15

Detective Inspector Hannaford unterbrach ihren Arbeitstag wegen der Hunde. Sie wusste, es war eine lahme Ausrede, und hätte jemand sie hinterfragt, wäre sie in Verlegenheit geraten. Nichtsdestotrotz: Hund Eins, Zwei und Drei mussten gefüttert und Gassi geführt werden, und Bea redete sich ein, nur jemand, der keine Erfahrung mit Hunden hatte, könne glauben, diese Kreaturen leisteten einander ausreichend Gesellschaft während der vielen Stunden, da ihre Menschen bei der Arbeit waren. Nicht allzu lange nach ihrer Unterhaltung mit Tammy Penrule hatte sie daher die Einsatzzentrale aufgesucht, um sich ein Bild von den Fortschritten der Beamten zu machen. Sie waren nicht nennenswert gewesen, und dieser Constable McNulty hatte doch tatsächlich über Santo Kernes Computer gehockt und mit beinah lüsternen Blicken große Surfwellen begafft. Das hatte sie zum Anlass genommen, in ihren Wagen zu steigen und nach Holsworthy zu fahren.

Wie erwartet, waren Hund Eins, Zwei und Drei entzückt, sie zu sehen. Sie drückten ihre Freude mit ausgelassenen Sprüngen und lautem Gebell aus, tollten wild im Garten umher und suchten nach irgendetwas, was sie ihr zu Füßen legen konnten. Eins brachte ihr einen Plastikgartenzwerg, Zwei schenkte ihr einen halb verfaulten Kauknochen aus Wildleder, und von Drei bekam sie den zerkauten Griff einer Schaufel. Bea nahm die Gaben mit einer angemessenen Freudenbekundung entgegen, angelte die Hundeleinen aus einem Haufen Stiefel, Handschuhe, Anoraks und Pullover auf einem Hocker gleich hinter der Küchentür und leinte die Labradore ohne viel Aufhebens an. Statt sie Gassi zu führen, brachte sie sie jedoch zum Landrover. »Rein mit euch«, sagte sie, noch während sie die Heckklappe öffnete. Leichtfüßig sprangen sie hinein. Sie glaubten wohl O happy day!, heute ginge es hinaus aufs Land.

Unglücklicherweise täuschten sie sich. Es ging zu Ray. Wenn er Pete wollte, fand Bea, sollte er auch bereit sein, Petes Haustiere aufzunehmen. Sicher, es waren genauso gut ihre Hunde, vielleicht sogar in erster Linie ihre Hunde, aber sie hatte lange Arbeitstage vor sich, wie Ray selber angemerkt hatte, und die Hunde brauchten Aufsicht ebenso wie Pete. Sie schnappte sich die riesige Tüte mit Hundefutter, die Näpfe und andere Gegenstände zur Herbeiführung hündlicher Glückseligkeit, und dann fuhren sie los. Schwanzwedelnd pressten die Hunde die Nasen an die Seitenfenster und verschmierten die Scheiben.

Als sie vor Rays Haus parkte, verfolgte Bea zwei Absichten: Die erste bestand darin, Hund Eins, Zwei und Drei in den Garten zu bugsieren, aus dem dank Rays begrenzter Zeit, Unfähigkeit oder Gleichgültigkeit oder aller drei Eigenschaften nie mehr geworden war als ein Betonquadrat mit einem Stück Rasen dahinter. Keine hübsch gepflegten Beeteinfassungen, die die Hunde durchwühlen, und auch sonst nichts, was sie hätten zerkauen können. Der Garten war somit der perfekte Hort für die drei übermütigen Labradore, und Bea hatte frische Wildlederknochen, eine Tüte Spielzeug und einen alten Fußball mitgebracht, um sicherzustellen, dass sie sich nicht langweilten und als Vorwand für ihre weitere Absicht, Rays Haus zu betreten. Schließlich musste sie ja das Hundefutter und die Näpfe abliefern, und wenn sie schon mal drinnen war, wollte sie sich vergewissern, dass Ray tatsächlich vernünftig für Pete sorgte. Immerhin handelte es sich bei Ray um einen Mann, und was verstand ein Mann schon von den Bedürfnissen eines Vierzehnjährigen. Nichts. Nur eine Mutter wusste, was das Beste für ihren Sohn war.

Sie wusste, diese Ausrede würde nicht standhalten können, drum gestattete Bea ihren Gedanken nicht, in diese Richtung zu schweifen. Sie redete sich ein, sie habe nur Petes Wohlergehen im Sinn, und da sie einen Schlüssel zu Rays Haus besaß genau wie er zu ihrem, war es eine Kleinigkeit hineinzugelangen, sobald die Hunde glücklich den Garten erschnupperten. Sie würde nur schnell nach dem Rechten sehen, ohne dass irgendjemand etwas davon bemerkte. Ray war bei der Arbeit, Pete in der Schule. Sie würde das Futter, die Näpfe und eine kurze Nachricht wegen der Hunde hinterlassen und einen schnellen Blick in den Kühlschrank und in den Müll werfen, um sicherzugehen, dass sich keine Pizzakartons oder Einwegverpackungen vom Chinesen oder Inder zwischen dem restlichen Abfall versteckten. Und wenn sie schon einmal da war, wollte sie auch noch Rays Videosammlung inspizieren und dafür sorgen, dass dort nichts Fragwürdiges stand, das Pete in die Hände fallen könnte, und sollte sie Hinweise auf blonde Frauen unter dreißig finden, wie Ray sie bevorzugte, würde sie auch diese beseitigen.

Sie hatte kaum einen Schritt ins Haus gesetzt, als klar wurde, dass ihr Plan sich nicht ohne Weiteres in die Tat würde umsetzen lassen. Zweifellos angezogen von dem ausgelassenen Gebell im Garten, kam jemand die Treppe heruntergepoltert, und einen Moment später fand sie sich Auge in Auge mit ihrem Sohn.

»Mum!«, rief er. »Was machst du denn hier? Sind das die Hunde?«, fragte er und nickte in Richtung Garten.

Bea sah, dass er dabei war, etwas zu essen, und es hätte eine Menge Minuspunkte für seinen Vater bedeutet, hätte sein Snack aus Chips oder Pommes bestanden. Doch er hielt eine Tüte mit Apfelscheiben und Mandeln in der Hand, und sie schienen dem schrecklichen Jungen auch noch zu schmecken. Also konnte sie sich darüber nicht aufregen, sehr wohl aber über die Tatsache, dass er daheim war.

»Die Frage ist wohl eher, was du hier machst«, konterte sie. »Hat dein Vater dir erlaubt, die Schule zu schwänzen? Oder bist du einfach abgehauen? Was ist los? Bist du allein? Oder ist da oben noch jemand bei dir? Was zum Henker treibst du hier?« Bea kannte die typische Karriere; sie begann mit Schuleschwänzen und setzte sich mit Drogenkonsum fort. Drogen führten zu Einbrüchen und Diebstählen. Und die führten ins Gefängnis. Vielen herzlichen Dank auch, Ray Hannaford. Gut gemacht. Vater des Jahres.

Pete trat einen Schritt zurück. Er kaute nachdenklich und betrachtete sie.

»Antworte mir gefälligst«, verlangte sie. »Wieso bist du nicht in der Schule?«

»Schulfrei«, erklärte er.

»Was?«

»Wir haben heute Nachmittag schulfrei, Mum. Lehrerkonferenz oder so was. Ich weiß nicht genau. Ich meine, ich hab's mal gewusst, aber wieder vergessen. Die Lehrer veranstalten irgendwas. Ich hab dir doch davon erzählt. Ich hab den Zettel mit der Benachrichtigung mit nach Hause gebracht.«

Jetzt fiel es ihr wieder ein. Das hatte er tatsächlich, vor ein paar Wochen. Es stand im Kalender. Sie hatte sogar mit Ray darüber gesprochen, und sie hatten debattiert, wer Pete an diesem verkürzten Schultag abholen sollte. Trotzdem war sie nicht gewillt, sich für ihre Verdächtigungen zu entschuldigen. Sie witterte Leichen im Keller, und sie gedachte, sie auszugraben. »Also«, begann sie. »Wie bist du nach Hause gekommen?«

»Dad.«

»Dein Vater hat dich abgeholt? Und wo ist er jetzt? Was machst du hier allein?« Sie war wild entschlossen. Irgendetwas musste doch zu finden sein.

Pete war zu schlau für sie — ganz Sohn seiner Eltern, besaß er die Fähigkeit, den Finger geradewegs auf die Wunde zu legen. »Warum bist du eigentlich immer so sauer auf ihn?«

Das war eine Frage, die zu beantworten Bea nicht bereit war. Vielmehr sagte sie: »Geh, und sag deinen Hunden Hallo. Sie haben Sehnsucht nach dir. Wir reden nachher weiter.«

»Mum…«

»Du hast mich gehört.«

Er schüttelte den Kopf; eine trotzige Teenagergeste, die Missbilligung ausdrückte. Aber er tat, was sie ihm aufgetragen hatte, selbst wenn die Tatsache, dass er keine Jacke anzog, ihr deutlich vor Augen führte, dass er nicht allzu lange im Garten zu bleiben gedachte. Sie hatte also nicht viel Zeit.

Das Haus hatte nur zwei Schlafzimmer. Sie begann mit Rays. Sie wollte nicht, dass Pete irgendwelche Fotos von den Geliebten seines Vaters in eindeutiger Pose sah, den Rücken gewölbt und die Brüste himmelwärts gereckt. Er sollte auch nicht über ihre vergessenen BHs oder Spitzenhöschen stolpern. Und wenn hier anzügliche Notizen oder Briefe herumlagen, gedachte sie diese ebenfalls zu finden. Lippenstift-Kussmünder auf dem Spiegel würde sie fortwischen. Sie beabsichtigte, sämtliche Souvenirs der Eroberungen, die Ray hier aufbewahren mochte, zu konfiszieren, und sie versicherte sich erneut, es wäre nur in Petes Interesse.

Aber sie fand nichts. Offenbar hatte Ray sein Haus rechtzeitig vor Petes Ankunft selbst jugendfrei gemacht. Das Einzige, was sie fand, waren Beweise seiner väterlichen Gefühle: Petes jüngstes Schulfoto in einem Holzrahmen auf der Kommode, daneben ihre Tochter Ginny mit deren Tochter Audra und daneben ein Foto, das zu Weihnachten aufgenommen worden war. Ray, Bea, ihre beiden Kinder und Ginnys Mann mit Audra auf dem Arm. Sie hatten die glückliche Großfamilie gespielt, wenngleich sie das nicht waren. Rays rechter Arm lag um ihre Schultern, der linke um Petes.

Sie sagte sich, das sei allemal besser als Fotos von Brittany, Courtney oder Stacy oder Katie oder wie immer sie hießen, in einem winzigen Bikini, braungebrannt und neckisch lächelnd an irgendeinem Strand. Sie durchsuchte den Kleiderschrank ebenfalls ergebnislos und ließ dann auf der Suche nach einem Hauch von Spitze, der als Nachthemd diente, die Hand unter die Kopfkissen gleiten. Nichts. Wenigstens war der Mann diskret. Sie wandte sich zum Badezimmer. Pete stand in der Tür und beobachtete sie.

Er hatte aufgehört zu kauen. Die Tüte mit dem Reformhaussnack baumelte zwischen seinen Fingern.

Hastig fragte sie: »Wieso bist du nicht bei den Hunden? Ich schwöre dir, Pete, wenn du dich nicht um die Hunde kümmerst, die du um jeden Preis haben wolltest…«

»Warum hasst du ihn so?«

Dieses Mal brachte die Frage sie zum Schweigen. Genau wie sein Gesicht, auf dem ein Ausdruck wissender Traurigkeit lag, mit der sich kein Vierzehnjähriger je belasten sollte. Bea fühlte sich niedergedrückt. »Ich hasse ihn gar nicht, Pete.«

»Tust du wohl. Das hast du immer schon. Und ich versteh's einfach nicht, Mum, denn ich finde, er ist ein anständiger Kerl. Und außerdem liebt er dich. Ich seh das genau, und ich kapier einfach nicht, warum du ihn nicht auch lieben kannst.«

»So einfach ist es nicht. Es gibt Dinge…« Sie wollte ihn nicht verletzen, wie die Wahrheit es sicher getan hätte. An diesem Punkt seines Lebens würde die Wahrheit seine doch gerade erst knospende Männlichkeit in Stücke reißen. Bea wollte an ihm vorbei ins Bad, um ihre sinnlose Hausdurchsuchung fortzusetzen, aber er machte ihr den Weg durch den Türrahmen nicht frei. Mit einem Mal fiel ihr auf, wie sehr er im Lauf des letzten Jahres gewachsen war. Er war jetzt größer, wenn auch immer noch nicht so stark wie sie.

»Was hat er verbrochen?«, fragte Pete. »Irgendetwas muss er doch getan haben, denn deswegen lassen Leute sich doch scheiden, oder?«

»Leute lassen sich aus verschiedensten Gründen scheiden.«

»Hatte er eine Freundin oder so?«

»Pete, das geht dich wirklich nichts…«

»Denn jetzt hat er keine, falls es das ist, wonach du suchst. Und es kann ja gar nichts anderes sein, denn du würdest hier ja wohl kaum nach Drogen oder so was suchen, weil du genau weißt, dass Dad keine nimmt. Also, war es das? Hatte er eine? Oder hat er getrunken? Da ist dieser Barry in meiner Klasse, und dessen Eltern trennen sich gerade, weil sein Vater ausgerastet ist und die Scheibe in der Haustür zertrümmert hat. Da war er besoffen.« Pete ließ sie nicht aus den Augen. Er schien zu versuchen, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. »Doppelckverglasung«, fügte er hinzu.

Sie lächelte wider Willen. Dann legte sie die Arme um ihn und zog ihn an sich. »Doppelverglasung«, wiederholte sie. »Das ist ein ziemlich guter Grund, einen Mann vor die Tür zu setzen.«

Aber er riss sich los. »Mach dich nicht über mich lustig.« Er machte auf dem Absatz kehrt.

»Pete, komm…«, bat sie.

Er antwortete nicht. Vielmehr schloss er seine Zimmertür hinter sich, sodass sie nur dastehen und das leere Türblatt anstarren konnte.

Sie hätte ihm folgen können, aber sie konnte sich einfach nicht bremsen und betrat das Bad, obwohl ihr bewusst war, wie albern sie sich benahm. Genau wie überall sonst im Haus war auch hier nichts zu finden. Nur Rays Rasierzeug, feuchte Handtücher, die unordentlich auf einer Stange hingen, ein himmelblauer Duschvorhang vor der Wanne, der zum Trocknen geschlossen worden war. Und in der Wanne ein Seifenhalter.

Eine Wäschetonne stand unter dem Fenster, aber die durchsuchte sie nicht. Stattdessen setzte sie sich auf den Toilettendeckel und starrte zu Boden; nicht um die Bodenfliesen nach Indizien sexuellen Fehlverhaltens abzusuchen, sondern um sich zu zwingen, innezuhalten und die Folgen ihrer Handlungen abzuwägen.

Das hatte sie vor vierzehn Jahren schon getan: die Folgen abgewogen. Was es bedeuten würde, länger mit einem Mann zusammenzubleiben und sein Kind zu bekommen, der ihr Tag für Tag deutlich machte, dass er einen Schwangerschaftsabbruch wünschte. Lass es abtreiben, Beatrice. Tu es jetzt. Wir haben doch schon ein Kind großgezogen. Ginny ist inzwischen flügge und aus dem Nest, und jetzt kommt unsere Zeit! Wir wollten diese Schwangerschaft doch nicht. Wir haben uns einfach nur verrechnet, aber wir müssen doch nicht bis ans Ende unserer Tage für diesen Fehler bezahlen.

Sie hätten doch Pläne, hatte er ausgeführt, große und wunderbare Dinge zu tun, jetzt da Ginny erwachsen war. Reisen, die sie machen, Orte, die sie sehen wollten. Ich will dieses Kind nicht. Und du willst es auch nicht. Ein Besuch in der Klinik, und wir haben es hinter uns.

Es war seltsam, wenn sie jetzt daran zurückdachte, wie sich die Sichtweise auf einen Menschen von einer Sekunde zur anderen wandeln konnte. Aber genau das war passiert. Sie hatte Ray mit neuen Augen betrachtet. Wie leidenschaftlich er argumentiert hatte, mit dem Ziel, ihr Kind zu töten. Es hatte sie bis ins tiefste Innere mit eisiger Kälte erfüllt.

Auch wenn er die Wahrheit sagte — sie hatte die Hoffnung auf eine zweite Schwangerschaft längst aufgegeben, als diese sich nicht in absehbarer Zeit nach Ginnys Geburt eingestellt hatte, und nun, da Ginny geheiratet und ihre eigene Familie gegründet hatte, stand es Bea und Ray in der Tat frei, Zukunftspläne zu machen — doch dies war keine Wahrheit für sie, die in Stein gemeißelt war. Das war es nie gewesen. Eher eine stille Akzeptanz, die aus der ursprünglichen Enttäuschung erwachsen war. Doch es war falsch, es als freien und unumstößlichen Entschluss zu betrachten, und sie kam nicht damit zurecht, dass Ray genau das tat.

Also hatte sie ihm gesagt, er solle gehen. Nicht, um ihn aufzurütteln und zu bewegen, die Dinge aus ihrer Sicht zu betrachten. Sie hatte es getan, weil sie glaubte, sie habe ihn nie richtig gekannt. Wie hätte sie diesen Mann kennen sollen, der den Wunsch hatte, ein Leben zu zerstören, das sie in ihrer Liebe füreinander erschaffen hatten?

Aber wie hätte sie all das Pete erzählen können? Ihn wissen lassen, dass sein Vater ihm seinen Platz in der Welt hatte verweigern wollen? Das konnte sie nicht. Sollte Ray es ihm doch sagen, wenn er dazu imstande war.

Sie stand auf und klopfte an Petes Zimmertür. Obwohl er nicht reagierte, trat sie ein. Pete saß am Computer, hatte die Website von Arsenal angeklickt und surfte durch die Bilder seiner Idole, aber er tat es untypisch lustlos.

»Was machen die Hausaufgaben, Liebling?«, fragte sie.

»Schon fertig«, erwiderte er. Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Ich hab 'ne Eins in Mathe.«

Sie ging zu ihm und küsste ihn auf den Kopf. »Ich bin stolz auf dich.«

»Das hat Dad auch gesagt.«

»Weil er wirklich stolz auf dich ist. Das sind wir beide. Du bist unser Bester, Pete.«

»Er hat mich nach diesen Typen aus dem Internet gefragt, mit denen du dich triffst.«

»Na, da konntest du ja ein paar interessante Storys zum Besten geben. Hast du ihm von dem Typen erzählt, dem Hund Zwei ans Bein gepinkelt hat?«

Pete schnaufte seine Form eines nachsichtigen Lachens. »Das war echt ein Wichser. Sogar der Hund wusste das.«

»Was sind denn das für Ausdrücke, Pete«, murmelte sie. Einen Moment betrachtete sie die Fotos der Fußballspieler, die er durchklickte. »Bald ist Weltmeisterschaft«, sagte sie unnötigerweise. Ihre Pläne, eines der WM-Spiele zu besuchen, waren wohl das Letzte auf der Welt, was Pete vergessen könnte.

»Ja«, hauchte er. »Bald ist Weltmeisterschaft. Vielleicht könnten wir Dad fragen, ob er mitkommen will. Er würde sich bestimmt freuen, wenn wir ihn fragen.«

Er machte es ihr leicht. Es war höchst unwahrscheinlich, dass sie noch ein Ticket würden ergattern können; was machte es also, wenn sie einwilligte? »Einverstanden«, antwortete sie. »Wir fragen Dad. Du kannst es ihm heute Abend vorschlagen, wenn er nach Hause kommt.« Sie strich ihm übers Haar und küsste seinen Kopf noch einmal. »Kommst du hier alleine klar bis heute Abend, Pete?«

»Muuum!« Ein lang gezogener, mehrsilbiger Laut, der aussagte: Ich bin kein Baby mehr.

»Okay, okay. Ich bin schon weg«, versprach sie.

»Bis dann. Ich hab dich lieb, Mum.«

Sie fuhr zurück nach Casvelyn. Die Bäckerei, wo Madlyn Angarrack arbeitete, lag nicht weit von der Polizeiwache entfernt, also parkte sie vor dem grauen, gedrungenen Gebäude und ging das restliche Stück zu Fuß. Der Wind hatte aufgefrischt, kam jetzt aus Nordwesten und brachte eine eisige Erinnerung an den Winter mit sich. So würde es bis zum späten Frühling bleiben, der hier immer nur langsam und nicht ohne Rückschläge Einzug hielt.

Die Bäckerei Casvelyn of Cornwall befand sich in einem hübschen weißen Haus gegenüber des St. Mevan Down. Bea gelangte über die Queen Street dorthin, wo es immer noch von Fußgängern und Autos wimmelte, obwohl der Nachmittag sich bereits dem Ende zuneigte. Es hätte sich um die Einkaufsstraße in jeder beliebigen Stadt im Land handeln können, dachte Bea bei sich, als sie den Gehweg entlanghastete. Die allgegenwärtigen grässlichen Kunststoffschilder über Türen und Fenstern identifizierten die immer gleichen Ladenketten. Erschöpfte Mütter schoben ihre Kinder in Buggys die Straße entlang, und vor der Videothek standen Schüler in schlecht sitzenden Uniformen und rauchten.

Die Bäckerei unterschied sich nur insofern von den anderen Geschäften, als ihr Schild aus Holz gefertigt und in viktorianischer Schnörkelschrift ausgeführt war. Im Schaufenster lag Reihe um Reihe der goldenen Pasteten, für die die Bäckerei berühmt war.

Hinter der Theke waren zwei Mädchen gerade dabei, einige dieser Backwaren für einen schlaksigen jungen Mann in Kapuzenjacke in eine Schachtel zu packen. Eines dieser Mädchen musste Madlyn Angarrack sein, schloss Bea. Vermutlich die schlanke Dunkelhaarige. Die andere hatte Übergewicht und Pickel im Gesicht, was es objektiv gesehen wenig wahrscheinlich machte, dass gerade sie das Objekt der Begierde eines gut aussehenden Achtzehnjährigen gewesen war.

Bea wartete, bis der Kunde seine Pasteten erhalten hatte und ging. Dann fragte sie nach Madlyn Angarrack, und wie sie erwartet hatte, gab sich das dunkelhaarige Mädchen zu erkennen. Bea zeigte ihren Dienstausweis vor und bat Madlyn um ein paar Minuten ihrer Zeit.

Madlyn wischte sich die Hände an der gestreiften Schürze ab, sah zu ihrer Kollegin, die allzu interessiert zu lauschen schien, und antwortete, sie werde draußen mit Bea reden. Sie wolle sich nur schnell ihren Anorak holen. Bea entging nicht, dass das Mädchen keinerlei Überraschung angesichts ihres Besuchs gezeigt hatte.

Als sie draußen auf dem Gehweg standen, sagte Madlyn: »Ich weiß Bescheid über Santo. Dass er ermordet wurde. Kerra hat es mir gesagt. Seine Schwester.«

»Also überrascht es Sie nicht, dass ich mit Ihnen sprechen möchte.«

»Es überrascht mich nicht.« Mehr gab Madlyn nicht preis, ganz so als sei sie gründlich über ihre Rechte informiert und wolle nun abwarten, was Bea wusste und was sie eventuell argwöhnte.

»Sie und Santo hatten eine Beziehung.«

»Santo«, erwiderte Madlyn, »war mein Liebhaber.«

»Sie würden ihn nicht als Ihren Freund bezeichnen?«

Madlyn sah zu der Anhöhe auf der anderen Seite der Straße hinüber. Strandhafer und Süßgras neigten sich dort im Wind. »Mein Freund war er zu Anfang«, antwortete sie zögernd. »Wir waren Freund und Freundin. Wir sind zusammen ausgegangen, haben rumgehangen, waren surfen… So hab ich ihn kennengelernt. Ich hab ihm das Surfen überhaupt erst beigebracht. Aber dann wurden wir ein Liebespaar, und ich nenne es so, weil wir genau das waren: zwei Menschen, die sich liebten und ihre Liebe durch Geschlechtsverkehr ausdrückten.«

»Offene Worte.« Die meisten Mädchen ihres Alters wären nicht so direkt gewesen. Bea fragte sich, aus welchem Grund ausgerechnet Madlyn es war.

»Aber so ist es doch nun mal, oder?« Die Worte klangen brüchig. »Der Penis des Mannes dringt in die Vagina der Frau ein. Darum geht es doch einzig und allein. Also, die Wahrheit ist, dass Santo seinen Penis in meine Vagina gesteckt hat, und ich habe es zugelassen. Er war der Erste für mich. Ich aber nicht für ihn. Ich hab gehört, dass er tot ist. Ich kann nicht behaupten, dass es mir sonderlich leidtut. Dass es Mord war, wusste ich nicht. Das ist eigentlich alles, was ich Ihnen zu sagen habe.«

»Aber es ist nicht alles, was ich wissen muss, fürchte ich«, eröffnete Bea dem Mädchen. »Hören Sie, wollen wir vielleicht irgendwo einen Kaffee trinken gehen?«

»Ich hab noch nicht Feierabend. Ich kann nicht einfach so verschwinden. Eigentlich sollte ich noch nicht mal hier mit Ihnen stehen.«

»Wenn Sie möchten, dass wir uns später treffen…?«

»Das ist nicht nötig. Mehr weiß ich nicht. Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen. Nur so viel: Santo hat vor ungefähr acht Wochen mit mir Schluss gemacht, und das war's. Ich weiß nicht, wieso.«

»Er hat keinen Grund genannt?«

»Es sei Zeit, hat er gesagt.« Sie klang immer noch hart, aber zum ersten Mal schien sie ins Wanken zu geraten. »Wahrscheinlich hat er jemand anderes gefunden, aber das wollte er nicht zugeben. Nur dass es gut mit uns gewesen sei, aber jetzt sei es eben an der Zeit, die Sache zu beenden. Eigentlich war alles in bester Ordnung, aber von heute auf morgen war es vorbei. Wahrscheinlich hat er das mit allen so gemacht, aber wie hätte ich das wissen sollen. Ich kannte ihn schließlich nicht, bevor er im Laden meines Vaters aufgetaucht ist, um ein Surfboard zu kaufen, und Unterricht haben wollte.«

Sie hatte die ganze Zeit auf die Straße und die Anhöhe auf der gegenüberliegenden Seite geschaut, doch jetzt richtete sie den Blick auf Bea. »War das alles?«, fragte sie. »Ich weiß sonst nichts.«

»Ich habe gehört, dass Santo im Begriff war, etwas Anormales zu tun«, erwiderte Bea. »Das war das Wort, das mir gegenüber gebraucht wurde. Anormal. Ich frage mich, ob Sie wissen, was das war.«

Sie runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit — anormal?«

»Er hat einer Freundin hier aus dem Ort erzählt…«

»Das muss Tammy Penrule gewesen sein. Sie interessierte ihn nicht auf die Art, wie andere Mädchen ihn interessierten. Wenn Sie sie gesehen haben, wissen Sie ja, warum.«

»… dass er jemanden kennengelernt habe, aber dass die Situation anormal sei. Das waren seine Worte. Meinte er vielleicht ungewöhnlich oder abartig? Wir wissen es nicht. Aber er hat sie um Rat gefragt, ob er zu allen Betroffenen offen darüber sprechen sollte.«

Madlyn lachte rau. »Was immer es war, mir hat er nichts davon gesagt. Aber er war…« Sie stockte. Ihre Augen strahlten unnatürlich. Sie hustete und stampfte einmal mit dem Fuß auf. »Santo war eben Santo. Ich habe ihn geliebt, und dann hab ich ihn gehasst. Ich nehme an, er hat eine Neue gefunden, die er ficken wollte. Ficken war sein großes Hobby, verstehen Sie? Ficken war definitiv sein liebster Zeitvertreib.«

»Aber wenn es anormal war… Wieso könnte er es so genannt haben?«

»Ich habe keine Ahnung, und es ist mir auch egal. Vielleicht hatte er zwei Frauen gleichzeitig. Oder eine Frau und einen Kerl. Vielleicht hatte er sich in den Kopf gesetzt, seine eigene Mutter zu vögeln. Ich weiß es nicht.«

Und damit verschwand sie im Laden, wo sie den Anorak abstreifte.

Ihr Ausdruck war hart, aber Bea hatte das untrügliche Gefühl, das Mädchen wisse weit mehr, als es ihr gesagt hatte. Im Moment konnte sie jedoch nichts weiter erreichen, besonders nicht indem sie hier auf dem Bürgersteig herumstand sie konnte allenfalls der Versuchung nachgeben, sich eine Pastete zum Abendessen zu kaufen, was ihr ganz bestimmt nicht guttäte.

Also ging sie zur Polizeiwache zurück. Die Beamten der Taucherstaffel dieser Dorn in ihrem Fleisch erstatteten dort gerade Sergeant Collins Bericht und schilderten ihre Ermittlungsfortschritte. Der Sergeant schrieb alles sorgsam auf die Magnettafel.

»Wie sieht es aus?«, fragte Bea in die Runde.

»Wir haben zwei Fahrzeuge, die in der Umgebung aufgefallen sind«, antwortete Collins. »Ein Defender und ein RAV4.«

»In der Nähe der Klippe? Oder bei Santos Wagen? Wo genau?«

»Das eine war in Alsperyl. Das liegt nördlich von Polcare Cove aber von dort kommt man gut zu den Klippen. Es ist ein ordentliches Stück zu laufen, über die Wiesen, aber wenn man erst mal auf den Küstenpfad kommt, kann man von dort aus gut die Bucht erreichen. Das war der Defender. Der RAV4 wurde ein Stück weiter südlich von Polcare gesichtet, oberhalb von Buck's Haven.«

»Und das ist…?«

»Ein beliebter Surf-Spot. Also vielleicht war das Auto deswegen dort.«

»Wieso "vielleicht"?«

»Es war kein gutes Wetter zum Surfen an dem Tag…«

»Vor Widemouth Bay waren die Wellen besser«, warf Constable McNulty ein, der immer noch an Santos Computer saß. Bea schaute zu ihm hinüber und schärfte sich ein, dass sie unbedingt noch überprüfen musste, was er in den vergangenen Stunden getrieben hatte.

»Wie auch immer«, fuhr Collins fort. »Wir fordern bei der Straßenverkehrsbehörde die Halterdaten aller Defender und RAV4 aus der Gegend an.«

»An die Kennzeichen kann sich niemand erinnern?«

»Leider nicht«, antwortete Collins. »Aber ich glaube kaum, dass es hier besonders viele Defender gibt, also haben wir vielleicht Glück, und ein Haltername kommt uns bekannt vor. Gleiches gilt für den RAV4, obwohl es davon sicherlich eine ganze Menge gibt. Wir müssen die Liste durchgehen und auf einen Namen hoffen.«

Inzwischen seien überdies die Fingerabdrücke aller fraglichen Personen genommen worden, fuhr Sergeant Collins fort, und würden durch die Datenbank gejagt und mit denen aus Santo Kernes Wagen abgeglichen. Die Nachforschungen über die persönlichen Hintergründe der Beteiligten dauerten noch an. Ben Kernes Finanzen seien anscheinend in Ordnung, und die einzige Versicherung, die auf Santo abgeschlossen worden war, reiche gerade aus, um ihn zu beerdigen. Die einzige Person, über die sie bislang etwas Interessantes herausgefunden hatten, sei dieser William Mendick, den Jago Reeth erwähnt hatte. Mendick sei vorbestraft, teilte Collins ihr mit.

»Das ist ja wunderbar«, bemerkte Bea. »Was für ein Vergehen?«

»Angeklagt wegen vorsätzlicher Körperverletzung, in Plymouth. Hat dafür auch gesessen. Er ist gerade erst aus dem offenen Vollzug entlassen worden.«

»Sein Opfer?«

»Ein junger Hooligan namens Conrad Nelson, mit dem er sich geprügelt hat. Der ist jetzt querschnittsgelähmt. Mendick hat die ganze Sache geleugnet… oder sich zumindest damit rausgeredet, dass er besoffen gewesen wäre, und mildernde Umstände geltend gemacht. Sie wären beide betrunken gewesen, hat er behauptet. Aber Mendick hat ein richtiges Alkoholproblem. Seine Sauferei hat in Plymouth regelmäßig zu Schlägereien geführt, und eine seiner Bewährungsauflagen war, dass er zu den Anonymen Alkoholikern geht.«

»Können wir das überprüfen?«

»Ich wüsste nicht, wie. Es sei denn, er legt seinem Bewährungshelfer irgendwelche Bescheinigungen vor, die belegen, dass er dort war. Aber was würde das schon beweisen? Er könnte ganz brav regelmäßig zu den Treffen gegangen sein und das Ganze nur als Show abziehen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Das tat sie allerdings. Aber Will Mendicks Alkoholproblem und seine Vorstrafe waren endlich einmal ein brauchbarer Ansatz. Sie erinnerte sich an Santo Kernes blaues Auge. Nachdenklich schlenderte sie zu Constable McNulty hinüber. Dort sah sie auf Santo Kernes Computermonitor exakt das, was sie erwartet hatte: eine gigantische Welle und einen Surfer, der sie ritt. Verdammter Kerl.

»Constable«, blaffte sie. »Was zum Henker tun Sie da?«

»Jay Moriarty«, antwortete er.

»Was?«

»Das ist Jay Moriarty«, erklärte er und nickte zum Bildschirm. »Da war er sechzehn. Ist das zu glauben? Es heißt, diese Welle war fünfzehn Meter hoch.«

»Constable…« Bea rang um Geduld. »Sagt Ihnen der Ausdruck "sein Schicksal herausfordern" irgendetwas?«

»Und das hier ist Mavericks. Nordkalifornien.«

»Ihr Wissen imponiert mir.«

Ihr Sarkasmus perlte an ihm ab. »Oh, ich kenn mich gar nicht so gut aus. Nur'n bisschen. Ich versuche, auf dem Laufenden zu bleiben, aber wie soll man die Zeit finden mit dem Junior zu Hause… Aber die Sache ist die, Chef: Dieses Bild von Jay Moriarty wurde in derselben Woche aufgenommen wie…«

»Constable!«

Er blinzelte. »Ja, Chef?«

»Raus aus dem Internet und ran an die Arbeit! Und wenn ich Sie noch einmal mit einer Welle auf dem Bildschirm erwische, dann schick ich Sie mit einem Tritt in die Stratosphäre. Sie sollen auf Santo Kernes Computer nach Informationen suchen, die mit seinem Tod in Zusammenhang stehen könnten. Ihre Aufgabe besteht nicht darin, seine Interessen zu verfolgen. Ist das jetzt klar?«

»Aber, die Sache ist, dieser Mark Foo…«

»Haben Sie mich verstanden, Constable?« Sie hätte ihn am liebsten bei den Ohren gepackt.

»Natürlich. Aber hier ist mehr zu entdecken als seine E-Mails! Santo Kerne hat gewisse Websites besucht, und ich geh auf diese Websites, also kann man doch davon ausgehen, dass jeder…«

»McNulty, verdammt noch mal, jeder könnte diese Seiten angeklickt haben. Vielen Dank auch. Ich tue das in meiner Freizeit, und vielleicht lese sogar ich alles über Jay Moriarty, Mark Boo und all die anderen Jungs…«

»Mark Foo«, verbesserte er. »Nicht Mark Boo.«

»Himmel noch mal, McNulty!«

»Inspector?«, rief Collins von der Tür herüber. Er nickte auf den Flur hinaus, von wo er gekommen war, während Bea sich McNulty vorgenommen hatte.

»Was denn?«, fragte sie ungehalten.

»Unten wartet jemand auf Sie. Eine… Dame?« Er schien sich unsicher, ob der Begriff passte.

Bea fluchte leise. Zu McNulty sagte sie: »Machen Sie sich wieder an die Arbeit, und bleiben Sie dabei!« Dann schritt sie an Collins vorbei und lief die Treppe hinab.

Die fragliche Dame stand unten am Empfang, und als Bea sie sah, nahm sie an, es war ihre Erscheinung, die Collins unsicher bezüglich seiner Wortwahl gemacht hatte. Die Besucherin überflog die Anschläge am Schwarzen Brett, was Bea Gelegenheit gab, sie einen Moment zu mustern. Sie trug einen gelben Regenhut auf dem Kopf, obwohl es nicht mehr regnete, und eine noppige Steppjacke über einer schlammfarbenen Cordhose. Die Füße steckten in leuchtend roten knöchelhohen Turnschuhen. Sie sah nicht aus wie jemand, der mit brauchbaren Informationen kam. Eher wie die Überlebende eines Schiffbruchs.

»Ja bitte?«, fragte Bea. Sie hatte es eilig, und sie machte sich keine Mühe, die Ungeduld aus ihrer Stimme zu halten. »Ich bin Detective Inspector Hannaford. Was kann ich für Sie tun?«

Die Frau wandte sich um und streckte ihr die Hand entgegen. Als sie sprach, entblößte sie einen abgebrochenen Schneidezahn. »Detective Sergeant Barbara Havers«, stellte sie sich vor. »New Scotland Yard.«


Cadan trat in die Pedale, als wäre der Teufel hinter ihm her, und das war keine geringe Leistung, war er doch auf einem Kunstrad unterwegs: nicht dafür gebaut, die Straße entlangzubrausen. Pooh krallte sich in seine Schulter, krächzte empört zu Recht, denn es war die Tageszeit, da die weiter entfernt arbeitenden Menschen nach Hause fuhren, und darum war es voll auf den Straßen. Das galt ganz besonders für die Belle Vue Lane, die einen Teil der Hauptverkehrsader durch die Stadt bildete. Es war eine Einbahnstraße, und Cadan wusste, er hätte mit dem Verkehrsstrom in die Umgehungsstraße abbiegen sollen, die vor einiger Zeit angelegt worden war, um die Innenstadt zu entlasten. Aber das wäre ein Umweg gewesen, und dafür hatte er es zu eilig.

Also fuhr er entgegen der Fahrtrichtung durch die Einbahnstraße, was ihm nicht wenige Hupsignale und wütende Rufe eintrug — kleine Sorgen im Vergleich zu seinem Bedürfnis zu entkommen.

Die Sache war nämlich, dass Dellen Kerne — trotz ihres Alters, das ja eigentlich doch noch nicht so indiskutabel war, oder? — genau die Art sexueller Erlebnisse bot, die Cadan am liebsten waren: heiß, schnell, gierig und fertig. Ohne Reue, ohne Erwartungen. Andererseits: Cackdan war kein Vollidiot. Die Frau des Chefs vögeln? In ihren eigenen vier Wänden, in der Küche? Das war, als setzte man seinen eigenen Grabstein.

Nicht dass Dellen die Absicht gehabt hätte, in der Küche zu vögeln. Sie hatte sich aus ihrer Umschlingung — die Cadan einen leichten Schwindel und raschen Blutzufluss an genau der richtigen Stelle verursacht hatte — gelöst und den sinnlichen Tanz fortgesetzt, den sie zu der Latinomusik aus dem Radio begonnen hatte. Doch nur einen Augenblick später war sie zu ihm zurückgekommen, hatte sich an ihn gedrängt und die Finger über seine Brust wandern lassen. Danach hatte es keiner komplizierten Tanzschritte bedurft, bis sie sich Hüfte an Hüfte und Becken an Becken befanden. Und die Musik hatte einen drängenden Rhythmus, dessen Implikation man unmöglich ignorieren konnte.

Es war ebendieser Augenblick, in dem sich das bewusste Denken gern verabschiedet. Das Großhirn stellt den Dienst ein, und das Kleinhirn, das nur die atavistischsten Motive kennt, übernimmt das Kommando, bis Befriedigung erreicht ist. So war er, als Dellens Hand seine Brust hinabglitt und den empfindsamsten Teil seiner Physiognomie berührte, bereit gewesen, es sofort und ohne Umschweife auf dem Küchenfußboden mit ihr zu treiben, so sie ihn denn ließ.

Er umklammerte ihren Hintern mit einer Hand, die Brust mit der anderen, nahm die Brustwarze fest zwischen zwei Finger und steckte ihr gierig die Zunge in den Mund — doch mit einem heiseren Lachen wich sie zurück. »Nicht hier, Dummerchen. Du weißt doch, wo die Strandhütten stehen, oder?«

»Strandhütten?«, echote er dümmlich. Sein Kleinhirn interessierten Hütten oder Strände nicht.

»Die Strandhütten, mein Süßer«, erklärte Dellen. »Da unten, gleich oberhalb des Strandes. Hier. Da hast du einen Schlüssel.« Sie hatte ihn an einer Kette tief zwischen ihren vollen Brüsten getragen und nahm ihn nun ab. Hatte sie ihn gestern auch schon dabeigehabt? Cadan war keine Kette aufgefallen, und er wollte nicht daran denken, was es bedeutete, wenn sie sie heute erst angelegt hätte. »Ich kann in zehn Minuten dort sein«, stellte sie ihm in Aussicht. »Du auch?« Sie küsste ihn, während sie ihm den Schlüssel in die Hand drückte und seine Finger darum schloss. Und für den Fall, dass er vergessen hatte, worum es hier ging, rief sie es ihm mit einer flinken Geste in Erinnerung.

Als sie von ihm abließ, sah er auf den Schlüssel in seiner Hand hinab. Er versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Dann hob er den Blick, sah sie an. Sah den Schlüssel an, dann wieder sie. Dann die Tür. Dort stand Kerra und starrte sie an.

»Störe ich?« Kerras Gesicht war weiß wie ein Laken. Nur zwei rote Flecken brannten auf ihren Wangen.

Dellen lachte schrill. »O mein Gott«, sagte sie. »Es liegt an der verdammten Musik. Die geht jungen Männern immer ins Blut. Du unartiger Bengel, Cadan! Mich so durcheinanderzubringen! Mein Gott, ich könnte deine Mutter sein!« Sie schaltete das Radio aus. Die Stille, die folgte, war ohrenbetäubend.

Cadan brachte keinen Ton heraus. Er starrte Kerra an und wusste, wenn er sich ihr zuwandte, würde sie die verräterische Wölbung in seiner Hose sehen und was noch viel schlimmer war die feuchte Stelle, die er fühlte. Was, wenn sie ihrem Vater davon erzählte? Wenn sich doch nur der Boden unter ihm auftäte! Er verspürte den unbändigen Drang zu fliehen und genau das tat er. Später wusste er nicht mehr, wie er es geschafft hatte, aber er hatte Pooh von der Rückenlehne des Stuhls gehoben, war aus der Küche gestürzt, als hätte er einen Raketenantrieb, hatte die Stimmen zurückgelassen vor allem Kerras Stimme, deren Tonfall nicht eben freundlich klang. Drei Etagen die Treppe hinab und hinaus ins Freie. Er war zu seinem Fahrrad gehastet und damit losgerannt, hatte es angeschoben, bis es die gewünschte Geschwindigkeit aufgenommen hatte. Dann war er aufgesprungen und hatte in die Pedale getreten.

O nein! O nein! So 'n Mistverdammtescheiße! Er wusste nicht, was er tun oder wohin er sich wenden sollte, und wie auf Autopilot lenkte er sein Rad zum Binner Down. Er brauchte einen Rat, und zwar schleunigst. Bei LiquidEarth würde er ihn bekommen.

Er bog in die Vicarage Road ein und radelte weiter zur Arundel Lane. Auf der glatten Straßendecke kam er gut voran, doch Pooh protestierte lautstark, als sie das ehemalige Flugfeld mit seinen Fahrrillen und Schlaglöchern erreichten. Aber es war nicht zu ändern. Cadan riet dem Papagei, sich gut festzuhalten, und keine zwei Minuten später warf er das Rad auf die alte Betonrampe an der Wellblechhütte, wo sein Vater Surfbretter baute.

Im Verkaufsraum setzte er Pooh auf die Kasse hinter der Ladentheke. »Nicht kacken, Kumpel«, ermahnte er ihn und öffnete die Tür zur Werkstatt. Dort fand er den Mann, den er gesucht hatte — nicht seinen Vater; der hätte Cadans Geschichte vermutlich mit einer Predigt über die lebenslange Dummheit seines Sohnes kommentiert. Es war Jago, dem er sein Herz ausschütten wollte und der sich gerade in einem kritischen Stadium seiner Arbeit befand und die scharfen Fiberglaskanten an den Rails eines Swallowtail-Boards abschliff. Als die Tür aufflog, sah Jago hoch. Er schien auf einen Blick zu erkennen, in welchem Zustand der Junge sich befand, trat zu dem staubigen Radio, das auf einem ebenso staubigen Regal hinter den Holzböcken stand, und schaltete es aus. Dann nahm er die Brille ab und versuchte, sie am Oberschenkel seines weißen Overalls abzuwischen mit sehr zweifelhaftem Erfolg.

»Was ist passiert, Cadan?«, fragte er. »Wo ist dein Vater? Alles in Ordnung mit ihm? Wo ist Madlyn?« Seine linke Hand zuckte krampfartig.

Cadan antwortete: »Nein, nein… Keine Ahnung.« Was er meinte, war, dass er annahm, alles sei in Ordnung mit seinem Vater und seiner Schwester, aber in Wahrheit hatte er keinen Schimmer. Er hatte Madlyn seit dem Frühstück nicht mehr gesehen und seinen Vater heute überhaupt noch nicht. Er wollte nicht darüber nachdenken, was dieser letzte Umstand bedeuten mochte. Es wäre eine Sorge mehr, und sein Kopf drohte jetzt schon zu platzen. Schließlich sagte er: »Alles okay, schätz ich. Madlyn wird bei der Arbeit sein.«

»Gut.« Jago nickte nachdenklich und wendete sich wieder dem Surfboard zu. Er griff nach dem Schmirgelpapier, aber ehe er sich an die Arbeit machte, fuhr er mit den Fingerspitzen über die Rails. »Du bist hier reingestürmt, als wäre der Teufel hinter dir her.«

»So ähnlich war's auch. Hast du 'ne Minute?«

Jago nickte. »Immer. Ich hoffe, das weißt du.«

Cadan fühlte sich, als würde ihm eine enorme Bürde von den Schultern genommen, und die Geschichte brach sich Bahn: die Missbilligung seines Vaters, Cadans Träume von den X-Games, Adventures Unlimited, Kerra Kerne, Ben Kerne, Alan Cheston und Dellen. Vor allem Dellen. Es sprudelte ungeordnet aus ihm heraus. Jago lauschte geduldig. Bedächtig schmirgelte er die Rails ab und nickte, während Cadan von einem Punkt zum anderen sprang.

Zum Schluss kam er endlich dort an, wo, wie sie beide wussten, der springende Punkt lag: Cadan Angarrack, in flagranti ertappt, wie es eindeutiger kaum ging, es sei denn, er und Dellen hätten es stöhnend und zuckend auf dem Küchenfußboden getrieben.

Jagos Kommentar lautete: »Wie die Mutter, so der Sohn, könnte man wohl sagen. Ist dir das nicht in den Sinn gekommen, als sie mit dir gespielt hat, Cadan?«

»Ich hab nicht damit gerechnet… Ich kannte sie überhaupt nicht, verstehst du? Sie kam mir gestern schon ein bisschen merkwürdig vor, aber ich hätte nie gedacht… Sie ist… Jago, sie könnte meine Mutter sein!«

»Wohl kaum. Bei allem, was man ihr nachsagen kann, aber deine Mutter hat sich wenigstens an ihresgleichen gehalten.«

»Wie meinst du das?«

»Nach dem, was Madlyn erzählt und sie hat keine sehr hohe Meinung von eurer Mum, hat Wenna Angarrack sich bei der langen Liste ihrer Nachnamen immer in ihrer Altersgruppe bewegt. Der da…«, und Cadan schloss aus Jagos angewidertem Tonfall, dass er von Dellen Kerne sprach, »… ist es völlig egal, wie alt ihr Spielgefährte ist. Ich nehm an, es gab Anzeichen, die du hättest sehen können.«

»Sie hat danach gefragt…«, räumte Cadan ein.

»Wonach?«

»Sex. Sie hat mich gefragt, mit wem ich Sex habe.«

»Und das kam dir nicht ein bisschen komisch vor, Cadan? Dass eine Frau in ihrem Alter dich solche Sachen fragt? Sie wollte dir auf den Zahn fühlen.«

»Ich hab nicht richtig…« Cadan versuchte, Jagos Blick auszuweichen. Über dem Radio hing ein Poster an der Wand: ein hawaiianisches Mädchen, das aus irgendeinem Grund, der sich ihm nicht erschließen wollte, nichts trug als einen Blumenkranz um den Hals und eine Krone aus Palmblättern und das mit lässiger Eleganz über eine stattliche Welle jagte. Manche Menschen, schoss es Cadan durch den Kopf, wurden mit einem enormen Selbstbewusstsein geboren. Er selbst gehörte leider nicht dazu.

»Du hast genau gewusst, was los war«, belehrte Jago ihn nun. »Du hast dir gedacht, du hättest eine Dreilochschlampe gefunden. Oder schlimmstenfalls ein konventionelles Nümmerchen. So oder so wärst du mit ihr gut dran.« Er schüttelte verächtlich den Kopf. »Dass Jungs in deinem Alter immer nur mit dem Schwanz denken können!«

»Sie hatte mir angeboten, etwas zu essen zu machen«, verteidigte Cadan sich.

Jago schnaubte. »Darauf wette ich. Und sie hatte die Absicht, der Nachtisch zu sein.« Er legte das Sandpapier beiseite und lehnte sich an das Surfbrett. »Eine Frau von ihrer Sorte bringt nichts als Ärger, Cadan. Sie angelt sich einen Kerl, indem sie ihm einen Vorgeschmack gibt. Ein bisschen hier und jetzt, ein bisschen später bis sie ihn mit Haut und Haaren in ihren Klauen hat. Und dann läuft auf einmal überhaupt nichts mehr, bis er irgendwann nicht mehr weiß, was er überhaupt glauben soll, und am Ende glaubt er ihr alles. Sie beschert ihm Dinge, die er noch nie gefühlt hat, und er kommt zu dem Schluss, das kann ihm keine andere bieten. So läuft das. Am besten, du ziehst deine Lehre daraus und vergisst die ganze Sache.«

»Aber mein Job…«, wandte er ein. »Ich brauch den Job doch, Jago.«

Jago zeigte mit seinem zitternden Finger auf ihn. »Aber was du nicht brauchen kannst, ist diese Familie. Guck dir doch nur an, was es Madlyn eingebracht hat, sich mit den Kernes einzulassen! Hat sie irgendwas dadurch gewonnen, dass sie für den Bengel die Beine breitgemacht hat?«

»Aber du hast sie doch sogar in deinem…«

»Sicher. Als mir klar wurde, dass ich ihr nicht würde ausreden können, Santo ranzulassen, war das Mindeste, was ich tun konnte, dafür zu sorgen, dass sie ein sicheres Plätzchen dafür hatten. Also hab ich ihnen meinen Caravan überlassen. Aber hat das irgendetwas genützt? Es hat alles nur noch schlimmer gemacht! Santo hat sie benutzt und dann weggeworfen. Das einzig Gute war, dass das Mädchen jemanden zum Reden hatte, der nicht gleich mit diesem "Ich hab's dir doch gleich gesagt"-Unsinn ankam.«

»Ich kann mir vorstellen, dass du es gern gesagt hättest.«

»Und damit hast du auch verdammt recht. Aber was passiert war, war nun mal passiert. Also: Was hätte es noch genutzt? Die Frage ist, Cadan, willst du den gleichen Weg gehen wie deine Schwester?«

»Das ist doch nicht das Gleiche! Und außerdem ist mein Job…«

»Scheiß auf den Job! Mach endlich deinen Frieden mit deinem Vater! Komm zurück hierher! Wir haben Arbeit genug. Zu viel sogar, jetzt da die Saison vor der Tür steht. Du bist geschickt genug, wenn du nur willst.«

Jago wandte sich wieder seiner eigenen Arbeit zu, hielt dann aber doch noch einmal inne. »Einer von euch beiden muss seinen Stolz hinunterschlucken, Cadan. Er hat dir die Autoschlüssel und den Führerschein aus gutem Grund weggenommen. Damit du am Leben bleibst. Nicht jeder Vater macht sich diese Sorgen. Nicht jeder Vater macht sich diese Mühe mit seinen Kindern und hat auch noch Erfolg damit. Darüber solltest du mal nachdenken, Junge.«


»Du bist widerlich«, fauchte Kerra ihre Mutter an. Ihre Stimme zitterte, und das machte es für sie nur noch schlimmer. Das Zittern hätte Dellen zu der Erkenntnis bringen können, ihre Tochter empfände Angst, Verlegenheit oder und — das wäre das Erbärmlichste — eine Art Entsetzen. Dabei war alles, was Kerra fühlte, Zorn. Kochend heißer, weißglühender, vollkommen reiner Zorn und er richtete sich gebündelt gegen diese Frau, die ihr gegenüberstand. Sie spürte mehr Zorn auf Dellen als seit Jahren, und das hätte sie nicht für möglich gehalten. »Du bist widerlich«, wiederholte sie. »Hörst du mich, Mum?«

»Und was genau bist du?«, entgegnete Dellen. »Schleichst dich hier an und spionierst mir nach? Bist du stolz auf dich?«

»Du willst mir Vorhaltungen machen?«

»Allerdings. Du schnüffelst hier rum wie ein Polizeispitzel. Glaub ja nicht, ich wüsste das nicht. Seit Jahren beobachtest du mich und erzählst alles deinem Vater oder sonst irgendwem, der dir zuhören will.«

»Du verdammtes Miststück«, flüsterte Kerra, eher verwundert als wütend. »Du verdammtes unglaubliches Miststück.«

»Es schmerzt, die Wahrheit zu hören, nicht wahr? Dabei war das noch nicht einmal die ganze Wahrheit. Gut, du hast deine Mutter in einem Moment der Unachtsamkeit erwischt, und jetzt hast du die Gelegenheit, auf die du so lange gewartet hast, sie fertigzumachen. Aber du siehst nur, was du sehen willst, Kerra, und nicht das, was du tatsächlich vor der Nase hast.«

»Und das wäre?«

»Die Wahrheit ist: Die Musik hat ihn in Wallung gebracht. Du hast selbst gesehen, dass ich ihn weggestoßen habe. Er ist ein geiler kleiner Wicht, und er hat auf eine Gelegenheit spekuliert. Das ist passiert. Also verschone mich mit deinen hässlichen Anschuldigungen, und fang lieber etwas Sinnvolles mit deiner Zeit an.« Dellen schleuderte mit einer Kopfbewegung ihr Haar nach hinten. »Ich habe ihm ein Mittagessen angeboten. Das kann doch nicht falsch sein, oder? Dagegen kannst du doch nun wirklich keine Einwände haben. Ich habe das Radio eingeschaltet. Was sonst hätte ich tun sollen? Es erschien mir einfacher, als mich mit einem Jungen zu unterhalten, den ich kaum kenne. Und er hat alles falsch gedeutet: die Musik… Sie war sexy, so wie lateinamerikanische Musik es immer ist, und er hat sich dazu hinreißen lassen…«

»Halt den Mund!«, befahl Kerra. »Wir wissen beide, was du vorhattest, also mach es nicht schlimmer, indem du vorgibst, Cadan hätte versucht, dich zu verführen.«

»Ach, heißt er so? Cadan?«

»Hör auf!« Kerra fixierte ihre Mutter mit bedrohlich zusammengekniffenen Augen. Sie musterte sie, sah, dass Dellen sich große Mühe mit ihrem Make-up gegeben hatte: Die Lippen wirkten voller, ihre blauen Augen riesig. Überbetont wie bei einem Model auf dem Laufsteg. Dabei war das Letzte, was Dellen Kerne hatte, eine Laufstegfigur. Doch sie hatte seit jeher gewusst, dass Männer allen Alters auf üppige Formen ansprachen. Sie trug einen roten Schal, rote Schuhe und einen roten Gürtel — nur kleine Farbtupfer, die allein kaum ausreichten, ihr einen Vorwurf zu machen. Aber ihr Pullover war für die Jahreszeit zu dünn und der Ausschnitt so tief, dass er großzügig Einblick in ihr Dekolleté gewährte. Ihre Hose spannte über den Hüften. Aus all dem konnte Kerra Schlüsse ziehen und ein Urteil fällen, was sie mit der Mühelosigkeit jahrelanger Erfahrung auch tat. »Ich habe alles gesehen, Mum. Und du bist eine Schlampe. Eine Nutte. Eine beschissene Fotze. Du bist noch viel schlimmer. Santo ist tot, und nicht einmal das hält dich ab. Stattdessen ist genau das deine Ausrede. "Ich Ärmste! Ich leide ja so sehr! Aber eine ordentliche Nummer wird mich ablenken." Ist es das, was du dir einredest, Mum?«

Dellen wich vor ihrer Tochter zurück, bis sie mit dem Rücken an die Arbeitsplatte stieß. Von einer Sekunde zur nächsten schlug ihre Stimmung um. Tränen schossen ihr in die Augen. »Bitte«, flehte sie. »Kerra. Du siehst doch… Ich bin nicht ich selbst. Du weißt doch, es gibt Zeiten… Du weißt, Kerra… Aber das bedeutet nicht…«

»Wag es ja nicht!«, schrie Kerra schrill. »Seit Jahren tischst du uns deine Ausreden auf, und ich kann es nicht mehr hören, dieses: "Deine Mutter hat Probleme." Soll ich dir mal was sagen, Mum? Wir alle haben Probleme! Und meines steht hier in dieser Küche und glotzt mich an wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird: unschuldig und kummervoll, mit diesem "Sieh nur, was ich alles ertragen muss"-Ausdruck. Dabei haben wir all die Jahre dich ertragen müssen. Dad, ich, Santo. Wir alle. Und jetzt ist Santo tot, wofür du wahrscheinlich auch die Verantwortung trägst. Du machst mich krank!«

»Wie kannst du nur… Er war mein Sohn!« Dellen fing an zu weinen. Keine Krokodilstränen, sondern echte. »Santo«, schluchzte sie. »Mein Schatz.«

»Dein Schatz? Fang ja nicht so an! Er war dir völlig egal, solange er lebte genau wie ich. Wir waren dir immer nur im Weg. Aber tot ist Santo richtig wertvoll für dich. Denn jetzt kannst du ihn als Entschuldigung hernehmen und genau das sagen, was du eben gesagt hast: "Es ist wegen Santo. Wegen der Tragödie, die unsere Familie getroffen hat." Aber das ist nicht der Grund. Es ist der perfekte Vorwand für dich.«

»Sprich nicht so mit mir! Du weißt ja gar nicht, wie ich…«

»Was? Ich weiß nicht, wie du leidest? Wie du seit Jahren gelitten hast? Meinst du das? Denn alles hatte immer nur mit deinem Leid zu tun. Stuart Mahler zum Beispiel. Alles wegen deines schrecklichen, furchtbaren Leids, das niemand außer dir je begreifen kann!«

»Hör auf, Kerra! Bitte! Du musst aufhören.«

»Ich habe es gesehen. Das hast du nicht gewusst, oder? Er war mein allererster Freund, und ich war dreizehn. Und du standest vor ihm, das Top heruntergezogen, der BH verschwunden, und…«

»Nein! Nein! Das ist nie passiert!«

»Im Garten, Mum. Ist dir das entfallen? Aufgrund der Tragödie, die gerade über dich hereingebrochen ist?« Kerra brannte innerlich. So viel Energie floss durch ihre Glieder, dass sie kaum wusste, wie sie sich im Zaum halten sollte. Sie wollte schreien und Löcher in die Wände treten. »Ich helf dir auf die Sprünge, okay?«

»Ich will das nicht hören!«

»Stuart Mahler, Mum. Er war vierzehn. Er kam zu Besuch. Es war Sommer, und wir haben in der Gartenlaube gesessen und Musik gehört. Wir haben ein bisschen geknutscht. Nicht mal mit Zunge, denn wir waren so verdammt unschuldig! Wir wussten ja gar nicht, was wir taten. Ich bin ins Haus gegangen, um Kekse und etwas zu trinken zu holen, denn es war heiß, und uns war warm und… Mehr Zeit brauchtest du nicht. Na? Dämmert's?«

»Bitte, Kerra…«

»Nein. Bitte, Dellen. So hieß das Spiel. Dellen tat, was ihr Spaß machte, und das tut sie immer noch. Und wir anderen schleichen nur auf Zehenspitzen um sie herum, weil wir solche Angst haben, dass es wieder von vorne losgehen könnte, sobald wir irgendetwas sagen oder tun.«

»Ich kann nichts dafür! Das weißt du doch. Ich war nie in der Lage… Es gibt Dinge, die ich nicht…«

Laut aufheulend, fuhr Dellen herum und warf sich mit ausgestreckten Armen über die Arbeitsplatte. Die Pose sprach von Unterwerfung und Reue. Ihre Tochter sollte mit ihr tun, was sie wollte. Mit dem Gürtel, der Peitsche, der neunschwänzigen Katze. Was spielte es noch für eine Rolle? Bestrafe mich, geißle mich, lass mich für meine Sünden büßen.

Aber Kerra wusste es besser, als ihr zu glauben. Zu viel war bereits geschehen.

»Komm mir bloß nicht so«, sagte Kerra, und ihr Ton war eiskalt.

»Ich bin, wer ich bin«, versuchte Dellen weinend zu erklären.

»Dann werde eine andere!«


Daidre wollte die Rechnung fürs Abendessen im Curlew Inn bezahlen, doch das ließ Lynley nicht zu. Es ginge nicht allein darum, dass ein Gentleman niemals eine Dame das Essen bezahlen ließ, das sie gemeinsam genossen hatten, erklärte er ihr. Er habe am Vorabend in ihrem Haus gespeist, und wenn die Dinge zwischen ihnen ausgeglichen sein sollten, dann sei er an der Reihe. Und selbst wenn sie anderer Ansicht sei, könne er sie doch nicht für etwas bezahlen lassen, was sie kaum angerührt hatte.

»Ich bedaure, dass es nicht nach Ihrem Geschmack war«, fügte er hinzu.

»Sie sind doch nicht schuld an meiner Wahl, Thomas! Ich hätte es besser wissen sollen, als etwas zu bestellen, das die Karte als "vegetarische Überraschung" bezeichnet.«

Sie hatte die Stirn gerunzelt und dann vor sich hin gekichert, als sie den Teller gesehen hatte, und er fand, das konnte man ihr kaum verübeln. Es handelte sich um irgendetwas grünes Undefinierbares, das zu einem Laib gebacken war, begleitet von einer Beilage aus Reis und Gemüse, beides so lange gekocht, dass es praktisch farblos war. Unerschrocken hatte sie den Reis und die Gemüsekomposition mit dem besten Wein des Curlew Inn hinuntergespült einem nichtssagenden französischen Chablis, der unzureichend gekühlt war, aber nach ein paar Bissen hatte sie kapituliert.

»Ich bin satt«, hatte sie übertrieben fröhlich behauptet. »Erstaunlich, wie mächtig das ist — fast wie Käsekuchen.« Und sie hatte Überraschung geheuchelt, als er ihr nicht glauben wollte. Als er verkündet hatte, er wolle sie zu einem vernünftigen Essen einladen, hatte sie erwidert, das müsse dann vermutlich in Bristol stattfinden, da es in ganz Cornwall kein Restaurant gebe, das ihren Anforderungen entsprach. »Ich bin ein schwieriger Fall, wenn es ums Essen geht«, hatte sie eingestanden. »Ich sollte es vielleicht einmal mit Fisch versuchen, aber irgendwie kann ich mich nicht dazu durchringen.«

Als sie aus dem Curlew Inn ins Freie traten, dunkelte es bereits. Sie machte eine Bemerkung über den Wandel der Jahreszeiten und wie die Tage von der Wintersonnenwende an fast unmerklich länger wurden. Sie verstehe gar nicht, warum so viele Menschen den Winter verabscheuten; es sei doch eine tröstliche Jahreszeit: »Der Winter führt geradewegs zur Erneuerung«, erklärte sie. »Das gefällt mir. Irgendwie wirkt er auf mich wie eine Verheißung auf Vergebung.«

»Brauchen Sie die denn? Vergebung?« Sie waren auf dem Rückweg zu Lynleys Mietwagen, den er in einer Seitenstraße der High Street abgestellt hatte. Er sah sie im schwindenden Licht an, hoffte auf eine Art Beichte in ihrer Antwort.

»Wir alle brauchen Vergebung in der einen oder anderen Weise«, sagte sie und nutzte dies als Überleitung, um ihm zu erzählen, was sie früher am Tag beobachtet hatte: Ben Kerne in den Armen einer Frau, die, so nahm sie an, seine Mutter war. Ja, gestand sie, sie habe Erkundigungen eingeholt, und ja, es habe sich herausgestellt, dass die Frau tatsächlich Ann Kerne war. »Ob es da um Vergebung ging, weiß ich natürlich nicht«, schloss sie. »Aber es ging auf jeden Fall um Emotionen, die sie teilten.«

Im Gegenzug und weil es nur fair erschien, berichtete Lynley ihr von seinem Besuch bei Ben Kernes Vater. Er erzählte ihr nicht alles, denn sie stand ja noch immer unter Verdacht, und auch wenn er Daidre mochte, gedachte er nicht, diese Tatsache außer Acht zu lassen. So beschränkte er sich also auf Eddie Kernes Aversion gegen seine Schwiegertochter. »Anscheinend glaubt er, diese Frau sei die Wurzel allen Übels im Leben seines Sohnes.«

»Einschließlich Santos Tod?«

»Ich nehme an, auch das wird er sich so zurechtbiegen. Ich möchte mir etwas ansehen«, wechselte er das Thema. Seine Gedanken drehten sich um die Strandhöhlen, die Eddie Kerne erwähnt hatte. »Wenn Sie lieber im Wagen warten wollen…?«

»Nein. Ich komme gerne mit.« Lächelnd fügte sie hinzu: »Ich habe noch nie einem Polizeiermittler bei der Arbeit zugesehen.«

»Das hier hat weniger mit Ermittlungen als mit meiner persönlichen Neugierde zu tun.«

»Ist das nicht ein und dasselbe? Zumindest in den meisten Fällen?«

Lynley widersprach ihr nicht, und heiter gestimmt fuhren sie zum Meer hinunter. Neben einer niedrigen Kaimauer, die neueren Datums zu sein schien genau wie das steinerne Bootshaus der Küstenwache, das in der Nähe stand, und die Rettungsboje gleich daneben, parkte er, stieg aus und nahm die Klippen in Augenschein, die hufeisenförmig um die Bucht lagen. Auskragende Vorsprünge wie abgebrochene Zähne ragten über ihnen empor; ein Sturz von dort wäre wahrscheinlich tödlich. An der Felskante standen Häuser und Cottages, und ihre Lichter durchbrachen die Dämmerung. Am Ende der südlichsten Klippe ragte das größte Haus auf wie ein beeindruckendes Symbol für den Wohlstand seines Erbauers.

Daidre ging um den Wagen herum und gesellte sich zu ihm. »Was genau sehen wir uns denn hier an?« Sie zog den Mantel enger um sich. Eine steife Brise wehte.

»Die Höhlen«, antwortete er.

»Hier gibt es Höhlen? Wo?«

»Auf der dem Wasser zugewandten Seite der Klippen. Man erreicht sie nur bei Ebbe. Bei hohem Wasserstand sind sie zumindest teilweise geflutet.«

Sie kletterte auf die Mauer und sah aufs Meer. »Ich bin ein hoffnungsloser Fall in diesen Dingen, und das ist erbärmlich für jemanden, der zumindest einen Teil seines Lebens am Wasser verbringt. Ich habe keine Ahnung, ob das Wasser gerade steigt oder fällt. So oder so scheint es mir aber keine große Rolle zu spielen, denn die Flutlinie ist noch weit weg.« Mit einem schnellen Blick zu ihm hinüber fügte sie hinzu: »Ist das in irgendeiner Weise hilfreich?«

»Kaum«, gestand er.

»Das habe ich befürchtet.« Sie sprang von der Mauer; er folgte ihr. Wie so viele Strände in Cornwall begann auch dieser mit Findlingen, die nahe dem Parkplatz übereinandergeschichtet worden waren: großteils Granit, durchmischt mit Lava hier und da, und die flüchtigen Schleifspuren auf dem Geröll erinnerten daran, dass das, was jetzt massiver Stein war, einst geflossen war, so schwer vorstellbar es auch schien. Lynley streckte Daidre eine helfende Hand entgegen. Zusammen kletterten sie über die Steine bis zum Sand.

»Das Wasser geht zurück«, erklärte er. »Das ist mein erstes Ermittlungsergebnis.«

Sie hielt inne und runzelte die Stirn. Dann sah sie sich um, als wollte sie ergründen, wie er zu diesem Schluss gekommen war. »Oh, ja, jetzt sehe ich es auch«, sagte sie schließlich. »Keine Fußspuren. Aber das könnte auch am Wetter liegen, oder? Schlechte Jahreszeit für den Strand.«

»Richtig. Aber beachten Sie die Pfützen am Fuß der Klippen.«

»Sind die nicht in jedem Fall da?«

»Vermutlich. Vor allem um diese Jahreszeit. Aber die Felsen dahinter wären nicht nass. Das sind sie aber. Sie werfen die Lichter der Häuser zurück.«

»Sehr beeindruckend.«

»Einfachstes Grundwissen«, winkte er ab.

Sie überquerten den Strand. Der Sand war schlammig, was Lynley anzeigte, dass sie vorsichtig sein mussten. Es gab Treibsand in Cornwall, gern an Stellen wie dieser, wo das Meer sich über eine beträchtliche Distanz zurückzog.

Rund hundert Meter von den Findlingen entfernt verbreiterte sich die Bucht. Von hier aus erstreckte sich bei Ebbe ein weitläufiger Strand in beide Richtungen. Aus einiger Distanz blickten sie zurück. Von ihrer jetzigen Position aus waren die Höhlen leicht zu erkennen. Sie durchlöcherten die dem Wasser zugewandten Klippen, dunklere Öffnungen im dunklen Stein wie grafitbestäubte Fingerabdrücke. Und zwei waren von enormer Größe.

Daidre staunte. »Ich hatte ja keine Ahnung.«

Zusammen näherten sie sich der größten Höhle: einem gähnenden Schlund unterhalb der Stelle, wo das große Haus stand.

Der Eingang war annähernd zehn Meter hoch, schmal und grob geformt, wie ein auf den Kopf gestelltes Schlüsselloch, mit einer Schwelle aus Schiefer und durchzogen von Quarz. Drinnen war es dämmrig, aber nicht völlig dunkel, denn ein gutes Stück entfernt im hinteren Teil der Höhle fiel schwaches Licht durch eine Art Kamin, den vulkanische Aktivitäten vor Äonen von Jahren erschaffen hatten. Nichtsdestotrotz war es schwierig, die Wände auszumachen, bis Daidre ein Streichholzckbriefchen aus ihrer Handtasche zog und mit einem verlegenen Achselzucken erklärte: »Pfadfinder. Ich habe auch ein Schweizer Messer, falls Sie das brauchen sollten. Und Heftpflaster.«

»Das ist tröstlich zu wissen«, versicherte er. »Wenigstens einer von uns ist für diese Expedition adäquat ausgerüstet.«

Die Streichholzflamme zeigte ihnen als Erstes, wie hoch die Flut in der Höhle stand. Hunderttausende winzige Mollusken bedeckten die unebenen, von Mineralien durchzogenen Felswände bis zu einer Höhe von drei Metern. Darunter bildeten Muscheln schwarze Bouquets, hier und da durchzogen von den vielfarbigen Mustern kleinerer Krustentiere.

Als das Streichholz heruntergebrannt war, entzündete Lynley ein zweites. Er und Daidre wagten sich tiefer in die Höhle hinein, stiegen über Gesteinsbrocken hinweg, während der Höhlenboden sacht anstieg, sodass das Wasser bei Ebbe zurückfließen konnte. Sie kamen zu einem flachen Alkoven, dann zu einem weiteren, wo das unablässige rhythmische Tröpfeln von Wasser zu hören war. Der Geruch war urzeitlich: Hier konnte man sich mühelos vorstellen, dass alles Leben aus dem Meer gekommen war.

»Wundervoll, nicht wahr?«, fragte Daidre gedämpft.

Lynley antwortete nicht. Er dachte darüber nach, welchen Zwecken ein Ort wie dieser im Laufe der Jahrhunderte gedient haben mochte. War es ein Schmugglerversteck gewesen? Ein Liebesnest? Eine Piratenhöhle für spielende Kinder? Zufluchtsstätte vor plötzlichen Regengüssen? Doch ganz gleich wozu man diese Höhle benutzte, man musste über die Gezeiten Bescheid wissen. Wer sie hier außer Acht ließ, forderte das Schicksal heraus.

Daidre stand schweigend an seiner Seite, während er das nächste Streichholz anriss. Er stellte sich vor, wie ein Junge in dieser oder irgendeiner anderen Höhle von der Flut überrascht wurde. Betrunken, bekifft, vielleicht ohnmächtig, und wenn nicht ohnmächtig, dann im Vollrausch. Letzten Endes spielte es keine Rolle. Wenn er bei Dunkelheit weit genug ins Innere vorgedrungen war, hatte er wahrscheinlich nicht einmal entscheiden können, in welche Richtung er vor dem Wasser fliehen sollte.

»Thomas?«

Das Streichholz flackerte, als er sich zu Daidre umwandte. Das Licht warf einen Schimmer auf ihre Haut. Eine Strähne hatte sich aus der Spange befreit, mit der sie das Haar im Nacken zusammenhielt, und sie fiel ihr auf die Wange und umspielte ihre Lippen. Ohne nachzudenken, strich er sie von ihrem Mund zurück. Ihre Augen ungewöhnlich braun wie die seinen schienen sich zu verdunkeln.

Plötzlich ging ihm auf, was ein Augenblick wie dieser bedeutete. Die Höhle, das schwache Licht, ein Mann und eine Frau. Kein Betrug, sondern eine Bejahung. Das Wissen, dass das Leben irgendwie weiterging.

Dann verbrannte das Streichholz ihm die Finger. Hastig ließ er es fallen. Der Moment war vorüber, so schnell, wie er gekommen war, und Lynley dachte wieder an Helen. Er spürte ein Brennen in seinem Innern, weil er die Erinnerung nicht fand, die dieser Augenblick so zwingend erforderte: Wann hatte er Helen zum ersten Mal geküsst?

Er wusste es nicht mehr und schlimmer noch verstand nicht, warum er es nicht wusste. Er hatte sie schon Jahre vor ihrer Heirat gekannt. Sie waren sich begegnet, als sein bester Freund sie während der Trimesterferien mit nach Cornwall gebracht hatte. Hatte er sie da geküsst — ein flüchtiger Wangenkuss zum Abschied am Ende der Ferien? Eine Geste, die nur besagte: »Es war schön, dich kennenzulernen«, bedeutungslos damals, aber heute von enormer Wichtigkeit? Er spürte die Notwendigkeit, dass er sich an jede Einzelheit von Helen erinnerte. Es war der einzige Weg, sie zu bewahren und der gähnenden Leere etwas entgegenzusetzen. Und darum ging es: die gähnende Leere zu bekämpfen. Wenn er erst einmal hineingeriete, wusste er, wäre er verloren.

»Wir sollten gehen«, sagte er schließlich. »Können Sie uns hinausführen?«

»Natürlich. Das dürfte nicht allzu schwierig sein.«

Sie bewegte sich mit Selbstsicherheit, strich leicht mit einer Hand über die Oberfläche der Mollusken. Er folgte ihr und spürte seinen Puls hinter den Augen hämmern. Er wusste, er musste irgendetwas sagen, darüber, was sich eben zwischen ihnen abgespielt hatte, musste sich Daidre in irgendeiner Weise erklären. Aber er fand keine Worte, und selbst wenn er das Vokabular besessen hätte, um ihr das Ausmaß seiner Trauer und seines Verlusts begreiflich zu machen, war es doch gar nicht nötig. Denn sie war diejenige, die das Schweigen brach als sie die Höhle verließen und sich auf den Rückweg zum Wagen machten.

»Thomas, erzählen Sie mir von Ihrer Frau.«

»Was wollen Sie wissen?«

Sie zögerte. Ein gütiges Lächeln lag auf ihren Lippen. »Was immer Sie mir erzählen wollen.«

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