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England!

England nach so vielen Jahren!

Wie würde es ihm gefallen?

Luke Fitzwilliam stellte sich diese Frage, während er die Planke zum Dock hinunterschritt, und sie ließ ihn nicht mehr los, bis er schließlich im Zug saß.

England während des Urlaubs war etwas anderes. Genug Geld zum Ausgeben (zunächst wenigstens), alte Freunde aufsuchen, Zusammentreffen mit anderen Urlaubern – eine sorgenfreie Zeit, die man genießt, solange sie dauert.

Aber jetzt war nicht mehr die Rede von Zurückgehen. Es würde keine stickig-heißen Nächte mehr geben, keine blendende Sonne und tropisch-üppige Vegetation, keine einsamen Abende, an denen man immer und immer wieder die alten Nummern der Times las.

Da war er nun im ehrenvollen Ruhestand mit einer Pension und einem kleinen Privatvermögen, ein müßiger Gentleman, nach England heimgekehrt. Was würde er mit sich anfangen?

England! England an einem Junitag mit grauem Himmel und einem scharfen, kalten Wind. Da lag nicht viel von Willkommen darin!

Luke Fitzwilliam machte sich an die Lektüre der Zeitungen, die er eben gekauft hatte. Die Times, den Daily Clarion und Punch.

Er begann mit dem Daily Clarion. Der widmete sich ganz dem Rennen in Epsom.

Luke dachte: Schade, dass wir nicht schon gestern eingelaufen sind. Seit Ewigkeiten war ich bei keinem Derby mehr. Er hatte aufs Geratewohl auf ein Pferd gesetzt und schaute nun nach, was der Rennberichterstatter von dessen Chancen hielt. Er fand es in einem Satz verächtlich abgetan. «Von den andern werden sich Jujube II, Santony und Jerry Boy kaum platzieren…»

Luke suchte nach dem Stand der Wetten; für Jujube II waren bescheidene 40:1 geboten.

Er schaute auf die Uhr, drei viertel vier. Schon vorüber. Er bedauerte, nicht auf Clarigold gesetzt zu haben, der zweiter Favorit war.

Dann schlug er die Times auf und war bald in ernstere Dinge vertieft. Eine halbe Stunde später verlangsamte der Zug die Fahrt und blieb schließlich stehen.

Luke sah aus dem Fenster. Sie standen in einer großen, leeren Station mit vielen Bahnsteigen. Er erblickte in einiger Entfernung einen Zeitungsstand mit einem Plakat «Derby Resultat». Luke sprang aus dem Zug und rannte hin. Im nächsten Augenblick starrte er breit grinsend auf ein paar Zeilen unter «Letzte Nachrichten»:

Derby-Resultat

Jujube II

Mazeppa

Clarigold

Luke grinste über das ganze Gesicht. Hundert Pfund zum Verpulvern! Braver, alter Jujube II, der so verächtlich abgetan worden war.

Er faltete, noch immer vor sich hingrinsend, die Zeitung zusammen, wandte sich um und stand einer gähnenden Leere gegenüber. In der Freude über Jujubes Sieg hatte er nicht bemerkt, dass sein Zug aus dem Bahnhof geglitten war.

«Wann, zum Teufel, ist der Zug abgefahren?» fragte er einen düster aussehenden Träger.

Der erwiderte:

«Was für ein Zug? Seit dem Drei-Uhr-Zug hat hier keiner mehr gehalten.»

«Eben war einer hier, ich bin ausgestiegen. Der Boot-Express.» Der Träger erwiderte streng:

«Der Boot-Express hält nirgends bis London.»

«Aber doch», versicherte Luke ihm. «Ich bin schließlich ausgestiegen.»

«Kein Aufenthalt bis London», wiederholte der Träger ungerührt.

«Aber ich versichere Ihnen, ich bin eben hier aus diesem Zug gestiegen!»

Angesichts dieser nicht zu leugnenden Tatsache sagte der Träger vorwurfsvoll: «Das hätten Sie nicht tun dürfen. Er hält hier nicht.»

«Aber er hat doch gehalten.»

«Das war nur auf ein Stopp-Signal. Kein wirklicher Aufenthalt.»

«Mit diesen feinen Unterscheidungen kenne ich mich natürlich nicht aus», sagte Luke. «Was soll ich jetzt denn nur tun?»

«Sie fragen mich, was Sie tun sollen?»

«Ja», sagte Luke. «Ich nehme an, dass es auch Züge gibt, die offiziell hier halten?»

«Sicher», meinte der Träger. «Sie fahren am besten mit dem um 4 Uhr 25 weiter.»

«Wenn der 4 Uhr 25 nach London geht, so ist das mein Zug», beschied Luke und schlenderte, nun beruhigt, den Bahnsteig auf und ab. Auf einer großen Tafel las er, dass er sich in Fenny Clayton Junction for Wychwood under Ashe befand.

Endlich fuhr der Londoner Zug ein. Die dritte Klasse war überfüllt, und von der ersten Klasse gab es nur drei Abteile, keines leer; Luke musterte jedes. Das erste, für Raucher, beherbergte einen Herrn militärischen Aussehens, der eine Zigarre rauchte. Nicht sein Fall; im darauffolgenden Abteil befand sich eine müde aussehende junge Person, dem Anschein nach ein Kinderfräulein, mit einem sehr lebhaften kleinen Jungen von drei Jahren. Luke ging rasch weiter. Die Tür des nächsten Abteils war offen, eine ältliche Dame saß darin. Sie erinnerte Luke ein wenig an eine seiner Tanten. Tante Mildred war entschieden eine gute Tante gewesen. Luke trat ein und setzte sich.

Als der Zug endlich abfuhr, entfaltete er seine Zeitung und begann zu lesen.

Er erwartete nicht, lange ungestört zu bleiben. Da er ein Mann mit vielen Tanten war, hätte er wetten können, dass die sympathische alte Dame in der Ecke nicht beabsichtigte, die Reise nach London schweigend zurückzulegen.

Er hatte recht – ein Fenster, das nicht parieren wollte, ein fallen gelassener Regenschirm, und schon erzählte sie ihm, was für ein guter Zug dies war.

«Nur eine Stunde und zehn Minuten. Das ist wirklich sehr gut, wissen Sie. Viel besser als der Frühzug, der braucht eine Stunde und vierzig Minuten.»

Sie fuhr fort:

«Natürlich fährt jeder mit dem Frühzug. Ich wollte auch heute früh fahren, aber Wonky Pooh war plötzlich verschwunden – das ist mein Kater, ein wundervoller Angora, nur hat er in letzter Zeit ein wehes Ohr gehabt –, und natürlich konnte ich nicht von zu Hause fort, ehe er gefunden war!»

Luke murmelte:

«Natürlich nicht», und senkte die Augen ostentativ auf seine Zeitung. Doch das nützte nichts.

«Also machte ich aus der Not eine Tugend und nahm den Nachmittagszug, und irgendwie ist er ja auch viel angenehmer, weil er meistens nicht so voll ist. Vor allem wenn man Erster fährt. Das leiste ich mir ja gewöhnlich nicht, ich würde das als Verschwendung betrachten, bei den Steuern und wo alles so teuer ist, aber ich war so aufgeregt – denn wissen Sie, ich fahre in einer so wichtigen Angelegenheit nach London, und ich wollte mir genau überlegen, was ich sagen würde – in aller Ruhe, wissen Sie –.» Luke unterdrückte ein Lächeln. «Und wenn man Bekannte auf der Reise trifft, da kann man doch nicht unfreundlich sein – also dachte ich, leiste ich mir mal was!

Natürlich», fuhr sie mit einem raschen Blick auf Lukes gebräuntes Gesicht fort, «Offiziere auf Urlaub müssen Erster fahren, das weiß ich.»

Luke strich vor dem neugierigen Blick aus einem lebhaften Augenpaar sofort die Segel. Es wäre doch nur eine Frage der Zeit, das wusste er.

«Ich bin nicht Soldat», sagte er.

«Oh, verzeihen Sie – ich dachte nur – Sie sind so braun – ich dachte, Sie kommen auf Urlaub aus den Kolonien.»

«Ich komme aus den Kolonien», bestätigte Luke. «Aber nicht auf Urlaub.» Und um weiteren Fragen zuvorzukommen, sagte er: «Ich bin bei der Polizei.»

«Bei der Polizei! Ach, das ist wirklich sehr interessant. Ein merkwürdiges Zusammentreffen, dass Sie gerade in diesem Abteil fahren. Denn wissen Sie, die Angelegenheit, wegen der ich nach London fahre… ich will zu Scotland Yard.»

«Wirklich?» sagte Luke.

Irgendwie amüsierte er sich. Er hatte Tante Mildred sehr gern gehabt und erinnerte sich, wie sie einmal zur rechten Zeit mit einem Fünfer ausgeholfen hatte. Er empfand auch so etwas Anheimelndes in der Nähe von alten Damen wie dieser hier und seiner Tante Mildred. Sie gehörten zu den Dingen, die man sehr hoch schätzte, wenn man sie nicht hatte und sich auf der anderen Seite des Globus befand. (Und die einen sehr langweilten, wenn man sie in stärkerem Maße genoss, jedoch er war, wie gesagt, erst seit ein paar Stunden wieder in England.)

Die alte Dame fuhr zufrieden fort:

«Ja, ich wollte heute früh fahren – und dann kam, wie gesagt, meine Sorge um Wonky Pooh dazwischen. Aber Sie glauben nicht, dass es zu spät sein wird, wie? Ich meine, in Scotland Yard gibt es doch keine festgelegten Dienststunden?»

«Ich glaube nicht, dass sie um vier Uhr schließen», beruhigte Luke sie.

«Nein, natürlich nicht, das können sie ja auch gar nicht. Ich meine, es könnte doch jeden Augenblick ein schweres Verbrechen angezeigt werden, nicht wahr?»

«Ganz richtig», nickte Luke.

«Ich denke immer, es ist am besten, gleich an die richtige Stelle zu gehen», sagte sie endlich. «John Reed – das ist unser Polizist in Wychwood – ist ja ein ganz netter Mensch, sehr artig und freundlich, aber ich habe das Gefühl, er wäre doch nicht der Richtige, wenn es sich um etwas wirklich Ernsthaftes handelt. Er ist gewöhnt, mit Leuten fertig zu werden, die zuviel getrunken haben oder die die Geschwindigkeitsgrenze überschreiten, oder vielleicht auch mit Einbrechern. Aber ich glaube nicht – ich bin ganz sicher –, dass er der Richtige wäre für Mord!»

Luke hob die Augenbrauen.

«Mord?»

Die alte Dame nickte heftig.

«Ja, Mord. Ich sehe, Sie sind erstaunt. Anfangs war ich es auch… Ich konnte es wirklich nicht glauben. Ich dachte, ich bilde es mir nur ein.»

«Sind Sie sicher, dass das nicht der Fall ist?» fragte Luke sanft.

«O ja.» Sie nickte entschieden mit dem Kopf. «Das wäre das erste Mal möglich gewesen, aber nicht beim zweiten, dritten oder vierten Mal. Da weiß man es.»

Luke sagte:

«Sie meinen, dass es – hm – mehrere Morde gab?»

Die ruhige, sanfte Stimme erwiderte:

«Ziemlich viele, fürchte ich.»

Sie fuhr fort:

«Deshalb dachte ich, es ist am besten, ich gehe direkt zu Scotland Yard und erzähle es dort. Glauben Sie nicht auch, es ist das beste?»

Luke schaute sie nachdenklich an, dann sagte er:

«Nun ja – ich denke, Sie haben ganz recht.»

Bei sich dachte er: Sie werden schon mit ihr fertig werden. Wahrscheinlich kommt jede Woche ein halbes Dutzend alter Damen hin, die von Morden erzählen, die in ihren friedlichen, ruhigen Landstädtchen begangen werden! Vielleicht gibt es sogar eine spezielle Abteilung dafür.

Er wurde in diesen Grübeleien durch die sanfte Stimme unterbrochen:

«Ich erinnere mich, einmal über den Fall Abercrombie gelesen zu haben – wissen Sie, der so viele Leute vergiftet hatte, bevor ein Verdacht laut wurde –, dass der Mann einen Blick hatte, einen besonderen Blick, mit dem er jemanden ansah – und kurz darauf wurde der Betreffende dann krank. Damals glaubte ich das nicht – aber es ist wahr!»

«Was ist wahr?»

«Der Blick eines Menschen…»

Luke starrte sie an. Sie zitterte ein wenig, und ihre rosigen Wangen hatten alle Farbe verloren.

«Ich sah ihn zuerst auf Amy Gibbs geheftet – und sie starb. Dann war es Carter. Und Tommy Pierce. Und jetzt – gestern – war es Dr. Humbleby – und der ist so ein guter Mensch, ein wirklich guter Mensch! Carter freilich, der trank, und Tommy Pierce war ein überaus frecher Junge, der die Kleineren quälte und puffte. Über die beiden regte ich mich nicht so auf, aber Dr. Humbleby ist etwas anderes, der muss gerettet werden. Das Schreckliche ist nur, dass, wenn ich zu ihm ginge und es ihm sagte, er mir nicht glauben und nur lachen würde! Und John Reed würde mir auch nicht glauben. Aber bei Scotland Yard wird das anders sein; dort sind sie natürlich an Verbrechen gewöhnt!»

Sie warf einen Blick aus dem Fenster.

«Oh, wir sind ja gleich dal» Sie geriet in Bewegung, öffnete und schloss ihre Tasche, suchte ihren Regenschirm. «Danke – danke vielmals.» Dies galt Luke, der den Regenschirm zum zweiten Mal aufhob. «Es war mir so eine Erleichterung, mit Ihnen reden zu können – Sie waren so freundlich – ich bin froh, dass Sie auch finden, dass ich das Richtige tue.»

Luke sagte freundlich:

«Ich bin sicher, man wird Ihnen bei Scotland Yard einen guten Rat geben.»

«Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar.» Sie suchte ihre Tasche. «Meine Karte – o weh, ich habe nur eine – die muss ich für Scotland Yard aufheben – »

«Natürlich, natürlich.»

«Mein Name ist Pinkerton.»

«Ein sehr passender Name, Miss Pinkerton», meinte Luke lächelnd und fügte, als er ihr verdutztes Gesicht sah, rasch hinzu:

«Mein Name ist Luke Fitzwilliam.»

Als der Zug einfuhr, fragte er:

«Kann ich Ihnen ein Taxi besorgen?»

«Oh, nein, danke.» Miss Pinkerton schien ganz entsetzt zu sein bei dem Gedanken. «Ich fahre mit der Untergrundbahn bis Trafalgar Square und gehe dann Whitehall hinunter.»

«Nun, viel Glück», wünschte Luke.

Miss Pinkerton schüttelte ihm herzlich die Hand.

«So freundlich», murmelte sie nochmals. «Wissen Sie, anfangs dachte ich, Sie glauben mir nicht.»

Luke errötete ein wenig beschämt.

«Nun», sagte er, «so viele Morde! Ein bisschen schwer, so viele Morde zu begehen und nicht erwischt zu werden, nicht?»

Miss Pinkerton schüttelte den Kopf.

Sie sagte ernst:

«Nein, nein, mein Lieber, da irren Sie sich. Es ist sehr leicht zu morden – solange niemand einen Verdacht gegen Sie hegt. Und sehen Sie, der Mensch, um den es sich handelt, ist der allerletzte, auf den ein Verdacht fiele!»

«Nun, jedenfalls viel Glück», wiederholte Luke.

Miss Pinkerton verschwand in der Menge. Luke ging sein Gepäck holen und dachte bei sich:

Ein klein wenig übergeschnappt? Nein, das glaube ich nicht. Eine lebhafte Einbildungskraft, das ist alles. Hoffentlich sind sie nett zu ihr! Eigentlich eine liebe alte Dame.

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