27

Um diesem grässlichen Tag die Krone aufzusetzen, holten die Ränke, die Cadan selbst geschmiedet hatte, ihn an diesem Nachmittag noch ein: Er fand sich zusammen mit seiner Schwester und Will Mendick im Wohnzimmer zu Hause an der Victoria Street gefangen. Madlyn war gerade erst von der Arbeit gekommen und trug noch ihre Casvelyn-of-Cornwall-Uniform: in Zuckerwattefarben gestreift und mit einem Rüschenschürzchen. Sie hatte sich aufs Sofa geflegelt, während Will am Kamin stand; ein Bund Taglilien baumelte in seiner Hand. Wenigstens hatte er genug Anstand bewiesen, die Blumen zu kaufen, statt weggeworfene aus dem Müllcontainer herzunehmen.

Cadan selbst saß auf einem Hocker neben seinem Papagei. Er hatte Pooh fast den ganzen Tag allein gelassen und war entschlossen gewesen, es mit einer ausführlichen Vogelmassage wiedergutzumachen — nur sie zwei allein im Haus, oder doch zumindest im Wohnzimmer. Aber dann war Madlyn heimgekommen, und Will war ihr dicht auf den Fersen gefolgt. Offenbar hatte er Cadans wilden Lügen über die Zuneigung seiner Schwester Glauben geschenkt.

»… hab ich mir gedacht«, sagte Will ohne erkennbare Ermunterung von Madlyn, »dass du vielleicht… na ja, mal ausgehen willst.«

»Mit wem?«, fragte Madlyn.

»Ähm… na ja, mit mir.« Er hatte ihr die Blumen noch nicht überreicht, und Cadan konnte nur hoffen, dass Will so tun würde, als hätte er sie gar nicht mitgebracht.

»Und aus welchem Grund sollte ich das tun wollen?« Madlyn trommelte mit den Fingern auf die Sofalehne. Cadan wusste genau: Diese Geste hatte nichts mit Nervosität zu tun.

Wills Gesicht rötete sich zusehends — er sah aus wie ein Grünschnabel mit zwei linken Füßen im Foxtrottkurs, und er warf Cadan einen Blick zu, der zu sagen schien: Hilf mir doch mal, Kumpel! Cadan sah geflissentlich weg.

»Einfach nur… vielleicht mal was essen?«, flehte er nun.

»Aus der Mülltonne, meinst du?«

»Nein! Mein Gott, Madlyn. Das würde ich dir doch niemals…«

»Hör mal zu.« Madlyn hatte diesen ganz besonderen Ausdruck im Gesicht. Cadan wusste genau, was er zu bedeuten hatte, und er wusste ebenso: Will hatte nicht die geringste Ahnung, dass Madlyns eingebaute Zündautomatik gerade von Grün auf Rot sprang. Seine Schwester setzte sich auf, und ihre Augen verengten sich. »Nur für den Fall, dass du's nicht weißt, Will: Die Polizei war bei mir. Ist noch gar nicht so lang her. Die haben mich bei einer Lüge erwischt und mir einfach keine Ruhe mehr gelassen. Und rate mal, was die wussten.«

Will schwieg. Cadan nahm den Papagei auf die Faust und fragte: »Hey, was hast du dazu zu sagen, Pooh?« Normalerweise war der Vogel immer als Ablenkung geeignet, aber diesmal blieb er stumm. Falls er die Anspannung im Zimmer wahrnahm, reagierte er jedenfalls nicht auf die sonst übliche lautstarke Art und Weise.

»Sie wussten, dass ich Santo gefolgt bin. Sie wussten, was ich gesehen habe. Sie wussten, dass ich wusste, was Santo trieb, Will. Wie, meinst du, haben sie das herausgefunden? Und hast du auch nur eine Ahnung, wie mich das dastehen lässt?«

»Die glauben doch nicht, dass du… Du musst dir keine Sorgen machen.«

»Darum geht es doch nicht! Mein Freund treibt es mit einer Schlampe, die alt genug ist, um seine Mutter zu sein, und ihm gefällt das. Und diese Schlampe ist zufällig meine Chefin. All das läuft direkt vor meiner Nase ab, und die beiden sehen aus, als könnten sie kein Wässerchen trüben, und er nennt sie Mrs. Pappas, wohlgemerkt! Mrs. Pappas, wenn ich in Hörweite bin, aber du kannst darauf wetten, er nennt sie nicht Mrs. Pappas, wenn er sie vögelt. Und sie weiß, dass er mein Freund ist. Das macht ja gerade den Kick für sie aus. Deswegen ist sie auch besonders nett zu mir. Nur weiß ich das zu dem Zeitpunkt natürlich nicht. Ich trinke sogar eine Tasse Tee mit ihr, und sie stellt mir alle möglichen persönlichen Fragen. "Ich möchte meine Mädchen gern besser kennenlernen" sagt sie noch. Klar doch!«

»Verstehst du denn nicht, dass das der Grund ist, warum…«

»Nein! Also, da kommen diese beiden Polizistinnen daher, und sie schauen mich an, und ich kann genau sehen, was sie wissen und was sie denken. Armes kleines Ding, denken sie. Ihr Freund treibt es lieber mit einer alten Hexe, statt mit ihr zusammen zu sein. Und das war das Letzte, was mir gefehlt hat, kapierst du das nicht, Will? Ich wollte ihr Mitleid nicht, und ich konnte auch nicht gebrauchen, dass sie es herausbekamen… Denn jetzt wird das alles aktenkundig, sodass die ganze Welt es erfährt, und weißt du eigentlich — kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie sich das anfühlt?«

»Es war nicht deine Schuld, Madlyn.«

»Dass ich ihm nicht genügt habe? Dass ich so unzureichend war, dass er sie auch noch wollte? Wie kann das nicht meine Schuld gewesen sein? Ich habe ihn geliebt! Da war was richtig Gutes zwischen uns, oder zumindest habe ich das geglaubt.«

»Nein… Warte mal«, stammelte Will. »Es lag nicht an dir. Wieso verstehst du nicht… Er hätte das Gleiche mit jeder anderen… Er hätte jede sitzen gelassen, ganz gleich wer es gewesen wäre. Warum wolltest du das nie einsehen? Warum konntest du ihn nicht einfach…«

»Ich war schwanger von ihm! Schwanger, okay? Und ich dachte, das bedeutet… Ich dachte, wir würden… O Gott, vergiss es!«

Bei dieser Eröffnung war Will die Kinnlade heruntergefallen. Cadan kannte die Redewendung natürlich — jemandem fällt die Kinnlade herunter, aber ihm war nie klar gewesen, wie verloren es denjenigen wirken ließ, bis er in diesem Moment in Wills Gesicht blickte. Will hatte es also nicht gewusst. Woher auch? Es war eine Privatangelegenheit, die sie innerhalb der Familie gehalten hatten, und Will gehörte eben nicht zur Familie und sah im Moment auch nicht so aus, als würde er in absehbarer Zeit dazugehören — eine Tatsache, die ihm nicht klar zu sein schien. Selbst jetzt noch nicht. Er klang wie vor den Kopf gestoßen, als er sagte: »Du hättest zu mir kommen können.«

»Was?«

»Zu mir. Ich hätte… Ich weiß nicht. Was immer du wolltest. Ich hätte dir…«

»Ich habe ihn geliebt.«

»Nein«, widersprach Will. »Das kann nicht sein. Unmöglich. Warum willst du nicht einsehen, wie er wirklich war? Er hat nichts getaugt, aber wenn du ihn angeschaut hast, hast du etwas in ihm gesehen…«

»Wag es nicht, so etwas über ihn zu sagen! Untersteh dich…«

Will sah aus wie ein Mann, der eine Sprache gesprochen hatte, von der er glaubte, seine Zuhörerin würde sie verstehen, nur um dann festzustellen, dass sie eine Fremde in seinem Land war und er selber ebenso. Langsam, so als ginge ihm allmählich ein Licht auf, sagte er: »Du verteidigst ihn immer noch. Selbst nachdem… Was du mir gerade erzählt hast… Denn er hätte dir nicht beigestanden, oder? So war er einfach nicht.«

»Ich habe ihn geliebt!«, rief sie.

»Aber du hast doch gesagt, du hasst ihn. Du hast mir erzählt, du hasst ihn.«

»Er hat mir wehgetan, verdammt noch mal!«

»Aber warum habe ich dann…« Will sah sich um, als wäre er plötzlich aufgewacht. Sein Blick fiel auf Cadan, dann auf die Blumen, die er Madlyn mitgebracht hatte. Er schleuderte den Strauß in den Kamin. Cadan gefiel diese dramatische Geste, wäre der Kamin nur echt gewesen. So aber schien die Handlung ihr Verfallsdatum überschritten zu haben, wie etwas, was man in alten Filmen im Fernsehen sah.

Eine bleierne Stille breitete sich im Zimmer aus. Dann sagte Will zu Madlyn: »Ich habe ihn niedergeschlagen. Ich hätte mehr getan, wenn er nur bereit gewesen wäre zu kämpfen, aber er war nicht einmal das. Es war ihm einfach egal. Er wollte nicht kämpfen. Nicht um dich. Nicht deinetwegen. Aber ich habe es getan. Ich habe ihm eins verpasst. Für dich, Madlyn. Weil…«

»Was?«, rief sie. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«

»Er hat dir wehgetan, er war ein absoluter Wichser, und irgendjemand musste ihm doch eine Lektion…«

»Wer hat dich gebeten, sein Lehrer zu sein? Ich nicht. Ich nicht. Hast du… Mein Gott! Was sonst hast du ihm getan? Hast du ihn umgebracht? Ist es das?«

»Du verstehst überhaupt nicht, was es bedeutet, oder?«, fragte Will. »Dass ich ihn auch nur angerührt habe. Dass ich… Du weißt ja gar nicht…«

»Was? Dass du ein verdammter Ritter in strahlender Rüstung bist? Dass ich mich darüber freuen sollte? Dankbar sein? Entzückt? Für immer deine holde Maid? Was genau weiß ich nicht?«

»Ich hätte wieder eingebuchtet werden können«, antwortete er dumpf.

»Wovon redest du?«

»Wenn ich einen Typen auf der Straße auch nur anrempele, selbst wenn's nur versehentlich ist. Dann sperren sie mich wieder ein. Aber ich war bereit, das für dich zu riskieren. Und ich war bereit, ihm eine Lektion zu erteilen, weil irgendjemand das dringend tun musste. Aber du wusstest davon nichts, und selbst wenn… jetzt, wo du's weißt… Es ist dir egal. Es war dir immer egal. Ich bin dir egal. Richtig?«

»Wie bist du nur auf den Gedanken gekommen…«

Will sah zu Cadan. Madlyns Blick wanderte von Will zu ihrem Bruder. Und Cadan seinerseits kam zu dem Schluss, dass dies der perfekte Moment war, um mit dem kleinen Pooh Gassi zu gehen.


Bea vollführte mithilfe eines Küchenstuhls einige Stretching-Übungen, um den alternden Rücken mehr oder minder schmerzfrei zu halten, als sie einen Schlüssel in der Tür hörte. Dem Rasseln folgte ein vertrautes Klopfzeichen: tock, tock, tock, bumm, bumm. Dann Rays Stimme: »Bea? Bist du da?«

»Ich würde sagen, der Wagen in der Auffahrt spricht dafür«, rief sie. »Früher warst du ein besserer Detektiv.«

Sie hörte ihn in ihre Richtung kommen. Sie trug immer noch ihr Schlafgewand: ein T-Shirt und eine Trainingshose darunter. Er konnte sie ruhig in dieser Aufmachung sehen.

Ray seinerseits war wie aus dem Ei gepellt. Sie betrachtete ihn verdrossen. »Hoffst du, damit irgendein hübsches, junges Ding zu beeindrucken?«

»Nur dich.« Er trat an den Kühlschrank, wo sie eine Karaffe mit Orangensaft hatte stehen lassen. Er hielt sie gegens Licht, schnupperte misstrauisch, befand den Inhalt offenbar als zumutbar und schenkte sich ein Glas ein.

»Bedien dich nur«, sagte sie sarkastisch. »Ich kann ja neuen kaufen.«

»Danke«, erwiderte er. »Schüttest du immer noch Orangensaft auf deine Cornflakes?«

»Manche Dinge ändern sich eben nicht. Ray, warum bist du hier? Und wo ist Pete? Doch nicht etwa krank? Er hat heute Schule. Ich hoffe, du hast dich nicht überreden lassen…«

»Er musste heute früher los«, antwortete er. »Irgendein naturwissenschaftliches Projekt. Ich habe ihn hingebracht und mich vergewissert, dass er ins Gebäude geht und nicht schon wieder blaumacht, um auf der Straße Dope zu verticken.«

»Sehr witzig. Pete hat nichts mit Drogen im Sinn.«

»Da haben wir aber noch mal Glück gehabt.«

Sie ignorierte die Pluralform. »Was führt dich also um diese Zeit hierher?«

»Er braucht mehr zum Anziehen.«

»Hast du seine Sachen nicht gewaschen?«

»Doch. Aber er sagt, man könnte doch wohl nicht von ihm erwarten, dass er jeden Tag nach der Schule das Gleiche trägt. Du hast ihm nur zwei Outfits eingepackt.«

»Er hat doch in deiner Wohnung Sachen zum Anziehen.«

»Er behauptet, daraus sei er herausgewachsen.«

»Das würde er doch selbst nie merken! Ihm ist doch völlig egal, wie er herumläuft. Wenn er könnte, würde er von früh bis spät sein Arsenal-Trikot tragen, und das weißt du ganz genau. Also frag ich noch mal: Warum bist du hier?«

Er lächelte. »Erwischt. Du bist hervorragend darin, einen Verdächtigen in die Mangel zu nehmen, meine Liebe. Wie geht es mit der Ermittlung voran?«

»Du meinst, wie geht es voran, obwohl ich kein Kripo-Team habe?«

Er leerte sein Glas, stellte es auf die Arbeitsplatte und lehnte sich an die Anrichte. Er war ein ziemlich großer Mann und gut in Form. Das hübsche, junge Ding, für das er sich herausgeputzt hatte, wäre sicherlich schwer beeindruckt.

»Ganz gleich was du glaubst, ich habe mein Bestes getan, um dir mehr Personal zu organisieren, Beatrice. Warum denkst du eigentlich immer nur das Schlechteste von mir?«

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu und antwortete nicht sofort, sondern wiederholte ihre Übung ein letztes Mal und erhob sich dann von dem Stuhl. Seufzend bekannte sie: »Die Ermittlung verläuft weder zügig noch besonders erfolgreich. Ich würde gern behaupten, dass wir jemanden einkreisen, aber jedes Mal, wenn ich das bisher geglaubt habe, haben neue Informationen oder Ereignisse mich eines Besseren belehrt.«

»Ist Lynley zu irgendetwas nutze? Erfahrung genug hat er ja weiß Gott.«

»Er ist ein guter Mann, kein Zweifel. Und sie haben seine Partnerin aus London geschickt. Ich schätze, sie ist in erster Linie hier, um ein Auge auf ihn zu haben, nicht um mir zu helfen, aber sie ist ein guter Cop, wenn auch ein bisschen unorthodox. Außerdem sehr abgelenkt durch ihn…«

»Verliebt?«

»Sie leugnet es, aber falls doch, ist es eine hoffnungslose Sache. "Wie Feuer und Wasser" wäre eine euphemistische Beschreibung den beiden. Nein, ich glaube, sie macht sich Sorgen um ihn. Sie haben jahrelang zusammengearbeitet, und da hat man eben Interesse aneinander. Sie haben eine gemeinsame Geschichte, so bizarr sie auch sein mag.« Bea trug ihre Cornflakesschale zur Spüle. »Jedenfalls sind sie gute Polizisten. Das merkt man ihnen gleich an. Sie ist ein Pitbull und er äußerst einfallsreich. Mir wäre es allerdings lieber, wenn er weniger eigene Ideen hätte.«

»So hattest du die Männer immer am liebsten«, merkte Ray an.

Bea betrachtete ihn. Ein paar Sekunden verstrichen schweigend. In der Nachbarschaft bellte ein Hund. »Das ging unter die Gürtellinie«, sagte sie schließlich.

»Wirklich?«

»Allerdings. Pete war keine Idee. Er war und ist ein menschliches Wesen.«

Ray wich weder ihrem Blick noch ihren Worten aus — zum ersten Mal, wie Bea aufging. »Du hast recht«, räumte er ein. Er lächelte ihr zu, liebevoll und gleichzeitig zerknirscht. »Er war keine Idee. Können wir darüber reden, Beatrice?«

»Nicht jetzt«, entgegnete sie. »Ich habe zu tun, wie du sehr wohl weißt.« Sie fügte nicht hinzu, was ihr auf der Zunge lag, dass nämlich die Zeit zu reden bereits fünfzehn Jahre zurücklag. Oder dass er den Moment gewählt hatte, ohne jede Rücksicht auf ihre Situation zu nehmen, was so absolut typisch für ihn war. Sie gestattete sich jedoch nicht, darüber nachzudenken, was es bedeutete, dass sie die Chance, ihm genau das zum Vorwurf zu machen, ungenutzt verstreichen ließ. Stattdessen schaltete sie auf Morgenmodus und machte sich bereit, zur Arbeit zu fahren.

Doch auf der Fahrt konnte sie nicht einmal Radio 4 ausreichend ablenken, um nicht zu erkennen, dass Ray mit wohlgewählten Worten so gut wie eingeräumt hatte, als Ehemann versagt zu haben. Sie wusste nicht so recht, was sie mit dieser Erkenntnis anfangen sollte, darum war sie beim Betreten der Einsatzzentrale dankbar für das läutende Telefon, und sie hob ab, ehe irgendwer ihr zuvorkommen konnte. Mehrere Beamte standen untätig herum und warteten darauf, Aufgaben für den neuen Tag zugeteilt zu bekommen. Bea hoffte inständig, dass die Person am anderen Ende der Leitung ihr zu einer Eingebung verhalf, damit ihr irgendetwas in den Sinn kam, womit sie ihre Leute beschäftigen konnte.

Der Anrufer entpuppte sich als Duke Clarence Washoe aus Chepstow mit den vorläufigen Untersuchungsergebnissen der Haarproben, die sie ihm geschickt hatte. »Sind Sie bereit?«

»Schießen Sie los«, bat sie.

»Unter dem Mikroskop sehen sie sich ähnlich«, begann er.

»Nur ähnlich? Keine Übereinstimmung?«

»Ich kann mit dem Material keinen Abgleich durchführen. Dazu brauchten wir Epidermis, Kortex oder Medulla. Das hier ist kein DANN-Material.«

»Das ist mir bewusst. Also, was können Sie mir sagen?«

»Es sind menschliche Haare. Sie ähneln einander. Sie könnten von derselben Person stammen. Oder von zwei Mitgliedern ein und derselben Familie. Aber mehr als "könnte" lässt sich nicht sagen. Ich kann Ihnen gerne die mikroskopischen Details zukommen lassen, aber wenn Sie weitere Analysen wollen, kostet das Zeit.«

Und Geld, dachte Bea. Er sprach es nicht aus, aber sie wussten es beide.

»Soll ich weitermachen?«, fragte er.

»Das kommt auf den Klemmkeil an. Wie sieht es damit aus?«

»Ein Schnitt. Er ging glatt durch. Es war kein zweiter Versuch erforderlich. Keine identifizierbaren Reißspuren. Das ist mit einer Maschine gemacht worden, nicht mit einem Handwerkzeug. Und die Klinge war relativ neu.«

»Ist das sicher?« Eine Maschine engte das Feld beträchtlich ein. Sie verspürte einen Anflug von Erregung.

»Wollen Sie meine detaillierte Analyse?«

»Eine einfache Analyse reicht.«

»Abgesehen von Reißspuren, die es möglicherweise hinterlässt, drückt ein Handwerkzeug die Ober- und Unterseite des Kabels ein und presst sie zusammen. Eine Maschine macht einen saubereren Schnitt. Dadurch ergeben sich glänzende Schnittkanten.« Er versuche, es für einen Laien verständlich auszudrücken, erklärte er und fragte, ob sie es auch noch in Fachchinesisch hören wolle.

Sergeant Havers betrat das Büro. Bea nickte ihr grüßend zu und hielt Ausschau nach Lynley vergebens. Sie runzelte die Stirn.

»Inspector?«, fragte Washoe nach. »Wollen Sie…«

»Nein, nein, das langt vollkommen«, versicherte sie ihm. »Sparen Sie sich das wissenschaftliche Kauderwelsch für Ihren offiziellen Bericht auf.«

»In Ordnung.«

»Und, Duke Clarence?« Sie schnitt eine Grimasse, als sie den Namen des armen Kerls aussprach.

»Ja, Chef?«

»Danke, dass Sie sich mit den Haaren beeilt haben.«

Sie hörte, dass er sich merklich über ihren Ausdruck von Dankbarkeit freute, als sie sich verabschiedeten. Dann versammelte sie ihr Team um sich oder besser: das, was dafür herhalten musste. Sie suchten nach einer Schneidemaschine, berichtete sie und gab die Details über den Klemmkeil weiter, die Washoe ihr dargelegt hatte. Welche Optionen sie denn hätten, diese Maschine zu finden, fragte sie Constable McNulty.

McNulty war an diesem Morgen besonders geschäftig, vielleicht weil er so stolz darauf war, unnütze Fotos von toten Surfern ausgegraben zu haben. Der ehemalige Luftwaffenlandeplatz sei eine gute Möglichkeit, schlug er vor. In den alten Gebäuden gebe es jede Menge Betriebe, und ein Werkzeugladen sei bestimmt darunter.

Eine Karosseriewerkstatt komme ebenfalls infrage, warf jemand anderes ein.

Oder irgendeine Fabrik, schlug einer vor.

Dann kamen die Ideen Schlag auf Schlag. Metallverarbeitender Betrieb, Gießerei, sogar ein Bildhauer. Wie wäre es mit einem Schmied? Na ja, das war nicht sehr wahrscheinlich.

»Meine Schwiegermutter macht so was mit den Zähnen«, behauptete einer. Gelächter in der Runde.

»Das reicht«, sagte Bea. Mit einem Nicken forderte sie Sergeant Collins auf, die Aufgabenverteilung vorzunehmen: ausschwärmen, die Schneidemaschine finden. Sie kannten die Namen der Verdächtigen. Jeder Einzelne sei in Betracht zu ziehen, ihre Wohnungen ebenso wie die Arbeitsstätten. Und ebenso jeder, der zu Hause oder am Arbeitsplatz für sie tätig gewesen sein könnte.

Dann wandte sie sich an Havers: »Ich hätte Sie gern gesprochen, Sergeant.« Sie führte sie auf den Flur hinaus. »Wo ist denn unser Superintendent heute Morgen?«, fragte sie. »Wollte er mal ausschlafen?«

»Nein. Wir haben zusammen gefrühstückt.« Havers strich mit den Händen über die Seiten ihrer Cordhose. An deren ausgeleiertem Zustand änderte das bedauerlicherweise nichts.

»Ach wirklich? Hoffentlich hat es geschmeckt, und es freut mich zu hören, dass er regelmäßige Mahlzeiten einhält. Also, wo ist er?«

»Er war noch im Hotel, als ich…«

»Sergeant? Ersparen Sie mir das Drumherumgerede. Ich hab so ein Gefühl, falls irgendjemand weiß, wo genau Thomas Lynley sich aufhält und was er tut, dann sind Sie es. Wo steckt er?«

Havers fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, was ihrer Frisur mitnichten zu neuem Schwung verhalf. »Na schön«, sagte sie. »Es ist ziemlich blöd, und ich wette, ihm wär's lieber, Sie wüssten es nicht…«

»Was?«

»Seine Socken waren nass.«

»Wie bitte? Sergeant, wenn das irgendein Scherz sein soll…«

»Keineswegs. Er hat nicht genug zum Anziehen dabei. Er hatte gestern Abend beide Paar Socken gewaschen, aber sie waren noch nicht wieder trocken.« Sie verdrehte die Augen und fügte hinzu: »Was vermutlich daran liegt, dass er nie zuvor in seinem Leben seine Socken selber waschen musste.«

»Und Sie wollen mir weismachen…«

»Dass er im Hotel ist und seine Socken trocknet, genau. Das mache ich Ihnen weis. Er wollte es mit einem Föhn versuchen, und so wie ich ihn kenne, hat er inzwischen vermutlich das Hotel in Brand gesteckt. Wir reden hier über einen Mann, der sich morgens nicht einmal selbst sein Brot toastet, Inspector. Wie gesagt, er hat sie gestern Abend gewaschen, ist aber nicht auf die Idee gekommen, sie auf die Heizung zu legen oder so was in der Art. Er hat sie einfach irgendwo liegen gelassen. Und was sein übriges Zeug betrifft…«

Bea hob eine Hand. »Genug Information, glauben Sie mir! Was immer er mit seinen Boxershorts angestellt hat, ist eine Sache zwischen ihm und dem lieben Gott. Wann dürfen wir ihn erwarten?«

Havers biss sich auf die Innenseite der Unterlippe, was auf Unbehagen hinzudeuten schien. Es gab offenbar doch noch etwas, was sie verheimlichte.

»Was ist denn nun schon wieder?«, fragte Bea, als einer der Beamten, der schon zu seinem Einsatz unterwegs gewesen war, ihr einen Kurierumschlag heraufbrachte. Das sei gerade gekommen, eröffnete der Constable ihr. Zwei Jungs hätten stundenlang mit der entsprechenden Software daran gebastelt. Bea öffnete den Umschlag. Der Inhalt bestand aus sechs losen Seiten. Während sie sie in Augenschein nahm, fragte sie erneut: »Wo ist er, Sergeant, und wann kommt er her?«

»Dr. Trahair«, sagte Havers.

»Was soll mit ihr sein?«

»Sie war auf dem Parkplatz, als ich losfuhr. Ich schätze, sie hat auf ihn gewartet.«

»Ach, wirklich?« Bea sah von den Papieren auf. »Das ist doch mal eine interessante Wendung.« Sie reichte Havers die Blätter. »Sehen Sie sich das an!«

»Was ist das?«

»Die Altersprogression des Fotos, das Lynley mitgebracht hat. Sie werden sie interessant finden.«


Daidre Trahair blieb zögernd vor seiner Tür stehen. Sie hörte das Heulen des Haartrockners von innen. Sergeant Havers hatte also die Wahrheit gesagt. Es war ihr nicht so vorgekommen. Als Daidre die Beamtin auf dem Parkplatz des Salthouse Inn angesprochen und nach Thomas Lynley gefragt hatte, war ihr deren Behauptung, er müsse oben noch seine Socken trocknen, wie eine lahme Ausrede erschienen. Andererseits hatte Sergeant Havers keinen Grund, eine wie auch immer geartete Aktivität für Lynley zu erfinden, um die Tatsache zu verschleiern, dass dieser wieder einmal einen Tag damit zubrachte, in den Bruchstücken von Daidres Vergangenheit zu wühlen. Denn inzwischen kam es Daidre so vor, als hätte er genau das getan: ihre Vergangenheit durchwühlt, soweit das ohne ihre Mithilfe möglich war.

Sie klopfte vernehmlich. Der Haartrockner wurde ausgeschaltet, dann öffnete sich die Tür. »Tut mir leid, Barbara. Ich fürchte, sie sind immer noch nicht…« Dann unterbrach er sich. »Hallo«, begrüßte er Daidre lächelnd. »Sie sind aber früh unterwegs.«

»Sergeant Havers hat mir gesagt… Ich habe sie auf dem Parkplatz getroffen. Sie sagte, Sie föhnen Ihre Socken trocken.«

Wie zum Beweis hielt er eine Socke in einer Hand, den Föhn in der anderen. »Ich musste beim Frühstück feststellen, dass feuchte Socken ausgesprochen unangenehm zu tragen sind. Vermutlich erinnern sie zu sehr an den Ersten Weltkrieg und das Leben in den Schützengräben. Möchten Sie vielleicht hereinkommen?« Er trat von der Tür zurück, und Daidre trat an ihm vorbei. Das Bett war nicht gemacht. Ein Handtuch lag am Boden. Ein mit Bleistift vollgekritzeltes Notizbuch lag offen auf dem Tisch, ein Autoschlüssel darauf. »Ich hatte angenommen, dass sie über Nacht trocknen würden«, sagte er. »Unklugerweise habe ich beide Paare gewaschen und dann ans Fenster gehängt. Ich habe sogar daran gedacht, es zu öffnen — vergebens. Sergeant Havers vertritt die Auffassung, ich hätte ein Mindestmaß an gesundem Menschenverstand beweisen und sie auf die Heizung legen sollen. Sie haben doch nichts dagegen…?«

Sie schüttelte den Kopf. Er setzte seine Bemühungen mit dem Föhn fort, und Daidre beobachtete ihn dabei. Er hatte sich beim Rasieren geschnitten, und es war ihm offenbar nicht aufgefallen, denn ein dünner Blutsfaden lief ihm seitlich übers Kinn. Das war etwas, was seine Frau gesehen und ihm gesagt hätte, bevor er morgens das Haus verließ.

»Das scheint mir aber keine typische Beschäftigung für den Gutsherrn zu sein«, bemerkte sie.

»Was? Die eigenen Socken zu trocknen?«

»Hat man für so etwas nicht… seine Leute?«

»Nun, ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Schwester sich darum reißen würde. Mein Bruder wäre so hoffnungslos wie ich, und meine Mutter würde sie mir vermutlich an den Kopf werfen.«

»Ich meinte nicht die Familie. Ich meine die Dienerschaft.«

»Ich schätze, das hängt davon ab, was Sie sich unter Dienerschaft vorstellen. Wir haben Personal in Howenstow — das ist der Familiensitz, falls ich den Namen noch nicht erwähnt haben sollte, und es gibt jemanden, der in meinem Haus in London nach dem Rechten sieht. Ich würde ihn aber nicht als Diener bezeichnen, und kann man einen einzelnen Angestellten Personal nennen? Davon abgesehen, kommt und geht Charlie Denton mehr oder minder, wie es ihm gefällt. Er ist ein Theaterliebhaber mit gewissen… Ambitionen.«

»Welcher Art?«

»Von der Art, die Theaterschminke und ein großes Publikum beinhaltet. Er träumt davon, eines Tages selbst auf der Bühne zu stehen, aber ich fürchte, er hat wenig Chancen, entdeckt zu werden, solange er sein Repertoire auf das beschränkt, was es derzeit umfasst: Er schwankt zwischen Algernon Moncrieff und dem Pförtner aus Macbeth.«

Daidre musste unwillkürlich lächeln. Sie wollte wütend auf ihn sein, und ein Teil von ihr war das auch, aber er machte es ihr schwer. Sie nahm all ihre Courage zusammen. »Warum haben Sie mich angelogen, Thomas?«

»Sie angelogen?«

»Sie haben gesagt, Sie wären nicht nach Falmouth gefahren, um Fragen über mich zu stellen.«

Er schaltete den Haartrockner aus und legte ihn auf dem Waschbeckenrand ab. Einen Augenblick lang betrachtete er ihn versonnen. »Ah«, sagte er schließlich.

»Genau. Ah. Streng genommen haben Sie die Wahrheit gesagt, das ist mir klar. Sie sind nicht persönlich hingefahren. Aber Sie haben sie hingeschickt, nicht wahr? Es war nicht ihre Idee dorthinzufahren.«

»Streng genommen, nein. Ich hatte keine Ahnung, dass sie in der Gegend war. Ich glaubte sie in London. Aber ich habe sie tatsächlich gebeten, Ihre Herkunft zu recherchieren, also nehme ich an…« Er vollführte eine kleine Handbewegung, die besagte, den Rest könne sie sich wohl denken.

Das tat sie nur zu gern. »Sie haben gelogen. Das gefällt mir nicht. Sie hätten mir einfach ein paar Fragen stellen können.«

»Das habe ich getan. Sie haben vermutlich nur nicht damit gerechnet, dass ich Ihre Antworten überprüfen würde.«

»Um sie zu verifizieren. Um sicherzugehen…«

»… dass Sie Ihrerseits nicht lügen.«

»Erscheine ich Ihnen denn so fragwürdig? Halten Sie mich wirklich für eine Mörderin?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich traue Ihnen einen Mord so wenig zu wie den meisten Menschen, die ich kenne. Aber es gehört nun mal zu meiner Arbeit. Und je mehr ich gefragt habe, umso öfter musste ich feststellen, dass es Bereiche in Ihrer Biografie gibt…«

»Und ich habe mir eingebildet, wir wären dabei, einander kennenzulernen. Ich Dummkopf!«

»Aber so war es doch auch, Daidre. Das war ein Teil davon. Aber von Anfang an gab es Unstimmigkeiten in dem, was Sie über sich erzählt haben, die man nicht ignorieren konnte.«

»Sie meinen, Sie konnten sie nicht ignorieren.«

Er schaute sie an. Sein Ausdruck war offen. »Ich konnte sie nicht ignorieren, das ist richtig«, räumte er ein. »Jemand ist ermordet worden. Und ich bin Polizist.«

»Verstehe. Und werden Sie mir verraten, was Sie enthüllt haben?«

»Wenn Sie wollen.«

»Allerdings.«

»Der Zoo in Bristol.«

»Ich arbeite dort. Hat irgendjemand das bestritten?«

»Es gibt dort keinen Affenpfleger namens Paul. Und es gibt auch keine Daidre Trahair, die in Falmouth geboren wurde, ob nun zu Hause oder andernorts. Wollen Sie mir das erklären?«

»Nehmen Sie mich fest?«

»Nein.«

»Dann kommen Sie mit. Holen Sie Ihre Sachen! Ich will Ihnen etwas zeigen.« Sie ging zur Tür, hielt aber noch einmal inne. Sie lächelte ihm zu, aber sie wusste, ihr Lächeln war brüchig. »Oder wollen Sie zuerst Detective Inspector Hannaford und Sergeant Havers anrufen und ihnen Bescheid geben, dass Sie mit mir unterwegs sind? Es wäre ja immerhin möglich, dass ich Sie von einer Klippe stoße, und sie wollen doch bestimmt wissen, wo sie beizeiten Ihren Leichnam finden können.«

Sie wartete keine Antwort ab, blieb auch nicht, um zu sehen, ob er ihren Vorschlag aufgriff. Stattdessen ging sie die Treppe hinunter und hinaus zu ihrem Auto. Sie versicherte sich, es sei im Grunde gleich, ob er ihr folgte oder nicht. Sie beglückwünschte sich, weil sie absolut nichts fühlte. Sie hatte es weit gebracht, fand sie.

Lynley rief weder Hannaford noch Barbara Havers an. Er war schließlich ein freier Mann, nicht ausgeliehen, nicht einmal im Dienst. Trotzdem steckte er das Handy ein, nachdem er die Socken angezogen hatte, die glücklicherweise wesentlich trockener waren als beim Frühstück, und griff dann nach seiner Jacke. Er fand Daidre in ihrem Wagen auf dem Parkplatz, den Motor im Leerlauf. Sie war während ihres Gesprächs blass geworden, doch inzwischen war die Farbe in ihre Wangen zurückgekehrt.

Er stieg ein. Auf dem engen Raum konnte er ihr Parfüm riechen. Es erinnerte ihn an Helen, nicht das Parfüm selbst, sondern die Tatsache an sich. Helens Duft war der von Zitrusblüten gewesen, wie ein sonniger Tag am Mittelmeer. Daidres war… wie frische Luft nach einem Gewitter. Für einen flüchtigen Moment vermisste er Helen so sehr, dass er glaubte, sein Herz würde einfach stehen bleiben. Doch natürlich tat es das nicht. Was blieb, war der Sicherheitsgurt, den er mit ungeschickten Fingern einrasten ließ.

»Wir fahren nach Redruth«, teilte Daidre ihm mit. »Wollen Sie Detective Inspector Hannaford vielleicht jetzt anrufen, falls Sie das nicht bereits getan haben? Nur um auf Nummer sicher zu gehen? Obwohl… Da ich Sergeant Havers ja bereits begegnet bin, kann sie den Behörden ja sagen, dass ich die Letzte war, die Sie lebend gesehen hat.«

»Ich halte Sie nicht für eine Mörderin«, sagte er. »Das habe ich nie getan.«

»Wirklich nicht?«

»Nein.«

Sie legte den Gang ein. »Vielleicht kann ich Sie eines Besseren belehren.«

Mit einem Ruck fuhr sie an, holperte über den unebenen Parkplatz und bog in die schmale Landstraße ein. Es war eine lange Fahrt, aber sie sprachen nicht. Daidre schaltete das Radio ein. Sie hörten die Nachrichten, ein langweiliges Interview mit einem eingebildeten, näselnden Schriftsteller, der ganz offensichtlich auf den Booker Prize spekulierte, dann eine Diskussion über gentechnisch verändertes Getreide. Schließlich bat Daidre ihn, eine CD aus dem Handschuhfach zu suchen, was er bereitwillig tat. Er griff wahllos hinein, und so lauschten sie schließlich den Chieftains. Daidre drehte die Musik lauter.

Sie umfuhr die Innenstadt von Redruth und folgte den Schildern in Richtung Falmouth. Das beunruhigte ihn mitnichten, aber er warf ihr einen Blick zu. Sie erwiderte ihn nicht. Ihre Kiefermuskeln waren angespannt, aber ihre Miene wirkte ergeben. Sie sah aus wie jemand, der die letzte, aussichtslose Runde eines Wettkampfs bestritt. Unerwartet verspürte er einen Stich des Bedauerns, ohne dass er hätte sagen können, was genau er bedauerte.

Kurz hinter Redruth bog sie in eine Nebenstraße ein, bald in eine weitere, die kaum mehr war als ein Feldweg von der Sorte, die zwei oder drei Weiler miteinander verband. Ein Hinweisschild wies in Richtung Carnkie, doch statt der Straße zu folgen, hielt Daidre an einer Einmündung, einem dreieckigen Fleckchen Erde, wo man stehen bleiben konnte, um die Straßenkarte zu konsultieren. Er rechnete damit, dass sie genau das tun würde; ihm kam es so vor, als wären sie mitten im Nirgendwo: ein Erdwall, teilweise von Steinen gestützt, jenseits davon offenes Gelände, auf dem hier und da riesige Findlinge verstreut lagen. In der Ferne erhob sich ein Farmhaus aus unverputztem Granit. Schafe ästen Kreuzkraut, Vogelmiere und das struppige Gras, das hier wuchs.

»Beschreiben Sie mir das Zimmer, in dem Sie zur Welt gekommen sind, Thomas.«

Es war eine höchst seltsame Bitte, fand er. »Warum interessiert Sie das?«

»Ich möchte es mir gerne vorstellen, wenn Sie nichts dagegen haben. Sie haben erzählt, dass Sie zu Hause zur Welt gekommen sind, nicht im Krankenhaus. Auf dem Familiensitz. Ich frage mich, was für ein Familiensitz das wohl ist. Wurden Sie im Schlafzimmer Ihrer Eltern geboren? Hatten sie überhaupt ein gemeinsames Schlafzimmer? Hat man das in Ihren Kreisen?«

In Ihren Kreisen. Hiermit hatte sie eine scharfe Grenze gezogen. Es war ein eigenartiger Moment, um die Verzweiflung zu spüren, die ihn in anderen Situationen immer wieder überfallen hatte: jedes Mal, wenn er daran erinnert wurde, dass manche Dinge sich auch in der sich stetig wandelnden Welt niemals änderten. Vor allem diese Dinge.

Er löste den Sicherheitsgurt, öffnete die Tür und stieg aus. Dann ging er zu dem Erdwall hinüber. Der Wind war frisch und wehte das Blöken der Schafe und den Duft eines Holzfeuers herbei.

In seinem Rücken hörte Lynley, wie die Fahrertür geöffnet wurde. Gleich darauf stand Daidre an seiner Seite.

»Meine Frau hat sich klipp und klar geäußert, als wir heirateten: "Nur für den Fall, dass du damit liebäugelst: Es wird diesen Unsinn mit getrennten Schlafzimmern nicht geben. Keine heimlichen nächtlichen Besuche dreimal die Woche zum Vollzug der Ehe, Tommy. Wir vollziehen, wann und wo wir wollen, und wenn wir abends einschlafen, dann zusammen."« Er lächelte. Er blickte zu den Schafen hinüber und über das offene Land, das sich in sanften Hügeln bis zum Horizont erstreckte. »Es ist ein ziemlich großes Zimmer. Zwei Fenster mit tiefen Laibungen hinaus zum Rosengarten. Es gibt einen Kamin, der im Winter noch beheizt wird, denn trotz Zentralheizung ist es unmöglich, derlei Häuser wirklich warm zu bekommen. Davor eine Sitzgruppe. Das Bett steht den Fenstern gegenüber. Es ist ebenfalls groß und mit üppigen Schnitzereien verziert; italienisch. Die Wände sind blassgrün. Über dem Kamin hängt ein Spiegel in einem schweren Goldrahmen, daneben an der Wand eine Miniaturensammlung. Auf einem halbrunden Tisch zwischen den Fenstern steht eine Porzellanschale, und an den Wänden hängen Porträts. Und zwei französische Landschaften. Familienfotos auf Beistelltischen. Das ist alles.«

»Es klingt sehr eindrucksvoll.«

»Es ist eher behaglich als eindrucksvoll. Keine Konkurrenz für Chatsworth.«

»Es klingt… angemessen für jemanden Ihres Kalibers.«

»Es ist nur der Raum, in dem ich zur Welt gekommen bin, Daidre. Warum wollten Sie das wissen?«

Sie wandte den Kopf ab. Ihr Blick streifte über die gesamte Umgebung: den Erdwall, die Steine, die Findlinge auf der Wiese, die Stelle, an der sie geparkt hatten. »Weil ich hier zur Welt gekommen bin«, antwortete sie schließlich.

»In dem Farmhaus dort drüben?«

»Nein. Hier, Thomas. Auf diesem… na ja, wie immer man es nennen will. Hier.« Sie ging zu einem der Steine, und Lynley sah sie eine Postkarte darunter hervorziehen. Sie kam zurück und überreichte sie ihm. »Sagten Sie nicht, Howenstow sei ein Barockbau?«

»Teilweise, ja.«

»Wusst ich's doch. Nun, was ich hatte, war ein wenig bescheidener. Sehen Sie selbst.«

Die Postkarte zeigte einen Zigeunerwagen. Er war von der Sorte, die früher die Landschaft mit einem Hauch von Romaromantik bereichert hatte. Der Wagen selbst war leuchtend rot, das gewölbte Dach grün, die Radspeichen gelb. Er betrachtete das Bild. Da Daidre sichtlich nicht von Zigeunern abstammte, mussten ihre Eltern wohl Ferien in solch einem Wagen gemacht haben. Touristen hatten das in Cornwall häufig getan, einen Wagen gemietet und Zigeuner gespielt.

Daidre schien seine Gedanken zu lesen. »Leider verbirgt sich keinerlei Romantik dahinter, fürchte ich. Keine vorzeitigen Wehen während der Ferien, keine Roma in meiner Familie. Meine Eltern sind fahrendes Volk, Thomas. Das waren schon ihre Eltern. Meine Tanten und Onkel, soweit vorhanden, sind ebenfalls fahrendes Volk, und das hier ist die Stelle, wo unser Wagen stand, als ich zur Welt kam. Nur war unsere Behausung leider nie so pittoresk wie das hier«, fügte sie mit einer Geste auf die Postkarte hinzu. »Der Wagen war seit Jahren nicht mehr gestrichen worden. Ansonsten sah er ganz ähnlich aus. Ein bisschen anders als Howenstow, finden Sie nicht?«

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste nicht einmal, ob er ihr glaubte.

»Die Verhältnisse waren… Man sagt wohl, sie waren etwas beengt. Erst als ich acht Jahre alt war, wurde es etwas besser. Vorher lebten wir zu fünft zusammengepfercht. Ich, meine Eltern und die Zwillinge.«

»Die Zwillinge?«

»Mein Bruder und meine Schwester. Sie sind drei Jahre jünger als ich. Und kein Einziger von uns ist in Falmouth geboren.«

»Also sind Sie nicht Daidre Trahair?«

»In gewisser Weise schon.«

»Das verstehe ich nicht. In gewisser Weise? In welcher Weise?«

»Möchten Sie mein wahres Ich kennenlernen?«

»Ich schätze schon.«

Sie nickte. Sie hatte ihn unverwandt angesehen, seit er von der Postkarte aufgeblickt hatte. Es schien, als versuche sie, seine Reaktion einzuschätzen. Was immer sie in seiner Miene las, beschwichtigte sie entweder oder führte ihr vor Augen, dass die Zeit für Versteckspiele vorüber war.

»In Ordnung«, sagte sie. »Kommen Sie, Thomas. Es gibt noch viel mehr zu sehen.«


Als Kerra aus dem Büro kam, um Alan bei einer der Bewerbungen um Rat zu fragen, fiel sie aus allen Wolken, als sie Madlyn Angarrack in der Rezeption stehen sah. Madlyn war allein und trug die Uniform der Bäckerei, sodass Kerra für den Bruchteil einer Sekunde meinte, sie wäre gekommen, um eine Bestellung auszuliefern. Unwillkürlich blickte sie zum Rezeptionstresen und suchte nach einer Schachtel mit der Aufschrift "Casvelyn of Cornwall".

Da jedoch nichts dergleichen zu entdecken war, zögerte sie. Es musste einen anderen Grund für Madlyns Besuch geben, und Kerra nahm an, dieser Grund hatte mit ihr selbst zu tun. Sie wollte nicht schon wieder mit Madlyn streiten. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie das inzwischen hinter sich gelassen.

Als Madlyn sie sah und ihren Namen sagte, klang sie zittrig, ganz so als fürchte sie Kerras Reaktion. Dazu gab es ja auch allen Grund, fand Kerra; ihre letzte Unterhaltung war schließlich nicht gerade harmonisch verlaufen, und sie hatten sich nicht eben als Freundinnen getrennt. Tatsächlich waren sie schon lange keine Freundinnen mehr.

Madlyn hatte immer eine enorme Vitalität ausgestrahlt, aber davon war inzwischen nichts mehr zu erkennen. Sie sah aus, als schlafe sie schlecht, und das dunkle Haar hatte seinen Glanz eingebüßt. Doch ihre Augen waren noch immer dieselben. Groß, dunkel und fesselnd, machten sie es dem Gegenüber schwer, den Blick abzuwenden. Zweifellos hatten sie auch auf Santo ihre Wirkung nicht verfehlt.

»Kann ich dich kurz sprechen?«, fragte Madlyn. »Ich habe mir in der Bäckerei eine halbe Stunde freigenommen. Ich habe gesagt, es gehe um eine persönliche Angelegenheit…«

»Du willst mich sprechen?« Die Erwähnung der Bäckerei brachte Kerra zu der Annahme, Madlyn wäre gekommen, um nach einem Job zu fragen. Das wäre ja auch kaum verwunderlich. Mochten die Pasteten auch relativ berühmt sein, waren die Aufstiegschancen bei Casvelyn of Cornwall doch begrenzt. Und von Begeisterung für seine Tätigkeit konnte man wohl auch kaum ausgehen. Madlyn würde hier als Surflehrerin arbeiten können — so denn Kerra ihren Vater zu überreden vermochte, die Sparte überhaupt anzubieten.

»Ja. Dich. Können wir irgendwohin…?«

In diesem Moment kam Alan aus seinem Büro. »Kerra, ich habe gerade mit den Videoleuten gesprochen, und sie können…« Doch dann bemerkte er Madlyn. Er blickte von ihr zu Kerra. Sein Ausdruck war voller Wärme. Mit einem Nicken sagte er: »Oh. Das kann warten.« Und dann: »Hallo, Madlyn. Schön, dich mal wieder zu sehen.«

Er verschwand, und Kerra blieb allein mit ihr und mit all dem zurück, was immer Madlyn hergeführt hatte. »Lass uns nach oben in die Lounge gehen«, schlug sie vor.

»Ja, bitte.«

Kerra ging voran. Durchs Fenster sah sie ihren Vater, der draußen gerade zwei Männer instruierte, die im Begriff waren, ein völliges Chaos in einem der Beete anzurichten, das den Teil des Rasens säumte, der fürs Bowling vorgesehen war. Sie hatten kistenweise Sträucher herbeigeschafft, die in den hinteren Teil des Beetes gepflanzt werden sollten, aber Kerra sah, dass die Arbeiter sie unsinnigerweise nach vorn gesetzt hatten. »Was denken die sich eigentlich?«, murmelte sie und fuhr dann, an Madlyn gewandt, fort: »Das ist der Teil für die weniger abenteuerlustigen Gäste.«

Madlyn schien verwirrt. »Was?«

Kerra erkannte, dass ihre einstige Freundin nicht einmal aus dem Fenster geblickt hatte, so nervös war sie.

»Wir haben dahinten eine Rasenbowlingbahn angelegt, hinter dem Bereich mit den Kletterseilen. Es war Alans Idee. Dad glaubt, niemand wird sie benutzen, aber Alan sagt, vielleicht verirrt sich auch mal eine Großmutter oder ein Großvater mit Familie hierher, und die älteren Herrschaften werden wohl kaum freeclimben wollen. Ich habe ihm gesagt, er hätte keine Ahnung von modernen Großeltern, aber er hat darauf bestanden. Also lassen wir ihm seinen Willen. Er hat mit so vielen anderen Dingen recht behalten. Und wenn niemand die Bowlingbahn nutzt, können wir ja immer noch etwas anderes mit dem Rasen machen. Krocket oder so.«

»Ja. Ich kann mir vorstellen, dass er recht hat. Er scheint immer… Er ist so clever.«

Kerra nickte und wartete, dass Madlyn auf den Grund ihres Besuchs zu sprechen kam. Ein Teil von ihr machte sich bereit, dem Mädchen klipp und klar zu sagen, dass Ben Kerne keinen Surfunterricht anbieten werde, also könne es sich den Atem sparen. Ein anderer Teil von ihr wollte Madlyn die Chance geben, ihre Argumente vorzubringen und ein dritter Teil hatte eine leise Ahnung, dass es hier ganz und gar nicht um einen Job ging. »Also, hier sind wir. Möchtest du einen Kaffee oder so?«

Madlyn schüttelte den Kopf. Sie ging zu einem der neuen Sofas, setzte sich auf die Kante und wartete, bis Kerra ihr gegenüber Platz genommen hatte. Dann sagte sie: »Es tut mir furchtbar leid wegen Santo.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Dies hier schien grundlegend anders zu verlaufen als ihre letzte Begegnung. »Als wir kürzlich miteinander gesprochen haben, konnte ich nicht… Es tut mir schrecklich leid.«

»Ja. Das kann ich mir vorstellen.«

Madlyn zuckte zusammen. »Ich weiß, was du denkst. Dass ich mir gewünscht hätte, er wär tot. Oder wenigstens verletzt. Aber das wollte ich nicht. Nicht wirklich, jedenfalls.«

»Es wäre nicht so unverständlich, wenn du dir das gewünscht hättest. Zumindest dass er so verletzt würde, wie er dich verletzt hat. Er war ein Dreckskerl, so wie er dich behandelt hat. Ich hatte so etwas befürchtet. Und ich habe versucht, dich zu warnen.«

»Ich weiß. Aber verstehst du, ich dachte, du…« Madlyn drückte die Hand vor den Schürzenlatz. Die Uniform sah grässlich an ihr aus. Weder Farbe noch Schnitt stand ihr. Kerra wunderte sich, dass Casvelyn of Cornwall überhaupt irgendwelche Angestellten längerfristig halten konnte, wenn sie die Mädchen zwangen, so etwas zu tragen. »Ich dachte, du wärst eifersüchtig, verstehst du?«

»Was? Dass ich dich für mich allein wollte? Sexuell oder so?«

»Das nicht. Aber in anderer Hinsicht. Was Freundschaft angeht. Sie teilt ihre Freundinnen nicht gern, habe ich geglaubt. Darum hat sie ein Problem damit.«

»Na ja. So war's im Grunde ja auch. Du warst meine Freundin, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie du das bleiben und gleichzeitig mit ihm zusammen sein solltest… Es war so kompliziert. Weil er eben war, wie er war. Was würde werden, wenn er dich abserviert? Das hab ich mich auch gefragt.«

»Du hast also gewusst, dass er es tun würde? Was er dann ja auch getan hat…«

»Ich habe es zumindest in Erwägung gezogen. Das war nun mal sein Muster. Und was dann? Du wärst doch wohl kaum gewillt gewesen, weiterhin hierherzukommen und an ihn erinnert zu werden, oder? Selbst mit mir zusammen zu sein, hätte dich an ihn erinnert. Du wärst dem Risiko ausgesetzt gewesen, immer wieder von ihm zu hören. Das war alles zu schwierig. Ich sah keinen Ausweg, und ich konnte meine Gefühle auch nicht in Worte fassen. Jedenfalls nicht vernünftig. Sodass ich vernünftig geklungen hätte.«

»Es war schwer, dich als Freundin zu verlieren.«

»Tja. So ist das nun mal.« Und was nun?, dachte Kerra. Sie konnten ja wohl kaum dort anknüpfen, wo sie in den Zeiten vor Santo aufgehört hatten. Zu viel war geschehen, und auch die über allem dräuende Tatsache von Santos Tod galt es zu verarbeiten. Sein Tod und dessen Umstände standen selbst jetzt zwischen ihnen; es war das eine große Tabuthema, und das würde es so lange bleiben, wie auch nur der Hauch eines Verdachts bestand, dass Madlyn Angarrack irgendetwas damit zu tun gehabt hatte.

Madlyn schien das durchaus klar zu sein. »Was ihm passiert ist, macht mir Angst. Ich war wütend und gekränkt, und andere Menschen wussten, dass ich wütend und gekränkt war. Ich habe das, was er getan hatte, nicht gerade geheim gehalten. Mein Vater wusste es. Mein Bruder. Und auch noch andere. Will Mendick. Jago Reeth. Einer von ihnen, verstehst du… könnte ihm etwas angetan haben, aber das wollte ich nicht! Niemals habe ich das gewollt!«

Kerra fühlte, wie ein Schauer der Furcht ihren Rücken überzog. »Jemand könnte Santo etwas angetan haben, um dich zu rächen?«

»Ich wollte nie… Aber jetzt, wo ich weiß…« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Kerra sah, wie ihre Fingernägel sorgfältig gefeilte Halbmonde in die Handflächen schnitten, als wollten sie sie davor warnen, noch mehr zu sagen.

»Madlyn, weißt du, wer Santo umgebracht hat?«

»Nein!« Madlyns Stimme hob sich, ein Hinweis darauf, dass sie noch nicht gesagt hatte, was sie eigentlich hergeführt hatte.

»Aber du weißt irgendetwas. Was ist es?«

»Es ist nur… Will Mendick kam gestern Abend vorbei. Du kennst ihn doch?«

»Den Typen vom Supermarkt? Ich weiß, wer er ist. Was ist mit ihm?«

»Er dachte… Ich hatte mit ihm gesprochen, verstehst du. Wie gesagt. Er war einer der Leute, denen ich von Santo erzählt hatte und davon, was passiert war. Nicht alles, aber genug. Und Will…« Aus irgendeinem Grund schien Madlyn den Satz nicht beenden zu können. Sie knetete den Saum ihrer Schürze mit beiden Händen und wirkte zutiefst verzweifelt. »Ich wusste nicht, dass er auf mich steht«, flüsterte sie.

»Willst du damit sagen, er hat Santo etwas angetan, weil er auf dich steht? Um… es Santo an deiner Stelle heimzuzahlen?«

»Er hat gesagt, er hätte ihm eine Lektion erteilt. Er… Ich glaube nicht, dass er mehr getan hat als das.«

»Er und Santo hatten öfter miteinander zu tun. Es wäre nicht schwierig für Will gewesen, an Santos Kletterausrüstung heranzukommen, Madlyn.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er wirklich… Das würde er nicht tun!«

»Hast du der Polizei davon erzählt?«

»Ich weiß es doch erst seit gestern Abend! Und selbst wenn ich's gewusst hätte… Wenn ich geahnt hätte, dass er so etwas plant oder auch nur daran denkt… Ich wollte nicht, dass Santo etwas passiert! Ich wollte höchstens, dass er verletzt wird, nicht körperlich, verstehst du, sondern seine Gefühle, so wie er meine Gefühle verletzt hat. Aber jetzt habe ich Angst…« Sie hatte ihre Schürze furchtbar zugerichtet, hatte sie zusammengedrückt und hoffnungslos verknittert. Casvelyn of Cornwall würde alles andere als glücklich darüber sein.

»Du denkst, Will Mendick hat ihn für dich umgebracht«, stellte Kerra fest.

»Irgendjemand. Vielleicht. Aber das wollte ich nicht! Ich habe niemanden gebeten… Ich habe nie gesagt…«

Endlich wurde Kerra klar, warum das Mädchen zu ihr gekommen war. Und mit dieser Erkenntnis begriff sie auch endlich, wer Madlyn eigentlich war. Vielleicht war es Alan, der diese grundlegende Veränderung in ihrem Innern herbeigeführt hatte; sie wusste es nicht. Aber ihre Gefühle Madlyn gegenüber hatten sich verändert, und sie war endlich in der Lage, die Dinge aus Madlyns Perspektive zu betrachten. Kerra stand auf und setzte sich neben sie. Sie erwog, ihre Hand zu ergreifen, tat es dann aber doch nicht. Das käme zu plötzlich, fand sie. Zu früh.

»Madlyn«, sagte sie schließlich, »du musst mir jetzt mal zuhören. Ich glaube nicht, dass du irgendetwas damit zu tun hast, was Santo passiert ist. Es hat eine Zeit gegeben, da ich so etwas hätte glauben können, es vielleicht sogar geglaubt habe, aber das entsprach nicht den Tatsachen. Verstehst du? Was Santo passiert ist, war nicht deine Schuld.«

»Aber ich habe den anderen gesagt…«

»Was du eben gesagt hast. Ich bezweifle allerdings, dass du je gesagt hast, du wolltest seinen Tod.«

Madlyn fing an zu weinen. Ob angestaute Trauer oder Erleichterung der Grund dafür war, konnte Kerra nicht ausmachen.

»Glaubst du das wirklich?«, fragte Madlyn.

»Hundertprozentig.«


In der Kaminecke des Salthouse Inn wartete Selevan auf Jago Reeth, und er schäumte vor Wut, was ungewöhnlich für ihn war. Er hatte seinen Kumpel bei LiquidEarth angerufen und gefragt, ob sie sich früher als sonst im Salthouse Inn treffen könnten. Er müsse dringend mit ihm reden. Jago hatte bereitwillig zugestimmt und noch nicht einmal gefragt, ob sie das nicht am Telefon besprechen könnten. Vielmehr hatte er gesagt: »Klar doch. Dafür hat man doch Kumpel, oder?« Er müsse nur schnell Lew Bescheid geben und werde dann gleich losfahren. Lew sei ein einsichtiger Kerl, wenn es um Notlagen ging. Also werde er in rund einer halben Stunde dort sein.

Das hieß zwar, dass Selevan würde warten müssen, was ihm nicht recht war, aber er konnte von Jago ja keine Wunder erwarten. LiquidEarth lag ein gutes Stück vom Salthouse Inn entfernt, und Jago konnte sich schließlich nicht hierherbeamen. Also hatte Selevan erledigt, was er in Sea Dreams noch zu erledigen hatte, den Wagen für die anstehende Reise gepackt und war dann zum Salthouse Inn gefahren.

Er wusste, er hatte alles getan, was er konnte, und es war an der Zeit, zum Ende zu kommen. Also war er in Tammys winziges, vollgestopftes Schlafzimmer gegangen und hatte den Rucksack aus dem Schrank gezogen, mit dem sie aus Afrika gekommen war. Damals hatte sie ihn eigentlich schon nicht gebraucht, und heute brauchte sie ihn erst recht nicht mehr, weil ihre Habseligkeiten nicht zahlreich, aber umso armseliger waren. Es dauerte also nur einen Moment, sie aus der Kommode zu räumen: ein paar Unterhosen altmodischen Zuschnitts, den eine alte Dame vielleicht ansprechend gefunden hätte, ein paar Nylonstrumpfhosen, vier Unterhemden, denn das Mädchen war so flach, dass es nicht einmal einen BH brauchte, zwei Pullover und ein paar Röcke. Hosen besaß sie keine. Tammy mochte keine Hosen. Alles war schwarz, bis auf die Unterwäsche.

Dann hatte er ihre Bücher eingepackt, hauptsächlich philosophische Werke und einige Heiligengeschichten. Tagebücher hatte sie ebenfalls. Deren Inhalt war das Einzige, was Selevan nicht überwacht hatte, und darauf war er stolz, denn Tammy hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie zu verstecken. Trotz der anderslautenden Wünsche ihrer Eltern hatte er es nicht fertiggebracht, in ihren Mädchenträumen und -fantasien zu lesen.

Bis auf ein paar wenige Toilettenartikel, die Kleider, die sie am Leibe trug, und den Inhalt ihrer Schultertasche besaß sie weiter nichts. Ihren Pass hatte er ihr bereits bei der Ankunft abgeknöpft. »Und lass sie ja nicht den Pass behalten«, hatte Tammys Vater ihn aus Afrika instruiert, nachdem er sie in den Flieger gesetzt hatte. »Sonst ist damit zu rechnen, dass sie wegläuft.«

Sollte sie ihren Pass doch zurücknehmen, hatte Selevan beschlossen und wollte ihn schon aus seinem Versteck zwischen Korbgeflecht und Futterstoff der Wäschetonne holen. Doch er war nicht dort. Sie musste ihn gleich zu Anfang gefunden haben, ging ihm auf. Das Früchtchen hatte ihn vermutlich die ganze Zeit bei sich getragen, und zwar irgendwo am Körper, denn er hatte ihre Tasche ja regelmäßig nach verbotenen Gegenständen durchsucht. Nun ja, sie war allen anderen ja immer um eine Nasenlänge voraus gewesen, wen wunderte es da schon.

Selevan hatte an diesem Tag einen letzten Versuch unternommen, ihren Eltern die Augen zu öffnen. Trotz der Kosten und der Tatsache, dass er es sich eigentlich nicht leisten konnte, hatte er Sally Joy und David in Afrika angerufen und ihnen in Sachen Tammy auf den Zahn gefühlt. Er hatte zu seinem Sohn gesagt: »Hör zu, mein Junge, früher oder später müssen Kinder ihren eigenen Weg gehen. Mal angenommen, sie hätte beschlossen, sich in irgendeinen Taugenichts zu verlieben. Was immer du dagegen sagst, je öfter du ihr verbietest, ihn zu treffen, umso mehr will sie es. Das ist ganz einfaches Psycho-Dingsda, wie heißt es gleich wieder? Nicht mehr und nicht weniger.«

»Sie hat dich auf ihre Seite gezogen, ja?«, hatte David entrüstet gefragt, und im Hintergrund hörte Selevan Sally Joy jammern: »Was? Was ist passiert? Ist das dein Vater? Was hat sie getan?«

»Ich sage doch gar nicht, dass sie irgendetwas getan hat«, entgegnete Selevan.

Aber David fuhr fort, als hätte er ihn gar nicht gehört: »Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass sie das schafft, wenn ich an früher denke. Deine eigenen Kinder haben dich jedenfalls nie von ihrem Standpunkt überzeugen können.«

»Das reicht, Junge. Ich gebe zu, dass ich bei euch Fehler gemacht habe. Aber Tatsache ist doch, ihr habt euch ein Leben aufgebaut, und es ist kein schlechtes, oder etwa doch? Und das Mädchen will nichts anderes.«

»Sie weiß doch gar nicht, was sie will! Guck mal, möchtest du eine Beziehung zu Tammy oder nicht? Denn wenn du ihr in dieser Sache nicht entgegenwirkst, wirst du keine Beziehung zu ihr aufbauen können, das sag ich dir.«

»Und indem ich ihr entgegenwirke, werde ich erst recht keine Beziehung zu ihr aufbauen. Also, was soll ich deiner Meinung nach tun, Junge?«

»Ich will, dass wenigstens du Vernunft an den Tag legst etwas, was Tammy offensichtlich verloren hat. Ich will, dass du ihr ein Vorbild bist.«

»Ein Vorbild? Wovon redest du eigentlich? Was für ein Vorbild könnte ich für ein siebzehnjähriges Mädchen schon sein? Das ist doch völliger Blödsinn.«

Und so war es weiter- und immer weitergegangen. Aber Selevan war es nicht gelungen, seinen Sohn zu überzeugen. David sah einfach nicht ein, wie schlau Tammy war: Nach England geschickt zu werden, hatte das Mädchen keinen Zoll von seinem Weg abgebracht. Sie konnten Tammy genauso gut zum Nordpol schicken, aber letzten Endes würde sie immer eine Möglichkeit finden, so zu leben, wie sie wollte.

»Dann schick sie nach Hause«, hatte David zum Abschied gesagt. Ehe er auflegte, hörte Selevan Sally Joy im Hintergrund rufen: »Aber was sollen wir denn mit ihr machen, David?« Selevan hatte das alles mit einem »Pah!« abgetan und dann angefangen, Tammys Sachen zu packen.

Und am Ende hatte er Jago angerufen. Er würde Tammy ein letztes Mal vom Clean-Barrel-Surfshop abholen, und er wollte irgendjemandes Segen dafür. Jago schien dafür der beste Kandidat zu sein.

Es war Selevan nicht recht gewesen, Jago von der Arbeit wegzulocken. Andererseits hatte er sich gesagt, irgendwie müsse er Jago doch Bescheid geben, dass er ihn nicht länger zur gewohnten Stunde würde treffen können. Doch jetzt wartete er und merkte, wie er zusehends nervös wurde. Er brauchte jemanden auf seiner Seite. Das Nervenflattern würde so lange bleiben, bis dieser Jemand sich dort eingefunden hatte.

Als Jago endlich eintrat, winkte Selevan ihm erleichtert zu. Jago blieb einen Moment an der Bar stehen, um ein paar Worte mit Brian zu wechseln, und dann kam er herüber, immer noch in seiner Jacke und die Strickmütze über das lange graue Haar gezogen. Er legte Jacke und Mütze ab und rieb sich die Hände, während er den Hocker hervorzog, der Selevans Bank gegenüberstand. Das Feuer brannte noch nicht — dafür war es noch zu früh, und sie waren die einzigen Gäste, und Jago fragte Brian über die Schulter, ob er es wohl anzünden dürfe. Brian nickte, und Jago hielt ein Streichholz an den Zunder. Dann blies er in die kleinen Flämmchen, bis das Feuer in Gang kam. Schließlich kam er zu ihrem Tisch zurück. Er dankte Brian, als der ihm sein Guinness brachte, und nahm einen Schluck.

»Was ist denn nun los, Kumpel?«, fragte er Selevan. »Du siehst ganz schön mitgenommen aus.«

»Ich fahre weg«, antwortete Selevan. »Für ein paar Tage oder sogar ein bisschen länger.«

»Wirklich? Wohin?«

»Nach Norden. Nicht weit von der Grenze.«

»Was? Wales?«

»Schottland.«

Jago pfiff vor sich hin. »Das ist ein gutes Stück zu fahren. Willst du, dass ich hier nach dem Rechten sehe? Und auf Tammy achtgebe?«

»Ich nehme Tammy mit«, antwortete Selevan. »Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe alles in die Wege geleitet. Jetzt brechen wir auf. Wird Zeit, dass das Mädchen die Gelegenheit bekommt, das Leben zu führen, das es sich wünscht.«

»Das ist wahr«, stimmte Jago zu. »Ich werde selbst auch nicht mehr lange hierbleiben.«

Selevan war überrascht, wie schwer diese Eröffnung ihn traf. »Wo soll's denn hingehen, Jago? Ich dachte, du wolltest den Sommer über hierbleiben.«

Jago schüttelte den Kopf. Er hob sein Glas und nahm einen tiefen Zug von seinem Guinness. »Bleib nie irgendwo hängen. Das ist mein Motto. Ich denke über Südafrika nach. Kapstadt vielleicht.«

»Aber du verschwindest nicht, bevor ich zurück bin! Klingt ein bisschen blöd, aber ich habe mich daran gewöhnt, dich in der Nähe zu haben.«

Jago sah ihn an, und das Licht spiegelte sich auf seinen Brillengläsern. »Das sollte man lieber nicht tun. Es macht sich nicht bezahlt, sich an irgendetwas zu gewöhnen.«

»Sicher, das weiß ich, aber…«

Die Tür zur Bar wurde aufgestoßen, aber nicht in üblicher Weise, so als öffnete jemand sie gerade weit genug, um eintreten zu können. Stattdessen schlug sie mit einem gewaltigen Krachen gegen die Wand, das jede Konversation hätte verstummen lassen, wäre außer Jago und Selevan noch irgendjemand anderes hier gewesen.

Zwei Frauen kamen herein. Der einen standen die leuchtend roten Haare zu Berge. Die andere trug eine Strickmütze, die sie tief in die Stirn herabgezogen hatte. Beide sahen sich flugs um, und schon steuerte der Rotschopf auf die Kaminecke zu.

»Ah«, sagte sie. »Wir hätten Sie gern gesprochen, Mr. Reeth.«

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