Dr. Thomas lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und fuhr mit der langen, schlanken Hand über sein dichtes, blondes Haar. Er war ein Mann von jungenhaftem Aussehen, obwohl er bereits über dreißig war. Doch obwohl er noch so unreif aussah, entsprach seine Diagnose, die er eben über Lukes rheumatisches Knie geäußert hatte, ziemlich genau der, die ein hervorragender Spezialist erst letzte Woche gestellt hatte.
«Danke», sagte Luke. «Nun bin ich jedenfalls froh, dass Sie meinen, elektrische Behandlung werde die Sache wieder in Ordnung bringen. Ich möchte in meinem Alter nicht schon zum Krüppel werden.»
Dr. Thomas lächelte spitzbübisch.
«Ach, da besteht keine Gefahr, Mr Fitzwilliam.»
«Ich bin wirklich sehr froh. Ich wollte nämlich schon zu irgendeinem Spezialisten gehen – aber jetzt bin ich sicher, dass es nicht mehr nötig ist.»
Dr. Thomas lächelte wieder.
«Gehen Sie nur, wenn es Sie beruhigt. Schließlich ist es immer gut, die Meinung eines Spezialisten einzuholen.»
Luke sagte rasch:
«Man bekommt es so leicht mit der Angst zu tun; Sie werden das wohl auch erfahren haben, wie? Ich denke oft, ein Arzt muss sich als ‹Medizinmann› fühlen – als eine Art Zauberer für die meisten seiner Patienten.»
«Der Glaube an den Arzt ist natürlich sehr wichtig.»
«Ich weiß; ‹der Doktor› sagt es ist eine Bemerkung, die beinahe mit Ehrfurcht ausgesprochen wird.»
Dr. Thomas hob die Schultern.
«Wenn die Patienten wüssten –!» murmelte er grinsend. Dann sagte er:
«Sie schreiben ein Buch über Magie, nicht wahr, Mr Fitzwilliam?»
«Ja, woher wissen Sie das?» fragte Luke mit vielleicht etwas übertriebener Überraschung.
Dr. Thomas lachte:
«Oh, in einem Ort wie diesem machen Neuigkeiten sehr rasch die Runde. Wir haben so wenig Gesprächsstoff.»
«Es wird wahrscheinlich auch übertrieben. Sie werden nächstens hören, dass ich Geister beschwöre und mit der Hexe von Endor wetteifere.»
«Komisch, dass Sie das sagen!»
«Warum?»
«Nun, es geht das Gerücht, dass Sie den Geist von Tommy Pierce beschworen hätten.»
«Pierce? Pierce? Der kleine Junge, der aus dem Fenster fiel?»
«Ja.»
«Jetzt möchte ich wissen – natürlich – ich machte eine Bemerkung zu dem Rechtsanwalt – wie heißt er noch gleich? Abbot.»
«Ja, die Geschichte stammt von Abbot.»
«Erzählen Sie mir bloß nicht, dass ich einen knochentrockenen Rechtsanwalt zum Gespensterglauben bekehrt habe!»
«Glauben Sie denn selbst an Gespenster?»
«Ihr Ton lässt ahnen, dass Sie jedenfalls nicht dran glauben, Doktor. Nein, ich möchte nicht sagen, dass ich tatsächlich ‹an Gespenster glaube› – um es geradeheraus zu sagen. Aber mir sind merkwürdige Erscheinungen im Zusammenhang mit plötzlichen oder gewaltsamen Todesfällen untergekommen. Allerdings interessiere ich mich mehr für die verschiedenen Formen des Aberglaubens, die in Verbindung mit gewaltsamen Todesfällen existieren – dass ein Ermordeter zum Beispiel keine Ruhe findet, und der interessante Glaube, dass das Blut eines Ermordeten wieder zu fließen beginnt, wenn ihn sein Mörder berührt; möchte wissen, wie dergleichen entstanden ist.»
«Sehr merkwürdig», bestätigte Thomas. «Aber ich glaube nicht, dass viele Leute sich heutzutage noch dessen entsinnen.»
«Mehr als Sie denken würden. Natürlich, hier haben Sie vermutlich nicht viele Morde – also ist es schwer zu beurteilen.»
«Nein, ich glaube nicht, dass wir einen Mord gehabt haben seit – oh, sehr vielen Jahren – bestimmt nicht während meiner Zeit.»
«Nein, hier ist ein friedlicher Ort; nicht geeignet für dunkle Taten. Außer jemand hat den kleinen Tommy aus dem Fenster gestoßen.»
Luke lachte. Dr. Thomas stimmte in sein Lachen ein. «Eine Menge Leute hätten ihm am liebsten den Kragen umgedreht», sagte er. «Aber ich glaube nicht, dass sie tatsächlich so weit gingen, ihn aus dem Fenster zu werfen.»
«Er scheint ein durch und durch unangenehmes Kind gewesen zu sein – seine Beseitigung hätte als öffentliche Pflicht betrachtet werden können!»
«Es ist schade, dass man diese Theorie nicht öfter anwenden kann.»
«Meine Ansicht war immer, dass einige Morde der Allgemeinheit nur nützen würden», sagte Luke. «Ich habe nicht die Achtung vor dem menschlichen Leben, die der normale Engländer hat. Jeder, der ein Hindernis ist auf dem Weg des Fortschritts, sollte beseitigt werden – so sehe ich das an!»
Sich mit der Hand durch das dichte, blonde Haar fahrend, meinte Dr. Thomas nachdenklich:
«Ja, aber wer soll das beurteilen, ob ein Mensch etwas taugt oder nicht?»
«Das ist natürlich die Schwierigkeit», gab Luke zu.
«Man müsste einen wirklich gebildeten Menschen als Richter einsetzen», meinte Luke. «Jemanden mit unbefangenem, doch hoch entwickeltem Geist – einen Arzt zum Beispiel. Wenn ich es mir so überlege, wären Sie selbst eigentlich recht gut geeignet für diese Rolle, Doktor.»
«Über die Untauglichkeit zum Leben zu entscheiden?»
«Ja.»
Dr. Thomas schüttelte den Kopf.
«Meine Aufgabe ist es, die Untauglichen tauglich zu machen. Das ist ja meistens sehr mühsam, gebe ich zu.»
«Also, um ein Beispiel anzuführen», sagte Luke. «Nehmen wir einen Mann wie den verstorbenen Harry Carter – »
Dr. Thomas unterbrach ihn scharf:
«Carter? Meinen Sie den Wirt von den ‹Sieben Sternen›?»
«Ja, das ist der Mann. Ich selbst habe ihn nicht gekannt, aber meine Cousine, Miss Conway, erzählte mir von ihm; der scheint ja ein ziemlich übles Subjekt gewesen zu sein.»
«Nun», sagte der Doktor, «getrunken hat er freilich. Hat seine Frau schlecht behandelt, seine Tochter tyrannisiert. Er war streitsüchtig und grob und hatte mit den meisten Leuten im Ort schon Krach gehabt.»
«Tatsächlich ist die Welt ohne ihn nun angenehmer?»
«Das könnte man sagen, ja.»
«Wenn ihm also jemand einen Stoß versetzt und ihn in den Fluss geworfen hätte, statt dass er so freundlich war, freiwillig hineinzufallen, so hätte diese Person tatsächlich im öffentlichen Interesse gehandelt?»
Dr. Thomas sagte trocken:
«Diese Methoden, die Sie befürworten – haben Sie die im Orient auch in die Praxis umgesetzt?»
Luke lachte.
«O nein, bei mir ist es nur Theorie – nicht Praxis.»
«Nein, ich glaube auch nicht, dass Sie aus dem Stoff eines Mörders sind.»
«Sagen Sie mir – es interessiert mich –, sind Sie je einem Menschen begegnet, von dem Sie glaubten, er könnte ein Mörder sein?»
Dr. Thomas sagte scharf:
«Das ist wirklich eine merkwürdige Frage!»
«Ja? Schließlich kommen einem Doktor so viele sonderbare Charaktere unter. Er könnte zum Beispiel die Anzeichen von Mordwahn schon in einem frühen Stadium entdecken, ehe sie allgemein bemerkbar sind.»
Thomas sagte etwas gereizt:
«Sie haben die verbreitete Laienvorstellung von einem mörderischen Wahnsinnigen als einem Mann, der mit einem Messer herumläuft, mehr oder weniger mit Schaum vor dem Mund! Lassen Sie sich sagen, dass ein vom Mordwahn Besessener am allerschwersten zu erkennen ist. Er kann genau wie alle anderen Leute sein – vielleicht ein Mensch, der leicht erschrickt, der Ihnen erzählt, dass er Feinde hat, mehr nicht. Ein ruhiger, harmloser Mensch.»
«Ist das wirklich so?»
«Natürlich ist das so. Ein Wahnsinniger mordet oft (wie er glaubt) in Selbstverteidigung. Im übrigen sind die meisten Mörder gewöhnliche, geistig gesunde Leute wie Sie und ich.»
«Doktor, Sie erschrecken mich! Stellen Sie sich vor, wenn Sie später entdecken würden, dass ich fünf oder sechs nette kleine Morde auf dem Gewissen habe!»
Dr. Thomas lächelte.
«Ich halte das nicht für sehr wahrscheinlich, Mr Fitzwilliam.»
«Nicht? Nun, ich kann Ihnen das Kompliment zurückgeben.»
«Da vergessen Sie meine ärztlichen Kunstfehler.»
Beide Männer lachten.
Luke stand auf und verabschiedete sich.
«Ich fürchte, ich habe Ihre Zeit über Gebühr in Anspruch genommen», sagte er entschuldigend.
«Ach, ich habe nicht viel zu tun, Wychwood ist ein recht gesunder Ort. Es ist ein Vergnügen, mal mit jemandem von außerhalb zu reden.»
«Ich dachte mir eben – », begann Luke und hielt inne. «Ja?»
«Miss Conway sagte mir, als sie mich zu Ihnen schickte, was für ein – nun – was für ein ausgezeichneter Arzt Sie seien. Und da fragte ich mich, ob Sie sich hier nicht ein wenig begraben fühlten? Hier ist nicht viel Gelegenheit, ein wenig Talent zu zeigen.»
«Oh, die allgemeine Praxis ist ein guter Anfang; sie bringt einem wertvolle Erfahrungen.»
«Aber Sie werden wohl nicht damit zufrieden sein, Ihr ganzes Leben in dem einen Geleise zu bleiben. Ihr verstorbener Kompagnon, Dr. Humbleby, war nicht besonders ehrgeizig, wie ich hörte – war mit seiner Praxis hier ganz zufrieden. Er war doch viele Jahre hier, nicht?»
«Praktisch sein Leben lang.»
«Er war tüchtig, aber altmodisch, sagte man mir.»
«Zuzeiten war er schwierig… Sehr misstrauisch gegen jede Neuerung, aber ein würdiger Vertreter der alten Ärzteschule.»
«Soll eine sehr hübsche Tochter hinterlassen haben», sagte Luke in scherzhafter Weise.
Er hatte das Vergnügen, das rosige Antlitz von Dr. Thomas jäh mit einer tiefen Röte übergossen zu sehen.
«Oh – äh – ja», stotterte er.
Luke schaute ihn freundlich an; es freute ihn, Dr. Thomas von der Liste der Verdächtigten streichen zu können. Dieser erlangte seine normale Farbe wieder und sagte rasch: «Da wir eben von Verbrechen sprachen – ich kann Ihnen da ein gutes Buch leihen, da Sie sich für das Thema interessieren, eine Übersetzung aus dem Deutschen, Kreuzhammers ‹Minderwertigkeit und Verbrechen›.»
«Vielen Dank», sagte Luke.
Dr. Thomas zog das Buch aus einem Fach.
«Einige der Theorien sind ja etwas erstaunlich – und natürlich nur Theorien, aber wirklich interessant. Die Jugend von Menzheld zum Beispiel, dem Schlächter von Frankfurt, wie er genannt wurde, und das Kapitel über Anna Helm, Kindermädchen und Mörderin, sind außerordentlich interessant.»
«Sie brachte ungefähr ein Dutzend ihrer Pflegebefohlenen um, ehe man ihr draufkam, glaube ich», sagte Luke. Dr. Thomas nickte.
«Ja. Sie war eine höchst sympathische Persönlichkeit – Kindern äußerst zugetan, und scheinbar aufrichtig verzweifelt über jeden Todesfall. Die Psyche des Menschen ist etwas Faszinierendes.»
«Es ist erstaunlich, dass diese Leute so lange nicht erwischt wurden», sagte Luke.
Er stand bereits vor der Tür; Dr. Thomas hatte ihn hinausbegleitet.
«Nicht wirklich erstaunlich», meinte Dr. Thomas. «Es ist ganz leicht, wissen Sie.»
«Was ist leicht?»
«Nicht erwischt zu werden.» Er lächelte wieder – ein reizendes, jungenhaftes Lächeln. «Wenn man achtgibt. Man muss nur achtgeben – das ist alles! Aber ein kluger Mann gibt eben außerordentlich acht, keinen Fehler zu machen. Das ist die ganze Kunst.»
Er lächelte wieder und ging ins Haus.
Luke stand da und starrte ihm nach.
Es war etwas Herablassendes in dem Lächeln des Doktors gewesen. Während ihrer ganzen Unterhaltung war Luke sich seiner selbst als eines reifen Mannes bewusst gewesen und hatte Dr. Thomas als einen jugendlichen, offenen Menschen betrachtet.
Nun empfand er einen Augenblick lang die Rollen als vertauscht; das Lächeln des Doktors war das eines Erwachsenen gewesen, der sich über die Klugheit eines Kindes amüsiert.