wie die Zigeunerwagen taugten auch die Maschinenhäuser heutzutage nur noch als Motive für Ansichtskarten. Doch einst waren sie die Lebensgrundlage der Menschen hier gewesen und die Türme Sinnbilder der vielen Todesopfer, die sie gefordert hatten. Sie standen überall im Westen Cornwalls, und vor allem entlang der Küste gab es sie in erstaunlicher Dichte. Meistens fand man sie paarweise: der Turm des Maschinenhauses, drei oder vier Stockwerke hoch und heute in aller Regel unbedacht, mit schmalen Bogenfenstern, möglichst klein, um die Tragfähigkeit des Bauwerks nicht zu schmälern, und daneben und oft noch höher der Schornstein, der einst graue Rauchwolken in den Himmel geschleudert hatte. Jetzt boten sowohl Maschinenhäuser als auch Schornsteine in den oberen Regionen Nistplätze für Vögel und weiter unten für Haselmäuse. In den Fugen und Ritzen wuchs Storchschnabel mit seinen kecken, zart lilafarbenen Blüten, die sich mit den gelben Ranken des Kreuzkrauts vermischten, während darüber roter Baldrian stand.

Daidre sah all dies und sah es doch nicht. Sie ertappte sich dabei, dass sie an einen völlig anderen Ort dachte, eine Küste gegenüber derjenigen, auf welche sie jetzt blickte.

Unweit von Lamorna Cove, hatte er gesagt. Das Haus und das dazugehörige Anwesen hießen beide Howenstow. Offensichtlich verlegen hatte er eingeräumt, er habe keine Ahnung, woher dieser Name stamme, und aus dieser Unwissenheit hatte sie zu Recht oder zu Unrecht das Ausmaß der Leichtigkeit abzulesen geglaubt, mit welcher er das Leben annahm, in das er hineingeboren worden war. Seit über zweihundertundfünfzig Jahren gehörten das Land und das Haus seiner Familie, und anscheinend hatten sie nie mehr wissen müssen als nur, dass es ihr Eigentum war: ein weitläufiger Barockbau, den irgendein Vorfahr durch Heirat erworben hatte. Er war der jüngste Sohn eines Barons gewesen und hatte das einzige Kind eines Earls geehelicht.

»Meine Mutter könnte Ihnen wahrscheinlich alles über den alten Kasten erzählen«, hatte er erzählt. »Meine Schwester auch. Aber mein Bruder und ich… Ich fürchte, wir sind Banausen, wenn es um unsere Familiengeschichte geht. Ohne Judith — das ist meine Schwester — wüsste ich vermutlich nicht einmal die Namen meiner Urgroßeltern. Und was ist mit Ihnen?«

»Ich nehme an, ich muss irgendwann Urgroßeltern gehabt haben«, hatte sie geantwortet. »Es sei denn, ich bin wie Venus aus der Muschel emporgestiegen. Aber das ist wohl eher unwahrscheinlich. An einen so spektakulären Auftritt könnte ich mich doch bestimmt erinnern.«

Wie mochte es sein?, fragte sie sich. Sie stellte sich seine Mutter in einem riesigen goldenen Bett vor, Dienstmädchen zu beiden Seiten, die ihr das Gesicht mit Tüchern abtupften, die in Rosenwasser getaucht waren, während sie in den Wehen lag, um den Stammhalter zur Welt zu bringen. Ein Feuerwerk zur Verkündung der guten Nachricht, Pächter, die ehrerbietig ihre Kappen lüpften und Fässer mit selbst gebrautem Bier zum Herrenhaus rollten, sobald die Kunde sich verbreitete. Sie wusste, diese Bilder waren völlig absurd, eine Mischung aus Thomas Hardy und Monty Python, aber so dämlich sie ihr auch vorkamen, sie konnte sie einfach nicht abschütteln.

Sie griff nach der Postkarte, die sie mitgenommen hatte. Als sie ausstieg, spürte sie die kalte Brise.

Sie fand einen geeigneten Stein gleich am Straßenrand der B3297. Er war nicht zu schwer und steckte kaum zur Hälfte in der Erde, sodass sie ihn leicht herauslösen konnte. Sie trug ihn zurück zu dem Dreieck zwischen der Landstraße und dem schmaleren Fahrweg und legte ihn dort ab. Dann hob sie eine Ecke an und schob die Postkarte mit dem Zigeunerwagen darunter. Erst als das getan war, war sie imstande, ihre Fahrt fortzusetzen.

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