13

Tammy Penrule saß auf einem der Plastikstühle am Empfang, die Füße fest auf den Boden gestellt, die Hände im Schoß gefaltet, ihr Rücken eine exakte Senkrechte zur Sitzfläche. Sie war vollständig in Schwarz gekleidet aber sie war kein Goth, wie Bea auf den ersten Blick vermutet hatte. Das Mädchen trug weder Make-up noch diesen abscheulichen schwarzen Nagellack, und es war auch nicht gepierct. Vielmehr fehlte jeglicher Schmuck, sodass nichts das Schwarz ihrer Kleidung aufhellte. Sie sah aus, als sei sie in Trauer.

»Miss Penrule?«, fragte Bea überflüssigerweise.

Das Mädchen sprang auf die Füße. Es war so mager wie die Almosen eines Geizkragens. Der Gedanke an eine Essstörung drängte sich einem geradezu auf.

»Sie haben Informationen für mich?« Als das Mädchen nickte, forderte Bea es auf: »Dann kommen Sie mit.« Allerdings hatte sie noch nicht herausgefunden, wo sich in dieser Polizeiwache die Verhörzimmer befanden. Hier herumzuirren, würde wohl kaum vertrauensbildend wirken, also korrigierte Bea sich: »Warten Sie bitte einen Augenblick.«

Sie fand ein winziges Büro neben einem Abstellraum, das sie für ausreichend befand, bis eine genauere Begehung der Wache die bislang geheime Lage der Verhörzimmer enthüllen würde.

Nachdem sie Tammy Penrule dort auf einen Stuhl gesetzt hatte, fragte sie: »Also, was haben Sie mir zu erzählen?«

Tammy leckte sich über die spröden Lippen. Ein kleiner Schorf zeigte die Stelle an, wo die Unterlippe geblutet hatte. »Es geht um Santo Kerne«, begann Tammy.

»Das dachte ich mir schon.« Bea verschränkte die Arme vor der Brust. Unbewusst, so schien es, imitierte Tammy die Geste, auch wenn sie keine nennenswerte Brust besaß. Bea fragte sich, ob dieses Mädchen der Grund für das Ende der Beziehung von Santo Kerne und Madlyn Angarrack gewesen sein mochte. Madlyn war sie zwar noch nicht begegnet, aber allein die Tatsache, dass das Mädchen eine Wettkampfsurferin gewesen war, legte den Schluss nahe, dass Madlyn doch eher einen durchtrainierten Sportlerkörper hatte. Dieses Mädchen hier hingegen wirkte flüchtig, beinahe durchscheinend, so als könnte es nur so lange körperlich bleiben, wie es die Kraft aufbrachte, an seiner menschlichen Gestalt festzuhalten. Bea konnte sich Tammy einfach nicht breitbeinig unter einem rammelnden Teenager vorstellen.

»Santo hat mit mir geredet«, begann das Mädchen zögernd.

»Aha.«

Sie schien auf mehr zu warten, also tat Bea ihr den Gefallen: »Woher kannten Sie ihn?«

»Vom Clean-Barrel-Surfshop«, antwortete Tammy. »Da arbeite ich. Er kam ab und zu vorbei, um Wachs zu kaufen und solche Dinge. Und um sich die Isobarenkarten anzuschauen, obwohl das wahrscheinlich nur ein Vorwand war, um mit den anderen Surfern rumzuhängen. Die Isobarenkarten stehen auch im Internet, und ich nehme mal an, da drüben im Hotel haben sie einen Internetzugang.«

»Bei Adventures Unlimited?«

Tammy nickte.

Unterhalb ihres Kehlkopfs lag eine tiefe Mulde im Schatten des künstlichen Oberlichts. Der Kragen ihres Pullovers ließ die Ansätze der Schlüsselbeine frei, die beinahe höckerartig hervorzustehen schienen. »So hab ich ihn kennengelernt. Und durch Sea Dreams.«

Das war dieser Caravanpark, erinnerte sich Bea, und sie legte den Kopf schräg. Vielleicht hatte sie sich getäuscht, was das Mädchen und Santo anging. »Haben Sie ihn dort getroffen?«, fragte sie.

»Nein, wie gesagt, bei Clean Barrel.«

»Entschuldigung. Ich meinte nicht, "getroffen" im Sinne von kennenlernen«, stellte Bea klar. »Ich meinte: Haben Sie sich dort mit ihm zu Verabredungen getroffen?«

Tammy lief rot an. So wenig Substanz lag zwischen ihrer Haut und den Blutgefäßen, dass ihre Schläfen beinahe einen Purpurton annahmen, und das rasend schnell.

»Sie meinen… ob Santo und ich… Sex hatten? Nein, nein. Ich wohne dort. In Sea Dreams. Der Caravanpark gehört meinem Großvater. Ich kannte Santo von Clean Barrel, wie gesagt, aber er kam ab und zu mit Madlyn nach Sea Dreams. Manchmal auch allein, denn es gibt da so eine Klippe, an der er trainiert hat, und Granddad hatte ihm erlaubt, über unser Grundstück dorthin zu gehen, wenn er klettern wollte. Bei solchen Gelegenheiten haben wir uns gesehen und manchmal auch miteinander gesprochen.«

»Er kam auch allein?«, hakte Bea nach. Diese Information war neu für sie.

»Wie ich schon sagte. Dann ging er klettern. Runter und wieder rauf. Manchmal auch nur rauf, dann kam er von unten… oder wahrscheinlich doch immer runter und wieder rauf, ich weiß es nicht mehr so richtig. Hin und wieder hat er auch Mr. Reeth besucht. Genau wie Madlyn. Mr. Reeth arbeitet bei Madlyns Vater in der…«

»Ja, ich weiß. Wir haben bereits mit ihm gesprochen.« Aber was sie nicht gewusst hatte, war, dass Santo auch allein nach Sea Dreams gegangen war.

»Santo war nett.«

»Besonders zu Mädchen, habe ich gehört.«

Tammys Gesichtsröte war abgeklungen. Beas Kommentar nahm sie hin, ohne sich daran zu reiben. »Ja, das stimmte wohl. Aber so war das nicht mit ihm und mir, weil ich… Na ja, das spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass wir hin und wieder geredet haben. Wenn er mit dem Klettern fertig war oder von Mr. Reeth zurückkam. Oder manchmal, während er darauf wartete, dass Madlyn von der Arbeit kam.«

»Sie kamen also nicht zusammen an?«

»Nicht immer. Sie hatte einen weiteren Anfahrtsweg als er. Inzwischen arbeitet Madlyn in der Stadt, aber früher hat sie bei Brandis Corner auf einer Farm gejobbt. Die stellen Marmelade her.«

»Ich könnte mir vorstellen, dass sie lieber Surfunterricht gegeben hätte.«

»Sicher. Aber das geht eben nur während der Saison. Den Rest des Jahres muss sie ja auch irgendetwas tun. Sie arbeitet jetzt in der Bäckerei. In der Stadt. Sie machen Pasteten, hauptsächlich für den Großhandel, aber sie haben auch einen kleinen Laden.«

»Und was hat Santo mit alldem zu tun?«

»Santo. Natürlich.« Sie hatte gestikuliert, während sie sprach, aber jetzt verschränkte sie die Finger wieder im Schoß. »Wir haben uns hin und wieder unterhalten. Ich mochte ihn gern — nicht so, wie die meisten anderen Mädchen ihn wohl gern gemocht hätten, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich glaube, das machte mich in seinen Augen anders, irgendwie… sicherer oder so. Um sich Rat zu holen, zum Beispiel, denn er konnte weder seinen Vater noch seine Mutter fragen…«

»Warum nicht?«

»Sein Vater würde ihn nicht verstehen, hat er gesagt, und seine Mum… Ich kenne sie nicht, aber ich habe das Gefühl, dass sie… nicht besonders mütterlich ist.« Sie strich den Rock glatt. Der Stoff sah aus, als sei er kratzig auf der Haut. »Jedenfalls hat Santo mich in einer Sache um Rat gefragt… und ich dachte, davon sollten Sie wissen.«

»Worum ging es denn?«

Sie schien nach einem diplomatischen Weg zu suchen, um zu sagen, was als Nächstes kam, doch weil ihr offenbar keine Umschreibung einfiel, näherte sie sich der Wahrheit auf einem Umweg: »Er war… Er hatte jemanden kennengelernt… jemand Neues, verstehen Sie? Und die Situation war anormal. Das war das Wort, das er verwendet hat, als er mir davon erzählte: anormal. Und er wollte mich fragen, was er meiner Meinung nach tun sollte.«

»Anormal? Das hat er gesagt? Sind Sie da sicher?«

Tammy nickte. »Er sagte… Er glaubte, er liebe sie. Madlyn, meine ich. Aber diese andere Sache wollte er auch. Er war total fixiert darauf, hat er gesagt. Aber wenn er diese andere Sache so sehr wollte, hieß das dann, dass er Madlyn doch nicht wirklich liebte?«

»Er hat mit Ihnen also über Liebe gesprochen?«

»Nein, es war eher so, als hätte Santo mit Santo gesprochen. Er wollte wissen, was ich darüber dachte. Was er wegen der ganzen Sache tun sollte. Allen reinen Wein einschenken? Von A bis Z die Wahrheit sagen?«

»Und was haben Sie geantwortet?«

»Ich habe ihm geraten, ehrlich zu sein. Ich habe gesagt, man soll immer ehrlich sein, denn wenn die Leute ehrlich zeigen, wer sie sind, was sie wollen und was sie tun, dann geben sie den anderen Menschen — ich meine diejenigen, die in irgendeiner Beziehung zu ihnen selbst stehen — die Chance zu entscheiden, ob sie wirklich etwas mit ihnen zu tun haben wollen.« Sie sah Bea ernst an. »Ich nehme an, er hat meinen Rat befolgt und war ehrlich«, sagte sie. »Und darum bin ich hergekommen. Vielleicht musste er genau deswegen sterben.«


»Es ist in erster Linie eine Frage der Ausgewogenheit«, resümierte Alan. »Das siehst du doch ein, oder, Liebling?«

Kerras Nackenhaare richteten sich auf. "Liebling" war einfach zu viel. "Liebling" gab es nicht. Sie war kein Liebling. Sie dachte, das hätte sie Alan klargemacht, aber dieser unmögliche Mensch weigerte sich einfach, es zu glauben.

Sie standen vor dem verglasten Schaukasten in der Eingangshalle des einstigen Hotels. Der Gegenstand ihrer Diskussion waren "Ihre Kursleiter" oder vielmehr das Ungleichgewicht zwischen männlichen und weiblichen Kursleitern. Es lag in Kerras Zuständigkeit, die Trainer einzustellen, und sie hatte eine Überzahl an Trainerinnen verpflichtet. Das sei aus verschiedenen Gründen unvorteilhaft, hatte Alan ausgeführt. Aus Marketingsicht brauchten sie ebenso viele männliche wie weibliche Kursleiter für die verschiedenen Aktivitäten vorzugsweise sogar mehr männliche als weibliche. Diese männlichen Trainer mussten ordentlich gebaut sein und gut aussehen, damit sie unverheiratete weibliche Gäste anlockten. Außerdem beabsichtige er, sie in einem Video einzusetzen. Er habe übrigens schon eine Filmcrew aus Plymouth gebucht, um das Video zu drehen, darum müssten alle Kursleiter, die Kerra einstellen wolle, in spätestens drei Wochen hier sein. Oder möglicherweise — dachte er laut — könnten sie Schauspieler nehmen… nein, Stuntmen. Ja, Stuntmen seien für das Video noch besser geeignet. Das werde zwar die Produktionskosten erhöhen, denn bestimmt würden Stuntmen nach einem festen Satz bezahlt, aber die Drehzeit mit Profis sei vermutlich kürzer, also wären die Kosten unterm Strich wohl gar nicht viel höher…

Er trieb sie in den Wahnsinn. Kerra hatte mit ihm streiten wollen, und sie hatten miteinander gestritten, aber er fand einfach auf jedes Argument eine Erwiderung.

»Die Publicity durch den Artikel in der Mail on Sunday hat uns enorm geholfen«, erklärte er nun. »Aber das war vor Monaten, und wir werden mehr tun müssen, wenn wir in die schwarzen Zahlen kommen wollen. Das werden wir natürlich nicht so schnell schaffen, nicht dieses Jahr und womöglich auch nicht nächstes, aber es geht darum, die Schulden zu tilgen. Also muss ein jeder von uns darüber nachdenken, wie wir uns am besten aus den roten Zahlen herausarbeiten können.«

Das war das Stichwort: Rot. Rot hielt Kerra gefangen zwischen dem Verlangen zu fliehen und dem Drang zu streiten. »Es ist doch nicht so, als weigerte ich mich, Männer einzustellen, falls es das ist, Alan, was du andeuten willst. Aber du kannst mir nicht die Schuld dafür geben, wenn sie sich nicht gerade dutzendweise bewerben.«

»Es geht doch nicht um Schuld«, versuchte er, sie zu beschwichtigen. »Aber um ehrlich zu sein, habe ich mich tatsächlich gefragt, wie aggressiv du dich bemüht hast, männliche Bewerber zu finden.«

Natürlich überhaupt nicht aggressiv. Das konnte sie ja gar nicht sein. Aber hätte es etwa Sinn, ihm das zu erklären?

»Also schön«, sagte sie mit aller Höflichkeit, die sie aufbieten konnte. »Ich fange mit dem Watchman an. Wie viel können wir für eine Stellenanzeige ausgeben?«

»Oh, wir brauchen eine wesentlich größere Reichweite«, entgegnete Alan liebenswürdig. »Ich bezweifle, dass eine Annonce im Watchman uns irgendetwas nützt. Wir müssen die Stellen landesweit ausschreiben, in Fachmagazinen. Mindestens eine Anzeige für jede Sportart.« Er betrachtete das schwarze Brett, wo die Bilder der Kursleiter hingen. Dann sah er Kerra an. »Du verstehst meine Argumente doch, Kerra? Die Trainer sind mehr als einfach nur Trainer — sie sind ein Lockmittel. Sie sollen einer der wesentlichen Gründe sein, Adventures Unlimited überhaupt zu buchen. Wie die Tanzlehrer auf einem Kreuzfahrtschiff, verstehst du?«

»Kommen Sie zum Vögeln zu Adventures Unlimited«, schnaubte Kerra. »O ja, ich verstehe nur allzu gut.«

»Sex sells«, räumte Alan ein. »Das weißt du doch.«

»Natürlich. Letzten Endes läuft immer alles auf Sex hinaus«, erwiderte Kerra bitter.

Er starrte auf die Fotos. Entweder um sie einzuschätzen oder um Kerra auszuweichen. Schließlich sagte er: »Ja, wahrscheinlich. So ist das Leben.«

Sie ließ ihn ohne eine Antwort stehen. Über die Schulter teilte sie ihm noch mit, sie sei beim Watchman, falls irgendjemand nach ihr fragen sollte sie forderte ihn geradezu heraus, noch einmal darauf hinzuweisen, dass eine Annonce in diesem Blatt vollkommen sinnlos sei. Dann fuhr sie mit dem Fahrrad davon.

Dieses Mal hatte sie jedoch nicht die Absicht, so lange zu radeln, bis der Schweiß allen Kummer aus ihrem Körper herausgewaschen hatte. Ebenso wenig hatte sie die Absicht, zum Watchman zu fahren und dort eine Anzeige aufzugeben, um geile Männer anzuwerben, die gleichermaßen geilen Frauen tagsüber Unterricht erteilten und nachts ihre sexuellen Fantasien erfüllten. Das fehlte ihnen bei Adventures Unlimited gerade noch: ein Überschuss an Testosteron.

Kerra fuhr die Anhöhe hinab und am Toes on the Nose vorbei mitten hinein in das Einbahnstraßensystem der Stadt. Sie hielt sich hügelan, wo der St. Mevan Down von der See her aufstieg, dann weiter zur Queen Street, die auf beiden Seiten zugeparkt war, und schließlich bergab in Richtung Kanal. Jenseits seiner Kaianlage erhob sich eine Brücke und mündete in eine Straßengabelung. Hielt man sich links, gelangte man zur Widemouth Bay, fuhr man rechts entlang, kam man zur Mole. Die Mole verlief entlang der Südwestseite des Kanals, während die Kaianlage ihn im Nordosten begrenzte. Drüben erhob sich etwa fünf Meter oberhalb der Asphaltdecke eine Reihe Cottages, und ganz am Ende stand das größte der Häuschen, das nur ein Blinder hätte übersehen können: Es war flamingorosa angestrichen und mit einem Fuchsiaton abgesetzt. Es wurde Pink Cottage genannt wie uninspiriert!, und die Besitzerin war eine unverheiratete Dame, die bei den Bewohnern von Casvelyn seit jeher nur Busy Lizzie hieß, und das nicht allein wegen der fleißigen Lieschen, die sie jedes Jahr im Frühsommer in farbenfroher Üppigkeit in ihren Garten pflanzte.

Kerra war Busy Lizzie als regelmäßige Besucherin bekannt. Darum ließ die alte Dame sie anstandslos ein, als sie klopfte.

»Ja, das ist aber eine nette Überraschung, Kerra! Alan ist nicht da, aber ich nehme an, das wissen Sie.«

Sie war höchstens eins fünfzig groß, und sie erinnerte Kerra immer an eine Schachfigur. Genauer gesagt, sah sie aus wie ein Bauer. Das weiße Haar trug sie in einer kunstvoll gelegten edwardianischen Rolle, und sie hatte eine Vorliebe für hochgeschlossene elfenbeinfarbene Blusen und bodenlange Glockenröcke in Marineblau oder Grau. Sie erweckte stets den Eindruck, als hoffte sie, für eine Rolle in einer Henry-James-Verfilmung entdeckt zu werden, aber soweit Kerra wusste und das war nicht allzu weit, musste sie einräumen, hatte Busy Lizzie keinerlei Ambitionen zur Bühne oder Leinwand.

Sie vermietete eines der Zimmer in ihrem Haus — die übrigen waren mit Objekten ihrer Sammlung bestückt: Carlton-Porzellan aus den Dreißigern. Sie hatte liberale Ansichten und zog junge Männer jungen Damen als Mieter vor, denn, so sagte sie, mit einem Mann im Haus fühle man sich doch irgendwie sicherer. Allerdings war ihr bewusst, dass ihre Untermieter gewisse Bedürfnisse hatten, deren Erfüllung sie ihnen nicht untersagen durfte. Sie räumte ihnen das Mitbenutzungsrecht der Küche ein, und wenn morgens eine junge Dame am Frühstückstisch erschien, erhob Busy Lizzie keine Einwände. Vielmehr offerierte sie Tee oder Kaffee und fragte: »Gut geschlafen, Kindchen?«, so als gehörte jedwede junge Dame zum Haushalt.

Während sein Haus am Lansdown Close umgebaut wurde, wohnte Alan im Pink Cottage. Er hätte zu seinen Eltern ziehen und somit Geld sparen können; andererseits wollte er, so hatte er Kerra erklärt, auf gewisse Freiheiten nicht verzichten so sehr er seine Eltern auch liebte. Angesichts der verklärten Bewunderung, die seine Eltern ihm entgegenbrachten, war diese Entscheidung nicht sonderlich freudig zur Kenntnis genommen worden. Seine Eltern hätten eben ein gewisses Bild vom ihm, hatte er Kerra umständlich beizubringen versucht, das er nicht erschüttern wollte.

Sie verstand dies, genau wie er anzudeuten beabsichtigt hatte: »Sie glauben doch wohl hoffentlich nicht, dass du immer noch Jungfrau bist, Alan?« Und als er nicht antwortete: »Im Ernst, Alan?«

»Nein, nein. Natürlich nicht. Selbstverständlich glauben sie das nicht. Was für eine alberne… Sie wissen, dass ich normal bin. Sie sind eben ältere Herrschaften, und es ist eine Art Respektsbeweis ihnen gegenüber, dass ich unter ihrem Dach mit keiner Frau das Bett teile, solange ich noch nicht verheiratet bin. Sie würden das sehr… na ja… eigenartig finden.«

Kerra hatte dies akzeptiert, jedenfalls zu Anfang. Doch mit der Zeit hatte das ganze Thema von Alans Zimmer außerhalb seines Elternhauses einen merkwürdigen Beigeschmack bekommen.

Also musste sie Bescheid wissen. Sie musste sicher sein. Sie sagte zu Busy Lizzie: »Ich habe etwas in Alans Zimmer liegen lassen, Miss Carey« denn das war ihr richtiger Name, »und ich wollte fragen, ob ich mal eben hineinschlüpfen und es mir zurückholen kann? Alan hat vergessen, mir seinen Schlüssel mitzugeben. Wenn Sie ihn vielleicht im Büro anrufen möchten…?«

»Ach, das ist doch nicht nötig, mein Kind. Die Tür ist sowieso unverschlossen. Ich will nachher die Betten frisch beziehen. Sie kennen ja den Weg! Ich sitze gerade vor dem Fernseher. Hätten Sie vielleicht gern ein Tässchen Tee? Oder brauchen Sie Hilfe?«

Kerra lehnte beide Angebote höflich ab. Es werde nicht lange dauern, versicherte sie. Sie werde gleich wieder verschwinden, sobald sie gefunden hatte, weswegen sie gekommen war.

»Sie fahren bei diesem Regenwetter doch nicht etwa mit dem Fahrrad herum, Kindchen? Sie holen sich noch mal den Tod! Sind Sie ganz sicher, dass Sie keine kleine Tasse Tee möchten?«

»Nein, nein danke«, wehrte Kerra ab. »Das ist wirklich nicht nötig, Miss Carey. Und außerdem ist es ja schon fast Mairegen — der macht bestimmt schön.«

Sie kicherten beide über ihren lahmen Scherz und trennten sich am anderen Ende des Wohnzimmers. Busy Lizzie setzte sich wieder vor den Fernseher, und Kerra bog in den Korridor ein, der zur Rückseite des Hauses führte.

Alans Zimmer bot einen Blick auf das südwestliche Ende von St. Mevan Beach. Die Flut hatte beinahe ihren Höchststand erreicht. Wellen brachen in etwa einem Meter Höhe, und in der Ferne sah Kerra wenigstens ein Dutzend Surfer auf dem Wasser. Sie wandte den Blick von ihnen ab; zu sehr erinnerten sie sie an den gestrigen Abend, an ihren Vater und daran, was es bedeuten mochte, dass er einen Teil seines Lebens vor ihr geheim gehalten hatte. Aber jetzt war nicht der geeignete Zeitpunkt, um darüber nachzudenken; außerdem musste sie sich beeilen.

Sie suchte nach Indizien, ohne zu wissen, wie diese aussehen würden. Sie musste ergründen, warum der Alan Cheston der jüngsten Zeit nicht mehr derjenige Alan Cheston war, den sie einst kennengelernt und mit dem sie sich eingelassen hatte. Sie glaubte, den Grund zu kennen, aber sie brauchte Beweise. Was sie allerdings damit tun wollte, wenn sie sie fand, darüber hatte sie noch nicht nachgedacht.

Ebenso wenig hatte sie je zuvor ein Zimmer durchsucht. Sie fühlte sich schäbig, aber die einzige Alternative wäre gewesen, ihm vage Anschuldigungen an den Kopf zu werfen, und diesen Weg einzuschlagen, konnte sie sich nicht leisten.

Sie zog die Tür hinter sich zu und sah sich um. Alles hier war so typisch Alan, erkannte sie; jedes Teil stand ordentlich an seinem Platz: die Djembe-Trommel auf ihrem Ständer in der Ecke, davor ein Hocker, auf dem er saß, wenn er sie bei seinen täglichen Meditationen spielte. Das Tamburin, das Kerra ihm einmal im Scherz geschenkt hatte ehe sie begriffen hatte, welch zentrale Rolle die Trommel in Alans spirituellem Leben spielte, lehnte daneben an einem Regal, in welchem er seine Yogabücher verwahrte. Auf dem Bücherschrank die Fotos: Alan in der Robe eines Uniabsolventen, flankiert von seinen strahlenden Eltern. Alan und Kerra im Urlaub in Portsmouth. Sein Arm um ihre Schultern gelegt, standen sie an Deck der Victory. Kerra allein auf dem flachen Steindach des Lanyon Quoit. Ein kleiner Alan mit seinem Hund, einem Terriermischling, dessen Fell die Farbe rostiger Bettfedern hatte.

Das Problem war, dass Kerra keine Ahnung hatte, wonach sie eigentlich suchte. Sie wollte ein Zeichen, war sich aber nicht sicher, ob sie es würde erkennen können, wenn es ihr nicht in Neonbuchstaben entgegenleuchtete. Sie durchkämmte das Zimmer, öffnete die Schubladen, zuerst an der Kommode, dann unter dem Schreibtisch. Abgesehen von Kleidungsstücken in gedeckten Farben, war das einzig Interessante, was sie fand, eine Sammlung von Geburtstagskarten, die sich über Jahre angehäuft hatten, und eine Liste mit dem Titel "Fünfjahresplan". Er gedachte neben einigen anderen Herausforderungen, Italienisch zu lernen, Xylophonunterricht zu nehmen, Patagonien zu bereisen und Kerra zu heiraten. Letzteres kam noch vor Patagonien, aber nach Italienisch.

Schließlich entdeckte sie es; etwas, was im Zimmer eines Mannes, für den jeder Gegenstand zweckdienlich zu sein hatte sei es in der Vergangenheit, der Gegenwart oder in der Zukunft, schlicht und ergreifend fehl am Platz war: eine Ansichtskarte. Sie steckte hinter den Schreiben von Alans Bank, seinem Zahnarzt und der London School of Economics in einem vorsintflutlichen Serviettenhalter. Das Bild darauf war von der See aus aufgenommen und zeigte eine Bucht und dahinter die Steilküste, in die sich in einigem Abstand voneinander zwei tiefe Höhlen bohrten. Oberhalb der Felskante lag ein Dorf, das Kerra nur allzu bekannt war. Dorthin waren sie und ihr Bruder in ihrer Kindheit regelmäßig geschickt worden, um bei den Großeltern zu wohnen, wenn ihre Mutter eine ihrer Phasen durchlief.

Pengelly Cove. Sie hatten dort nie an den Strand gehen dürfen, ganz gleich bei welchem Wetter. Der Grund, den man ihnen genannt hatte, waren die Flut und die Höhlen. Die Flut stieg hier ebenso schnell an wie in der Morecambe Bay. In den Höhlen fühlte man sich sicher, wenn man sie erforschte oder sich einfach nur neugierig darin umsah doch wenn die Flut einsetzte, strömte das Wasser in einem ungeheuerlichen Tempo hinein, und die Wände zeigten, wie hoch es anstieg: weit über mannshoch, und es war ebenso unbarmherzig wie gnadenlos.

In diesen Höhlen sind Kinder wie ihr elendiglich ersoffen, hatte Granddad immer gebellt. Ihr geht nicht zum Strand, solange ihr hier seid! Außerdem gibt es hier Arbeit genug, um euch zu beschäftigen, und wenn ich sehe, dass ihr euch langweilt, dann gnade euch Gott.

Aber all das war nur eine Ausrede gewesen, und Kerra und Santo hatten dies auch gewusst. Zum Strand zu gehen bedeutete, ins Dorf zu gehen, und im Dorf waren sie bekannt als die Kinder von Dellen Kerne. Oder Dellen Nankervis, wie sie früher geheißen hatte. Die verrufene, lasterhafte Dellen, die Dorfschlampe. Dellen, deren unverwechselbare Handschrift in Rot die Vorderseite der Postkarte in Alans altem Serviettenständer zierte: Hier ist es. Von dem "es" führte ein Pfeil zu der Höhle am Südrand der Bucht.

Kerra steckte die Postkarte in die Tasche und sah sich nach weiteren Beweisen um. Aber eigentlich brauchte sie nicht mehr.


Cadans Mund fühlte sich an wie das Suspensorium eines Ringers, und sein Magen schlug in einem fort Purzelbäume. Den Teufel mit Beelzebub auszutreiben, war sein Plan gewesen, um in die Gänge zu kommen, aber ein unerwartetes Zusammentreffen mit seiner Schwester noch vor der Arbeit hatte verhindert, dass er sich auf die Suche nach den Schnapsvorräten seines Vaters machen konnte. Nicht dass Madlyn Cadan verpfiffen hätte, wenn sie ihn beim Durchsuchen der Schränke ertappt hätte. Auch wenn sie launisch war, war Cadans Schwester doch nie eine Petze gewesen. Aber sie hätte gewusst, was er im Schilde führte, und ihm entsprechend zugesetzt. Und das hatte er nicht ertragen können. In seinem Zustand war es schon schwierig genug gewesen, angemessen auf ihre Äußerungen zu reagieren, ohne selbst Gegenstand dieser Äußerungen zu sein. Doch Madlyn hatte sich über Ione Soutar ausgelassen, die im Laufe der vergangenen sechsunddreißig Stunden unter verschiedenen Vorwänden dreimal angerufen hatte.

»Also, wenn sie sich je eingebildet hat, aus der Sache könnte was werden, dann war sie einfach dämlich«, hatte sie gesagt. »Ich meine, was hatten sie denn schon außer Sex und dem gelegentlichen Date? Falls man es überhaupt Dates nennen kann, was sie zusammen unternommen haben: ehrenamtliche Schiedsrichter bei Surfwettbewerben in Newquay oder eine Pizza oder ein Curry mit ihren zwei grässlichen Töchtern… Nicht gerade das, was ich eine vielversprechende Beziehung nennen würde, oder was meinst du? Was hat sie sich bloß gedacht?«

Cadan war der letzte Mensch auf der Welt, der in der Lage gewesen wäre, diese Fragen zu beantworten, und er hatte überlegt, ob denn Madlyn selbst die Richtige war, um Vorträge über vielversprechende Beziehungen zu halten. Aber er hatte angenommen, ihre letzte Frage sei rhetorischer Natur, und war dankbar gewesen, dass er darauf nicht antworten musste.

Madlyn hatte weitergesprochen: »Sie hätte sich doch nur seine Vorgeschichte ansehen müssen. Aber konnte sie das? Wollte sie das? Nein. Und warum nicht? Weil sie das Vater-Potenzial in ihm gesehen hat, und nur das war es, was sie wollte. Für Leigh und Jennie. Die haben's ja auch weiß Gott nötig, vor allem Leigh.«

Überraschend hatte Cadan eine Erwiderung zustande gebracht: »Jennie ist okay.« Insgeheim hatte er gehofft, dass damit die Sache erledigt war und er in Ruhe seinen Brummschädel pflegen konnte.

Doch Madlyn hatte nicht locker gelassen: »Ja, vermutlich schon — wenn man Kinder in dem Alter mag. Aber die andere… Leigh ist ein richtiges Miststück.« Sie hatte einen Moment geschwiegen, und Cadan hatte festgestellt, dass sie ihn dabei beobachtete, wie er Pooh beobachtete. Er wartete darauf, dass der Papagei sein Frühstück aus Sonnenblumenkernen und Apfel beendete. Pooh bevorzugte englische Apfelsorten Cox, wenn er zu haben war, aber notfalls und außerhalb der Saison nahm er auch mit einem importierten Fuji vorlieb, so wie jetzt.

»Aber Himmel noch mal, er hat die Kinderaufzucht doch schon hinter sich«, hatte Madlyn nachgesetzt. »Warum sollte er sich all das noch mal antun wollen? Und warum war ihr das nicht klar? Mir ist es sonnenklar. Dir etwa nicht?«

Cadan hatte einen unbestimmten Brummlaut von sich gegeben. Selbst wenn ihm nicht danach zumute gewesen wäre, die Toilettenschüssel anzubeten, wusste er es doch besser, als sich mit seiner Schwester auf eine längere oder auch kürzere Debatte über ihren Vater einzulassen. Also hatte er schließlich gesagt: »Komm schon, Pooh. Wir müssen zur Arbeit«, und ihm das letzte Sechzehntel des Apfels gereicht. Doch Pooh hatte es ignoriert und stattdessen begonnen, seinen Schnabel an der rechten Klaue zu reiben. Dann hatte er die Federn unter seinem linken Flügel durchsucht und dort wie ein gefiederter Minenarbeiter herumgefuhrwerkt. Cadan hatte die Stirn gerunzelt; hatte der Vogel etwa Milben?

Unterdessen hatte sich Madlyn dem Spiegel über dem winzigen Kohleofen zugewandt und an ihren Haaren herumgezupft. Früher hatte sie sich nie großartig darum geschert, aber das war auch nie nötig gewesen. Genau wie Cadans Haar und das ihres Vaters war es dunkel und gelockt. Wenn es nur kurz genug geschnitten war, war es überaus pflegeleicht: Einmal ordentlich den Kopf schütteln, und sie war ausgehfertig. Aber sie hatte sich die Haare wachsen lassen, weil Santo Kerne das schöner gefunden hatte. Nachdem die Sache zwischen ihnen — für die Cadan kein Wort fand, denn er wollte es nicht "Beziehung" nennen — vorüber war, hatte er angenommen, sie würde sich die Haare wieder abschneiden lassen. Allein schon, um es Santo zu zeigen. Aber bislang war das nicht passiert. Und sie hatte auch noch nicht wieder angefangen zu surfen. »Tja«, hatte sie mehr zu ihrem Spiegelbild als zu Cadan gesagt, »ich schätze, jetzt wird er sich eine Neue suchen, wenn er das nicht ohnehin längst getan hat. Und sie ebenfalls. Und damit ist die Sache dann erledigt. Ich kann mir schon vorstellen, dass wir noch ein paar Wochen tränenreicher Anrufe vor uns haben, aber er wird wie immer duldsam schweigen, und früher oder später wird sie die Nase voll davon haben und einsehen, dass sie drei Jahre ihres Lebens weggeworfen hat. Oder wie lange das auch immer gegangen ist — ich weiß nicht mehr. Jedenfalls wird ihr klar werden, dass die Uhr tickt, und dann wird sie sich wieder umschauen. Sie muss einen Mann finden, bevor ihr Verfallsdatum erreicht ist. Und eines kannst du mir glauben: Sie weiß, dass es sich nähert!«

Cadan hatte es an ihrer Stimme gehört, wie zufrieden Madlyn mit sich war. Je länger ihr Vater mit Ione Soutar zusammen gewesen war, umso unruhiger war Madlyn geworden. Sie war fast ihr ganzes Leben lang die alleinherrschende Göttin im Hause Angarrack gewesen; ihre Mutter hatte sich kurz vor Madlyns fünftem Geburtstag aus dem Staub gemacht. Das Letzte, was seine Schwester wollte, war eine Konkurrentin um diese Position, die ihr eine beträchtliche Macht verliehen hatte. Und seine Macht gab niemand freiwillig auf.

Cadan hatte die Zeitung unter Poohs Stange hervorgezogen, die die Frühstücksreste ebenso wie einen beachtlichen Vogelschiss aufgefangen hatte, und sie zusammengeknüllt. Dann hatte er eine frische alte Ausgabe des Watchman ausgebreitet und gesagt: »Also dann. Wir sind dann mal weg.«

»Weg? Wohin?«, hatte Madlyn stirnrunzelnd gefragt.

»Zur Arbeit.«

»Arbeit?«

Es wäre nun wirklich nicht nötig gewesen, dass sie ein solches Erstaunen zum Ausdruck brachte. »Adventures Unlimited«, hatte er ihr mitgeteilt. »Ich hab da einen Job bekommen.«

Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Cadan hatte gewusst, wie sie die Nachricht aufnahm: Sie fühlte sich von ihrem Bruder verraten — ganz gleich, ob er eine bezahlte Arbeit brauchte.

Nun, sie würde damit klarkommen müssen, egal was sie davon hielt. Er musste Geld verdienen, und es gab so gut wie keine anderen Jobs. Er wollte keine Debatte über Adventures Unlimited mit ihr führen, ebenso wenig wie über Ione Soutar und deren Beziehung mit ihrem Vater. Also hatte er sich Pooh auf die Schulter gesetzt und als eine Art Ablenkungsmanöver gesagt: »Wo wir gerade von Verfallsdaten reden, Madlyn… Was zum Geier hast du vorletzte Nacht bei Jago getrieben? Sein Verfallsdatum hat er ja wohl schon vor vierzig Jahren überschritten.«

»Jago ist ein Freund«, hatte sie ihm erklärt.

»Das hab ich schon kapiert. Ich finde den Typen ja selber nett. Aber mir würde nicht einfallen, die Nacht mit ihm zu verbringen.«

»Willst du etwa andeuten… Du bist ganz schön gehässig, Cadan! Aber wenn du es genau wissen willst: Er kam, um mir von Santo zu erzählen, und er wollte es mir nicht in der Bäckerei sagen. Also hat er mich mit zu sich nach Hause genommen, weil er nicht wusste, wie ich auf die Nachricht reagieren würde. Er sorgt sich nämlich um mich, Cadan.«

»Und wir nicht?«

»Du mochtest Santo nicht. Tu nicht so, als wäre es anders gewesen.«

»Augenblick mal! Zum Schluss hast du auch nicht mehr sonderlich auf ihn gestanden. Oder hat sich daran irgendwas geändert? Ist er zu dir zurückgekrochen, hat um Vergebung gewinselt und dir ewige Liebe geschworen?« Cadan hatte innerlich gejohlt. »Doch wohl kaum«, hatte er geschlossen, und Pooh hatte ergänzt: »Spreng Löcher im Speicher.«

Cadan war unter dem schrillen Krächzen so nah an seinem Ohr zusammengezuckt.

Das war Madlyn nicht entgangen. »Du hast dich gestern Abend wieder betrunken«, sagte sie. »War es das, was du in deinem Zimmer getrieben hast? Was ist nur los mit dir, Cadan?«

Er wünschte, er hätte die Frage beantworten können. Er hätte es nur zu gern getan. Aber er war nun mal in den Spirituosenladen gegangen, ohne nachzudenken, und hatte Gin gekauft und ihn bis zum letzten Tropfen ausgetrunken. Dass er sich zu Hause volllaufen ließ, wäre doch anerkennenswert, hatte er sich eingeredet, wenn man bedachte, dass er ebenso gut in den Pub gehen könnte, an einer Straßenecke sitzen oder noch schlimmer — mit dem Auto herumfahren, während er den Schnaps in sich hineinschüttete. Stattdessen hatte er Verantwortungsgefühl gezeigt: Diskret und innerhalb der eigenen vier Wände hatte er sich die Kante gegeben, wobei er niemandem als nur sich selbst Schaden zufügen konnte.

Er hatte nicht hinterfragt, was dieser Eskapade zugrunde gelegen hatte. Doch als sein Kater abklang — ein willkommenes Ereignis, das sich leider erst am frühen Nachmittag einstellte, — erkannte er, dass er gefährlich nahe daran war, nachdenken zu müssen.

Worüber er schließlich nachdachte, waren sein Vater, Madlyn und Santo Kerne. Aber ihm gefiel nicht, wohin seine Gedanken führten, als er diese drei Menschen in seinem Kopf zusammenbrachte, weil die Konstellation plötzlich und unerwartet zu einem unliebsamen weiteren Gedanken führte — dem Gedanken an Mord.

Madlyn verliebt. Madlyns Herz gebrochen. Santo tot. Lew Angarrack… was? Draußen, mit seinem Surfbrett an einem Tag, da nicht eine einzige Welle gekommen war, die es wert gewesen wäre zu surfen. Stundenlang verschwunden und bei seiner Rückkehr auffallend zugeknöpft in Bezug auf seinen Aufenthaltsort. Wenn man diese Beobachtungen kombinierte, wohin führte dies nur? Die verschmähte Tochter? Der erzürnte Vater? Cadan wollte lieber nicht weiterdenken.

Also grübelte er stattdessen über Will Mendick nach. Will, dessen Liebe zu Madlyn unerschütterlich war. Dessen unerwiderte Liebe. Der nur darauf wartete, als Tröster auf den Plan zu treten, sowie Santo Kerne aus dem Weg war.

Aber hatte Will Zugang zu Santos Kletterausrüstung gehabt?, überlegte Cadan. Und war Will der Typ, der einen derart listigen Plan fassen konnte, um jemanden loszuwerden? Selbst wenn er beide Fragen mit Ja beantworten müsste, war die eigentliche Frage doch: War Will wirklich so scharf auf Madlyn, dass er Santo ins Jenseits befördern könnte, in der Hoffnung, bei ihr zum Zuge zu kommen? Ergab das alles überhaupt Sinn? Warum sollte er Santo aus ihrem Leben tilgen wollen, nachdem Santo dies doch bereits selbst erledigt hatte? Es sei denn, Santos Tod hatte überhaupt nichts mit Madlyn zu tun… Und wäre das nicht eine kolossale Erleichterung?

Aber wenn er mit Madlyn zu tun hatte, was war dann mit Jago? Jago in der Rolle des greisen Rächers. Wer würde einen alten Knacker verdächtigen, den es so schüttelte wie einen Martini in der Hand eines gestressten Barkeepers? Jago war doch kaum fit genug, ohne Hilfe aufs Klo zu gehen, ganz zu schweigen von der Verfassung, die notwendig zu sein schien, um einen anderen Menschen umzubringen. Nur war es aber ja ein ferngesteuerter Mord gewesen. Wenn man Kerra Kerne Glauben schenkte, war Santos Ausrüstung manipuliert worden. Das hätte Jago zweifelsohne hingekriegt. Aber das galt für jeden anderen auch. Für Madlyn zum Beispiel. Oder für Lew. Oder Will. Für Kerra Kerne oder Alan Cheston oder den Weihnachtsmann oder den Osterhasen.

Cadans Kopf fühlte sich an wie mit Watte ausgestopft. Es war noch zu früh, um über irgendetwas ernsthaft nachzudenken — noch war der Kater nicht vollends abgeklungen. Seit er heute Morgen zur Arbeit gekommen war, hatte er noch keine Pause gemacht, und jetzt hatte er eine verdient. Ein bisschen frische Luft und ein Sandwich würden ihm vielleicht ermöglichen, mit klarerem Kopf über diese ganze Sache nachzudenken.

Pooh war geduldig gewesen. Ohne den geringsten Schaden anzurichten, hatte er Cadan stundenlang beim Anstreichen der Heizkörper zugesehen, während er auf einer Duschvorhangstange nach der anderen hockte und nur ein einziges Mal sein Geschäft verrichtet hatte. Auch er hatte ein bisschen Erholung verdient und sicher nichts gegen einen Happen einzuwenden.

Cadan hatte sich nichts zu essen von zu Hause mitgebracht, und er dachte kurz nach. Im Toes on the Nose würde er sich etwas zu essen zum Mitnehmen kaufen können. Jetzt da sein Magen sich wieder im Normalmodus befand, klang Thunfisch und Mais auf Vollkornbrot gar nicht übel und dazu eine Tüte Chips und eine Cola.

Vorher musste er nur noch sein Malerwerkzeug ins benachbarte Gästezimmer bringen, wo der nächste Heizkörper auf ihn wartete. Das war schnell erledigt. Er machte sich auf den Weg zur Treppe, die er dem stöhnenden alten Lift entschieden vorzog, in dem er offen gestanden immer das Grausen kriegte. Er legte Pooh seine Pläne dar: »Toes on the Nose, und benimm dich gefälligst! Kein Fluchen vor den Damen!«

»Welche Damen meinen Sie?«

Cadan fuhr herum. Aus dem Nichts war Santo Kernes Mutter aufgetaucht, als wäre sie ein Geist, der geradewegs aus der Holzvertäfelung der Wände getreten war. Lautlos kam sie über den neuen Treppenläufer auf ihn zu. Sie trug wieder Schwarz, aber heute war es mit einem duftigen roten Seidenschal aufgehellt, der exakt dieselbe Farbe hatte wie ihre Schuhe.

Unwillkürlich fühlte Cadan sich an Der Zauberer von Oz erinnert: die Episode mit den zwei alten Hexen, die über ein Paar rote Schuhe stritten. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, und Dellen lächelte zurück.

»Sie hatten ihm nicht verboten, vor mir zu fluchen.« Sie hatte die rauchige Stimme einer Bluessängerin.

»Bitte?«, fragte er unsicher.

»Ihrem Vogel. Als Sie uns miteinander bekannt gemacht haben. Da sagten Sie nichts davon, dass er in meiner Gegenwart nicht fluchen dürfte. Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll, Cadan. Bin ich vielleicht keine Dame?«

Er hatte keinen Schimmer, was er darauf erwidern sollte, also lachte er halbherzig. Er wartete darauf, dass sie weiterging. Aber das tat sie nicht.

»Ich gehe was essen«, erklärte er.

Sie schaute auf die Uhr. »Ziemlich spät, oder?«

»Ich hatte bis eben keinen Hunger.«

»Aber jetzt schon?«

»Ein bisschen, ja.«

»Kommen Sie mit!«

Sie ging zur Treppe, stieg aber nicht hinab. Stattdessen wandte sie sich nach oben, und als er nicht umgehend folgte, drehte sie sich um.

»Kommen Sie mit, Cadan«, forderte sie ihn erneut auf. »Ich beiße nicht. Wir haben oben eine Küche, und da zaubere ich irgendetwas für Sie.«

»Oh. Ist schon okay«, wehrte er ab. »Ich wollte gerade zum Toes…«

»Seien Sie nicht albern! Das hier geht schneller, und es kostet nichts.« Sie lächelte versonnen. »Jedenfalls kein Geld. Nur Gesellschaft. Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann.«

»Vielleicht Kerra…«

»Sie ist nicht hier. Und mein Mann ist ebenfalls verschwunden. Alan hat sich mit seinem Telefon im Büro verbarrikadiert. Kommen Sie, Cadan.«

Er rührte sich nicht vom Fleck, und ihre Augen verdunkelten sich. »Sie müssen essen, und ich muss reden. Wir tun uns gegenseitig einen Gefallen.« Und als er sich immer noch nicht bewegte, weil ihm einfach nicht einfiel, wie er sich aus dieser Situation befreien konnte, fügte sie hinzu: »Ich bin die Frau Ihres Chefs. Ich glaube, Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig, als meiner Bitte zu folgen.«

Obwohl er mitnichten amüsiert war, lachte er leise. Es schien ihm tatsächlich nichts anderes übrig zu bleiben, als mit ihr nach oben zu gehen.

Sie stiegen die Treppe hinauf und gelangten in die Wohnung der Kernes. Sie war großzügig bemessen, aber bescheiden möbliert, in einem Stil, der einmal Dänisch modern geheißen hatte, heute aber eher Dänisch retro war. Sie führte ihn durchs Wohnzimmer in die Küche, wo sie auf den Tisch wies und ihn aufforderte, daran Platz zu nehmen. Dann schaltete sie das Radio auf der makellosen weißen Arbeitsplatte ein und fingerte an den Knöpfen herum, bis sie einen Sender gefunden hatte, der ihr zuzusagen schien. Er spielte Tanzmusik Swing. »Das ist hübsch, oder?«, fragte sie und drosselte die Lautstärke. »Also.« Sie stemmte die Hände in die Seiten. »Was darf's sein, Cadan?«

Das war genau die Art Frage, wie man sie aus Filmen kannte: eine Mrs.-Robinson-Frage, während der arme Benjamin in Gedanken immer noch mit Nichtigkeiten beschäftigt war. Und Dellen Kerne war ein Mrs.-Robinson-Typ, kein Zweifel. Sie war zugegebenermaßen ein bisschen aus dem Leim gegangen, aber auf eine üppige Art und Weise. Sie hatte die Kurven, die man bei jüngeren Frauen nie sah, die davon besessen waren, wie Models auszusehen, und mochte ihre Haut auch von zu viel Sonne und Nikotin gefurcht sein, machte die Flut blonder Haare das doch wett. Genau wie ihr Mund, dessen Lippen so voll waren, als wären sie aufgespritzt.

Cadan reagierte auf sie. Es kam ganz unwillkürlich. Er war zu lange enthaltsam gewesen, und jetzt strömte auf einmal zu viel Blut in die falsche Richtung. Er stammelte: »Ich war… ich meine… ich wollte… Thunfisch und Mais.«

Sie schürzte die vollen Lippen. »Ich denke, das bekommen wir hin.«

Ihm wurde vage bewusst, dass Pooh sich rastlos auf seiner Schulter bewegte, die Klauen ein bisschen zu tief in sein Fleisch grub. Er musste den Vogel loswerden, aber er wollte ihn ungern auf eine Stuhllehne setzen, denn wenn er von Cadans Schulter genommen wurde, verstand er das gern als Aufforderung, eine Ladung abzusetzen. Cadan schaute sich nach einer Zeitung um, die er für den Fall der Fälle unter den Stuhl legen konnte. Eine ältere Ausgabe des Watchman lag auf der Anrichte. »Darf ich?«, fragte er Dellen. »Ich muss Pooh absetzen, und wenn ich die hier auf den Boden legen könnte…«

Sie war im Begriff, eine Dose zu öffnen. »Für den Vogel? Ja, sicher.« Und als er das Zeitungspapier ausgebreitet und Pooh auf der Stuhllehne postiert hatte, fügte sie hinzu: »Ein ungewöhnliches Haustier.«

Cadan glaubte nicht, dass sie eine Antwort erwartete, aber er sagte dennoch: »Papageien können achtzig Jahre alt werden.« Die Antwort schien alles zu sagen: Ein Haustier, das achtzig Jahre alt wurde, ließ einen nie allein. Und es bedurfte keines Psychologen, um zu ergründen, was das über den Halter verriet.

»Ja«, erwiderte Dellen. »Achtzig. Ich verstehe.« Sie warf ihm einen Blick zu, und ihre Mundwinkel bebten, als sie lächelte. »Ich hoffe, er wird wirklich so alt. Das schaffen nicht alle…«

Er senkte den Blick. »Das mit Santo tut mir leid.«

»Danke.« Sie hielt inne. »Ich kann noch nicht über ihn sprechen. Ich denke die ganze Zeit, wenn ich einfach weitermache oder auch nur versuche, mich abzulenken, muss ich mich seinem Tod noch nicht stellen. Ich weiß, das funktioniert so nicht, aber ich bin nicht… Wie soll man je dafür bereit sein, dem Tod des eigenen Kindes ins Auge zu sehen?« Hastig streckte sie die Hand aus und stellte das Radio lauter. Sie fing an, sich im Takt der Musik zu wiegen. »Tanzen wir, Cadan?«

Es war irgendein Latinorhythmus, Tango, Rumba oder so etwas in der Art. Er lud geradezu dazu ein, zwei Körper in sinnlicher Bewegung zu vereinen, aber Cadan wollte unter keinen Umständen einer davon sein. Doch sie tanzte bereits durch die Küche auf ihn zu, wiegte die Hüften bei jedem Schritt, schob erst die eine Schulter vor, dann die andere, und hielt die Hände ausgestreckt.

Cadan sah, dass sie weinte. So wie Schauspielerinnen im Film weinen: keine Rötung im Gesicht, keine verzerrten Züge, einfach nur Tränen, die ihr aus diesen bemerkenswert blauen Augen über die Wangen rollten. Sie tanzte und weinte gleichzeitig. Mit einem Mal empfand er Mitgefühl für sie. Sie war die Mutter eines Sohnes, der ermordet worden war… Wer wollte ihr vorschreiben, wie diese Frau zu reagieren hatte? Wenn sie reden wollte oder wenn sie tanzen wollte was machte das schon? Sie ging so gut damit um, wie sie eben konnte.

»Tanz mit mir, Cadan«, bat sie. »Bitte, tanz mit mir.«

Er nahm sie in die Arme.

Augenblicklich presste sie sich an ihn, sodass jede Bewegung zur Liebkosung wurde. Er kannte die Tanzschritte nicht, aber das war gleichgültig. Sie schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn ganz nah an sich heran, eine Hand auf seinem Hinterkopf. Als sie ihm ihr Gesicht zuwandte, passierte der Rest ganz automatisch. Seine Lippen fanden die ihren, seine Hände glitten von ihren Hüften zu ihrem Gesäß hinab, und er drückte sie noch ein wenig fester an sich.

Sie erhob keine Einwände.

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