9

Bea Hannaford sah sich in Santo Kernes Zimmer um. Zum ersten Mal seit ihrem Aufeinandertreffen war sie froh, dass es Constable McNulty war, der als ihr Handlanger herhalten musste, denn die Wände in Santos Zimmer waren mit Surfpostern tapeziert, und Bea war zu der Überzeugung gelangt, was McNulty nicht über das Surfen wusste, über die Schauplätze der Fotos und die Surfer darauf, war auch nicht wissenswert. Sie konnte zwar nicht sagen, ob seine Expertise sich auch nur im Geringsten als relevant erweisen würde. Aber sie war erleichtert, dass er sich wenigstens mit irgendetwas auskannte.

»Jaws«, flüsterte er ehrfürchtig und betrachtete mit staunenden Augen einen Wasserberg, über den ein höchstens daumengroßer Irrer hinwegrauschte. »Verdammt noch mal, sehen Sie sich den Typen an! Das ist Hamilton. Vor Maui. Der Kerl ist wahnsinnig! Es gibt nichts, was er nicht täte. Gott, sieht das nicht aus wie ein Tsunami?« Er pfiff anerkennend durch die Zähne und schüttelte den Kopf.

Ben Kerne war mit ihnen nach oben gekommen, hatte aber an der Schwelle innegehalten. Dellen war unten in der Lounge geblieben. Bea hatte messerscharf erkannt, dass Kerne sie nicht hatte allein lassen wollen. Hin- und hergerissen war er zwischen der Polizei und seiner Frau. Doch er konnte nicht gleichzeitig Beas Anliegen nachkommen und Dellen im Auge behalten. Letztlich hatte er keine Wahl gehabt. Die Beamten hätten auf der Suche nach Santos Zimmer das gesamte Hotel durchstreift, während er seine Frau beaufsichtigte. Also hatte er sie selber hingeführt, aber es war unschwer zu sehen, dass er mit seinen Gedanken woanders war.

»Ich wusste gar nicht, dass Santo gesurft hat«, sagte Bea über die Schulter zu Ben Kerne, der noch immer an der Tür stand.

Er antwortete: »Er hat angefangen zu surfen, als wir nach Casvelyn kamen.«

»Ist seine Ausrüstung hier? Surfbrett, Neoprenanzug und was man sonst noch braucht…«

»Kapuze«, murmelte McNulty, »Handschuhe, Stiefel, Ersatzfinnen…«

»Das reicht, Constable«, fuhr Bea ihm über den Mund. »Mr. Kerne wird sicher wissen, was ich meine.«

»Nein. Er hat seine Ausrüstung an einem anderen Ort verwahrt«, erwiderte Ben Kerne.

»Ach, wirklich? Warum?«, fragte Bea. »Nicht gerade praktisch, oder?«

Ben betrachtete die Poster, während er antwortete: »Ich nehme an, er wollte sie nicht hier aufbewahren.«

»Warum nicht?«, wiederholte sie.

»Er hat wohl befürchtet… ich könnte irgendetwas damit anstellen.«

»Ah. Constable?« Zufrieden nahm Bea zur Kenntnis, dass Mick McNulty ihren Wink auf Anhieb verstanden hatte und sich schleunigst wieder seinem Notizbuch widmete, auch wenn Ben Kerne auf Nachfrage nicht sagen konnte, wo Santo seine Ausrüstung denn nun verwahrt hatte. Bea hakte nach: »Wieso sollte Santo glauben, Sie würden irgendetwas damit… anstellen, Mr. Kerne? Oder meinten Sie mit "anstellen" manipulieren?« Und sie dachte: Erst die Surfausrüstung, dann die Kletterausrüstung?

»Er wusste, dass ich es nicht gern sah, wenn er surfte.«

»Wirklich nicht? Verglichen mit dem Klettern scheint es mir aber der harmlosere Sport zu sein.«

»Kein Sport ist wirklich harmlos, Inspector. Aber das war nicht der Grund.« Kerne schien nach Worten zu ringen, um zu erklären, was er meinte, und trat schließlich zu ihnen in den Raum. Versteinert starrte er auf die Poster.

»Surfen Sie selbst, Mr. Kerne?«, fragte Bea.

»Ich hätte mit Sicherheit nichts dagegen gehabt, dass Santo surft, wenn ich es selbst täte, oder?«

»Ich weiß es nicht. Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie die eine Sportart billigen, nicht aber die andere.«

»Es geht um die Typen, verstehen Sie?« Kerne warf Constable McNulckty einen entschuldigenden Blick zu. »Ich wollte nicht, dass er sich mit anderen Surfern herumtreibt, weil für so viele von ihnen der Sport das einzig Wichtige auf der Welt ist. Ich wollte nicht, dass er so wird: dieses ewige Herumlungern, immer nur auf die nächstbeste Gelegenheit zum Surfen warten — ein Leben, das nur von Isobarenkarten und Gezeitentabellen definiert wird. Ewig fahren sie nur die Küste auf und ab, um die perfekte Welle zu erwischen. Und wenn sie nicht surfen, dann reden sie darüber oder kiffen, und anschließend stehen sie in ihren Neoprenanzügen zusammen und reden immer noch darüber. Es gibt Jungs und inzwischen sogar ein paar Mädchen, muss ich zugeben, deren ganzes Leben sich einzig und allein darum dreht, Wellen zu reiten und rund um den Globus zu ziehen, um immer neue Wellen auszumachen. Ich wollte nicht, dass Santo so wird. Würden Sie das für Ihren Sohn oder Ihre Tochter wollen?«

»Und ein Leben, das sich ums Klettern dreht…«

»Das tat es ja gar nicht! Und wenigstens ist das ein Sport, bei dem man auf andere angewiesen ist. Es ist nicht so einsam, wie das Surfen es sein kann und meistens ja auch wirklich ist. Ein Surfer allein auf den Wellen: Das sieht man immerzu. Ich wollte nicht, dass er allein dort draußen ist. Ich wollte, dass er mit anderen zusammen ist. Für den Fall, dass ihm etwas zustößt…«

Sein Blick schweifte wieder zu den Postern, und was sie zeigten, war selbst für Beas ungeschultes Auge deutlich: Gefahr, allesbeherrschende und allgewaltige Gefahr, verkörpert durch unvorstellbare Wassermassen. Da konnte alles passieren von Knochenbrüchen bis zum sicheren Tod durch Ertrinken. Sie fragte sich, wie viele wohl jedes Jahr ums Leben kamen, während sie einen beinahe vertikalen Abhang hinabrasten, der sich im Gegensatz zu festem Boden mit berechenbaren Strukturen von einer Sekunde zur nächsten radikal verändern und die Unachtsamen unter sich begraben konnte.

»Und doch war Santo allein beim Klettern, als er abgestürzt ist«, fuhr sie fort. »So wie er es vielleicht auch gewesen wäre, wäre er zum Surfen gegangen. Davon abgesehen, sind Surfer doch gar nicht immer allein draußen, oder?«

»Auf der Welle schon. Der Surfer und die Welle, allein. Selbst wenn noch andere auf dem Wasser sind. Aber um die geht es in solchen Momenten nicht.«

»Und beim Klettern?«

»Von seinem Kletterpartner ist man abhängig. Der eine gewährleistet die Sicherheit des anderen.« Er räusperte sich und fügte hinzu: »Ist es nicht das, was jeder Vater sich wünscht? Eine gewisse Sicherheit für sein Kind?«

»Und wie hat Santo auf Ihre Haltung zum Surfen reagiert?«

»Wie meinen Sie das?«

»Was ist zwischen Ihnen beiden vorgefallen? Gab es Streit? Strafen? Neigen Sie zu Gewalttätigkeit, Mr. Kerne?«

Er wandte sich ihr zu, doch jetzt stand er mit dem Rücken zum Fenster, sodass sie sein Gesicht nicht länger lesen konnte. »Was für eine verdammte Frage soll das sein?«, verlangte er zu wissen.

»Eine Frage, die eine Antwort erfordert. Irgendjemand hat Santo erst kürzlich ein blaues Auge verpasst. Was wissen Sie darüber?«

Er ließ die Schultern hängen. Dann drückte er sich vom Fensterbrett ab und trat weg vom Licht auf die Zimmertür zu, zu deren Anschlagseite ein Computer mit Drucker auf einer schlichten Spanplatte stand, die quer über zwei Holzböcken liegend einen primitiven Schreibtisch bildete. Ein Papierstapel lag mit der Schrift nach unten darauf. Ben Kerne griff danach, doch Bea hielt ihn zurück, noch ehe seine Finger die Papiere berühren konnten. Sie wiederholte ihre Frage.

»Er wollte es mir nicht sagen«, antwortete Kerne. »Natürlich habe ich gesehen, dass ihn jemand geschlagen hatte. Es war ein böser Fausthieb. Aber der Junge hat sich geweigert, die Sache zu erklären, sodass ich nicht umhinkam zu denken…« Er schüttelte den Kopf. Er schien mehr zu wissen, war aber offenbar unwillig, sie daran teilhaben zu lassen.

»Wenn Sie irgendetwas wissen… Wenn Sie einen Verdacht haben…«, sagte Bea.

»Nein. Hab ich nicht. Es ist nur… Die Frauen mochten Santo einfach, und Santo mochte die Frauen. Er machte keine Unterschiede.«

»In Bezug worauf?«

»Zwischen verfügbar und nicht verfügbar. Zwischen gebunden und ungebunden. Santo war… Er war der reine, fleischgewordene Paarungsinstinkt. Vielleicht hat ihn ein wütender Vater niedergeschlagen. Oder ein eifersüchtiger Freund. Er wollte es mir nicht sagen. Aber er war verrückt nach Mädchen und die Mädchen nach ihm. Und um die Wahrheit zu sagen: Er ließ sich leicht dahin bringen, wo eine entschlossene junge Frau ihn haben wollte. Er war… Ich fürchte, er war immer schon so.«

»Gab es jemand Bestimmten?«

»Die Letzte war eine junge Frau namens Madlyn Angarrack. Sie waren über ein Jahr lang zusammen.«

»Und ist sie zufällig auch eine Surferin?«, wollte Bea wissen.

»Eine hervorragende sogar, wenn man Santo Glauben schenkt. Angehende Landesmeisterin. Er war sehr beeindruckt von ihr.«

»Und sie von ihm?«

»Es war keine einseitige Sache.«

»Und was haben Sie dabei empfunden — zusehen zu müssen, wie Ihr Sohn mit einer Surferin anbandelte?«

Ben Kerne antwortete ruhig: »Santo bandelte ständig mit irgendwem an, Inspector. Ich wusste, es würde vorübergehen. Wie ich schon sagte: Er liebte die Frauen. Er war noch nicht bereit, sich zu binden. Weder an Madlyn noch an sonst irgendjemanden. Unter keinen Umständen.«

Das war eine interessante Formulierung, fand Bea. Sie fragte: »Aber Sie wollten gerne, dass er sich bindet?«

»Wie jeder Vater wollte ich, dass er anständig bleibt und sich nicht in Schwierigkeiten bringt.«

»Das sind eher bescheidene Erwartungen. Hatten Sie keine größeren Pläne für Ihren Sohn?«

Ben Kerne antwortete nicht. Bea hatte das untrügliche Gefühl, dass er ihr etwas verheimlichte, und ihre Erfahrung sagte, wenn jemand das während einer Mordermittlung tat, dann für gewöhnlich aus Selbstschutz.

»Haben Sie Santo je geschlagen, Mr. Kerne?«, fragte sie.

Der Blick, den er auf sie gerichtet hielt, blieb stetig. »Diese Frage habe ich Ihnen bereits beantwortet.«

Sie ließ zu, dass das Schweigen sich in die Länge zog, aber dieses Mal trug es keine Früchte. Es blieb ihr nichts anderes übrig als fortzufahren, und das tat sie, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf Santos Computer richtete. Den werde sie mitnehmen müssen, erklärte sie. Constable McNulty werde ihn abbauen und die einzelnen Teile zum Wagen hinuntertragen. Dann nahm sie sich den Papierstapel vor, den Kerne hatte zur Hand nehmen wollen. Sie drehte die Blätter um und legte sie behutsam nebeneinander. Jede Menge Skizzen, stellte sie fest, die alle in der einen oder anderen Weise den Namen "Adventures Unlimited" enthielten. Ein Beispiel zeigte die beiden Wörter zu einer Welle geformt. Im nächsten bildete der Schriftzug ein rundes Logo, in dessen Zentrum das King-George-Hotel stand. Auf dem dritten war er das Fundament, auf dem angedeutete männliche und weibliche Silhouetten alle möglichen sportlichen Heldentaten vollbrachten. Auf wieder einer anderen Skizze bildeten die Wörter ein Klettergerät.

»Er… O mein Gott.«

Bea hob den Kopf und sah Kernes erschütterten Gesichtsausdruck. »Was ist denn?«, fragte sie.

»Er hat T-Shirt-Logos entworfen. Auf seinem Computer. Er hat… Anscheinend hat er an einer Marketingidee für unser Unternehmen gearbeitet. Ich hatte ihn nicht darum gebeten. Gott, Santo…«

Letzteres klang beinahe wie eine Entschuldigung. Bea fand, dies sei ein guter Zeitpunkt, um ihn erneut nach Santos Kletterausrüstung zu fragen. Kerne erklärte, sie sei samt und sonders verschwunden, jedes einzelne Grigri, jeder Klemmkeil, jedes Seil — einfach alles.

»Hätte er all das für seine Kletterpartie gebraucht? Die komplette Ausrüstung?«

Kerne verneinte. Entweder habe Santo beschlossen, die Ausrüstung ohne das Wissen seines Vaters andernorts aufzubewahren, oder aus unerfindlichen Gründen alles mitgenommen, als er am Vortag zu seiner tödlichen Klettertour aufgebrochen war.

»Aber warum hätte er das tun sollen?«, fragte Bea.

»Wir hatten uns gestritten. Vielleicht als Trotzreaktion darauf. Um es mir zu zeigen…«

»Eine Trotzreaktion, die zu seinem Tod geführt hat? Vielleicht zu aufgewühlt, um seine Ausrüstung mit der nötigen Sorgfalt zu überprüfen? War er der Typ für Hauruck-Aktionen?«

»Impulsiv, meinen Sie? Ob er impulsiv genug war, klettern zu gehen, ohne seine Ausrüstung zu checken? Ja«, räumte Kerne ein. »Er war genau der Typ, um so etwas zu tun.«


Der letzte Heizkörper! Gepriesen sei Gott oder wen immer man pries, wenn eine Preisung angesagt war. Nicht der letzte Heizkörper im ganzen Hotel, aber zumindest der letzte, den er heute anstreichen musste. Wenn er eine halbe Stunde dafür veranschlagte, die Pinsel zu reinigen und die Lackdosen zu verschließen — und nach all den Jahren, die er für seinen Vater gearbeitet hatte, hatte Cadan reichlich Praxis darin, Tätigkeiten in die nötige Länge zu ziehen, — dann wäre es an der Zeit, Feierabend zu machen. Ein Glück! Sein unterer Rücken schmerzte, und sein Kopf hämmerte schon wieder von den Farbdünsten. Ganz offensichtlich war er für diese Art Arbeit nicht geschaffen.

Cadan hockte sich auf den Boden, lehnte sich ein wenig zurück und bewunderte sein Werk. Wie blöd konnte man sein, den Teppichboden verlegen zu lassen, bevor die Heizkörper angestrichen worden waren, fand Cadan. Aber er hatte es geschafft, auch die letzten Tropfen mit emsigem Rubbeln zu entfernen, und er nahm an, die Spritzerchen, die jetzt noch da waren, würden die Vorhänge verdecken. Außerdem waren es die einzigen ernsthaften Spritzer, die er heute gemacht hatte, und das allein war schon eine reife Leistung.

»Wir hauen ab, Pooh«, verkündete er.

Der Papagei lotete sein Gleichgewicht auf Cadans Schulter aus und antwortete mit einem Krächzen, gefolgt von: »Schießt Bolzen auf den Kühlschrank! Ruft die Bullen! Ruft die Bullen!« einer weiteren Kostprobe seines seltsamen Zitatenschatzes.

Die Tür öffnete sich, gerade als Pooh mit den Flügeln schlug, was üblicherweise einem Flug zum Fußboden oder aber der Ausführung einer wesentlich unwillkommeneren Körperfunktion auf Cadans Schulter vorausging. »Wehe, Kumpel«, warnte Cadan, und gleichzeitig fragte eine weibliche Stimme: »Entschuldigung, aber wer sind Sie? Was tun Sie hier?«

Die Sprecherin entpuppte sich als eine Frau in Schwarz. Cadan ahnte, dass es sich um Santo Kernes Mutter Dellen handeln müsse. Ungeschickt rappelte er sich auf, und schon gab Pooh ein weiteres Sätzchen zum Besten: »Polly will vögeln! Polly will vögeln!« Er bewies damit nicht zum ersten Mal, wie tief er von einem Moment zum anderen sinken konnte.

»Was ist das denn?«, fragte Dellen Kerne, und es war offensichtlich der Vogel, den sie meinte.

»Ein Papagei.«

Ihr Ausdruck verriet Verärgerung. »Das sehe ich selbst«, erwiderte sie. »Ich bin weder blöd noch blind. Welche Art Papagei, was tut er hier, und davon ganz abgesehen, was tun Sie hier?«

»Ein mexikanischer Papagei.« Cadan spürte, wie sein Gesicht heiß wurde, aber er wusste, die Frau würde sein Unbehagen nicht bemerken, denn sein dunkler Teint neigte nicht dazu zu erröten, wenn ihm das Blut ins Gesicht stieg. »Sein Name ist Pooh.«

»Wie in Pooh der Bär?«

»Nein, wie in: "Puh, du hast schon wieder auf den Wohnzimmerteppich gekackt!"«

Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. »Warum kenne ich Sie nicht? Warum habe ich Sie hier bisher noch nie gesehen?«

Cadan stellte sich vor. »Ben… Mr. Kerne hat mich erst gestern eingestellt. Wahrscheinlich hat er vergessen, Ihnen das zu erzählen, wegen…« Er begriff zu spät, wohin seine Worte ihn führten, um es noch verhindern zu können. Er presste die Lippen zusammen und hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Er hatte den ganzen Tag nicht nur damit zugebracht, Heizkörper anzupinseln und davon zu träumen, was sich aus der Minigolfanlage machen ließ, sondern ebenso damit, eine Begegnung wie diese zu vermeiden: Auge in Auge mit einem von Santo Kernes Eltern und das in einem Moment, da ihr Verlust noch so allgegenwärtig war, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als in irgendeiner Weise sein Beileid zu bekunden. Er sagte: »Tut mir leid, die Sache mit Santo.«

Sie wirkte gelassen. »Natürlich tut es Ihnen leid.«

Was immer das heißen sollte. Cadan trat von einem Fuß auf den anderen. Er hielt immer noch einen Pinsel in der Hand, und plötzlich kam er sich idiotisch vor und fragte sich, was er damit tun sollte. Oder mit den Farbdosen. Sie waren ihm gebracht worden, aber es hatte ihm niemand gesagt, wo er sie am Ende des Arbeitstages hinräumen sollte, und er hatte vergessen, danach zu fragen.

»Haben Sie ihn gekannt?«, fragte Dellen unvermittelt. »Haben Sie Santo gekannt?«

»Ein bisschen. Ja.«

»Und was haben Sie von ihm gehalten?«

Jetzt stand er auf dünnem Eis. Die einzige Antwort, die Cadan einfiel, lautete: »Er hat bei meinem Dad ein Surfboard gekauft.« Er erwähnte Madlyn nicht, wollte Madlyn nicht erwähnen, wollte nicht darüber nachdenken, warum er Madlyn nicht erwähnen wollte.

»Ich verstehe. Ja. Aber das ist nicht die Antwort auf meine Frage, oder?« Dellen trat tiefer in den Raum hinein. Aus irgendeinem Grund ging sie an den Einbauschrank, öffnete ihn und schaute hinein — sprach gleichsam in den Schrank hinein, als sie sagte: »Santo war mir sehr ähnlich. Das können Sie nicht wissen, wenn Sie ihn nicht kannten. Und Sie kannten ihn nicht, oder? Nicht richtig.«

»Wie gesagt. Flüchtig. Wir sind uns hin und wieder über den Weg gelaufen. Später nicht mehr so oft, aber als er mit dem Surfen anfing, häufiger.«

»Weil Sie selber surfen?«

»Ich? Nein. Na ja, ich meine, ich hab's natürlich mal versucht. Aber es ist nicht so, als wär's die einzige Sache… Ich meine, ich habe auch noch andere Interessen.«

Sie kehrte dem Schrank den Rücken. »Wirklich? Und zwar? Sport, nehme ich an. Sie sehen sehr fit aus. Und Frauen. Für junge Männer in Ihrem Alter gehören Frauen für gewöhnlich zu den Hauptinteressen. Sind Sie genauso wie andere junge Männer?« Sie runzelte die Stirn. »Können wir das Fenster öffnen? Der Farbgeruch…«

Cadan wollte schon sagen, es sei doch ihr Hotel, und sie könne schließlich tun und lassen, was sie wollte, doch stattdessen legte er behutsam den Pinsel ab, trat ans Fenster und zwang es mit einiger Kraftanwendung auf. Es musste neu justiert oder geölt werden oder was immer man tat, um einem Fenster eine Verjüngungskur zu verpassen.

»Danke«, sagte sie. »Ich würde gerne eine Zigarette rauchen. Rauchen Sie? Nein? Das überrascht mich. Sie sehen aus wie ein Raucher.«

Cadan wusste, sie erwartete von ihm, dass er jetzt fragte, wie ein Raucher denn wohl aussehe. Wäre sie jünger gewesen, zwischen zwanzig und dreißig vielleicht, hätte er es getan, weil er ahnte, dass eine solche Frage mit einem gewissen metaphorischen Potenzial durchaus zu interessanten Antworten führen mochte, aus welchen sich wiederum interessante Entwicklungen ergeben konnten. Doch er hielt lieber den Mund, und als sie fragte: »Es stört Sie doch nicht, wenn ich rauche?«, schüttelte er nur stumm den Kopf. Er hoffte, sie erwartete nicht, dass er ihr die Zigarette anzündete, denn sie sah genau wie die Sorte Frau aus, um die Männer üblicherweise eilfertig herumsprangen. Aber weder hatte er Streichhölzer noch ein Feuerzeug bei sich. Ihr Eindruck hatte sie indes nicht getäuscht. Er war in der Tat Raucher, hatte aber seinen Konsum in letzter Zeit ein wenig eingeschränkt, denn er hatte sich einzureden versucht, es sei der Tabak, nicht der Alkohol, der seinen Problemen zugrunde lag.

Sie zupfte ein Streichholzbriefchen aus der Zellophanfolie, die ihre Zigarettenschachtel umschloss, steckte sich eine Zigarette an, zog daran und ließ langsam den Rauch durch die Nase entweichen.

»Giftgas, Giftgas«, krähte Pooh.

Cadan zuckte zusammen. »Tut mir leid. Das hat er ungefähr eine Million Mal von meiner Schwester gehört. Er imitiert sie. Er imitiert jeden. Tja, und sie hasst es, wenn jemand in ihrem Beisein raucht.« Und dann noch einmal: »Tut mir leid«, denn sie sollte nicht glauben, er wollte sie kritisieren.

»Sie sind nervös«, bemerkte Dellen. »Das liegt an mir. Und das mit dem Papagei ist schon in Ordnung. Er weiß ja nicht, was er sagt.«

»Na ja. Stimmt schon. Obwohl… Manchmal könnte ich schwören, er weiß es ganz genau.«

»Wie die Bemerkung über das Vögeln?«

Er blinzelte. »Was?«

»"Polly will vögeln"«, rief sie ihm in Erinnerung. »Das war das Erste, was er gesagt hat, als ich ins Zimmer gekommen bin. Ich will übrigens nicht. Vögeln, meine ich. Aber ich wüsste zu gerne, warum er das gesagt hat. Ich nehme an, Sie bedienen sich des Vogels, um Frauen aufzureißen. Haben Sie ihn deshalb mitgebracht?«

»Ich nehme ihn fast überall mit hin.«

»Das ist bestimmt nicht immer praktisch.«

»Wir kommen schon klar.«

»Tatsächlich?« Sie betrachtete den Vogel, doch Cadan hatte das Gefühl, dass es nicht wirklich Pooh war, den sie ansah. Er hätte nicht sagen können, was sie sah, aber ihre nächsten Worte verrieten ihm zumindest die vage Richtung ihrer Gedanken. »Santo und ich standen einander sehr nahe. Stehen Sie Ihrer Mutter nahe?«

»Nein.« Er fügte wohlweislich nicht hinzu, dass es nahezu unmöglich war, Wenna Rice Angarrack McCloud Jackson Smythe alias "das Miststück" nahezustehen. Sie war niemals lange genug am selben Ort geblieben, um Nähe auch nur ansatzweise zuzulassen.

»Santo und ich standen einander sehr nahe«, wiederholte Dellen nun. »Wir waren uns sehr ähnlich. Sinnenmenschen. Wissen Sie, was das ist?« Sie gab ihm keine Gelegenheit zu antworten nicht dass er ihr eine Definition hätte geben können und fuhr fort: »Wir leben für Sinneserfahrungen. Für das, was wir sehen und hören und riechen können. Was wir schmecken können. Was wir berühren können. Und für das, was uns berühren kann. Wir erfahren das Leben in all seiner Vielfalt, in seinem Reichtum ohne Schuldgefühle, ohne Angst. So war Santo. Ich habe ihm beigebracht, so zu sein.«

»Okay…« Cadan hätte allerhand darum gegeben, das Zimmer zu verlassen, aber ihm fiel einfach nicht ein, wie er seinen Abgang bewerkstelligen sollte, ohne dass es nach Flucht aussah. Er redete sich ein, dass es doch eigentlich gar nicht notwendig sei, Fersengeld zu geben und zu verschwinden, und doch hatte er das beinah instinkthafte Gefühl, dass Gefahr lauerte.

»Was sind Sie denn für einer?«, fragte Dellen, und dann: »Kann ich Ihren Vogel mal anfassen, oder beißt er?«

»Er hat es gern, wenn man ihn am Kopf krault. Wo die Ohren wären, wenn Vögel Ohren hätten. Ich meine, Ohren wie unsere. Ohrmuscheln. Hören können sie natürlich.«

»Etwa so?« Sie kam näher. Er konnte ihren Duft riechen. Moschus, witterte er. Sie streichelte den Vogel mit dem leuchtend rot lackierten Nagel des rechten Zeigefingers. Pooh ließ sich ihre Liebkosung gefallen, wie er es immer tat. Er schnurrte sogar wie eine Katze — auch so ein Laut, den er von einem früheren Besitzer gelernt hatte. Dellen lächelte den Vogel an. Zu Cadan sagte sie: »Sie haben mir nicht geantwortet. Was für ein Mensch sind Sie? Ein Sinnenmensch? Der emotionale Typ? Ein Intellektueller?«

»Wohl kaum«, erwiderte er. »Wohl kaum ein Intellektueller, meine ich.«

»Ah. Also der emotionale Typ? Von Gefühlen beherrscht? Empfindsam?«

Er schüttelte den Kopf.

»Dann müssen Sie ein Sinnenmensch sein. So wie ich. Wie Santo. Das habe ich mir schon gedacht. Man kann es Ihnen irgendwie ansehen. Ich könnte mir vorstellen, dass Ihre Freundin das sehr zu schätzen weiß. Falls Sie eine haben. Haben Sie?«

»Im Moment nicht.«

»Schade. Sie sind durchaus attraktiv. Wie kommen Sie auf Ihre Kosten, was Sex angeht?«

Mehr denn je verspürte Cadan den Drang zu fliehen, dabei tat sie gar nichts, außer den Vogel zu kraulen und mit ihm — Cadan — zu sprechen. Trotzdem: Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit dieser Frau.

Und dann ging ihm plötzlich auf, was es war: Ihr Sohn war tot. Nicht nur tot, sondern ermordet worden. Er war hinüber, um die Ecke gebracht, abgemurkst, was auch immer. Wenn der eigene Sohn starb oder die Tochter oder der Ehemann, sollte diese Frau sich nicht die Kleider zerreißen? Sich die Haare raufen? Eimerweise Tränen vergießen?

»… denn Sie haben doch bestimmt Sex. Ein junger, viriler Mann wie Sie! Sie können mir doch nicht weismachen, dass Sie wie ein Mönch leben.«

»Ich warte auf den Sommer«, erklärte er.

Überrascht zog sie ihre Hand zurück. Ihre Finger verharrten keine zwei Zentimeter vom grünen Kopf des Vogels in der Luft. Pooh machte einen Schritt zur Seite, um wieder in ihre Reichweite zu gelangen.

»Auf den Sommer?«, fragte Dellen.

»Dann ist die Stadt voller Mädchen, die hier Ferien machen.«

»Ah. Sie bevorzugen also die Kurzzeitbeziehung. Sex ohne Bindungen.«

»Na ja«, räumte er ein. »Kann man so sagen. So ist's mir am liebsten.«

»Das kann ich mir vorstellen. Sie erfüllen ihre Bedürfnisse, die Mädchen erfüllen Ihre Bedürfnisse, und alle sind glücklich. Keine Erwartungen. Ich weiß genau, was Sie meinen. Obwohl Sie das vermutlich überrascht, nehme ich an. Eine Frau in meinem Alter. Verheiratet und Mutter. Die weiß, was das bedeutet.«

Er lächelte unsicher. Es war ein unaufrichtiges Lächeln, eine pure Höflichkeitsgeste, die ihm ersparte, auf das eingehen zu müssen, was sie gesagt hatte. Er blickte zur Tür. »Tja«, sagte er und bemühte sich, dabei entschlossen zu klingen, ganz so als meinte er: Das war's dann wohl. War nett, mit Ihnen zu reden.

»Warum sind wir uns eigentlich noch nie begegnet?«, fragte sie.

»Ich habe gerade erst angefangen, hier…«

»Das weiß ich doch. Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum wir uns bisher nie über den Weg gelaufen sind. Sie sind doch ungefähr in Santos Alter…«

»Ich bin vier Jahre älter. Er ist eher im selben Alter…«

»… und Sie sind ihm so ähnlich! Darum kann ich mir gar nicht vorstellen, wieso Sie nie mit ihm hergekommen sind.«

»… wie meine Schwester, Madlyn«, beendete er den Satz. »Wahrscheinlich kennen Sie Madlyn. Meine Schwester. Sie und Santo waren… Na ja, sie waren… was immer Sie es nennen wollen.«

»Was?«, fragte Dellen verwirrt. »Von wem sprechen Sie?«

»Von Madlyn. Madlyn Angarrack. Sie… Santo und sie… waren ungefähr, ich weiß nicht, achtzehn Monate zusammen. Oder zwei Jahre. So was in der Richtung. Sie ist meine Schwester. Madlyn ist meine Schwester.«

Dellen sah ihn mit großen Augen an. Dann stierte sie an ihm vorbei, den Blick ins Leere gerichtet. Ihre Stimme klang vollkommen anders, als sie sagte: »Wie eigenartig. Madlyn, sagten Sie?«

»Genau. Madlyn Angarrack.«

»Und sie und Santo waren… was genau?«

»Freund und Freundin. Partner. Ein Liebespaar. Was auch immer.«

»Sie machen wohl Witze.«

Er schüttelte verwirrt den Kopf. Warum glaubte sie nur, er machte Witze? »Sie haben sich kennengelernt, als er bei meinem Dad ein Board kaufen wollte. Madlyn hat ihm das Surfen beigebracht. Santo, meine ich. Nicht meinem Dad. So sind sie sich nähergekommen. Und dann… Ich schätze, man kann sagen, von da an haben sie permanent zusammengesteckt, und daraus hat sich alles Weitere entwickelt.«

»Und Sie sagten, Madlyn war ihr Name?«, fragte Dellen.

»Ja. Madlyn.«

»Achtzehn Monate zusammen?«

»Ja, so was in der Richtung.«

»Warum habe ich sie dann nie getroffen?«


Als Detective Inspector Bea Hannaford mit Constable McNulty im Schlepptau zur Polizeiwache zurückkam, stellte sie erfreut fest, dass Ray ihren Wunsch nach einer Einsatzzentrale in Casvelyn erfüllt hatte. Darüber hinaus hatte Sergeant Collins begonnen, diese Einsatzzentrale mit einer professionellen Umsicht einzurichten, die sie geradezu verblüffte. Er hatte es irgendwie geschafft, den Konferenzraum in der ersten Etage aufzuräumen, der nun bereitstand, komplett mit Magnettafeln, an denen Fotos von Santo Kerne hingen — lebend ebenso wie tot — und wo die anstehenden Aktivitäten aufgelistet werden konnten. Des Weiteren gab es Schreibtische, Telefone, Computer mit Zugriff auf die HOLMES-Datenbank, Drucker, einen Aktenschrank und Büromaterial. Das Einzige, worüber diese Einsatzzentrale leider nicht verfügte, war der wichtigste Bestandteil einer jeden Ermittlung: ein Team ausgebildeter Kriminalbeamter.

Mangels Mordkommission befand sich Bea in einer Lage, um die sie wohl niemand beneidete: Sie musste die Ermittlungen allein mit McNulty und Collins führen, bis sie weitere Unterstützung zugeteilt bekam. Da diese Unterstützung allerdings zusammen mit der Einrichtung in der Einsatzzentrale hätte eintreffen sollen, befand Bea die Situation für inakzeptabel. Darüber hinaus war sie verärgert. Sie wusste genau, dass ihr Exmann binnen drei Stunden ein Ermittlerteam von Land's End bis nach London schaffen konnte, wenn Not am Mann war.

»Verdammt«, brummte sie. Sie befahl McNulty, anhand seiner Notizen einen Bericht zu tippen, dann ging sie zu einem der Schreibtische in der Ecke, wo sie sehr bald feststellte, dass die Anwesenheit eines Telefons noch lange nicht bedeutete, dass dieses auch an eine Leitung angeschlossen war. Sie warf Collins einen vielsagenden Blick zu, und der Sergeant entschuldigte sich mit den Worten: »British Telecom sagt, in ungefähr drei Stunden. Hier oben liegt kein Verteiler, darum müssen sie erst jemanden aus Bodmin schicken, der den Anschluss legt. Bis dahin müssen wir die Handys oder die Telefone unten benutzen.«

»Wissen die, dass es hier um eine Mordermittlung geht?«

»Ich hab's ihnen gesagt«, versicherte er, aber sein Tonfall implizierte, dass dies der Telefongesellschaft gleichgültig gewesen war.

Bea fluchte erneut und zog ihr Handy aus der Tasche. Sie tippte Rays Büronummer ein. »Irgendwer muss irgendwo etwas missverstanden haben«, kam sie sofort zur Sache, sowie sie ihn endlich am Apparat hatte.

»Beatrice. Hallo«, antwortete er. »Schön, deine Stimme zu hören. Das hab ich doch gern gemacht mit der Einsatzzentrale. Habe ich Pete heute Abend wieder?«

»Ich rufe nicht wegen Pete an. Wo ist mein Team?«

»Ach so. Das. Nun, da gibt es ein kleines Problem.« Und dann rückte er mit der Sprache heraus: »Klappt leider nicht, Liebes. Im Moment steht einfach kein Kripo-Team zur Verfügung, das ich nach Casvelyn schicken könnte. Du kannst natürlich in Dorset oder Somerset anrufen und fragen, ob sie jemanden entbehren können, oder ich kann es für dich tun. Für den Übergang hatte ich eine Taucherstaffel, die ich dir schicken könnte.«

»Eine Taucherstaffel?«, wiederholte sie. »Eine Taucherstaffel, Ray? Das hier ist eine Mordermittlung! Mord! Kapitalverbrechen! Ich brauche ein ausgebildetes Ermittlerteam.«

»Nichts zu machen. Ich habe alles versucht. Ich habe dir ja gleich vorgeschlagen, deine Einsatzzentrale lieber in…«

»Willst du mir eigentlich irgendetwas heimzahlen?«

»Mach dich nicht lächerlich! Du bist doch diejenige, die…«

»Wage ja nicht, so anzufangen! Das hier ist rein beruflich.«

»Ich glaube, ich behalte Pete bei mir, bis ihr den Fall geklärt habt«, fuhr er liebenswürdig fort. »Du wirst sehr beschäftigt sein. Ich möchte nicht, dass er alleine ist. Das halte ich für keine gute Idee.«

»Du willst nicht, dass er… Du willst…« Sie war sprachlos, und das passierte ihr bei Ray so selten, dass allein die Tatsache sie umso mehr vor den Kopf stieß. Sie musste dieses Telefonat beenden. Wäre sie dazu fähig gewesen, hätte sie es in Würde und mit einer adäquaten Bemerkung getan, aber sie war nur mehr in der Lage, das Gespräch mit einem viel zu heftigen Knopfdruck zu unterbrechen und das Handy anschließend auf den Schreibtisch zu schleudern.

Als es Sekunden später zu klingeln begann, war sie überzeugt, es sei ihr Exmann, der sich entschuldigen wollte oder — was in seinem Fall wahrscheinlicher war — ihr einen Vortrag über die Regularien der Polizeiarbeit zu halten gedachte, über ihre Neigung zu kurzsichtigen Entscheidungen, darüber, dass sie ständig die Grenzen des Erlaubten überschritt und dann erwartete, dass irgendwer für sie intervenierte. Sie schnappte sich das Handy und fauchte hinein: »Was? Was?«

Doch es war das kriminaltechnische Labor. Ein gewisser Duke Clarence Washoe — was hatten seine Eltern sich nur dabei gedacht, ihm einen derart bizarren Namen zu geben? — meldete, dass die Untersuchung der Fingerabdrücke abgeschlossen sei.

»Ein totales Durcheinander, Ma'm«, sagte er.

»Chefin«, verbesserte sie. »Oder Detective Inspector Hannaford. Aber nicht Ma'm oder Madam oder irgendetwas in dieser Art, was sich so anhört, als wären Sie und ich verwandt oder als gehörte ich zur königlichen Familie. Ist das klar?«

»Oh. In Ordnung. Tut mir leid.« Pause. Es schien, als brauchte er einen Moment, um sich zu sammeln und seine Nachricht neu zu formulieren. »Wir haben Fingerabdrücke von Ihrem Kunden überall im Wagen…«

»Opfer«, fuhr Bea dazwischen. Welch ein Fluch amerikanische Fernsehserien doch für die normale zwischenmenschliche Kommunikation waren, dachte sie bei sich. »Nicht "Kunde". Opfer. Oder Santo Kerne, wenn Sie das vorziehen. Wir wollen ihm doch wenigstens ein klein wenig Respekt zollen, Mr. Washoe.«

»Duke Clarence«, sagte er. »Sie können mich Duke Clarence nennen.«

»Es wird mir ein großes Vergnügen sein«, antwortete sie. »Fahren Sie fort.«

»Elf Sätze außen am Wagen. Im Innenraum sieben: von Ihrem Kun... von dem toten Jungen und von sechs weiteren Personen, die überdies Fingerabdrücke auf der Beifahrertür, dem Holm, den Fensterhebern und auf dem Handschuhfach hinterlassen haben. Wir haben auch Abdrücke auf den CD-Hüllen. Von dem Jungen und drei anderen.«

»Und auf der Kletterausrüstung?«

»Die einzig brauchbaren Fingerabdrücke sind auf dem Klebeband. Aber sie stammen von Santo Kerne.«

»Verflucht«, brummte Bea.

»Und wir haben einen schönen, deutlichen Satz auf dem Kofferraumdeckel. Ich würde sagen, ziemlich frisch. Keine Ahnung, ob der Sie weiterbringt.«

Kein Stück, dachte Bea. Jeder, der in der Stadt irgendeine Straße überqueren wollte und dabei an der Mistkarre vorbeigegangen war, hätte unwillkürlich den Kofferraum berühren und sich darauf abstützen können. Sie würde von jeder Person, die auch nur im Entferntesten mit Santo Kerne zu tun gehabt hatte, die Fingerabdrücke nehmen lassen und sie in die Kriminaltechnik schicken müssen. Doch dann wurde ihr klar: Herauszufinden, wer seine Fingerabdrücke am Wagen des Jungen hinterlassen hatte, würde sie nicht wesentlich weiterbringen. Das war eine ziemliche Enttäuschung.

»Lassen Sie mich wissen, was Sie sonst noch herausbekommen«, bat sie Duke Clarence Washoe. »An diesem Auto muss sich doch irgendetwas finden lassen, was uns weiterhilft.«

»Wir haben ein paar Haare an der Kletterausrüstung gefunden. Vielleicht sind die ja brauchbar.«

»Mit Gewebe daran?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Allerdings.«

»Dann verwahren Sie sie gut! Weiter so, Mr. Washoe!«

»Duke Clarence«, erinnerte er sie.

»Ach, richtig. Das hatte ich ganz vergessen.« Und damit legte sie auf.

Sie ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen und sah Constable McNulty auf der anderen Seite des Raums einen Augenblick lang wie hypnotisiert dabei zu, wie er seinen Bericht tippte bis ihr auffiel, dass er überhaupt nicht tippen konnte. Mit dem Zeigefinger kreiste er suchend über den Tasten, sodass nach jedem Buchstaben großzügige Pausen entstanden. Sie wusste, wenn sie ihm länger als dreißig Sekunden zusah, würde sie anfangen müssen zu schreien, also erhob sie sich und ging zur Tür.

Dort kam Sergeant Collins auf sie zu. »Telefon…«

»Gott sei Dank! Wo sind sie?«

»Wer?«

»British Telecom.«

»British Telecom? Die sind noch nicht hier.«

»Aber was…«

»Telefon. Unten. Ein Anruf für Sie. Es ist ein Kollege aus…«

»Middlemore«, beendete sie den Satz für ihn. »Das ist mein Exmann. Assistant Chief Constable Hannaford. Wimmeln Sie ihn ab! Ich habe jetzt keine Zeit.« Sie nahm an, dass Ray es in der Zwischenzeit auf ihrem Handy versucht hatte, und jetzt kam er übers Festnetz. Er hatte reichlich Zeit gehabt, sich in Rage zu bringen, und dem wollte sie sich nicht unbedingt aussetzen. »Sagen Sie ihm, ich bin gerade in einer wichtigen Sache unterwegs«, bat sie. »Er soll mich morgen zurückrufen. Oder später zu Hause.« Das war sie ihm wohl schuldig.

»Es ist nicht ACC Hannaford«, wandte Collins ein.

»Sie sagten, ein Kollege…«

»Jemand namens Sir David…«

»Was ist bloß los mit den Menschen?«, seufzte Bea. »Ich habe gerade mit einem Duke Clarence oben in Chepstow telefoniert, und jetzt haben wir einen Sir David?«

»Hillier heißt er«, erklärte Collins. »Sir David Hillier. Assistant Commissioner bei Scotland Yard.«

»Scotland Yard?«, fragte Bea. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«


Als seine übliche Zeit für ein Gläschen im Salthouse Inn gekommen war, hatte Selevan Penrule es bitter nötig. Und er fand, er hatte es sich überdies verdient. Irgendetwas Starkes von den Sixteen Men of Tain oder wie viele es auch immer waren, die bei Glenmorangie den Whisky machten. Sich an einem einzigen Tag mit der Sturheit seiner Enkelin und der Hysterie seiner Schwiegertochter herumplagen zu müssen, hätte wohl jedem Kerl einiges abverlangt. Kein Wunder, dass David sie alle nach Rhodesien verfrachtet hatte. Er hatte sich wahrscheinlich gedacht, eine anständige Portion Hitze, Cholera, TB, Schlangen und Tsetsefliegen, was immer sie in diesem grauenhaften Klima auch haben mochten, würde die beiden schon zur Räson bringen. Aber nach Tammys Benehmen und Sally Joys Stimme am Telefon zu urteilen, war sein Plan nicht einmal ansatzweise aufgegangen.

»Isst sie denn vernünftig?«, hatte Sally Joy aus den Tiefen Afrikas gefragt, wo eine stabile Telefonverbindung anscheinend ähnlich wundersam gewesen wäre wie die spontane Verwandlung einer Katze in einen zweiköpfigen Löwen. »Betet sie immer noch, Vater Penrule?«

»Sie…«

»Hat sie endlich zugenommen? Wie viel Zeit verbringt sie auf den Knien? Was ist mit der Bibel? Hat sie eine Bibel?«

Quatschender, latschender Jesus!, dachte Selevan und verdrehte die Augen. Sally Joy machte ihn schon ganz schwindelig. »Ich hab euch doch gesagt, ich pass auf sie auf. Und das tu ich. Sonst noch was?«

»Ja, ich bin eine Nervensäge. Ich weiß. Aber du ahnst ja nicht, wie es ist, eine Tochter zu haben.«

»Ich hatte eine, erinnerst du dich? Und vier Söhne, falls du's vergessen haben solltest.«

»Ich weiß. Ich weiß. Aber in Tammys Fall…«

»Entweder überlässt du sie mir, oder ich schicke sie euch zurück.«

Damit war er durchgedrungen. Das Letzte, was Sally Joy und David wünschten, war, ihre Tochter zurück in Afrika zu haben, all dem Elend ausgesetzt und in der Überzeugung, sie könnte allen Ernstes irgendetwas tun, um es zu lindern.

»In Ordnung. Schon verstanden. Du tust, was du kannst.«

Und ich mache meine Sache besser als ihr, dachte Selevan. Aber das war, bevor er Tammy auf Knien erwischt hatte. Sie hatte sich etwas gebaut, was er als Gebetsbank identifiziert hatte — sie bezeichnete es als ein Prie-Dingsbums, aber Selevan hielt nichts von derart hochgestochenen Ausdrücken. Es stand in ihrer winzigen Schlafecke im Caravan, und zuerst hatte er gedacht, sie wollte ihre Kleidung darüber hängen, so wie es Geschäftsreisende in schicken Hotels mit ihren Anzügen taten. Kurz nach dem Frühstück hatte er sich auf die Suche nach ihr begeben, um sie zur Arbeit zu fahren, und da hatte er sie vor dem Bänkchen kniend vorgefunden, vertieft in ein Buch, das aufgeschlagen auf dem schmalen Bord vor ihr lag. Zu spät hatte er gesehen, dass sie nur las, denn zuerst hatte er gedacht, das Mädchen wäre schon wieder mit irgendeinem vermaledeiten Rosenkranz zugange, und das, obwohl er Tammy schon zwei von den Dingern weggenommen hatte. Er hatte sie bei den Schultern gepackt und zurückgerissen. »Schluss mit dem Unsinn«, hatte er befohlen, und erst da hatte er das Buch gesehen.

Es war nicht einmal eine Bibel. Aber viel besser war es auch nicht. Sie studierte die Schriften irgendeiner Heiligen. »Die heilige Theresa von Avila«, eröffnete sie ihm. »Granddad, das ist Philosophie.«

»Wenn es das Geschreibsel irgendeiner Heiligen ist, ist es religiöser Quatsch«, hatte er erklärt und ihr das Buch aus den Händen gerissen. »Du stopfst dir den Kopf voll Unsinn.«

»Das ist nicht fair«, hatte sie erwidert, und ihre Augen waren feucht geworden.

Schweigend waren sie anschließend nach Casvelyn gefahren. Tammy hatte sich von ihm abgewandt, sodass alles, was er von ihr sehen konnte, ihre trotzige, schmale Kinnlinie war und ihr glanzloses Haar. Sie schniefte. Ihm war klar, dass sie weinte, und er fühlte… Er wusste nicht so recht, was er fühlte. Er verfluchte ihre Eltern, dass sie sie ihm geschickt hatten. Er versuchte doch nur, dem Mädchen zu helfen, es zu dem bisschen Verstand zu bringen, das es noch hatte, ihm klarzumachen, dass es sein Leben leben sollte, statt sich zu vergraben und immer nur über die Taten von Heiligen und Sündern zu lesen.

Es war Verärgerung, die er fühlte. Mit Trotz konnte er umgehen. Er konnte brüllen und streng sein. Aber Tränen…

»Das waren alles Lesben, weißt du das eigentlich?«

»Red doch kein dummes Zeug«, erwiderte sie leise und weinte noch ein bisschen heftiger.

Das erinnerte ihn an seine Tochter, Nan. An eine Autofahrt und Nan in genau dieser Position, abgewandt von ihm. »Es ist doch nur Exeter«, hatte sie gejammert. »Es ist nur eine Disco, Dad.« Und seine Antwort: »Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst, gibt es solchen Unfug nicht. Also wisch dir die Tränen weg, oder es setzt was.«

War er wirklich so streng mit ihr gewesen, wo sie doch einzig und allein mit ihren Freundinnen hatte ausgehen wollen? Doch, das war er. Das hatte er sein müssen. Denn damit fing es immer an: ein Zug um die Häuser mit ein paar Freundinnen, und es endete in Schande.

All das kam ihm jetzt so unschuldig vor. Was hatte er sich nur dabei gedacht, Nan ein paar Stunden Spaß zu verwehren, nur weil er selbst keinen gehabt hatte, als er jung gewesen war?

Der Tag schleppte sich unerträglich langsam dahin, und Selevans Stimmungsbarometer fiel auf ein Rekordtief. Er war mehr als bereit für die sechzehn Männer von Tain, als endlich die Zeit kam, da er für gewöhnlich im Salthouse Inn einkehrte. Ebenso bereit war er für eine unkomplizierte Unterhaltung unter Männern, und genau die gedachte er mit seinem üblichen Trinkgefährten zu führen, der in der verräucherten Kaminecke im Schankraum des Salthouse Inn schon auf ihn wartete, als er am späten Nachmittag dort eintraf.

Es handelte sich um Jago Reeth. Er hatte beide Hände um sein Glas Guinness gelegt, die Füße um die Stuhlbeine geschlungen und saß vornüber gebeugt, sodass seine Brille die an der Schläfe mit einem Stückchen Draht repariert war auf die Spitze seiner knochigen Nase gerutscht war. Er trug seine übliche Montur aus speckigen Jeans und Sweatshirt, und seine Stiefel waren wie immer grau vom Polystyrolstaub, der in der Surfbrettwerkstatt anfiel. Er hatte das Rentenalter längst erreicht, aber wenn man ihn darauf ansprach, konterte er gerne: Alte Surfer sind eben nicht totzukriegen. Sie suchen sich nur einen anständigen Job, wenn ihre Tage auf dem Wasser vorüber sind.

Der Grund, warum diese Tage für Jago vorüber waren, war Parkinson. Selevan verspürte stets eine Art ruppiges Mitgefühl für seinen Altersgenossen, wenn er sah, wie dessen Hände zitterten. Aber Jago winkte immer nur ab. »Ich hatte meine gute Zeit«, sagte er gern. »Jetzt sind eben die jungen Leute dran.«

Darum war er der perfekte Beichtvater für Selevan, und auf die Frage: »Wie geht's?«, berichtete er, sowie er seinen Glenmorangie in Händen hielt, von seinem morgendlichen Zusammenstoß mit Tammy. Jago führte sein Glas an die Lippen. Er brauchte dazu beide Hände, bemerkte Selevan.

»Wenn das so weitergeht, wird noch eine Lesbe aus ihr«, schloss er seinen Bericht.

Jago zuckte die Schultern. »Na ja, Kumpel, Kinder muss man das tun lassen, was sie tun wollen. Alles andere bringt nichts als Kummer. Und ob's das wert ist…«

»Aber ihre Eltern…«

»Was wissen Eltern schon? Was wusstest du denn, wenn du mal ehrlich bist? Und du hattest wie viele? Fünf Kinder? Und ich wette, du hattest von Tuten und Blasen keine Ahnung, als du sie großgezogen hast.«

Er hatte tatsächlich in vielerlei Hinsicht von Tuten und Blasen keine Ahnung gehabt, gestand Selevan sich ein auch in Bezug auf seine Frau. Er war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, wütend darüber zu sein, dass er sich mit dem blöden Milchvieh herumplagen musste, statt das zu tun, was er wirklich wollte: zur Navy gehen, die Welt bereisen, nichts wie raus aus Cornwall. Er hatte seine Rolle als Vater genauso vermasselt wie die als Ehemann, und als Landwirt war er auch nicht viel besser gewesen.

Seine Stimme klang nicht unfreundlich, als er sagte: »Du hast leicht reden, Kumpel.« Denn Jago hatte keine Kinder, war nie verheiratet gewesen und hatte seine Jugend und seine mittleren Jahre damit verbracht, den Wellen nachzufolgen.

Als Jago lächelte, entblößte er Zähne, die viel gearbeitet, aber wenig Wartung erfahren hatten. »Hast ja recht«, lenkte er ein. »Ich sollte besser die Klappe halten.«

»Wie soll ein alter Knacker wie ich so ein junges Ding überhaupt verstehen?«, fragte Selevan.

»Ich glaube ja, man kann nicht viel mehr tun als dafür sorgen, dass sie nicht allzu früh schwanger werden.« Jago kippte den Rest seines Guinness hinunter und stand auf. Er war groß, und er brauchte einen Moment, um seine langen Stelzen von den Stuhlbeinen zu entflechten. Während Jago am Tresen auf ein frisches Bier wartete, dachte Selevan darüber nach, was sein Freund gerade gesagt hatte.

Es war ein guter Rat, nur ließ er sich auf Tammy nicht anwenden. Sie lief mitnichten Gefahr, schwanger zu werden. Sie hatte schließlich nicht das geringste Interesse an dem, was ein Mann zwischen den Beinen hatte. Wenn das Kind je schwanger würde, wäre dies ein Grund zum Feiern, kein Anlass zu der Entrüstung, die Eltern und andere Verwandte in einem solchen Fall üblicherweise an den Tag legten.

»Ich hab noch nie eine Lesbe im Haus gehabt«, sagte er, als Jago zurückkam.

»Warum fragst du sie denn nicht einfach danach?«

»Ach, und wie um Himmels willen soll ich das formulieren?«

»"Ist dir eine Muschi lieber als ein Schwanz, mein Kind? Oh, wirklich? Wie kommt's?"«, schlug Jago vor und grinste breit. »Sieh mal, Kumpel, du musst ihr die Tür aufhalten und vorgeben, das, was sich vor deiner Nase abspielt, gar nicht zu bemerken. Kinder sind heute ganz anders als zu der Zeit, als wir jung waren. Sie fangen zwar früh an, aber sie haben keine Ahnung, was sie da eigentlich treiben. Deine Aufgabe ist es, sie zu führen, ohne sie herumzukommandieren.«

»Das versuche ich ja«, erwiderte Selevan.

»Das Entscheidende ist eben, wie man es macht.«

Da konnte Selevan nicht widersprechen. Bei seinen eigenen Kindern hatte er alles falsch gemacht, und jetzt tat er mit Tammy nichts anderes. Er musste zugeben, dass Jago Reeth im Gegensatz zu ihm selbst ein Talent hatte, mit jungen Leuten umzugehen. Selevan hatte mehrfach beobachtet, wie beide Angarrack-Kinder Jago in seinem Caravan in Sea Dreams besucht hatten. Und als dieser Junge Santo Kerne bei Selevan vorbeigeschaut hatte, um ihn um Erlaubnis zu bitten, den Weg zum Strand über sein Gelände abkürzen zu dürfen, hatte er letztlich mehr Zeit mit dem alten Surfer verbracht als auf dem Wasser. Zusammen hatten sie Santos Board gewachst, die Finnen gesetzt, es auf Unebenheiten und Kerben untersucht, oder sie hatten in Liegestühlen auf dem Stückchen struppigen Rasen vor Jagos Caravan gesessen und sich unterhalten. Worüber nur?, fragte sich Selevan. Wie redete man mit einer anderen Generation?

Als hätte er die Frage laut gestellt, antwortete Jago: »Es hat mehr mit Zuhören zu tun als mit allem anderen. Man darf ihnen keine Vorträge halten, ganz egal wie sehr es einen dazu drängt. Oder eine Predigt. Mein Gott, wie gern ich ihnen manchmal eine Predigt halten würde! Aber ich warte, bis sie von selber kommen und mich fragen: "Also, was denkst du?" Und dann hat meine Stunde geschlagen. So einfach ist das.« Er zwinkerte. »Sie haben es aber auch nicht leicht. Verbring eine Viertelstunde mit ihnen, und das Letzte, was du zurückwillst, ist deine Jugend. Trauma und Tränen, ich sag's dir…«

»Du meinst das Mädchen«, sagte Selevan wissend.

»Ja, ja. Das Mädchen. Ist ordentlich auf die Nase gefallen. Hatte mich vorher nicht um Rat gefragt. Hinterher im Übrigen auch nicht.« Er nahm einen großzügigen Schluck aus seinem Glas und ließ ihn im Mund umherrollen vermutlich die einzige Mundhygiene, die er je betrieb, mutmaßte Selevan. »Aber zu guter Letzt habe ich meine eigene Regel gebrochen.«

»Du hast ihr eine Predigt gehalten?«

»Ich habe ihr gesagt, was ich an ihrer Stelle täte.«

»Und zwar?«

»Den Bastard umbringen.« Jago sagte es leichthin, so als wäre Santo Kerne nicht so tot wie eine Weihnachtsgans auf der Festtagstafel. Selevan zog unwillkürlich die Brauen in die Höhe, doch Jago fuhr fort: »Aber weil das natürlich unmöglich war, habe ich ihr geraten, es quasi symbolisch zu tun: die Vergangenheit zu begraben. Sich davon zu verabschieden. Sie auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen. Einfach alles ins Feuer zu werfen, was irgendwie an sie beide zusammen erinnert. Tagebücher. Briefe. Karten. Fotos. Geschenke zum Valentinstag. Teddybären. Gebrauchte Kondome von ihrer allerersten Nummer falls sie diesbezüglich sentimentale Gefühle hätte. Einfach alles. Ich hab ihr gesagt, sie soll all das loswerden und mit ihrem Leben weitermachen.«

»Auch das ist leicht gesagt«, warf Selevan ein.

»Da hast du recht. Aber wenn es das erste Mal für ein Mädchen war und sie bis zum Äußersten gegangen sind, ist es der einzige Weg. Sie muss eine Art seelischen Hausputz machen, um den Kerl loszuwerden, wenn du mich fragst. Wozu sie sich letztlich sogar durchgerungen hatte, bis… Na ja, bis es passiert ist.«

»Schlimme Sache.«

Jago nickte. »Das macht es für das Mädchen noch schrecklicher. Wie soll sie sich jetzt im Nachhinein ein realistisches Bild von Santo Kerne machen? Nein. Sie wird alle Hände voll zu tun haben, über diese Sache hinwegzukommen. Ich wünschte mir, all das wäre nicht passiert. Er war kein übler Bursche, aber er hatte seine Macken, und sie hat das nicht rechtzeitig erkannt. Erst als der Zug längst Fahrt aufgenommen hatte. Und da blieb ihr nichts anderes mehr übrig, als beiseitezuspringen.«

»Verdammte Sache, die Liebe«, sagte Selevan.

»Ein Killer«, stimmte Jago zu.

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