26

Als Kerra und ihr Vater das Toes on the Nose betraten, war das Café beinah menschenleer. Das lag zum einen daran, dass die Zeit fürs Mittagessen schon Stunden zurücklag, es aber auch noch zu früh fürs Abendessen war, und zum anderen an den Bedingungen draußen auf See. Wenn die Wellen gut waren, hielt sich kein Surfer, der diese Bezeichnung verdiente, in einem Café auf.

Sie hatte Ben auf einen Kaffee eingeladen. Sie hätten ihn ebenso gut im Hotel trinken können, aber Kerra hatte Ben für diese Unterhaltung von dort weglotsen wollen. Überall im Hotel wurde sie an Santos Tod und Kerras Zusammenstoß mit ihrer Mutter erinnert. Doch für dieses Gespräch mit ihrem Vater wollte sie neutralen Boden, eine neue Umgebung.

Nicht dass das Toes on the Nose sonderlich neu wirkte. Vielmehr war es der hilflose Versuch, das frühere Green-Table-Café wiederzubeleben ein trauriges Beispiel für den Grundsatz: Wenn du sie nicht abschütteln kannst, schließ dich ihnen an. Das Green Table war schon vor Urzeiten aufgrund seiner Nähe zum St. Mevan Beach von den Surfern in Beschlag genommen worden. Irgendwann hatten die Betreiber gewechselt, und die neuen Besitzer versuchten nun, ihren Umsatz mit Postern von alten Surferfilmen und mit der Musik der Beach Boys und von Jan & Dean anzukurbeln. Die Speisekarte war allerdings immer noch dieselbe wie zu dem Zeitpunkt, als sie das Café übernommen hatten: matschige Pommes frites, Lasagne mit Knoblauchbrot und Pommes, Folienkartoffeln mit einer kleinen Auswahl von Beilagen, Pommes-Sandwiches… Allein von der Lektüre konnte man Arterienverkalkung bekommen.

An der Theke bestellte Kerra sich eine Cola. Ihr Vater nahm Kaffee. Dann suchten sie sich einen Tisch, der möglichst weit von den Lautsprecherboxen entfernt stand, unter einem Filmplakat von Endless Summer.

Von seinem Platz aus betrachtete Ben das Riding-Giants-Poster auf der anderen Seite des Lokals. Sein Blick glitt weiter zu April, und er schien die beiden zu vergleichen. Er lächelte, wohl eingedenk einer nostalgischen Erinnerung. Kerra betrachtete ihn eine Weile und fragte schließlich: »Warum hast du es aufgegeben?«

Sein Blick kehrte zu ihr zurück. Im ersten Augenblick dachte sie, auf eine so direkte Frage würde er nicht antworten, doch er überraschte sie: »Ich bin aus Pengelly Cove weggezogen«, eröffnete er ihr freimütig. »Und in Truro war nun mal nicht viel mit Surfen.«

»Du hättest dorthin zurückkehren können. Wie weit ist es schon von Truro bis ans Meer?«

»Nicht weit«, räumte er ein. »Natürlich hätte ich ans Meer fahren können, sobald ich ein Auto hatte. Das stimmt schon.«

»Aber das hast du nicht getan. Warum nicht?«

Er wirkte einen Moment nachdenklich, und dann sagte er: »Ich hatte damit abgeschlossen. Ich habe mich der Tatsache gestellt, dass es mir nichts Gutes eingebracht hat.«

»Ah.« Sie glaubte, den Grund zu kennen, der letztlich der Grund für alles war, was Ben Kerne tat: »Mum«, schlussfolgerte sie. »Du hast sie beim Surfen kennengelernt.« Und doch beruhte ihre Aussage ausschließlich auf Annahmen, ging ihr auf. Sie hatten nie darüber gesprochen, wie Ben und Dellen einander begegnet waren. Es war die Art Frage, die normalerweise alle Kinder ihren Eltern stellten, sobald sie erkannten, dass diese Eltern eigenständige Persönlichkeiten waren. Wie habt Mummy und du euch eigentlich kennengelernt? Aber Kerra hatte das nie getan, und sie bezweifelte ebenso, dass ihr Bruder diese Frage je gestellt hatte.

Ben nahm von der Bedienung dankend seinen Kaffee entgegen. Er sagte nichts, bis Kerra ihre Cola ebenfalls bekommen hatte. Dann erwiderte er: »Es war nicht wegen deiner Mutter, Kerra. Es gab andere Gründe. Das Surfen hat mich an einen Ort geführt, wo ich lieber nie gewesen wäre.«

»Du meinst Truro?«

Er lächelte. »Ich meine es metaphorisch. In Pengelly Cove war ein Junge ums Leben gekommen, und das hat alles verändert. Das Surfen war daran schuld. Mehr oder weniger.«

»Das hast du gemeint, als du sagtest, es habe dir nichts Gutes eingebracht.«

»Darum war es mir nie recht, wenn Santo surfen ging. Ich wollte nicht, dass er in eine Situation geriet, die ihn in solche Schwierigkeiten hätte bringen können, wie ich sie erlebt habe. Also habe ich mein Möglichstes getan, um es ihm auszureden. Das war nicht richtig von mir, aber so war es nun einmal.« Er blies über die Oberfläche seines Kaffees und nippte daran. Dann fügte er bitter hinzu: »Ja, verdammt noch mal, es war dumm von mir, es zu versuchen. Ich hätte mich in Santos Leben nicht einmischen dürfen, jedenfalls nicht in dieser Hinsicht. Er konnte schon selbst auf sich aufpassen.«

»Am Ende nicht«, entgegnete Kerra leise.

»Nein. Am Ende nicht.« Ben drehte die Tasse auf dem Unterteller, den Blick auf die Hände gerichtet. Er schwieg ebenso wie Kerra, während die Beach Boys "Surfer Girl" trällerten. Er ließ die Strophe verstreichen und fragte dann: »Ist das der Grund, warum du mich hierhergeführt hast? Um über Santo zu reden? Wir haben ihn bislang mit keinem Wort erwähnt. Das bedaure ich. Ich konnte nicht über ihn reden, und du musstest den Preis dafür zahlen.«

»Wir alle haben Dinge zu bedauern, was Santo angeht«, erwiderte Kerra. »Aber nicht deswegen wollte ich dich sprechen.« Plötzlich erfüllte ihr Thema sie mit Schüchternheit. Jedes Gespräch über Santo führte dazu, dass sie sich selbst und ihre Motive betrachten und sich unwillkürlich als selbstsüchtig einstufen musste. Andererseits würde das, was sie zu sagen hatte, ihren Vater womöglich aufheitern, und sie sah ihm an, dass er ein wenig Aufmunterung dringend nötig hatte.

»Sondern worüber?«, fragte er. »Keine schlechten Neuigkeiten, hoffe ich. Du willst uns doch nicht verlassen, oder?«

»Nein. Ich meine doch. In gewisser Weise. Alan und ich werden heiraten.«

Einen Moment lang war er reglos, doch ganz allmählich breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Wirklich? Das ist ja wunderbar! Er ist ein guter Mann. Wann?«

Sie hätten noch keinen Tag festgesetzt, erklärte sie. Aber irgendwann im Laufe des Jahres. Sie habe noch keinen Ring, aber der werde schon noch kommen. »Alan besteht darauf«, sagte sie. »Er will "eine ordentliche Verlobung" so nennt er es jedenfalls. Du weißt ja, wie er ist. Und…« Sie legte die Hände um ihr Glas. »Er will dich um Erlaubnis bitten, Dad.«

»Im Ernst?«

»Er sagt, er will, dass alles von A bis Z korrekt abläuft. Ich weiß, es ist albern. Heutzutage hält niemand mehr um die Hand einer Tochter an. Aber es ist nun mal das, was er möchte. Wie auch immer. Ich hoffe, du gibst deine Erlaubnis.«

»Warum in aller Welt sollte ich etwas dagegen haben?«

»Na ja…« Kerra wandte den Blick ab. Wie sollte sie es erklären? »Es hätte ja sein können, dass du für das ganze Thema Ehe nicht mehr allzu viel übrig hast. Du weißt schon, was ich meine.«

»Wegen deiner Mutter.«

»Es kann kein leichter Weg für dich gewesen sein. Ich dachte, vielleicht willst du nicht, dass ich ihn auch einschlage.«

Jetzt war es an Ben, Kerras Blick auszuweichen. »Eine Ehe ist immer schwierig, ganz gleich in welcher Situation das Paar sich befindet. Wenn du irgendetwas anderes glaubst, steht dir eine Überraschung bevor.«

»Aber schwierig ist nicht immer gleich schwierig«, wandte Kerra ein. »Unlösbar. Inakzeptabel.«

»Ah. Ja. Ich weiß, dass du das immer gedacht hast: das Warum hinter allem. Diese Frage habe ich in deinem Gesicht gelesen, seit du zwölf warst.«

Ein solches Bedauern lag in seinem Ausdruck, als er das sagte, dass es Kerra schmerzte. Sie erwiderte: »Hast du nie gedacht… Hast du nie gewollt…«

Er berührte ganz sanft ihre Hände. »Deine Mutter hat auch ihre schweren Zeiten gehabt. Das steht außer Frage. Und ihre schweren Zeiten haben in Wahrheit ihren Weg steiniger gemacht als meinen. Darüber hinaus hat sie mir dich geschenkt. Und dafür muss ich ihr dankbar sein, was immer ihre Fehler sein mögen.«

Kerra erkannte, dass der entscheidende Moment gekommen war, als sie ihn am wenigsten erwartet hatte. Sie blickte auf ihre Cola hinab, aber etwas von dem, was sie zu sagen hatte, zeichnete sich wohl in ihren Zügen ab, denn er fragte: »Was ist los, Kerra?«

»Wie kannst du dir da sicher sein?«, wollte sie wissen.

»Ob man den Sprung ins kalte Wasser mit einem Menschen wagen soll? Dessen kann man sich nie sicher sein. Es gibt keinerlei Garantien, welch ein Leben du mit einem anderen Menschen führen wirst, aber an einem gewissen Punkt…«

»Nein, nein. Das meinte ich nicht.« Sie spürte ihr Gesicht heiß werden. Ihre Wangen brannten, und sie wusste, dass sich die Röte bis zu ihren Ohren ausbreitete. »Wie kannst du dir in Bezug auf uns sicher sein?«, fragte sie leise. »Über mich? Wirklich sicher? Weil…«

Er runzelte die Stirn, doch dann weiteten sich seine Augen ein wenig, als ihm aufging, wovon sie sprach.

Mutlos fügte sie hinzu: »Weil sie eben ist, wie sie ist. Ich hatte meine Zweifel, verstehst du. Dann und wann.«

Er stand abrupt auf, und sie glaubte schon, er wollte aus dem Café marschieren, denn er sah zur Tür hinüber. Doch stattdessen sagte er: »Komm mal mit, Kind. Nein, nein, lass deine Sachen nur liegen.« Und er führte sie zur Garderobe, wo in einem Muschelrahmen ein kleiner Spiegel hing. Er schob sie davor, trat hinter sie und legte die Hände auf ihre Schultern. »Schau dir dein Gesicht an. Und dann meines. Mein Gott, Kerra, wer solltest du denn sonst sein als meine Tochter?«

Ihre Augen brannten. Sie blinzelte die Tränen weg. »Und was war mit Santo?«, fragte sie.

Er drückte ihre Schultern, um sie zu beschwichtigen. »Du schlägst mir nach«, antwortete er. »Und Santo hat immer deiner Mutter geglichen.«


Lynley war fast den ganzen Tag unterwegs gewesen, von Exeter bis Boscastle kreuz und quer durch Cornwall, doch schließlich betrat er die Einsatzzentrale in Casvelyn. Detective Inspector Hannaford und Barbara Havers spielten gerade die aufmerksamen Zuhörerinnen für Constable McNulty, der über ein Thema referierte, das ihm sehr am Herzen zu liegen schien. Zu dem Zweck hatte er eine Reihe Fotos auf dem Tisch ausgebreitet. Havers wirkte tatsächlich interessiert. Hannaford lauschte mit einem unmissverständlichen Ausdruck überstrapazierter Duldsamkeit.

»Hier erwischt er die Welle. Es ist ein klasse Foto. Man kann sein Gesicht und die Farbe seines Boards erkennen, sehen Sie? Er ist in einer guten Position, und er hat die nötige Erfahrung. Meistens surft er rund um Hawaii. In der Half Moon Bay ist das Wasser schweinekalt, woran er nicht gewöhnt ist, aber große Wellen kennt er in- und auswendig. Klar hat er Schiss, aber wer hätte das nicht? Wer keinen Schiss hat, muss verrückt sein. Tonnenweise Wasser, und wenn man nicht gerade die letzte Welle einer Serie erwischt, muss man damit rechnen, dass die nächste gleich auf dem Fuße folgt und einen womöglich vom Brett fegt. Und diese nachfolgende Welle hält einen dann unten und zieht einen in die Tiefe. Man ist also gut beraten, Schiss und vor allem Respekt zu haben.« Er tippte auf das nächste Foto. »Sehen Sie sich den Winkel an. Hier macht er den Fehler. Er weiß, dass er stürzt, und fragt sich, wie schlimm es wohl werden wird… was Sie hier auf dem nächsten Bild sehen. Er ist geradewegs in die Wellenwand geknallt. Gott allein weiß, welches Tempo er draufhat und das Wasser schließlich genauso. Also, was passiert bei dem Aufprall? Wird er sich ein paar Rippen brechen? Wird es ihm die Luft aus den Lungen pressen? Er hat es nicht mehr in der Hand, denn jetzt ist er oben am Wellenscheitel, der beginnt, sich zu brechen. Das ist wirklich das Allerletzte, was ein Surfer sich bei einer Mavericks-Welle wünscht. Hier. Da kann man ihn so gerade eben noch erkennen.«

Lynley trat zu ihnen an den Tisch. Er betrachtete das Foto, das einen einsamen Surfer auf einer riesigen jadegrünen Welle zeigte, die wie eine heranrasende Felswand wirkte. Auf dem letzten Bild hatte die brechende Welle den Surfer bereits verschluckt. Man konnte nur noch eine geisterhafte Gestalt hinter dem weißen, herabstürzenden Wasser ausmachen: ein Stoffpüppchen in der Waschmaschine.

»Manche von diesen Typen leben dafür, sich auf so einer Monsterwelle fotografieren zu lassen«, schloss McNulty seine Ausführungen. »Und einige sterben dafür. So wie er.«

»Wer ist das?«, fragte Lynley.

»Mark Foo«, antwortete McNulty.

»Vielen Dank, Constable«, sagte Bea Hannaford. »Sehr dramatisch, sehr tragisch und ausgesprochen erhellend. Aber jetzt zurück an die Arbeit! Mr. Priestleys Fingerabdrücke warten auf Sie.« Und an Lynley gewandt: »Ich muss Sie sprechen. Und Sie auch, Sergeant Havers.« Sie nickte in Richtung der Tür, und die beiden folgten ihr in das unzureichend ausgestattete Verhörzimmer, in dem immer noch allerlei Papierprodukte lagerten, weil niemand so recht wusste, wo man sie sonst hätte unterbringen sollen. Hannaford setzte sich nicht, und auch Lynley und Havers blieben stehen.

»Erzählen Sie mir von Falmouth, Thomas«, begann sie.

Noch ganz mit den Ereignissen des Tages beschäftigt, war Lynley im ersten Moment ehrlich verwirrt. »Ich war in Exeter«, erwiderte er. »Nicht in Falmouth.«

»Spielen Sie keine Spielchen mit mir. Ich weiß sehr wohl, wo Sie waren. Was wissen Sie über Daidre Trahair und Falmouth, das Sie mir nicht mitgeteilt haben? Und Sie beide sollten mich lieber nicht noch einmal anlügen. Einer von Ihnen war dort, und wenn Sie diejenige waren, Sergeant Havers, was Dr. Trahair offenbar vermutet, dann kann es wohl nur einen Grund geben, warum Sie diesen kleinen Umweg gemacht haben. Und das hat absolut nichts mit meinen Befehlen zu tun. Habe ich recht?«

Lynley intervenierte. »Ich habe Barbara gebeten herauszufinden…«

»So sehr Sie das überraschen mag«, fiel Bea ihm ins Wort. »Das hatte ich bereits selbst herausbekommen. Aber das Problem ist, dass nicht Sie diese Ermittlung leiten, sondern ich.«

»So war es nicht«, wandte Havers ein. »Er hat mich nicht darum gebeten hinzufahren. Er wusste nicht einmal, dass ich auf dem Weg hierher war, als er mich bat, ihre Vergangenheit zu durchleuchten.«

»Ach, so ist das, ja?«

»Ganz genau. Er hat mich auf dem Handy angerufen. Da saß ich gerade im Auto. Das hat er wohl gemerkt, schätze ich, aber er hatte keine Ahnung, wo ich mich gerade aufhielt oder wohin ich unterwegs war. Und er hatte auch keine Ahnung, dass ich überhaupt die Möglichkeit hatte, nach Falmouth zu fahren. Er bat mich lediglich darum, ein paar Details aus ihrer Biografie zu überprüfen. Zufälligerweise war ich aber auf dem Weg hierher. Und da Falmouth so gut wie auf der Strecke lag, habe ich mir gedacht, ich fahre hin, bevor…«

»Sind Sie verrückt? Es lag etliche Meilen ab von Ihrer Strecke. Was ist nur los mit Ihnen beiden?«, verlangte Bea zu wissen. »Machen Sie bei einer Ermittlung immer, was Sie wollen, oder bin ich die erste Kollegin, der Sie diese Ehre erweisen?«

»Bei allem Respekt, Ma'm«, begann Lynley.

»Unterstehen Sie sich, mich Ma'm zu nennen!«

»Bei allem Respekt, Inspector«, sagte Lynley. »Ich gehöre nicht zu diesem Ermittlungsteam. Jedenfalls nicht offiziell. Ich bin noch nicht einmal mehr…« Er suchte nach einem passenden Ausdruck, »… im Polizeidienst.«

»Soll das ein Witz sein, Superintendent Lynley?«

»Keineswegs. Ich versuche nur, darauf hinzuweisen, dass ich, nachdem Sie verfügt haben, dass ich Sie bei den Ermittlungen unterstützen werde, ohne jede Rücksicht auf meine persönlichen Wünsche…«

»Sie sind ein Hauptzeuge, verdammt noch mal! Ihre Wünsche kümmern hier niemanden. Was haben Sie denn erwartet? Dass Sie einfach fröhlich weiterspazieren können?«

»Was die ganze Sache umso irregulärer macht«, entgegnete er.

»Da hat er in der Tat recht«, fügte Havers hinzu. »Wenn ich das sagen darf.«

»Das dürfen Sie nicht. Absolut nicht. Es gibt eine Befehlskette, und die wird nicht unterbrochen.« Und an Lynley gewandt: »Trotz Ihres Ranges leite ich diese Ermittlung, nicht Sie. Sie sind nicht in der Position, irgendwem Aufgaben zuzuteilen, auch nicht Sergeant Havers, und wenn Sie sich nicht daran halten…«

»Er wusste es doch nicht«, warf Havers ein. »Ich hätte ihm ja sagen können, dass ich auf dem Weg nach Cornwall war, als er mich anrief, aber das habe ich nicht getan. Ich hätte ihm sagen können, dass ich anderslautende Befehle hatte…«

»Was für Befehle?«, fragte Lynley.

»… aber auch das hab ich nicht getan. Sie wussten, dass ich früher oder später hier eintrudeln würde…«

»Wessen Befehle?«, beharrte Lynley.

»… darum hab ich mir nichts dabei gedacht, als er anrief…«

»Wessen Befehle?«

»Sie wissen genau, wessen Befehle«, gab Havers zurück.

»Hat Hillier Sie etwa hier runtergeschickt?«

»Was dachten Sie denn? Dass er Sie einfach so gehen lässt? Dass es allen egal wäre? Dass keiner sich Sorgen macht? Keiner einschreiten will? Haben Sie sich wirklich eingebildet, Sie könnten einfach so verschwinden, dass Sie von so geringer Bedeutung sind für…«

»Schon gut, schon gut!«, unterbrach Bea. »Jeder zurück in seine Ecke. Mein Gott! Es reicht!« Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Auf der Stelle ist jetzt Schluss damit. Verstanden? Sie sind eine Leihgabe an mich«, sagte sie zu Havers. »Nicht an ihn. Mir ist jetzt klar, dass es Hintergedanken bei dem Angebot gab, Sie zur Unterstützung herzuschicken, aber was immer diese Hintergedanken gewesen sein mögen, Sie werden sie in Ihrer Freizeit abhandeln, nicht während der Dienstzeit.« Sie wandte sich an Lynley. »Und Sie werden von jetzt an offen und ehrlich sein in Bezug auf was immer Sie tun und was immer Sie wissen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Klar und deutlich«, versicherte Lynley. Havers nickte, aber er sah, dass sie aufgebracht war und noch eine Menge zu sagen hatte — nicht zu Hannaford, sondern zu ihm.

»Gut. Großartig. Also, fangen wir mit Daidre Trahair noch mal von vorn an, und dieses Mal legen wir alle Karten auf den Tisch. Habe ich mich auch in dieser Hinsicht klar ausgedrückt?«

»Allerdings.«

»Sehr schön. Also, erhellen Sie mich über die Details.«

Lynley wusste, ihm blieb nichts anderes übrig. »Es scheint keine Daidre Trahair gegeben zu haben, ehe sie mit dreizehn auf die Gesamtschule kam«, berichtete er. »Und obwohl sie behauptet, zu Hause in Falmouth zur Welt gekommen zu sein, gibt es auch keine Geburtsurkunde. Außerdem decken Teile ihrer Geschichte über ihren Job in Bristol sich nicht mit den Fakten.«

»Welche Teile?«

»Es gibt im dortigen Zoo eine angestellte Veterinärin namens Daidre Trahair, aber der Mann, den sie mir als ihren Freund Paul beschrieben hat — vorgeblich der Primatenpfleger, existiert nicht.«

»Davon haben Sie mir gar nichts erzählt«, warf Havers ein. »Warum nicht?«

Lynley seufzte. »Sie scheint einfach nicht… Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie eine Mörderin ist. Ich wollte die Dinge für sie nicht noch schwieriger machen.«

»Schwieriger als was?«, fragte Hannaford.

»Ich weiß nicht. Es scheint… Ich gebe zu, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmt. Ich glaube nur nicht, dass es mit dem Mord zu tun hat.«

»Und Sie glauben, Sie wären in der Verfassung, solch eine Entscheidung zu treffen?«, erkundigte sich Hannaford.

»Ich bin nicht blind«, gab er zurück. »Und ich habe auch nicht den Verstand verloren.«

»Aber Sie haben Ihre Frau verloren«, erwiderte Hannaford. »Wie wollen Sie nach all dem, was Ihnen widerfahren ist, erwarten, dass Sie klar denken, klar sehen oder sonst irgendetwas klar tun können?«

Lynley wich zurück, aber nur einen Schritt. Er wollte diese Konversation beenden, und dies schien ihm der beste Weg, das zu erreichen. Er spürte Havers' Blick auf sich. Er wusste, er würde irgendetwas erwidern müssen, ehe sie es an seiner Stelle tat; das wäre ihm unerträglich gewesen. »Ich habe keine Fakten vor Ihnen verheimlicht, Inspector«, sagte er. »Ich wollte lediglich mehr Zeit.«

»Wofür?«

»Für etwas wie das hier, nehme ich an.« Er hielt einen großen Umschlag in der Hand, aus dem er nun das Foto entnahm, das er aus Boscastle mitgebracht hatte. Er reichte es ihr.

Hannaford betrachtete es. »Wer sind diese Leute?«

»Eine Familie namens Parsons. Der Sohn der Junge auf dem Bild starb vor etwa dreißig Jahren in einer Strandhöhle in Pengelly Cove. Das Foto entstand in etwa zu der Zeit; höchstens ein, zwei Jahre eher. Niamh ist die Mutter, Jonathan der Vater. Der Junge ist Jamie, die Mädchen seine jüngeren Schwestern. Ich würde an dem Bild gern eine digitale Altersprogression vornehmen lassen. Gibt es hier jemanden, der das kurzfristig ausführen könnte?«

»Eine Altersprogression von wem genau?«, fragte Detective Inspector Hannaford.

»Von allen«, antwortete Lynley.


Daidre hatte den Wagen an der Lansdown Road abgestellt. Sie wusste, es sah nicht gut aus, so nah bei der Polizeiwache zu parken, aber sie musste ihn sehen, und gleichzeitig brauchte sie ein Zeichen, das ihr sagte, wie sie weiter vorgehen sollte. Wahrheit bedeutete Vertrauen, sogar blindes Vertrauen. Aber dieses blinde Vertrauen konnte sie geradewegs in den tödlichen Treibsand des Verrats führen, und davon hatte sie in ihrem Leben weiß Gott genug gesehen.

Im Rückspiegel sah sie sie aus der Polizeiwache kommen. Wäre Lynley allein gewesen, wäre sie ihm vielleicht hinterhergelaufen, um mit ihm die Unterhaltung zu führen, die sie dringend führen mussten. Da aber sowohl Detective Inspector Hannaford als auch Detective Sergeant Havers in seiner Begleitung waren, wertete Daidre dies als Zeichen, dass der Zeitpunkt nicht der richtige war. Sie hatte ein Stück weit die Straße hinauf geparkt, und als die drei Beamten auf dem Parkplatz der Polizeiwache stehen blieben, um noch ein paar Worte zu wechseln, startete sie den Motor und fuhr an. In ihr Gespräch vertieft, sah keiner der drei ihr nach. Auch das wertete Daidre als Zeichen. Manche hätten sie einen Feigling genannt, wusste sie, weil sie jetzt davonlief. Andere hätten ihr jedoch zu ihrem gesunden Selbsterhaltungsinstinkt gratuliert.

Sie verließ Casvelyn, fuhr landeinwärts, erst in Richtung Stratton, dann quer über Land. Schließlich hielt sie im rasch schwindenden Abendlicht vor der Ciderfarm.

Die Umstände bewogen sie zu vergeben. Aber Vergebung funktionierte in beide Richtungen, oder, genauer betrachtet, in alle Richtungen. Sie musste sie erbitten ebenso wie erteilen. Und für beides brauchte man Übung.

Stamos wühlte in seinem Pferch in der Hofmitte. Daidre ging an ihm vorüber und umrundete die Marmeladenküche, wo zwei Angestellte unter grellem Neonlicht riesige Kupfertöpfe schrubbten.

Sie öffnete das Tor unter dem Laubengang und betrat den privaten Teil des Geländes. Wie beim letzten Mal hörte sie Gitarrenmusik. Aber heute spielte mehr als ein Instrument.

Eine CD, nahm sie an und klopfte an die Tür. Die Musik verstummte. Als Aldara öffnete, erkannte Daidre, dass sie nicht allein war. Ein südländisch aussehender Mann von vielleicht Mitte dreißig stellte gerade eine Gitarre auf den Ständer. Aldara trug ihre unter dem Arm. Offenbar hatten sie und der Mann zusammen gespielt.

»Daidre«, sagte Aldara, ohne ihre Gefühle zu erkennen zu geben. »Was für eine Überraschung. Narno gibt mir gerade Unterricht. Narno Rojas«, fügte sie hinzu. »Aus Launceston.« Der Spanier erhob sich und neigte höflich den Kopf. Daidre sagte Hallo und fragte, ob sie ein andermal wiederkommen solle. »Wenn ihr mitten in der Stunde seid…«, fügte sie hinzu. Was sie allerdings dachte, war: Typisch Aldara, einen so gut aussehenden Gitarrenlehrer gefunden zu haben. Seine Augen waren so groß und die Wimpern so dicht wie bei einem Helden aus einem Disney-Comic.

»Nein, nein, wir sind fertig«, versicherte Aldara. »Wir haben nur noch ein bisschen zum Spaß gespielt. Hast du uns gehört? Wir sind richtig gut zusammen, findest du nicht?«

»Ich dachte wirklich, es wäre eine Aufnahme«, gestand Daidre.

»Siehst du?«, rief Aldara aus. »Narno, wir müssen einfach zusammen spielen! Mit dir bin ich viel besser als allein.« Und an Daidre gewandt: »Es ist so großzügig von ihm, dass er mir Stunden gibt! Ich habe ihm aber auch ein Angebot gemacht, das er nicht ablehnen konnte, und hier sind wir. Stimmt's nicht, Narno?«

»Absolut«, erwiderte er. »Du hast großes Talent. Für mich ist es eine gute Übung. Und für dich… Du brauchst lediglich ein wenig Ermutigung.«

»Schmeichler! Aber wenn du es glauben willst, werde ich dir nicht widersprechen. Aber auf jeden Fall ist genau das deine Rolle: Du bist meine Ermutigung, und ich liebe es, wie du mich ermutigst.«

Er lachte leise, nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. Ein Trauring aus Weißgold steckte an seinem Finger.

Dann packte er seine Gitarre in den Koffer und verabschiedete sich. Aldara brachte ihn bis vor die Tür, wo sie noch kurz murmelnd miteinander sprachen. Schließlich kam sie zu Daidre zurück.

Sie sieht aus wie eine Katze, die eine nie versiegende Sahnequelle gefunden hat, dachte Daidre und sagte: »Ich kann mir schon vorstellen, wie dein Angebot lautete.«

Aldara packte ihre eigene Gitarre ebenfalls weg. »Welches Angebot meinst du?«

»Das, welches er nicht ablehnen konnte.«

»Ah.« Aldara lachte. »Nun ja. Was sein muss, muss sein. Ich habe allerhand zu tun, Daidre. Wir können uns dabei unterhalten. Komm mit, wenn du magst.«

Sie ging voraus zu einer Treppe, an der eine dicke Samtkordel als Geländer diente. Aldara führte Daidre nach oben ins Schlafzimmer und begann, die Laken eines riesigen Bettes abzuziehen, das fast den gesamten Raum einnahm.

»Du denkst sehr schlecht von mir«, stellte Aldara fest.

»Spielt es eine Rolle, was ich denke?«

»Natürlich nicht. Wie weise du bist. Aber manchmal stimmt das, was du denkst, nicht mit der Wirklichkeit überein.« Sie warf die Bettdecke auf den Boden, riss die Laken von der Matratze und faltete sie sorgsam zusammen, statt sie einfach aufzurollen, wie jemand anderes es vielleicht getan hätte. Dann ging sie zu einem eingebauten Wäscheschrank in der winzigen Diele am oberen Treppenabsatz und holte frisches Bettzeug daraus hervor, das teuer aussah und herrlich duftete. »Unser Arrangement ist nicht sexueller Natur, Daidre«, sagte Aldara.

»Ich habe auch nicht gedacht…«

»Doch, natürlich. Und wie könnte man dir daraus einen Vorwurf machen? Schließlich kennst du mich. Hier, hilf mir mal, sei so gut!«

Daidre kam einen Schritt näher. Aldaras Bewegungen waren sparsam. Liebevoll strich sie die Laken glatt. »Sind sie nicht hübsch?«, fragte sie. »Aus Italien. Ich habe eine hervorragende kleine Wäscherei in Morwenstow gefunden. Es ist ein gutes Stück zu fahren, aber die Frau dort vollbringt Wunder mit der Wäsche, und meine Bettwäsche vertraue ich nicht dem Erstbesten an. Sie ist zu kostbar, wenn du weißt, was ich meine.«

Daidre wollte es gar nicht wissen. Für sie war Bettwäsche einfach nur Bettwäsche, auch wenn sie sehen konnte, dass diese hier vermutlich mehr gekostet hatte, als sie in einem Monat verdiente. Aldara war keine Frau, die sich ein bisschen Luxus hier und da versagte.

»Er hat ein Restaurant in Launceston. Ich war zum Essen dort. Wenn er gerade keine Gäste begrüßen muss, spielt er Gitarre. Und ich habe mir gedacht, wie viel ich doch von diesem Mann lernen könnte! Also habe ich ihn angesprochen, und wir sind uns einig geworden. Narno nimmt kein Geld, aber er braucht für seine Großfamilie mehr Jobs, als sein Restaurant hergibt.«

»Also arbeiten seine Verwandten hier für dich?«

»Ich brauche derzeit niemanden. Aber Stamos hat ständig Bedarf an Arbeitskräften in seinem Hotel in St. Ives, und ich habe festgestellt, dass die Schuldgefühle eines Exmanns ein sehr nützliches Instrument sein können.«

»Ich wusste nicht, dass du überhaupt noch mit Stamos sprichst.«

»Nur wenn es mir dienlich ist. Ansonsten könnte er meinetwegen von der Erdoberfläche verschwinden, und glaub mir, ich würde ihm nicht einmal hinterherwinken. Würdest du das mal ordentlich feststecken? Ich kann knittrige Laken nicht ausstehen.«

Sie kam auf Daidres Seite und führte mit geschickten Handgriffen vor, wie sie die Laken haben wollte. »Hübsch und frisch und bereit«, sagte sie, als sie fertig waren. Dann betrachtete sie Daidre voller Sympathie. Das Licht im Schlafzimmer war gedimmt und ließ Aldara zwanzig Jahre jünger wirken. »Was allerdings nicht heißt, dass es nicht früher oder später noch dazu kommt«, wechselte sie abrupt das Thema. »Ich glaube, Narno ist ein sehr ausdauernder Liebhaber, genau so wie ich sie gern habe.«

»Verstehe.«

»Die Polizei war hier, Daidre.«

»Deswegen bin ich gekommen.«

»Du warst es also. Das habe ich mir schon gedacht.«

»Es tut mir leid, Aldara, aber ich hatte keine Wahl. Sie dachten, ich wäre es gewesen. Sie dachten, Santo und ich…«

»Und da musstest du deinen guten Ruf wahren?«

»Das ist nicht der Grund. War nicht der Grund. Sie müssen herausfinden, was mit ihm passiert ist, und das wird ihnen niemals gelingen, wenn die Menschen nicht endlich anfangen, ihnen die Wahrheit zu sagen.«

»Ja. Ich verstehe, was du meinst. Aber wie oft ist die Wahrheit doch… na ja, unangenehm. Wenn die Wahrheit eines Menschen für einen anderen, der sie gar nicht zu erfahren braucht, einen bösen Schlag bedeutet, muss man sie dann trotzdem aussprechen?«

»Darum geht es hier nicht.«

»Aber es scheint doch, dass niemand der Polizei wirklich alles sagt, was es zu sagen gibt, meinst du nicht? Wenn sie zuerst zu dir gekommen sind statt zu mir, dann heißt das doch sicherlich, dass die kleine Madlyn ihnen nicht alles erzählt hat.«

»Vielleicht war sie zu sehr gedemütigt, Aldara. Ihren Freund mit ihrer Chefin im Bett zu finden… Das war vielleicht mehr, als sie sich und anderen eingestehen wollte.«

»Vermutlich.« Aldara reichte Daidre ein Kopfkissen mit dem dazugehörigen Bezug hinüber und begann dann, selbst das zweite zu beziehen. »Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Sie wissen alles. Ich selbst habe ihnen von Max erzählt. Das musste ich ja zwangsläufig, nicht wahr? Früher oder später hätten sie seinen Namen ohnehin herausbekommen. Meine Beziehung mit Max war schließlich kein Geheimnis. Also kann ich dir kaum böse sein, wo ich der Polizei nun selbst einen Namen verraten habe, oder?«

»Wusste Max…« Daidre erkannte an Aldaras Miene, dass er in der Tat Bescheid gewusst hatte. »War es Madlyn?«

»Santo«, antwortete Aldara. »Dieser dumme Junge! Er war großartig im Bett. Er hatte so viel Energie! Zwischen den Beinen: himmlisch. Aber zwischen den Ohren…« Aldara zuckte vielsagend die Schultern. »Manche Männer — ganz gleich welchen Alters — benutzen einfach nicht den Verstand, den Gott ihnen gegeben hat.« Sie legte das Kissen aufs Bett und strich die Spitze des Bezugs glatt. Sie nahm Daidre das zweite aus den Händen und tat damit das Gleiche, ehe sie die Decken wie zum Willkommen aufschlug. Auf dem Nachttisch stand eine Votivkerze in einem Kristallständer. Aldara zündete sie an und trat einen Schritt zurück, um den Effekt zu betrachten. »Hübsch«, befand sie. »Richtig einladend, meinst du nicht auch?«

Daidre fühlte sich, als wäre ihr Kopf mit Watte ausgestopft. Diese Situation war so komplett anders, als sie ihrer Meinung nach hätte sein müssen. »Du bedauerst seinen Tod kein bisschen, nicht wahr?«, fragte sie. »Weißt du eigentlich, wie dich das erscheinen lässt?«

»Sei nicht albern! Natürlich bedaure ich seinen Tod. Ich hätte niemals gewollt, dass Santo stirbt. Aber da ich ihn nicht umgebracht habe…«

»Du bist aber wahrscheinlich der Grund dafür, Herrgott noch mal!«

»Das ziehe ich ernsthaft in Zweifel. Max ist viel zu stolz, um einen Rivalen im Teenageralter zu ermorden. Im Übrigen war Santo ja gar kein Rivale — eine schlichte Tatsache, die ich Max nicht plausibel machen konnte. Santo war einfach… Santo.«

»Ein Spielzeug.«

»Das klingt kalt und berechnend, und glaub mir, die Sache zwischen uns war weder das eine noch das andere. Wir haben die Gesellschaft des anderen genossen. Das war auch schon alles, was zwischen uns war, nicht mehr und nicht weniger: Genuss. Erregung. Für beide Seiten, nicht nur für mich. Oh, du weißt das doch alles, Daidre. Du kannst nicht leugnen, dass du Bescheid wusstest. Und du hattest Verständnis. Andernfalls hättest du uns doch nie dein Cottage geliehen.«

»Du hast keinerlei Schuldgefühle.«

Aldara wies auf die Tür, um Daidre zu signalisieren, dass sie das Schlafzimmer verlassen und wieder nach unten gehen sollten. Auf der Treppe drehte sie sich zu ihrer Freundin um: »Schuldgefühle würden implizieren, dass ich irgendetwas mit dieser Situation zu tun hätte, was aber nicht der Fall ist. Wir hatten eine Affäre, Punkt. Wir waren zwei Körper, die sich für ein paar Stunden im Bett vereint haben. Das war alles, und wenn du wirklich denkst, dass der simple Akt des Geschlechtsverkehrs dazu geführt…«

Es klopfte an der Tür. Aldara sah auf die Uhr. Dann zu Daidre. Ihre Miene drückte Resignation aus, und erst später wurde Daidre klar, dass ihr bereits das hätte verraten müssen, was als Nächstes passieren würde. Wie dumm von ihr, dass sie nicht geschaltet hatte.

Aldara öffnete die Tür. Ein Mann trat ein. Er hatte nur Augen für sie und entdeckte Daidre zunächst nicht. Er zog Aldara an sich und küsste sie mit der Intimität eines Liebhabers: ein Willkommenskuss, der sich in etwas Forderndes verwandelte. Aldara unternahm nichts, um ihn vorzeitig zu beenden. Als ihre Lippen sich schließlich voneinander lösten, murmelte sie: »Du riechst nach Meer.«

»Ich war surfen.« Dann erst bemerkte er Daidre. Seine Hände glitten von Aldaras Schultern zu seinen Seiten herab. »Ich wusste nicht, dass du Besuch hast.«

»Daidre wollte gerade gehen«, antwortete Aldara. »Kennst du Dr. Trahair? Daidre, das hier ist Lewis.«

Er kam Daidre vage bekannt vor, doch sie konnte ihn nirgends einordnen und nickte ihm daher nur höflich zu. Sie hatte ihre Handtasche auf dem Sofa liegen lassen und wandte sich zum Wohnzimmer zu, als Aldara hinzufügte: »Angarrack. Lewis Angarrack.«

Das ließ Daidre innehalten. Erst jetzt fiel ihr die Ähnlichkeit auf, denn natürlich hatte sie Madlyn mehr als einmal gesehen, wenn sie früher zur Ciderfarm gekommen war. Daidre sah zu Aldara, deren Miene ungerührt war, doch ihre Augen leuchteten, und zweifellos hämmerte ihr Herz in Erwartung dessen, was kommen würde.

Daidre nickte, trat an Lewis Angarrack vorbei und hinaus ins Freie. Aldara murmelte ihrem Liebhaber etwas zu und folgte Daidre aus dem Haus. »Jetzt verstehst du unser kleines Problem, schätze ich.«

Daidre sah sie aus verengten Augen an. »Allerdings.«

»Erst ihr Freund, dann auch noch ihr Vater. Du verstehst doch sicher, dass sie das niemals erfahren darf. Damit sie nicht noch mehr aus der Bahn gerät. Lewis will es so. Eigentlich schade, findest du nicht?«

»Wohl kaum. Es ist doch auch genau das, was du willst: Geheimnisse. Erregung. Genuss.«

Aldara lächelte — dieses träge, wissende Lächeln, das einen Teil ihrer Anziehungskraft auf Männer ausmachte, wie Daidre wusste. »Was sein muss, muss eben sein.«

»Du hast überhaupt keine Moral, oder?«, fragte Daidre ihre Freundin.

»Ach, meine Liebe. Du etwa?«

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