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Luke hatte in dem kleinen Laden an der Hauptstraße die neueste Nummer des Wochenblattes Good Cheer gekauft, dem Lord Whitfield einen großen Teil seines beachtlichen Einkommens verdankte. Luke hatte nach einem Blick auf die Footballergebnisse stöhnend mitgeteilt, dass ihm ein Gewinn von hundertzwanzig Pfund entgangen sei! Mrs Pierce war sofort voll lebhaften Mitgefühls und erzählte von ähnlichen Enttäuschungen, die ihrem Mann widerfahren waren.

«Mein Mann interessiert sich sehr für Football. Schlägt immer zuerst diese Seite auf. Und hat, wie gesagt, viele Enttäuschungen erlebt; aber jeder kann nicht gewinnen, sag ich, und, sag ich, gegen Pech kann man nicht an.»

Luke stimmte ihr in allem aus ganzem Herzen zu und meinte dann philosophisch, dass eine Sorge nie allein komme.

«Nein, wirklich nicht, Sir, das weiß ich wohl», seufzte Mrs Pierce. «Wenn eine Frau einen Mann und acht Kinder hat – sechs lebende und zwei begraben, heißt das –, dann weiß sie, was Sorgen sind, das kann man wohl sagen.»

«Zweifellos», sagte Luke. «Sie haben zwei verloren, sagen Sie?»

«Eins erst vor einem Monat.»

«Ach, wie traurig!»

«Es war nicht nur traurig, Sir, es war ein großer Schrecken – das war es wohl! Mir ist ganz schlecht geworden, als man es mir beibrachte, da ich nie erwartet hätte, dass Tommy etwas Derartiges passieren könnte, denn wenn ein Junge einem Sorgen macht, denkt man nicht daran, dass er einem entrissen werden könnte. Also, meine Emma Jane, die war ein süßes kleines Ding: ‹Die bringen Sie nicht durch›, sagten mir die Leute, ‹die ist zu gut für diese Welt!› Und so war es auch, Sir. Der Herr erkennt die Seinen.»

Luke nickte ernst und versuchte, von der engelhaften Emma Jane wieder zu dem weniger engelhaften Tommy zurückzukehren.

«Ihr Junge ist erst kürzlich gestorben?» fragte er. «Ein Unglücksfall?»

«Ja, es war ein Unglücksfall, Sir. Beim Fensterputzen in der Bibliothek muss er das Gleichgewicht verloren haben und ist heruntergefallen – von den oberen Fenstern war es.» Mrs Pierce ließ sich nun lang und breit über die Einzelheiten des Unfalls aus.

«War da nicht irgendeine Geschichte», fragte Luke wie nebenbei, «dass man ihn auf dem Fenstersims hatte tanzen sehen?»

«Jungen sind nun mal so – aber zweifellos bekam der Major einen Schrecken, besonders da er ein etwas nervöser Gentleman ist.»

«Major Horton?»

«Ja, der Gentleman mit den Bulldoggen. Nachdem das Unglück passiert war, erwähnte er zufällig, dass er unseren Tommy unbesonnen hatte handeln sehen – und natürlich zeigt es, dass, wenn ihn etwas erschreckt hätte, er leicht fallen konnte. Übermut, Sir, das war’s, was Tommy plagte! Eine schwere Prüfung war er auf manche Weise für mich», schloss sie, «aber es war nur Übermut – nichts als Übermut –, wie jeder Junge ihn haben mag. Er war nicht böse, kann man ruhig sagen.»

«Nein – nein – sicher nicht, aber wissen Sie, Mrs Pierce, manchmal ist es Leuten – nüchternen, ältlichen Leuten – schwer, sich zu erinnern, dass sie auch einmal jung gewesen sind.»

Mrs Pierce seufzte.

«Sehr wahr sind diese Worte, Sir. Ich kann nicht umhin, zu hoffen, dass gewisse Gentlemen, die ich nennen könnte, aber es nicht will, sich die Art zu Herzen genommen haben, wie sie gegen den Jungen hart waren – nur wegen seines Übermutes.»

«Hat seinen Arbeitgebern ein paar Possen gespielt, was?» Mrs Pierce ging sogleich darauf ein.

«Es waren nur Dummheiten, Sir, das war alles. Tommy konnte Leute so gut nachmachen! Wir hielten uns die Seiten vor Lachen, wenn er geziert herumspazierte und tat, als sei er Mr Ellsworthy vom Antiquitätenladen – oder der alte Mr Nobbs, der Kirchenvorsteher, und er machte gerade oben im Herrenhaus Seine Lordschaft nach, und die zwei Untergärtner lachten, als Seine Lordschaft dazu kam – keiner hatte ihn kommen hören – und Tommy auf der Stelle entließ – natürlich war das zu erwarten und ganz recht, und Seine Lordschaft trug ihm später nichts nach, sondern verhalf Tommy zu einer anderen Stelle.»

«Aber andere Leute waren nicht so großmütig, wie?»

«Das waren sie nicht. Ich nenne keine Namen. Aber man würde es nie von Mr Abbot glauben, der immer so nett war und immer ein freundliches Wort oder einen Spaß parat hatte.»

«Tommy hatte Ärger mit ihm?»

«Der Junge hat doch sicher nichts Böses gewollt… Und schließlich, wenn Papiere privat sind und nicht gesehen werden sollen, darf man sie nicht offen auf einen Tisch legen – das sage ich.»

«Freilich», sagte Luke. «Private Papiere in einer Rechtsanwaltskanzlei gehören in einen verschlossenen Schrank.»

«Ganz recht, Sir. Das finden wir beide, mein Mann und ich, auch. Und dabei hat Tommy gar nicht viel davon gelesen!»

«Was war es – ein Testament?» fragte Luke.

«O nein, Sir, nichts dergleichen, gar nichts Wichtiges! Es war nur ein Privatbrief – von einer Dame –, und Tommy sah nicht einmal, wer die Dame war. Soviel Lärm um nichts, sage ich!»

«Mr Abbot muss ein Mensch sein, der sehr leicht beleidigt ist», mutmaßte Luke.

«Das scheint so, nicht, Sir? Obwohl, wie gesagt, er so ein freundlicher Gentleman sein kann – immer mit einem Spaß oder einem frohen Wort auf den Lippen. Aber wahr ist’s, ich habe gehört, dass er schwierig sein kann, wenn man sich gegen ihn stellt, und er und Dr. Humbleby waren erbitterte Feinde, gerade bevor der arme Doktor starb. Das mag nachher kein angenehmer Gedanke für Mr Abbot gewesen sein; denn wenn einmal der Tod kommt, denkt man nicht mehr gern an die harten Worte, die gesprochen wurden und die man nicht mehr zurücknehmen kann.»

Luke nickte ernst und murmelte:

«Sehr wahr – sehr wahr!»

Er fuhr fort:

«Komischer Zufall – das! Scharfe Worte gegen Dr. Humbleby, und Dr. Humbleby stirbt – harte Behandlung Ihres Tommy, und der Junge stirbt! Man sollte denken, dass eine solche doppelte Erfahrung Mr Abbot für die Zukunft etwas vorsichtiger im Gebrauch seiner Zunge machen würde.»

«Zwischen Harry Carter von den ‹Sieben Sternen› und Mr Abbot gab es auch sehr böse Worte eine Woche vor Carters Tod; aber dafür konnte er nichts. Das Schimpfen ging alles von Carter aus, er war damals betrunken, zog vor Mr Abbots Haus und schrie, so laut er konnte, die wüstesten Sachen hinauf. Die arme Mrs Carter hatte viel durchzustehen, und soweit es sie betraf, muss man gestehen, dass Carters Tod eine Erlösung bedeutete.»

«Er hat auch eine Tochter hinterlassen, nicht wahr?»

«Ah», sagte Mrs Pierce. «Ich bin keine, die schwätzt.»

Das war unerwartet, aber vielversprechend; Luke spitzte die Ohren und wartete.

«Ich sage nicht, dass es etwas anderes als Gerede war. Lucy Carter ist ein fesches Frauenzimmer in ihrer Art, und wäre nicht der Standesunterschied gewesen, hätte man wohl keine Bemerkung darüber gemacht. Aber dass es Gerede gegeben hat, kann man nicht leugnen – besonders seit Carter zu seinem Haus gegangen ist und gebrüllt hat.»

Luke zog seine Schlüsse aus dieser etwas verworrenen Rede. «Mr Abbott sieht aus, als ob er ein hübsches Mädel zu würdigen wüsste», sagte er.

«Das ist oft der Fall bei den Gentlemen», sagte Mrs Pierce. «Sie meinen gar nichts weiter – wechseln nur ein paar Worte im Vorübergehen, aber was die Herrschaften tun, das wird eben beredet. Das ist in so einem stillen Ort nicht anders zu erwarten.»

«Es ist ein sehr hübscher Ort», sagte Luke. «So unverdorben.» Luke zahlte für seine Zigaretten und die Zeitschrift, dann ging er langsam die Straße entlang.

«Also», sagte er zu sich, «Abbot. Was spricht gegen Abbot? Zu drei Opfern bestand eine Verbindung. Er hatte Krach mit Humbleby. Krach mit Carter und Krach mit Tommy Pierce – und alle drei sind tot. Wie ist es mit Amy Gibbs? Was war das für ein Privatbrief, den der verdammte Junge sah? Wusste er, von wem er war? Oder wusste er es nicht? Er mag es seiner Mutter nicht gesagt haben, aber gesetzt den Fall, er wusste es, und Abbot hat es für notwendig gehalten, ihm den Mund zu verschließen? Es könnte sein! Das ist alles, was man dazu sagen kann. Es könnte sein! Genügt nicht!»

Luke beschleunigte seinen Schritt und sah mit jäher Erbitterung um sich.

«Dieses verfluchte Dorf – es fällt mir auf die Nerven! So lächelnd und friedlich – so unschuldig –, und dabei sind diese verrückten Mordtaten hier geschehen! Oder bin ich der Verrückte? War Lavinia Pinkerton verrückt? Schließlich könnte das Ganze ja Zufall sein – ja, Humblebys Tod und alles…»

Er schaute die ganze Länge der Hauptstraße hinunter – und wurde von einem starken Gefühl der Unwirklichkeit ergriffen.

Er sagte sich:

«Solche Sachen geschehen nicht…»

Dann hob er seine Augen zu dem langen, finsteren Rücken des Ashe Ridge – und augenblicklich schwand dieses Gefühl. Der Ashe Ridge war wirklich – er kannte seltsame Dinge, Hexerei und Grausamkeit, vergessene blutige Riten und schlimmere Bräuche.

Er fuhr auf. Zwei Gestalten gingen am Berg entlang. Er erkannte sie sofort – Bridget und Ellsworthy. Der junge Mann gestikulierte mit seinen seltsamen, unangenehmen Händen, sein Kopf neigte sich Bridget entgegen. Sie wirkten wie zwei Gestalten aus einem Traum, man glaubte, dass ihre Füße lautlos von Busch zu Busch sprangen. Er sah Bridgets schwarzes Haar im Wind flattern. Wieder fesselte ihn ihr seltsamer Zauber.

«Verhext, das ist’s, was ich bin, verhext», sagte er zu sich selbst.

Er blieb still stehen – ein seltsam betäubendes Gefühl bemächtigte sich seiner.

Er dachte traurig:

Wer soll den Zauber brechen? Es gibt niemanden.

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