18

Hätte es am vorherigen Nachmittag nicht geregnet, hätte Ben Kerne seinen Vater in Pengelly Cove vermutlich überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Aber wegen des Regens hatte er seine Mutter überredet, sie nach Feierabend nach Hause zu fahren. Sie hatte ihr großes Dreirad dabei, mit dem sie trotz des Schlaganfalls ohne größere Schwierigkeiten zur Arbeit und wieder zurückkam, aber Ben hatte darauf bestanden. Das Dreirad würde schon irgendwie in den Kofferraum passen, hatte er ihr versichert. Er wolle nicht, dass sie bei diesem Wetter die engen Straßen entlangfuhr. Auch bei gutem Wetter sollte sie dort eigentlich nicht fahren. Sie sei nicht mehr in dem Alter, geschweige denn in der gesundheitlichen Verfassung, mit einem Fahrrad unterwegs zu sein. Auf ihren Einwand in der sorgsam artikulierten Sprechweise vorgebracht, die sie seit dem Schlag hatte: »Hat doch drei Räder, Ben« hatte er bloß entgegnet, das spiele keine Rolle. Sein Vater, hatte er hinzugefügt, müsse endlich zu Verstand kommen und sich ein Auto zulegen, jetzt da er und seine Frau alt wurden.

Noch während er das gesagt hatte, hatte er über die Veränderung in der Eltern-Kind-Beziehung nachgedacht, in der die Eltern zusehends die Rolle der Kinder einnahmen. Und obwohl er nicht wollte, hatte er sich auch die Frage gestellt, ob seine eigene fragile Beziehung zu Santo irgendwann in gleicher Weise mutiert wäre. Er hatte seine Zweifel. Santo war ihm in diesem Moment erschienen, wie er für immer sein würde: erstarrt in ewiger Jugend, unfähig, sich zu entwickeln und sich Belangen zu stellen, die wichtiger waren als die Triebe eines Teenagers.

Es waren ebendiese Gedanken an die Triebe eines Teenagers, die ihn in der Nacht nach dem Besuch bei seinen Eltern erneut heimsuchten Doch während er den holprigen Feldweg zu dem alten Farmhaus entlanggefahren war, waren diese Gedanken noch weit weg gewesen. Er hätte sich nicht träumen lassen, dass sie sich nur wenig später in seinem Kopf festsetzen würden. Vielmehr war er den Steigungen und Kurven des unbefestigten Weges gefolgt und hatte darüber gestaunt, dass all die Jahre ihn nicht von der Angst vor seinem Vater hatten befreien können. Abgesehen von Eddie Kerne, hatte Furcht nie eine große Rolle in seinem Leben gespielt. Aber sowie er sich ihm näherte, war es, als hätte er Pengelly Cove niemals verlassen.

Seine Mutter hatte das gespürt. Mit dieser seltsam veränderten Stimme — klang sie nicht irgendwie portugiesisch? — hatte sie angemerkt, er werde seinen Vater überaus verändert vorfinden. Worauf er erwidert hatte: »Am Telefon klang er kein bisschen verändert, Mum.«

Körperlich, hatte sie erklärt. Er sei gebrechlich geworden. Er versuche, es zu verbergen, aber er fühle sein Alter. Sie hatte nicht hinzugefügt, dass er auch sein Versagen fühlte. Das Ökohaus war seit jeher sein Lebenstraum gewesen: von dem zu leben, was das Land zu geben hatte; in Harmonie mit den Elementen zu sein. Tatsächlich hatte er sich vielmehr vorgenommen, diese Elemente zu zähmen und für sich arbeiten zu lassen. Es war ein bewundernswerter Versuch gewesen, ökologisch zu leben, aber Eddie Kerne hatte sich zu viel vorgenommen und nie die Kraft gehabt, alles umzusetzen.

Selbst falls Eddie den Wagen gehört hatte, war er jedenfalls nicht an die Tür gekommen. Auch nicht, als Ben das Dreirad aus dem Kofferraum bugsierte. Doch als sie auf die verfallene Haustür zugingen, wartete er dort auf sie. Er hatte die Tür aufgerissen, noch ehe sie sie erreicht hatten, als hätte er sie durch eines der verdreckten, schiefen Fenster erspäht. Obwohl seine Mutter ihn gewarnt hatte, war Ben betroffen, als er seinen Vater sah. Alt, dachte er und er sieht noch älter aus, als er in Wirklichkeit ist. Eddie Kerne trug eine Altmännerbrille auf der Nase — ein klobiges schwarzes Gestell mit dicken, schmierigen Gläsern, und die Augen dahinter hatten beinah vollends ihre Farbe verloren. Eines war vom grauen Star getrübt, der, wie Ben wusste, niemals operiert werden würde. Und auch alles andere an Eddie war alt: die schlecht sitzenden, geflickten Kleidungsstücke, die Stellen im Gesicht, die beim Rasieren vergessen worden waren, bis hin zu den drahtigen Haaren, die ihm aus Nase und Ohren wuchsen. Sein Schritt war schleppend, die Schultern gebeugt. Die Personifizierung des Lebensabends. Ben spürte einen plötzlichen Schwindel bei seinem Anblick.

»Dad…«

Eddie Kerne musterte ihn vom Scheitel bis zur Sohle mit jener zackigen Kopfbewegung, die gleichzeitig abschätzte und urteilte. Dann trat er wortlos von der Tür zurück und verschwand im Innern des Hauses.

Unter anderen Umständen wäre Ben an diesem Punkt gegangen. Doch das »Sch-sch« seiner Mutter tröstete ihn auch wenn er sich nicht sicher war, wem der Laut hatte gelten sollen. Er hatte ihn geradewegs zurück in die Kindheit versetzt, und er hatte gewusst, was er bedeutete: Mummy ist hier, Liebling, du brauchst nicht zu weinen. Er hatte ihre Hand in seinem Rücken gespürt, und wie sie ihn vorwärtsgeschoben hatte.

Eddie wartete in der Küche auf sie: in dem einzigen einigermaßen bewohnbaren Raum im Erdgeschoss. Die Küche war hell erleuchtet und warm, während der Rest des Hauses in Schatten gehüllt war, vollgestopft mit Gerümpel und durchdrungen von Schimmelgeruch. In den Wänden hörte man die Mäuse huschen.

Sein Vater setzte den Kessel auf. Ann Kerne nickte bedeutungsvoll, als bewiese diese Handlung irgendeine Veränderung in Eddie, die mit dem äußerlichen Verfall einhergegangen war. Er schlurfte zum Schrank, holte drei Tassen, eine Dose Instantkaffee und eine eingerissene Schachtel Würfelzucker heraus. Als er all das zusammen mit einer Plastikkanne Milch, einem Laib Brot und einem Margarinewürfel auf dem verschrammten gelben Tisch abgestellt hatte, drehte er sich Ben zu: »Scotland Yard. Nicht die örtliche Wache, verstehst du, sondern Scotland Yard. Damit hättest du nicht gerechnet, he? Es ist eine Nummer zu groß für die hiesige Polizei. Das hättest du nicht gedacht, was? Die Frage ist: Hätte sie's gedacht?«

Ben wusste, wer mit sie gemeint war. Sie war, wer sie immer gewesen war.

Eddie fuhr fort: »Und die zweite Frage ist: Wer hat die gerufen? Wer will, dass Scotland Yard in diesem Fall ermittelt, und warum kommen die angerannt, als hätte ihnen einer Feuer unterm Hintern gemacht?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Ben.

»Darauf wette ich. Aber wenn es zu groß für die hiesigen Cops ist, dann heißt das, es ist schlimm. Und wenn es schlimm ist, dann steckt sie dahinter. Die Vergangenheit hat dich eingeholt, Benesek. Ich habe immer gewusst, dass das eines Tages passieren würde.«

»Dellen hat nichts damit zu tun, Dad.«

»Sprich ihren Namen in meinem Haus nicht aus! Er ist ein Fluch!«

Seine Frau mahnte sanft: »Eddie…«, und sie legte eine Hand auf Bens Arm, als fürchtete sie, ihr Sohn könnte aufspringen und davonlaufen.

Doch der Anblick seines Vaters hatte die Dinge für Ben schlagartig in ein anderes Licht gerückt. So alt, dachte er. So schrecklich alt. Und gebrochen. Er fragte sich, wie er bis heute die Augen davor hatte verschließen können, dass das Leben seinen Vater längst besiegt hatte. Eddie Kerne war mit den Fäusten gegen dieses Leben angegangen und hatte sich geweigert, sich seinen Anforderungen zu unterwerfen. Den Kompromissen und Veränderungen. Das Leben zu seinen Bedingungen anzunehmen, setzte die Fähigkeit voraus, bei Bedarf den eigenen Kurs zu wechseln, Verhaltensweisen zu modifizieren und Träume der Realität anzupassen, gegen die sie bestehen mussten. Doch Eddie war dazu nie in der Lage gewesen, und darum war er zermürbt worden. Das Leben war über seinen zerbrochenen Körper hinweggespült.

Das Wasser begann zu kochen, und der Kessel schaltete sich ab. Als Eddie sich danach umwandte, trat Ben zu ihm. »Sch-sch«, hörte er seine Mutter murmeln, und noch einmal: »Sch-sch.« Aber er stellte fest, dass er ihren Trost nicht mehr benötigte. Er stand von Angesicht zu Angesicht vor seinem Vater und sagte: »Ich wollte, die Dinge hätten für uns alle anders sein können. Ich liebe dich, Dad.«

Eddies Schultern waren mit einem Mal noch tiefer gebeugt. »Warum konntest du sie nicht abschütteln?« Seine Stimme klang so gebrochen wie sein Kampfgeist.

»Ich weiß es nicht«, gestand Ben. »Ich konnte es einfach nicht. Aber das lag immer nur an mir, nicht an Dellen. Sie trägt nicht die Schuld für meine Schwäche.«

»Du wolltest es einfach nicht wahrhaben…«

»Du hast recht.«

»Und jetzt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Immer noch nicht?«

»Nein. Das ist nun mal meine ganz eigene Hölle. Verstehst du das? Und in all diesen Jahren hättest du sie niemals dir zu eigen machen dürfen.«

Eddies Schultern bebten. Er versuchte, den Kessel anzuheben, aber es wollte ihm nicht gelingen. Ben tat es an seiner statt, trug den Kessel zum Tisch und gab Wasser in die Becher. Er wollte gar keinen Kaffee; der Kaffee würde ihn nachts bloß wach halten, wo er doch eigentlich nur mehr endlos schlafen wollte. Aber er würde ihn trinken, wenn es das war, was von ihm erwartet wurde, wenn das die Kommunion war, die sein Vater ihm offerierte.

Sie setzten sich. Eddie als Letzter. Sein Kopf schien zu schwer für seinen Hals und kippte nach vorn, bis das Kinn beinah auf der Brust lag.

»Was ist, Eddie?«, fragte Ann ihren Mann.

»Ich habe es dem Polizisten erzählt«, antwortete er schleppend. »Ich hätte ihn von meinem Grundstück jagen sollen, aber ich habe… ich wollte… Ich weiß nicht, was ich wollte. Benesek, ich habe ihm alles gesagt, was ich wusste.«

Die schlaflose Nacht, die folgte, hatte daher zwei Ursachen: den Kaffee, den er getrunken, und das Wissen, das er erlangt hatte. Denn hatte das Gespräch mit seinem Vater wenigstens ein wenig dazu beigetragen, einen Teil ihrer quälenden Vergangenheit zu begraben, so hatte es gleichzeitig einen anderen Teil wiederauferstehen lassen. Und diesem Teil hatte er den ganzen Abend und die Nacht lang geradewegs ins Gesicht sehen müssen. Er hatte darüber nachgrübeln müssen. Dabei hatte er weder das eine noch das andere gewollt.

Gemessen am Rest seines Lebens, hätte eine Nacht nicht von Belang sein dürfen. Eine Party mit seinen Kumpeln, mehr nicht. Er wäre nicht einmal hingegangen, hätte er nicht zwei Tage zuvor den Mut aufgebracht, sich von Dellen Nankervis zu trennen wieder mal. Nur deshalb war er niedergeschlagen gewesen; sein Leben, so hatte er geglaubt, ein Trümmerfeld. »Du brauchst Ablenkung«, hatten seine Freunde befunden. »Dieser Parsons-Wichser gibt eine Party. Alle sind eingeladen, also komm mit. Damit du ausnahmsweise mal an was anderes denkst als an die blöde Schlampe.«

Doch das hatte sich als unmöglich erwiesen, denn auch Dellen war dort gewesen: in einem leuchtend roten Sommerkleid und hochhackigen Sandalen. Wohlgeformte Waden, gebräunte Schultern, langes, dichtes blondes Haar und Augen blau wie Vergissmeinnicht. Siebzehn Jahre alt, mit dem Herzen einer Sirene, war sie allein gekommen, aber das war sie nicht lange geblieben. Wie eine Flamme war sie gekleidet gewesen, und wie eine Flamme hatte sie sie angelockt. Nicht etwa seine Kumpel — die hatten gewusst, welche Gefahr Dellen Nankervis darstellte: wie sie köderte, die Falle zuschnappen ließ, und was sie dann mit ihrer Beute tat. Also waren sie auf Distanz geblieben. Aber die anderen Gäste nicht. Und Ben hatte zugesehen, bis er es nicht mehr ertragen konnte.

Er hatte ein Glas vor sich; also leerte er es. Irgendjemand drückte ihm eine Pille in die Hand, und er schluckte sie. Ein Joint wurde herumgereicht, also rauchte er. Es war ein Wunder, dass er an der Mischung all dessen, was er sich in jener Nacht eingefahren hatte, nicht gestorben war. Stattdessen hatte er die Zuwendungen eines jeden Mädchens angenommen, das willig gewesen war, mit ihm in einem dunklen Winkel zu verschwinden. An drei erinnerte er sich mit Gewissheit; es mochten mehr gewesen sein. Vollkommen egal. Das Einzige, was gezählt hatte, war, dass Dellen es sah.

Doch dann hatte ein gepresstes »Nimm deine Dreckspfoten von meiner Schwester« dem Spiel ein abruptes Ende gesetzt — Jamie Parsons, der sich in der Rolle des entrüsteten Bruders versuchte. Des Bruders, der bald zur Uni gehen würde, der reich war, der Reisen zu den besten Surfplätzen der Welt gemacht hatte und nun sicherging, dass das auch bestimmt jeder erfuhr. Ausgerechnet dieser Bruder ertappte einen unwürdigen Eingeborenen dabei, wie er seiner Schwester an die Wäsche ging, und diese Schwester lehnte an der Wand, hatte ein Bein um Ben geschlungen und war scharf auf ihn. Sie sei scharf auf ihn, hatte Ben dämlicherweise und lauthals gedröhnt, damit es garantiert ein jeder hörte, nachdem Jamie Parsons sie getrennt hatte, und das war es, was er ihm eigentlich übel nahm.

Ohne jegliches Feingefühl hatte man ihn vor die Tür gesetzt. Seine Kumpel waren ihm auf dem Fuße gefolgt, aber nach allem, was er wusste und je herauszufinden gewagt hatte, war Dellen dort geblieben.

»Scheiße, den Wichser nehmen wir uns vor«, hatten sie befunden, angestachelt von Alkohol, Drogen und ihrem Zorn auf Jamie Parsons.

Und danach? Ben hatte nicht die geringste Ahnung.

Die ganze Nacht ließ er sich die Geschichte durch den Kopf gehen. Er war gegen zehn aus Pengelly Cove zurückgekommen und hatte nichts weiter tun können, als durch das Hotel zu laufen, hatte an Fenstern innegehalten, um auf die rastlose See in der Bucht hinabzuschauen. Im Hotel war es vollkommen still gewesen. Kerra war ausgeflogen, Alan nach Hause gegangen, und Dellen… Sie war weder im Wohnzimmer noch in der Küche gewesen, und weiter hatte er nicht gesucht. Er brauchte Zeit, um seine Erinnerungen zu durchsieben und das, was er wusste, von dem zu trennen, was er sich nur zusammengereimt hatte.

Am Vormittag betrat er schließlich ihr Schlafzimmer. Dellen lag diagonal über dem Bett, in einem tiefen Tablettenschlaf, und atmete schwer. Das Fläschchen mit den Pillen stand offen neben ihr auf dem Nachttisch, wo immer noch die Lampe brannte. Vermutlich war sie die ganze Nacht über angewesen und Dellen zu vernebelt, um sie auszuschalten.

Er setzte sich auf die Bettkante. Seine Frau war immer noch angekleidet wie am Vortag; der rote Schal unter ihrem Kopf sah aus wie eine Blutlache, die Fransen wie verstreute Blütenblätter und Dellens Kopf in der Mitte: das Herzstück der Blume.

Sein Fluch war, dass er sie immer noch liebte. Dass er sie hier und jetzt betrachten konnte, und trotz allem, sogar trotz Santos Ermordung, konnte er sie immer noch wollen, weil sie die Fähigkeit besaß und, so fürchtete er, immer besitzen würde, alles aus seinem Herzen zu tilgen, was nicht Dellen war. Er verstand nicht, wie das möglich sein konnte, welch schreckliche Windung seiner Psyche das hervorrief.

Dann blinzelte sie schwerfällig. In ihrem getrübten Ausdruck, ehe die Erinnerung gänzlich in ihr Bewusstsein zurückkehrte, erkannte er für einen Augenblick die Wahrheit: dass seine Frau ihm das, was er von ihr brauchte, nicht geben konnte, wenngleich er wieder und wieder versuchte, es von ihr zu bekommen.

Sie wandte den Kopf ab. »Lass mich allein«, murmelte sie. »Oder töte mich. Ich kann nicht…«

»Ich habe seine Leiche gesehen«, unterbrach Ben. »Oder… Eigentlich nur sein Gesicht. Sie haben ihn ausgenommen. Das ist es, was sie tun: ihn ausnehmen auch wenn sie ein anderes Wort dafür haben. Darum hatten sie ihn bis zum Kinn mit einem Tuch bedeckt. Ich hätte auch den Rest sehen können, aber das wollte ich nicht. Es war genug, sein Gesicht zu sehen.«

»O Gott…«

»Es war nur eine Formalität. Sie wussten ja bereits, dass es Santo war. Sie hatten seinen Wagen. Und seinen Führerschein. Darum brauchten sie mich eigentlich gar nicht mehr für die Identifizierung. Ich nehme an, ich hätte im letzten Moment die Augen schließen und einfach sagen können, ja, das ist Santo, ohne wirklich hinzusehen.«

Sie hob den Arm und presste sich die Faust vor den Mund. Er wollte nicht darüber nachdenken, warum er sich gezwungen sah, diese Dinge auszusprechen. Doch er fühlte sich genötigt, seiner Frau mehr als nur die antiseptischen Informationen mitzuteilen. Es schien ihm notwendig, sie aus sich selbst hervorzuzerren und sie allein auf ihre Mutterrolle zu reduzieren, auch wenn sie ihm das irgendwann vorwerfen würde. Und er hatte Vorwürfe verdient. Vorwürfe, so dachte er, waren immer noch besser, als dabeizustehen und zuzusehen, wie sie einen anderen Weg einschlug.

Sie kann nichts dafür. Über die Jahre hatte er sich diese Tatsache wieder und wieder ins Gedächtnis gerufen. Sie ist nicht dafür verantwortlich, und sie braucht meine Hilfe. Er wusste längst nicht mehr, ob das die Wahrheit war. Aber jetzt, zu diesem späten Zeitpunkt, etwas anderes zu glauben, hätte bedeutet, ein Vierteljahrhundert seines Lebens als Lüge zu entlarven.

»Ich trage die Schuld an allem, was passiert ist«, fuhr er fort. »Ich war überfordert. Ich wollte mehr, als irgendwer mir je hätte geben können, und als mir das klar wurde, habe ich versucht, es mir mit Gewalt zu nehmen. So war es mit dir und mir. Und so war es mit Santo.«

»Du hättest dich von mir scheiden lassen sollen. Warum in Gottes Namen hast du dich nie scheiden lassen?« Sie fing an zu weinen, drehte sich zur Seite und wandte das Gesicht dem Nachttisch zu, wo ihr Pillenfläschchen stand. Sie streckte die Hand danach aus und wollte sich schon eine weitere Tablette nehmen, als Ben ihr die Flasche wegschnappte.

»Jetzt nicht!«

»Ich muss…«

»Du musst hierbleiben!«

»Ich kann nicht. Gib sie mir! Lass mich das nicht allein durchstehen!«

Das war die Ursache. Die Wurzel allen Übels. Lass mich das nicht allein durchstehen. Ich liebe dich, ich liehe dich… Ich weiß nicht, warum… Mein Kopf fühlt sich an, als würde er zerplatzen, und ich kann nichts dafür… Komm her, mein Liebling. Komm her, komm her.

»Sie haben jemanden aus London hergeschickt.« Er erkannte an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie nicht verstand, was er damit auszusagen gedachte. Sie hatte sich von Santos Tod entfernt, wollte sich noch weiter entfernen, aber das durfte er nicht zulassen. »Einen Polizisten«, fuhr er fort. »Von Scotland Yard. Er hat mit meinem Vater gesprochen.«

»Warum?«

»Wenn jemand ermordet wird, nehmen sie alles unter die Lupe. Sie beleuchten jeden Aspekt im Leben sämtlicher Beteiligten. Ist dir klar, was das heißt? Er hat mit Dad gesprochen, und Dad hat ihm alles erzählt, was er weiß.«

»Worüber?«

»Über Pengelly Cove. Und warum ich von dort weggegangen bin.«

»Aber das hat doch nichts damit zu tun…«

»Es ist eine offene Frage, der man nachgehen kann, und genau das tun sie. Sie gehen offenen Fragen nach.«

»Gib mir die Tabletten!«

»Nein.«

Sie versuchte, sie ihm zu entreißen. Er hielt die Flasche außerhalb ihrer Reichweite. »Ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan. In Pengelly Cove zu sein, mit Dad zu sprechen… Es ist alles wieder hochgekommen. Diese Party im Cliff House, der Alkohol, die Drogen, das Gefummel im Schatten, und zum Teufel damit, wer es mitbekam, wenn die Dinge ein bisschen weiter gingen… Und die Dinge sind weiter gegangen, nicht wahr?«

»Ich weiß es nicht mehr. Es ist so lange her. Ben. Bitte! Gib mir die Tabletten!«

»Wenn ich das tue, wirst du wieder völlig benebelt sein. Aber ich will, dass du hierbleibst. Du musst etwas von dem fühlen, was ich fühle. Das will ich von dir, denn wenn ich nicht einmal mehr das bekomme…«

Was dann?, fragte er sich. Wenn sie ihm nicht geben konnte, worum er sie jetzt bat, was konnte er dann tun, das er nicht in der Vergangenheit schon erfolglos zu tun versucht hatte? Seine Drohungen waren leer, und das wussten sie beide.

»Der Tod fordert letzten Endes immer einen weiteren Tod, ganz gleich was wir tun«, sprach er weiter. »Ich wollte nicht, dass Santo surft. Ich dachte, das Surfen könnte ihn dorthin führen, wohin es mich gebracht hatte, und ich habe mir eingeredet, das wäre der Grund, warum ich… Aber die Wahrheit ist: Ich wollte ihm das wegnehmen, was den Kern seiner Persönlichkeit ausmachte, weil ich Angst hatte. Es lief alles darauf hinaus, dass ich glaubte, er müsste so leben wie ich. Ich habe praktisch zu ihm gesagt: Lebe wie ein Toter, und dafür werde ich dich lieben. Und die hier…« Er hob das Pillenfläschchen. Dellen versuchte erneut, es ihm aus der Hand zu reißen, also hielt er es höher und stand von der Bettkante auf. »Die hier lassen dich tot erscheinen, jedenfalls für den Rest der Welt. Aber ich will dich in dieser Welt haben.«

»Du weißt genau, was passieren wird. Ich kann es nicht verhindern. Wenn ich es versuche, fühlt es sich an, als würde mein Kopf zerbersten.«

»Und so war es immer schon.«

»Das weißt du doch.«

»Also verschaffst du dir Erleichterung. Mit Tabletten und mit Alkohol. Und wenn du keine Tabletten hast und der Alkohol auch nicht mehr hilft…«

»Gib sie mir!« Jetzt stand auch sie vom Bett auf.

Er wich zurück, ans Fenster, und es war ganz einfach: Er öffnete es und ließ die Beruhigungstabletten hinabrieseln in das schlammige Beet, wo die Frühjahrsbepflanzung vor sich hin kümmerte und nach der Sonne hungerte, die auf sich warten ließ.

Dellen schrie auf. Sie rannte auf Ben zu und ließ die Fäuste auf ihn niederfahren.

Er packte ihre Hände und hielt sie fest. »Ich will, dass du siehst! Und hörst, und fühlst! Und dich erinnerst! Wenn ich mit all dem hier allein fertig werden muss…«

»Ich hasse dich!«, kreischte sie. »Du willst, du willst! Aber du wirst nie jemanden finden, der dir gibt, was du willst. Ich bin dieser Mensch nicht. Das war ich nie, und trotzdem lässt du mich nicht gehen. Und ich hasse dich. Gott, Gott, wie sehr ich dich hasse!«

Sie riss sich von ihm los, und einen Moment lang glaubte er, sie wollte aus dem Zimmer stürzen und unten im Schlamm nach ihren Tabletten wühlen, die sich vermutlich bereits zersetzten. Doch stattdessen riss sie die Schranktür auf und zerrte Kleidungsstücke daraus hervor. Rot auf Rot, von Karmesin bis Magenta und jeder Ton dazwischen, und sie warf alles auf einen Haufen am Fußboden. Sie suchte nach etwas, was die deutlichste Sprache hatte, wie das leuchtend rote Sommerkleid an jenem Abend vor so langer Zeit.

»Sag mir, was passiert ist«, beschwor er sie. »Ich war mit Parsons' Schwester zusammen. Ich hab alles darangesetzt, sie zu vögeln. Ich war vollauf mit dem beschäftigt, was sie mir zu tun erlaubte, und das war eine ganze Menge. Er hat uns zusammen erwischt und mich rausgeworfen. Nicht weil es ihn kümmerte, dass seine Schwester es mitten auf dem Flur im Haus seiner Eltern auf einer gut besuchten Party besorgt bekam, sondern weil er sich allen anderen überlegen fühlen wollte, und auch das war ein Weg, dieses Gefühl zu erreichen. Es hatte nichts mit Standesunterschieden zu tun. Oder mit Geld. Es hatte allein mit Jamie zu tun. Sag mir, was zwischen euch vorgefallen ist, nachdem ich gegangen bin!«

Sie fuhr fort, ihre Kleidungsstücke auf den Boden zu schleudern. Als sie mit dem Schrank fertig war, machte sie mit der Kommode weiter: Höschen, BHs, Unterröcke, Pullis und Schals. Nur die roten, bis die Kleidung um ihre Füße herum aussah wie Beerenbrei.

»Hast du ihn gevögelt, Dellen? Ich habe dich nie nach Namen gefragt, aber in diesem Fall will ich es wissen. Hast du zu ihm gesagt: "Am Strand gibt es eine Höhle, wo Ben und ich immer hingehen, um es miteinander zu treiben. Ich treffe dich dort"? Er konnte ja nicht wissen, dass du und ich Schluss gemacht hatten. Er muss gedacht haben: Was für eine gute Gelegenheit, es mir heimzuzahlen! Also hat er sich dort mit dir getroffen und…«

»Nein!«

»… hat dich gefickt, so wie du es wolltest. Aber er hatte sich allerhand von den Drogen eingefahren, die es da gab: Gras, Koks und was sonst noch, LSD, Ecstasy und das zusätzlich zu alldem, was er schon getrunken hatte. Und nachdem er getan hatte, was du von ihm wolltest, bist du einfach verschwunden, hast ihn da ohnmächtig in der Höhle liegen lassen, und als die Flut kam, so wie sie's immer tut…«

»Nein!«

»… warst du längst wieder verschwunden. Du hattest gekriegt, was du wolltest, und was du wolltest, war nicht Sex, sondern Rache. Du wusstest, wie Jamie war, und konntest sicher sein, dass er es mir bei der nächstbesten Gelegenheit unter die Nase reiben würde. Nur hast du nicht damit gerechnet, dass die Flut deine Pläne durchkreuzt und…«

»Ich hab's gesagt!«, schrie sie. Es waren keine Kleidungsstücke mehr übrig, die sie zu Boden schleudern konnte, also griff sie nach der Nachttischlampe und schwang sie wie eine Waffe. »Ich hab das alles erzählt. Bist du jetzt zufrieden? War es das, was du von mir hören wolltest?«

Ben war sprachlos. Er hätte nicht für möglich gehalten, dass ihm überhaupt noch irgendetwas die Sprache verschlagen konnte, aber jetzt fand er einfach keine Worte. Er hätte nicht für möglich gehalten, dass seine Vergangenheit noch irgendeine Überraschung barg, aber er hatte sich offenbar geirrt.


Bea und Sergeant Havers gingen zu Fuß vom Supermarkt zur Bäckerei Casvelyn of Cornwall hinüber. Dort herrschte Hochbetrieb: Die Warenauslieferung an die Pubs, Hotels, Cafés und Restaurants war in vollem Gange. Die Luft war vom verführerischen Duft nach frisch gebackenem Blätterteig erfüllt. Je weiter sie sich dem Geschäft näherten, umso stärker wurde er, und Bea hörte Barbara Havers murmeln: »Heiliger Bimbam…«

Bea warf ihr einen Seitenblick zu. Havers sah sehnsüchtig zum Schaufenster der Bäckerei hinüber, wo die Tabletts mit den frischen Pasteten lockten ein diätfeindliches Fest aus Cholesterin, Kohlehydraten und Kalorien. »Herrlich, oder?«, bemerkte Bea.

»Auf jeden Fall besser als Poptarts.«

»Jetzt da Sie schon einmal in Cornwall sind, müssen Sie auch eine Pastete probieren. Und hier gibt es die besten!«

»Ich werd's mir merken.« Havers streifte die Backwaren mit einem beinah verzweifelten Blick, während sie Bea in den Laden folgte.

Madlyn Angarrack war gerade dabei, einige Kunden zu bedienen, während Shar Tabletts voller Pasteten aus der Küche trug und in die Auslage bugsierte. Das Angebot schien heute nicht nur Pasteten zu umfassen, denn auf Shars Tabletts lagen auch kunstvolle Brotlaibe mit dicker Rosmarinkruste.

Wenngleich Madlyn zu tun hatte, beabsichtigte Bea doch nicht, sich hinten in der Schlange anzustellen. Sie entschuldigte sich bei der wartenden Kundschaft, indem sie unübersehbar mit ihrem Dienstausweis wedelte, und erklärte: »Tut mir leid. Polizeiliche Ermittlungen.« Und damit drängelte sie sich an ihnen vorbei. An der Kasse angelangt, sagte sie mit einiger Lautstärke: »Ich muss Sie sprechen, Miss Angarrack. Hier oder auf der Wache, das ist mir egal, allerdings muss es jetzt gleich sein.«

Madlyn versuchte gar nicht erst, sich zu drücken. Sie rief ihrer Kollegin zu: »Shar, übernimmst du bitte?«, und fügte vielsagend hinzu: »Wird nicht lange dauern«, was darauf hindeutete, dass sie entweder mit der Polizei zu kooperieren gedachte oder auf der Stelle einen Anwalt verlangen würde. Dann nahm sie ihre Jacke vom Garderobenhaken und ging den beiden Polizistinnen voran hinaus.

»Dies ist Detective Sergeant Havers«, stellte Bea vor. »Sie ist von New Scotland Yard gekommen, um uns bei den Ermittlungen zu unterstützen.«

Madlyns Augen glitten zu Havers, dann zurück zu Bea. Sie klang halb argwöhnisch, halb verwirrt, als sie fragte: »Wieso Scotland Yard…?«

»Denken Sie mal scharf nach.« Bea stellte zufrieden fest, dass es sich als unerwartet nützlich erwies, hier und da New Scotland Yard zu erwähnen. Die drei Worte ließen jeden aufhorchen, ganz gleich was er über die Londoner Behörde wusste oder sich lediglich zusammenfantasierte.

Madlyn schwieg. Sie nahm Havers in Augenschein, und falls sie sich fragte, wieso die Beamtin von New Scotland Yard aussah wie die Überlebende einer Flutkatastrophe, ließ sie es sich nicht anmerken. Unter ihren Blicken fischte Havers ein eselsohriges Notizbuch aus der Tasche und schrieb etwas hinein. Vermutlich war es nur der Vermerk, nicht zu vergessen, eine Pastete zu kaufen, ehe sie zum Salthouse Inn zurückkehrte; aber das war Bea gleich. Es sah offiziell aus, und nur das zählte.

»Ich werde nicht gern angelogen«, eröffnete Bea die Unterhaltung. »Es verschwendet meine Zeit, und es zwingt mich, dieselben Fragen zweimal zu stellen. Und überdies bringt es mich aus dem Konzept.«

»Ich habe nicht…«

»Lassen Sie uns bei dieser zweiten Runde im Ring ein wenig effizienter zur Sache gehen.«

»Ich verstehe nicht, wieso Sie glauben…«

»Soll ich Ihrer Erinnerung auf die Sprünge helfen? Vor sieben Wochen hat Santo Kerne mit Ihnen Schluss gemacht, und Ihrer Darstellung nach war die Sache damit erledigt. Mehr wüssten Sie nicht. Punkt. Nein, Sie haben uns keinen Sand in die Augen gestreut. Doch wie sich herausgestellt hat, wussten Sie doch ein bisschen mehr. Sie wussten, dass er sich mit jemand anderem traf, und irgendetwas daran machte Sie krank. Klingt das irgendwie vertraut, Miss Angarrack?«

Madlyn wich ihrem Blick aus. Ihr Hirn lief offenbar auf Hochtouren, und der Gedanke, der es vor allem beschäftigte, schien zu sein: Wer hatte da sein verdammtes Maul nicht halten können? Die Liste der Verdächtigen war vermutlich nicht allzu lang, und als Madlyns Blick auf den Blue-Star-Supermarkt fiel, zeichnete sich eine Art befriedigende Erkenntnis auf ihrem Gesicht ab, gefolgt von Entschlossenheit. Will Mendick, schloss Bea Hannaford, würde sich auf allerhand gefasst machen können.

»Was möchten Sie uns also erzählen?«, fragte Bea liebenswürdig. Sergeant Havers tippte bedeutungsvoll mit dem Stift auf ihr Notizbuch — es war ein angekauter Bleistift, aber jedwedes andere Schreibgerät in einem einwandfreien Zustand hätte dieser Frau auch nicht zu Gesicht gestanden.

Madlyns Blick kehrte zu Bea zurück. Sie wirkte nicht resigniert, eher so als sei ihr Rachedurst gestillt worden. Doch nach Beas Auffassung sollte kein Verdächtiger derart zufrieden aussehen.

»Er hat mit mir Schluss gemacht. Das habe ich Ihnen doch gesagt, und es ist die Wahrheit. Ich habe nicht gelogen, und Sie können mir auch keine Lüge anhängen. Außerdem stand ich nicht unter Eid, also…«

»Ersparen Sie uns Ihr juristisches Fachwissen«, fiel Havers ihr ins Wort. »Soweit ich weiß, ist das hier kein Fernsehkrimi. Uns interessiert es nicht besonders, ob Sie gelogen oder geschummelt oder Polka getanzt haben. Kommen wir zu den Fakten. Dann werde ich zufrieden sein, DI Hannaford wird zufrieden sein und glauben Sie mir Sie selbst ebenfalls.«

Madlyn schien auf den Ratschlag nichts geben zu wollen, denn sie zog angestrengt eine Grimasse, allerdings wohl nur um Zeit zu gewinnen und sich der besten Taktik zu besinnen, denn als sie erneut zu reden begann, erzählte sie eine vollkommen andere Geschichte als beim letzten Mal: »Also, meinetwegen. Ich habe mit ihm Schluss gemacht. Ich habe geahnt, dass er mich hintergeht, darum bin ich ihm gefolgt. Es ist nichts, worauf ich stolz bin, aber ich musste die Wahrheit erfahren. Und als ich es herausgefunden hatte, habe ich Schluss gemacht. Es hat wehgetan; ich war dumm genug und immer noch in ihn verliebt. Aber trotzdem habe ich Schluss gemacht. Das ist die Geschichte. Und die Wahrheit.«

»Und weiter?«, hakte Bea nach.

»Ich habe Ihnen doch gerade gesagt…«

»Wohin gefolgt?«, mischte sich Havers ein, den Bleistift einsatzbereit erhoben. »Wann gefolgt? Und wie? Zu Fuß? Mit dem Auto? Dem Fahrrad? Mit einem Springstock?«

»Was genau hat Sie krank daran gemacht, dass er Sie betrog?«, fragte Bea. »Die Tatsache an sich, oder war es noch etwas anderes? Ich glaube, "abartig" haben Sie es genannt.«

»Das hab ich nie…«

»Nicht zu uns. Kein Wort. Das ist Teil des Problems. Ihres Problems, meine ich. Wenn Sie Person A eine Version erzählen und der Polizei eine andere, dann rächt sich das früher oder später. Darum schlage ich vor, Sie denken noch einmal gründlich über Ihre Situation nach und tun etwas, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, sozusagen.«

»Wo Strangulation doch so ein schmerzhafter Tod ist«, murmelte Havers. Bea unterdrückte ein Grinsen. Langsam fing sie an, Gefallen an dieser unmöglich gekleideten Kollegin zu finden.

Madlyns Kiefermuskeln spannten sich sichtlich. Es hatte den Anschein, als ginge ihr endlich auf, wie es um sie bestellt war. Sie würde sich weiterhin verweigern und die Drohungen und den Spott der beiden Beamtinnen über sich ergehen lassen können oder sie konnte reden. Sie wählte die Option, die sie vermutlich schneller aus den Händen der Polizei befreite.

»Ich bin der Ansicht, die Menschen sollten sich an ihresgleichen halten«, begann sie.

»Und das hat Santo nicht getan?«, fragte Bea. »Was genau heißt das?«

»Genau das, was ich sage.«

»Was?«, hakte Havers ungeduldig nach. »Hat er es hinter Ihrem Rücken mit Ministranten getrieben? Mit Gespenstern? Schafen? Gemüsebrei? Was?«

»Hören Sie auf!«, rief Madlyn. »Er hatte andere Frauen, okay? Ältere Frauen. Ich habe es ihm auf den Kopf zugesagt, als ich es erfahren habe. Und ich habe es erfahren, weil ich ihm gefolgt bin.«

»Da waren wir bereits«, bemerkte Bea. »Wohin sind Sie ihm gefolgt?«

»Polcare Cottage.« Ihre Augen hatten einen merkwürdigen Glanz angenommen. »Er ist nach Polcare Cove gefahren, und ich bin ihm gefolgt. Er ist ins Haus gegangen und… Ich habe gewartet und gewartet, weil ich einfach dämlich war und glauben wollte… Aber nein. Nein. Also bin ich nach einer Weile an die Tür gegangen und habe dagegenckgedonnert und… Den Rest können Sie sich ja wohl denken, oder? Und das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe. Also lassen Sie mich in Frieden. Lassen Sie mich verdammt noch mal endlich in Frieden!« Und mit diesen Worten zwängte sie sich zwischen den beiden Polizistinnen hindurch und marschierte auf die Tür der Bäckerei zu. Im Gehen fuhr sie sich wütend mit den Handflächen über die Wangen.

»Polcare Cottage?«, fragte Havers.

»Ein überaus hübsches Ziel für einen kleinen Ausflug«, antwortete Bea.


Lynley wusste gleich, dass es keinen Sinn haben würde, das Cottage zu stürmen. Sie war offenbar nicht zu Hause. Entweder das, oder sie hatte den Vauxhall in dem größeren der beiden Außengebäude auf ihrem Grundstück geparkt. Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad seines Mietwagens und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Detective Inspector Hannaford zu berichten, was er in Erfahrung gebracht hatte, schien ganz oben auf der Liste zu stehen, aber er fühlte sich noch nicht bereit dazu. Stattdessen wollte er Daidre Trahair die Möglichkeit einräumen, die Dinge zu erklären.

Auch wenn Barbara Havers das bei ihrem Abschied im Salthouse Inn in Zweifel gezogen hatte, hatte er sich ihre Worte doch zu Herzen genommen. Er war in einer prekären Lage, und das wusste er, auch wenn es ihm zuwider war, das einzuräumen oder auch nur darüber nachzudenken. Er war verzweifelt bemüht, dem schwarzen Loch zu entrinnen, in dem er sich seit Wochen wähnte, und geneigt, sich an jedwedes Rettungsseil zu klammern, das ihn dort herausholen mochte. Die Wanderung auf dem Küstenpfad hatte diese Rettung nicht herbeigeführt, wie er gehofft hatte. Und er musste sich eingestehen, dass Daidre Trahairs Gesellschaft in Verbindung mit der Güte in ihren Augen ihn veranlasst hatte, über Details hinwegzusehen, die andernfalls seine Aufmerksamkeit erregt hätten.

Denn er war tatsächlich auf ein weiteres Detail gestoßen, nachdem Havers am Morgen fortgefahren war. Und da er weder sturköpfig noch blind war, hatte er nochmals im Zoo in Bristol angerufen. Dieses Mal hatte er sich indessen nicht nach Dr. Trahair, sondern nach den Primatenpflegern erkundigt. Während er von einem Gesprächspartner zum nächsten und durch ungefähr ein halbes Dutzend Abteilungen gereicht wurde, ahnte er bereits, was er herausfinden würde. Es gab keinen Affenpfleger namens Paul in diesem Zoo. Vielmehr wurden die Affen von einem Frauenteam unter der Leitung einer gewissen Mimsie Vanee versorgt, mit der er sich schließlich aber doch nicht verbinden ließ.

Noch eine Lüge. Ein weiterer Punkt, der ein schlechtes Licht auf Daidre warf und der geklärt werden musste.

Er war zu dem Schluss gekommen, dass er endlich die Karten offen auf den Tisch legen musste. Schließlich war er derjenige gewesen, dem Daidre von Affenpfleger Paul und dessen todkrankem Vater erzählt hatte. Vielleicht hatte er aber auch irgendetwas, was sie gesagt hatte, missverstanden oder falsch gedeutet. Auf jeden Fall hatte sie die Chance verdient, die Sache aufzuklären. Hätte nicht jeder in ihrer Situation das verdient?

Er stieg aus dem Wagen, schlenderte auf Daidres Cottage zu und klopfte an. Wie erwartet, war die Tierärztin nicht zu Hause. Er ging hinüber zu den Außengebäuden, um sicherzugehen.

Das größere war vollkommen leer. Das musste es auch sein, wenn man ein Auto darin parken wollte. Außerdem entsprach es innen weitgehend dem Zustand eines Rohbaus, und Spinnweben und eine dicke Staubschicht entlang der Wände deuteten darauf hin, dass es nicht allzu häufig benutzt wurde. Doch auf dem Boden verliefen Reifenspuren. Lynley kniete sich hin und besah sie genauer. Unterschiedliche Wagen waren hier abgestellt worden, erkannte er — das war etwas, was er sich merken sollte, auch wenn er noch nicht wusste, was er mit der Information anfangen sollte.

Das kleinere der beiden Gebäude war ein Gartenhäuschen. Darin befanden sich abgenutzte Geräte, die von Daidres Bemühungen zeugten, ihr kleines Grundstück in einen Garten zu verwandeln, ganz gleich ob es nun zu nah an der See lag oder nicht.

Er betrachtete das Werkzeug, weil er nichts anderes zu betrachten fand, als draußen auf dem Kies der Einfahrt ein Wagen knirschend zu stehen kam. Lynley blockierte Daidres Zufahrt, und umgehend verließ er das Gartenhäuschen, um seinen eigenen Wagen umzuparken. Doch es war nicht Daidre Trahair, die gekommen war. Es war Detective Inckspector Hannaford. Und in ihrem Schlepptau: Barbara Havers.

Lynley fühlte Mutlosigkeit in sich aufsteigen, als er sie sah. Er hatte gehofft, Havers würde Hannaford nichts über die Dinge erzählen, die sie in Falmouth herausgefunden hatte, obwohl ihm nur zu sehr bewusst war, wie unwahrscheinlich das wäre. Barbara war nun mal bissig, wenn es um eine Ermittlung ging. Sie würde sogar ihre eigene Großmutter mit einem Schwertransporter niederwalzen, wenn die fragliche Verwandte zwischen ihr und einer relevanten Information stünde. Seine Überzeugung, dass Daidres Vergangenheit für den aktuellen Fall irrelevant war, zählte in ihren Augen nicht, denn jede noch so kleine Ungereimtheit, alles Seltsame, Widersprüchliche und Verdächtige musste aus jedwedem Blickwinkel untersucht werden, und Barbara Havers war genau die Richtige, um dies zu tun.

Ihre Blicke trafen sich, als sie ausstieg, und er bemühte sich, seine Enttäuschung nicht gar zu deutlich zu zeigen. Havers blieb stehen, um eine Zigarette aus ihrer Players-Schachtel zu schütteln. Dann drehte sie sich aus dem Wind, um die Flamme ihres Plastikfeuerzeugs zu zünden.

Bea Hannaford trat auf Lynley zu. »Ist sie denn nicht hier?«

Er schüttelte den Kopf.

»Sind Sie sicher?« Hannaford sah ihn eindringlich an.

»Ich habe nicht durch die Fenster geschaut«, antwortete er wahrheitsgemäß. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, warum sie die Tür nicht öffnen sollte, wenn sie zu Hause wäre.«

»Ich schon. Wie kommen wir mit unseren Ermittlungen über Dr. Trahair voran? Sie haben inzwischen reichlich Zeit mit ihr verbracht. Sie haben doch bestimmt etwas zu berichten.«

Lynley sah zu Havers hinüber, und eine Welle der Dankbarkeit wallte in ihm auf. Sie hatte nichts erzählt. Ein wenig schämte er sich dafür, dass er seine einstige Partnerin derart falsch eingeschätzt hatte, und ihm wurde bewusst, wie sehr die letzten Monate ihn verändert hatten. Havers' Gesicht blieb mehr oder minder ausdruckslos; sie zog lediglich eine Braue in die Höhe. Sie hatte ihm den Ball zugespielt, erkannte er, und nun konnte er damit tun, was er wollte. Fürs Erste.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum sie Sie angelogen hat, was ihre Route von Bristol hierher betrifft«, sagte er zu Hannaford. »Viel weiter bin ich noch nicht gekommen. Sie ist mit allem, was sie über sich preisgibt, sehr vorsichtig.«

»Aber nicht vorsichtig genug«, erwiderte Hannaford. »Wie sich herausgestellt hat, hat sie auch gelogen, als sie sagte, sie kennte Santo Kerne nicht. Der Junge war ihr Liebhaber. Sie hat ihn sich mit seiner Freundin geteilt, die allerdings nichts davon wusste. Jedenfalls zunächst nicht. Aber dann hat sie — ich meine die Freundin — Verdacht geschöpft, ist Santo gefolgt, und er hat sie geradewegs hierhergeführt. Er scheint einer von diesen Kerlen gewesen zu sein, die einfach alles mitnehmen, was sie kriegen können. Älter, jünger oder irgendwo dazwischen.«

Obwohl sein Herzschlag sich beschleunigt hatte, während Hannaford sprach, erwiderte Lynley gleichmütig: »Ich komme nicht ganz mit.«

»Wo kommen Sie nicht mit?«

»Seine Freundin ist ihm gefolgt, und Sie ziehen daraus den Schluss, dass er und Dr. Trahair eine Affäre hatten?«

»Sir…« Es war Havers' warnender Tonfall.

»Allein daraus… Sind Sie verrückt?«, fragte Hannaford Lynley. »Die Freundin hat ihn erwischt, Thomas.«

»Ihn oder sie beide?«

»Ihn oder sie? Was spielt das für eine Rolle?«

»Die entscheidende, wenn sie nichts gesehen hat.«

»Ach, wirklich? Was hätte das Mädchen Ihrer Meinung nach denn tun sollen? Mit einer Kamera durchs Fenster springen, während sie es trieben? Um Beweismaterial zu sichern, falls sie ihre Geschichte je der Polizei erzählen müsste? Sie hat genug gesehen, um ihn zur Rede zu stellen, und er hat klein beigegeben und es gestanden.«

»Er hat eingeräumt, dass er ein Verhältnis mit Dr. Trahair hatte?«

»Was zum Teufel glauben Sie denn…«

»Mir kam nur in den Sinn… Wenn er eine Schwäche für ältere Frauen hatte, hätte er sich vielleicht eine gesucht, mit der er sich regelmäßiger treffen konnte. Dr. Trahair kommt nur im Urlaub oder gelegentlich übers Wochenende hierher.«

»Nach ihrer Aussage. Thomas, sie hat bisher in fast jedem Punkt gelogen. Wir können also davon ausgehen, wenn Santo Kerne zu diesem Cottage kam…«

»Darf ich kurz unterbrechen, Inspector Hannaford?«, fiel Havers ihr ins Wort. »Ich müsste ein Wort mit dem Superintendent reden.«

Lynley sagte entschieden: »Barbara, ich bin nicht mehr…«

»Mit Seiner Lordschaft«, korrigierte Havers sich scharf. »Mit Seiner Durchlaucht. Mit Mr. Lynley. Mit wie immer er sich momentan auch nennen mag… Wenn's recht ist, Inspector.«

Hannaford warf die Arme hoch. »Bitte. Machen Sie doch, was Sie wollen.« Sie wandte sich in Richtung Cottage ab, aber dann hielt sie inne und wies mit dem Finger auf Lynley. »Detective, wenn ich herausfinde, dass Sie diese Ermittlung in irgendeiner Weise behindern…«

»… sorgen Sie dafür, dass ich meinen Job verliere«, beendete Lynley den Satz für sie. »Ich weiß.«

Er sah ihr nach, während sie zum Haus hinüberging und anklopfte. Als niemand öffnete, ging sie um das Cottage herum, um offensichtlich das zu tun, was Santo Kernes Freundin ihrer Ansicht nach hätte tun sollen: durch die Fenster spähen.

Lynley drehte sich zu Havers. »Danke«, sagte er.

»Ich wollte Sie gerade nicht aus der Schusslinie bringen…«

»Nicht dafür.« Er nickte zu Hannaford hinüber. »Sondern dafür, dass Sie ihr nicht gesagt haben, was Sie in Falmouth in Erfahrung bringen konnten. Das hätten Sie eigentlich tun sollen. Das hätten Sie eigentlich sogar tun müssen. Das wissen wir beide. Danke.«

»Ich bleibe mir gern treu.« Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette, ehe sie sie zu Boden warf. Dann zupfte sie sich ein Tabakstückchen von der Zunge. »Warum sollte ich aus heiterem Himmel so etwas wie Respekt gegenüber Vorgesetzten entwickeln? Wenn Sie wissen, was ich meine.«

Er lächelte. »Also verstehen Sie…«

»Nein«, unterbrach sie ihn. »Ich verstehe überhaupt nichts. Jedenfalls nicht das, wovon Sie wollen, dass ich es verstehe. Sie ist eine Lügnerin, Sir. Das macht sie verdächtig. Wir sind hergekommen, um sie zum Verhör zu holen. Oder mehr, wenn's sein muss.«

»Mehr? Eine Festnahme? Aus welchem Grund? Mir scheint, wenn sie wirklich eine Affäre mit diesem Jungen hatte, ist es jemand anderes, dem das ein Motiv liefert.«

»Nicht unbedingt. Und bitte machen Sie mir nicht weis, das wüssten Sie nicht.« Sie schaute zum Cottage hinüber. Hannaford war aus ihrem Blickfeld verschwunden; sie war zu den Fenstern auf der Meerseite des Hauses gegangen. Havers atmete tief durch und hustete dann.

»Sie müssen mit dem Rauchen aufhören«, ermahnte er sie.

»Klar. Morgen. Bis dahin haben wir allerdings noch ein kleines Problem zu lösen.«

»Kommen Sie mit mir nach Newquay.«

»Was? Warum?«

»Weil ich eine Spur in diesem Fall habe, und sie führt genau dorthin. Santo Kernes Vater war vor rund dreißig Jahren in einen Todesfall verwickelt. Ich glaube, dass wir der Sache nachgehen müssen.«

»Santo Kernes Vater? Sir, Sie verschließen die Augen vor den Fakten.«

»Vor welchen Fakten?«

»Das wissen Sie genau.« Sie nickte zum Cottage hinüber.

»Havers, das ist nicht wahr. Kommen Sie mit nach Newquay.« Der Plan erschien ihm so vernünftig. Es erinnerte ihn obendrein an alte Zeiten: Havers und er zusammen unterwegs, um ein bisschen zu graben, gemeinsam Hinweise zu diskutieren und einander Theorien vorzutragen. Er wollte unbedingt, dass sie ihn begleitete.

»Das kann ich nicht tun, Sir«, antwortete Havers.

»Warum nicht?«

»Erstens, weil ich als Leihgabe an DI Hannaford hier bin. Und zweitens…« Sie fuhr sich mit der Hand durch das sandfarbene Haar, unmöglich geschnitten wie üblich, hoffnungslos ungelockt und wie immer statisch aufgeladen, sodass ein nicht eben geringer Teil ihr vom Kopf abstand. »Sir, wie soll ich Ihnen das klarmachen…«

»Was?«

»Na, das alles hier. Sie haben das Schlimmste erlebt, was einem passieren kann…«

»Barbara…«

»Nein. Jetzt werden Sie mir verdammt noch mal zuhören. Ihre Frau wurde ermordet. Sie haben Ihr Kind verloren. Herrgott noch mal, Sie selbst mussten die lebenserhaltenden Maschinen abschalten!«

Er schloss die Augen. Ihre Hand packte seinen Arm und hielt ihn fest.

»Ich weiß, das hier ist hart. Ich weiß, es ist furchtbar.«

»Nein«, murmelte er. »Das wissen Sie nicht. Das können Sie gar nicht.«

»Na schön. Dann kann ich es eben nicht wissen. Aber was mit Helen passiert ist, hat Ihr Leben in ein Trümmerfeld verwandelt, und niemand, absolut niemand, Sir, übersteht so etwas, ohne dass er ein bisschen durcheinander ist.«

Er sah sie wieder an. »Wollen Sie damit etwa sagen, ich wäre verrückt? Sind wir an diesen Punkt gelangt?«

Sie ließ seinen Arm los. »Ich will damit nur sagen: Sie sind traumatisiert. Sie sind nicht aus einer Position der Stärke in diesen Fall hineingestolpert, weil Sie das gar nicht konnten, und irgendetwas anderes von Ihnen zu erwarten, wäre auch nicht richtig. Ich habe keine Ahnung, wer diese Frau ist oder warum sie hier ist, ob sie überhaupt Daidre Trahair ist oder nur jemand, der sich für Daidre Trahair ausgibt. Aber die Tatsache bleibt: Wenn jemand in einer Mordermittlung lügt, dann ist es genau das, was die Polizei unter die Lupe nimmt. Also ist die Frage doch: Warum wollen Sie das um keinen Preis? Ich glaube, wir beide kennen die Antwort.«

»Die da lautet?«

»Da ist sie wieder, Ihre Aristokratenstimme! Ich weiß genau, was das bedeutet: Sie wollen Distanz, und meistens kriegen Sie die auch. Aber heute nicht, Sir. Ich bin hier, stehe genau vor Ihrer Nase, und Sie müssen sich klarmachen, was Sie tun und warum. Und wenn Sie mit dem Gedanken, das tun zu müssen, nicht klarkommen, dann müssen Sie sich auch diesbezüglich fragen: Warum nicht?«

Er antwortete nicht. Er fühlte sich, als spülte eine Welle über ihn hinweg, die all das durchbrach, was er um sich herum errichtet hatte, um vorübergehend alles von sich fernzuhalten. Schließlich sagte er: »O mein Gott.« Aber das war auch schon alles, was er herausbrachte. Er hob den Kopf und schaute zum Himmel auf, wo graue Wolken drohten, den Tag zu verdüstern.

Als Havers wieder sprach, klang ihre Stimme nicht mehr hart, sondern behutsam. Diese Veränderung traf ihn ebenso, wie ihre Worte es getan hatten. »Warum sind Sie hier, Sir? Warum sind Sie zu ihrem Cottage gefahren? Haben Sie etwas Neues über sie herausbekommen?«

»Ich dachte…« Er räusperte sich und wandte den Blick vom Himmel ab, um sie wieder anzusehen. Sie war so bodenständig, so unbeschreiblich real. Und er wusste, sie war auf seiner Seite. Aber das durfte ihn im Augenblick nicht beeinflussen. Denn wenn er Havers die Wahrheit sagte, würde sie sich sofort darauf stürzen. Allein die Tatsache, dass Daidre Trahair noch einmal gelogen hatte, wäre das Zünglein an der Waage. »Ich dachte, vielleicht würde sie mich nach Newquay begleiten wollen«, sagte er. »Das würde mir die Gelegenheit geben, noch einmal mit ihr zu reden und womöglich zu ergründen…« Er beendete den Gedanken nicht. Selbst in seinen eigenen Ohren klang es auf einmal so erbarmungswürdig verzweifelt. Aber genau das bin ich ja auch, dachte er.

Havers nickte stumm, als Hannaford um die Ecke des Cottages trat und durch den dicht stehenden Strandhafer und die Schlüsselblumen unter den Fenstern trampelte. Daidre Trahair sollte ruhig merken, dass sie Besuch gehabt hatte.

Lynley teilte ihr mit, was er vorhatte: Newquay, die dortige Polizei, die Geschichte von Ben Kerne und der Tod eines Jungen namens Jamie Parsons.

Hannaford war nicht sonderlich beeindruckt. »Das ist eine Sackgasse«, erklärte sie. »Was sollten wir mit der Geschichte anfangen?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber mir scheint…«

»Ich will, dass Sie sich auf sie konzentrieren, Superintendent. Ich will alles wissen: sogar was sie während der Eiszeit getrieben hat selbst wenn sie da erst… vier war. Oder fünf.«

»Ich gebe zu, dass es in ihrer Geschichte Ungereimtheiten gibt, denen nachgegangen werden muss.«

»Ach wirklich? Gut zu hören. Also, gehen Sie ihnen nach! Haben Sie das Handy dabei? Ja? Dann lassen Sie es eingeschaltet.« Sie nickte zum Auto hinüber. »Wir sind dann mal weg. Sobald Sie Dr. Trahair ausfindig gemacht haben, bringen Sie sie zur Wache. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Allerdings«, erwiderte Lynley. »Völlig klar.«

Er sah Hannaford nach, als sie zum Wagen hinüberging, und dann tauschte er einen schnellen Blick mit Havers, ehe auch sie sich abwandte.

Er würde trotzdem nach Newquay fahren. Das war das Schöne an seiner Rolle bei dieser Ermittlung. Zur Hölle mit den Folgen, wenn Hannaford anderer Ansicht war. Er war nicht verpflichtet, ihrer Intuition den Vorzug vor seiner eigenen zu geben.

Nachdem er das Geflecht kleiner Sträßchen hinter sich gelassen hatte, das zwischen Polcare Cove und der A39 lag, nahm er den kürzesten Weg nach Newquay. Fünf Meilen hinter Wadebridge war ein Lastwagen umgestürzt, und Lynley geriet in einen Stau, was ihn viel Zeit kostete, sodass er erst gegen zwei Uhr nachmittags in Cornwalls Surfmetropole eintraf. Dort verirrte er sich hoffnungslos und verfluchte den gehorsamen, rücksichtsvollen Sohn, der er vor dem Tod seines Vaters stets gewesen war. Newquay sei ein Tummelplatz für vulgäre Menschen, hatte sein Vater mehr als einmal ausgeführt — kein Ort, wo ein Lynley sich je aufhielt. Und so kam es, dass er sich in der Stadt nicht im Geringsten auskannte, während sein jüngerer Bruder, der nie von dem Bedürfnis, Erwartungen zu erfüllen, geplagt gewesen war, sich vermutlich mit verbundenen Augen zurechtgefunden hätte.

Nachdem er sich zweimal durch das Labyrinth aus Einbahnstraßen gekämpft hatte und sogar um ein Haar in die Fußgängerzone hineingefahren wäre, gab Lynley auf und folgte den Schildern zur Touristeninformation, wo eine freundliche Frau sich erkundigte, ob er den Fistral Beach suchte. Offenbar hielt sie ihn für einen alternden Surfer. Doch sie zeigte sich ebenso willig, ihm den Weg zur Polizeiwache zu erklären, und dank ihrer detaillierten Beschreibung fand er schließlich ohne weitere Probleme dorthin.

Sein Dienstausweis öffnete ihm die Türen, genau wie er es sich erhofft hatte, brachte ihn aber nicht so weit, wie er es sich gewünscht hätte. Der Constable am Empfang verwies ihn an den Leiter der Abteilung für Kapitalverbrechen, einen Detective Sergeant namens Ferrell, dessen Kopf kugelrund und die Augenbrauen so buschig und schwarz waren, dass sie künstlich aussahen. Ferrell wusste über die laufenden Ermittlungen in Casvelyn Bescheid. Was er allerdings nicht wisse, sei, dass Scotland Yard eingeschaltet worden war, erklärte er vielsagend. Die Anwesenheit von Scotland Yard deute auf eine Ermittlung bezüglich der Ermittlung hin, was wiederum ein höchst fragwürdiges Licht auf die Kompetenz des leitenden Beamten werfe.

Aus Fairness gegenüber Hannaford zerstreute Lynley die Bedenken, die Ferrell hinsichtlich der Fähigkeiten der Kollegen ausbrütete. Er sei in der Gegend in Urlaub und zufällig zugegen gewesen, erklärte er, als die Leiche entdeckt wurde. Der tote Junge sei der Sohn eines Mannes, der vor vielen Jahren selbst in einen Todesfall verwickelt gewesen sei, wenn vielleicht auch nur am Rande. Die Polizei von Newquay habe damals ermittelt. Darum sei Lynley hergekommen. Er suche nach Informationen über diesen alten Fall.

Vor dreißig Jahren war Ferrell kaum aus den Windeln herausgewesen, und so sagte ihm weder der Name Parsons, Benesek Kerne noch ein Unglück in einer Strandhöhle in Pengelly Cove irgendetwas. Andererseits sei es ein Leichtes für ihn herauszufinden, wer etwas über diesen Todesfall wusste. Wenn der Superintendent so lange ausharren wolle…

Lynley beschloss, in der Kantine zu warten, damit seine Präsenz nicht vergessen wurde, was die Dinge vielleicht beschleunigte. Auch wenn er seit seiner Unterhaltung mit Havers am Morgen keinen Appetit mehr verspürte, kaufte er sich einen Apfel, denn er wusste, er musste irgendetwas essen. Er biss hinein, war dankbar, dass der Apfel mehlig war, und warf ihn in einen Mülleimer. Als Nächstes versuchte er es mit einer Tasse Kaffee und wünschte sich, er wäre noch Raucher. Die Kantine war selbstverständlich inzwischen zum Nichtraucherbereich erklärt worden, aber es hätte ihm die Wartezeit verkürzt, wenn seine Hände beschäftigt gewesen wären. Selbst eine nicht brennende Zigarette zwischen den Fingern hin- und herzurollen, hätte ihm genügt; denn so hätte er sich wenigstens nicht genötigt gefühlt, Zuckertütchen in Fetzen zu reißen. Denn genau das war es, was er tat, während er auf DS Ferrells Rückkehr wartete. Eines öffnete er und schüttete den Inhalt in seinen Kaffee. Die anderen schüttete er zu einem Hügelchen auf der Tischplatte auf, zog mit einem Plastikrührer Muster hinein und versuchte, nicht nachzudenken.

Es gab keinen Affenpfleger namens Paul, aber was hieß das schon? Eine Frau, die Wert auf ihre Privatsphäre legte, war mit Artikeln über Wunder erwischt worden und hatte sich dafür eine Ausrede einfallen lassen. Das war doch nur menschlich. Verlegenheit führte zu Notlügen. Das war kein Verbrechen. Doch war dies nicht die einzige Lüge der Tierärztin gewesen, und genau damit musste er sich auseinandersetzen. Was sollte er von Daidre Trahairs Lügen halten, was sollte er unternehmen?

Es dauerte geschlagene sechsundzwanzig Minuten, bis DS Ferrell zurückkam. Und er brachte nichts mit in die Kantine als einen Zettel. Lynley hatte auf Kartons voller Akten gehofft, die er würde einsehen können, und für einen Moment war er enttäuscht. Doch was Ferrell ihm mitteilte, versöhnte ihn ein wenig.

»Der Detective Inspector, der den Fall bearbeitet hat, ist schon lange vor meiner Zeit pensioniert worden«, berichtete er. »Er dürfte inzwischen schon über achtzig sein. Er wohnt in Zennor, gegenüber der Kirche, gleich neben dem Pub. Er hat gesagt, er trifft Sie am Sitz der Meerjungfrau, wenn Sie ihn sprechen wollen.«

»Sitz der Meerjungfrau?«

»Das war es, was er gesagt hat. Wenn Sie ein anständiger Polizist sind, finden Sie das sicher.« Ferrell zuckte ein wenig verlegen die Schultern. »Komischer Kauz, wenn Sie mich fragen. Also seien Sie gewarnt. Ich glaube, er ist ein bisschen gaga.«

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