23

Luke war angenehm überrascht von der Erscheinung Superintendent Battles. Er war ein starker, behaglich aussehender Mann mit breitem, rotem Gesicht und einem großen, schönen Schnurrbart. Auf den ersten Blick blitzte einem nicht gerade ein glänzender Geist entgegen, aber bei näherem Hinsehen entdeckte man, dass seine Augen außergewöhnlich klug in die Welt blickten.

Luke beging nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen. Er hatte Männer dieser Art schon öfter getroffen und wusste, dass man ihnen vertrauen konnte und dass sie immer Erfolg hatten. Er hätte sich keinen Besseren für diesen Fall wünschen können.

Als sie allein waren, sagte Luke:

«Da hat man mit Ihnen aber ein großes Tier geschickt!»

Superintendent Battle lächelte.

«Es kann sich ja auch um eine große Sache handeln, Mr Fitzwilliam. Wenn es vielleicht um einen Mann wie Lord Whitfield geht, dürfen wir keinen Fehler machen.»

«Das verstehe ich. Sind Sie allein?»

«O nein. Ich habe einen Sergeant mit. Er ist im anderen Wirtshaus, und seine Aufgabe ist es, ein Auge auf Seine Lordschaft zu haben.»

«Ich verstehe.»

Battle fragte:

«Ihrer Meinung nach, Mr Fitzwilliam, gibt es keinen Zweifel? Sie sind sich Ihrer Sache sicher?»

«Nach den Tatsachen sehe ich keine Möglichkeit einer anderen Annahme. Soll ich Ihnen die Tatsachen mitteilen?»

«Danke, ich habe sie schon von Sir William erfahren.»

«Nun, und was denken Sie? Ich vermute, dass es Ihnen als ganz unwahrscheinlich erscheint, dass ein Mann wie Lord Whitfield ein Mörder sein soll?»

«Sehr wenige Dinge kommen mir unwahrscheinlich vor», erwiderte Superintendent Battle. «Was Verbrechen betrifft, ist nichts unmöglich; das habe ich immer gesagt. Wenn Sie mir sagen würden, dass eine liebe alte, unverheiratete Dame oder ein Erzbischof oder ein Schulmädchen ein gefährlicher Verbrecher ist, würde ich nicht widersprechen, sondern den Fall untersuchen.»

«Wenn Sie die Haupttatsachen von Sir William gehört haben, will ich Ihnen nur noch erzählen, was sich heute früh ereignet hat», sagte Luke.

Er schilderte kurz die Szene mit Lord Whitfield. Superintendent Battle hörte aufmerksam zu.

«Sie sagen, er betastete ein Messer. Drohte er damit?»

«Nicht offen. Er probierte die Schneide in etwas unangenehmer Weise – mit einer Art von ästhetischem Vergnügen, das mir nicht gefiel. Miss Waynflete hatte dieselbe Empfindung, glaube ich.»

«Das ist die Dame, von der Sie sprachen – die Lord Whitfield ihr Leben lang kannte und einmal mit ihm verlobt war?»

«Ganz richtig.»

Superintendent Battle sagte:

«Ich glaube, Sie können im Hinblick auf die junge Dame ganz beruhigt sein, Mr Fitzwilliam. Ich werde jemanden beauftragen, scharf über sie zu wachen.»

«Sie nehmen mir eine große Last vom Herzen», gestand Luke.

Der Superintendent nickte verständnisvoll.

«Es ist eine unangenehme Lage für Sie, Mr Fitzwilliam. Die Sorge um Miss Conway. Und wissen Sie, ich erwarte nicht, dass dies ein leichter Fall werden wird. Lord Whitfield muss ein sehr kluger Mann sein. Er wird sich jetzt wahrscheinlich lange Zeit nicht rühren. Das heißt, außer er ist im letzten Stadium.»

«Was nennen Sie das letzte Stadium?»

«Eine Art von Größenwahn, wo der Verbrecher glaubt, er könne nicht entdeckt werden! Er ist zu gescheit, und alle anderen sind zu dumm! Dann kriegen wir ihn natürlich!»

Luke nickte. Er erhob sich.

«Nun, ich wünsche Ihnen alles Glück», sagte er. «Lassen Sie mich Ihnen, so gut ich kann, helfen.»

«Gewiss.»

«Augenblicklich kann ich nichts tun?»

Battle überlegte.

«Ich glaube nicht; ich möchte mich erst ein wenig im Ort umsehen. Vielleicht könnte ich am Abend wieder mit Ihnen sprechen?»

«Natürlich.»

«Da werde ich genauer wissen, wo wir stehen.»

Luke fühlte sich etwas getröstet und beruhigt. Schon viele Leute hatten nach einer Unterredung mit dem Superintendent dieses Gefühl gehabt.

Er sah auf die Uhr. Sollte er noch vor dem Lunch Bridget besuchen?

Lieber nicht, dachte er. Miss Waynflete würde glauben, sie müsse ihn zur Mahlzeit auffordern, und das könnte ihren Haushalt in Verlegenheit bringen. Ältere Damen, wusste Luke aus seiner Erfahrung mit Tanten, kamen bei wirtschaftlichen Problemen leicht aus dem Gleichgewicht. Ob Miss Waynflete wohl auch eine Tante war? Wahrscheinlich.

Er war vor die Tür des Gasthauses getreten. Eine schwarz gekleidete Gestalt, die die Straße hinuntereilte, blieb plötzlich stehen, als sie ihn erblickte.

«Mr Fitzwilliam.»

«Mrs Humbleby.»

Er trat zu ihr und schüttelte ihr die Hand.

Sie sagte:

«Ich dachte, Sie seien abgereist?»

«Nein – ich habe nur die Wohnung gewechselt. Ich wohne jetzt hier.»

«Und Bridget? Ich höre, sie ist fort von Ashe Manor?»

«Ja, das ist sie.»

Mrs Humbleby seufzte.

«Ich bin so froh, sehr froh, dass sie von Wychwood fort ist.»

«Oh, sie ist noch hier; sie wohnt bei Miss Waynflete.»

Mrs Humbleby trat einen Schritt zurück; Luke sah erstaunt, dass sie außerordentlich bekümmert wirkte.

«Bei Honoria Waynflete wohnt sie? Ja, warum denn?»

«Miss Waynflete hat sie liebenswürdigerweise eingeladen, auf ein paar Tage zu ihr zu kommen.»

Mrs Humbleby schauerte ein wenig zusammen. Sie trat nahe an Luke heran und legte ihre Hand auf seinen Arm.

«Mr Fitzwilliam, ich weiß, ich habe kein Recht, etwas zu sagen – irgendetwas zu sagen. Ich habe in letzter Zeit sehr viel Kummer und Leid erlebt – vielleicht macht mich das etwas wunderlich! Meine Gefühle sind möglicherweise nur krankhafte Einbildungen.»

Luke sagte sanft:

«Welche Gefühle?»

«Diese Überzeugung, die ich habe – von – von etwas Bösem!»

Sie schaute Luke schüchtern an. Da sie sah, dass er bloß ernst den Kopf neigte und keinen Zweifel an ihrer Behauptung zu hegen schien, fuhr sie fort:

«So viel Schlechtigkeit – das ist der Gedanke, der mich nie verlässt – soviel Schlechtigkeit ist hier in Wychwood! Und diese Frau steckt hinter allem, dessen bin ich sicher!»

Luke verstand nicht.

«Welche Frau?»

Mrs Humbleby sagte:

«Honoria Waynflete ist bestimmt ein sehr böser Mensch! Ah, ich sehe, Sie glauben mir nicht! Auch Lavinia Pinkerton glaubte niemand. Aber wir fühlten es beide. Sie, glaube ich, wusste mehr als ich… Bedenken Sie, Mr Fitzwilliam, dass eine Frau, wenn sie nicht glücklich ist, schrecklicher Dinge fähig ist.»

Luke meinte sanft:

«Ja – das mag sein.»

Mrs Humbleby sagte rasch:

«Sie glauben mir nicht? Nun, warum sollten Sie auch? Aber ich kann den Tag nicht vergessen, an dem John mit verbundener Hand von ihr nach Hause kam. Er machte sich nichts weiter daraus und sagte, es sei nur ein Kratzer.»

Sie wandte sich zum Gehen.

«Adieu. Bitte, vergessen Sie, was ich soeben sagte. Ich – ich bin nicht ganz beisammen in den letzten Tagen.»

Luke sah ihr nach. Er zerbrach sich den Kopf, warum Mrs Humbleby Honoria Waynflete einen bösen Menschen genannt hatte. War Dr. Humbleby mit Honoria Waynflete befreundet gewesen und seine Frau eifersüchtig?

Was hatte sie gesagt?

«Auch Lavinia Pinkerton glaubte niemand.» Dann musste Lavinia Pinkerton etwas von ihrem Verdacht Mrs Humbleby anvertraut haben.

Im Nu kehrte die Erinnerung an die Bahnfahrt wieder und an das bekümmerte Gesicht einer netten alten Dame. Er hörte eine ernste Stimme wieder sagen: «Der Ausdruck auf dem Gesicht eines Menschen». Und die Art, wie ihr eigenes Gesicht sich verwandelt hatte, als sähe sie im Geiste etwas sehr klar. Einen Augenblick lang, dachte er, war ihr Gesicht ganz anders gewesen, die Lippen über die Zähne hinaufgezogen und ein seltsamer, fast stierer Ausdruck in ihren Augen.

Er dachte plötzlich: Aber ich habe jemanden gerade so dreinschauen gesehen – mit demselben Ausdruck… Ganz kürzlich – wann? Heute Vormittag! Natürlich! Miss Waynflete, als sie im Wohnzimmer von Ashe Manor Bridget ansah.

Und plötzlich kam ihm eine andere Erinnerung, die viele Jahre zurücklag. Tante Mildred, die sagte: «Weißt du, mein Lieber, sie hat ganz blöd ausgeschaut», wobei ihr eigenes, vernünftiges, gemütliches Gesicht einen Augenblick lang einen leeren Ausdruck angenommen hatte.

Lavinia Pinkerton hatte von dem Ausdruck gesprochen, den sie auf dem Gesicht eines Mannes – nein, eines Menschen gesehen hatte. War es möglich, dass, während einer Sekunde, ihre lebhafte Einbildungskraft den Ausdruck, den sie gesehen hatte, reproduzierte – den Ausdruck eines Mörders, der sein nächstes Opfer betrachtete…

Halb unbewusst beschleunigte Luke seine Schritte auf Miss Waynfletes Haus zu.

Eine Stimme in seinem Hirn wiederholte immer wieder:

«Nicht einen Mann – sie erwähnte nie einen Mann – du nahmst an, es sei ein Mann, weil du an einen Mann dachtest – aber sie hat es nie gesagt… O Gott, bin ich ganz verrückt? Was ich denke, ist nicht möglich… sicher ist es nicht möglich – es liegt kein Sinn darin… Aber ich muss zu Bridget, ich muss wissen, dass alles mit ihr in Ordnung ist… Diese Augen – diese seltsamen lichtgelben Augen! Oh, ich bin verrückt! Ich muss verrückt sein! Whitfield ist der Verbrecher! Er muss es sein – er hat es ja so gut wie gesagt!»

Und noch immer sah er, wie in einem Alptraum, Miss Pinkertons Gesicht mit seiner augenblicklichen Widerspiegelung von etwas Entsetzlichem und fast Irrem.

Das kleine Dienstmädchen öffnete ihm die Tür; ein wenig erschrocken über seine Heftigkeit sagte sie:

«Die Dame ist ausgegangen, Miss Waynflete hat es mir gesagt. Ich werde schauen, ob Miss Waynflete zu Hause ist.»

Er drängte sich an ihr vorüber ins Wohnzimmer. Emily lief in das obere Stockwerk und kam atemlos zurück.

«Die Gnädige ist auch ausgegangen.»

Luke nahm sie bei der Schulter.

«Wohin? Welche Richtung haben sie eingeschlagen?»

Sie gaffte ihn an.

«Sie müssen zur Hintertür hinausgegangen sein. Wenn sie vorn hinausgegangen wären, hätte ich sie gesehen, weil die Küche dort liegt.»

Sie folgte ihm, als er hinaus in den winzigen Garten und weiter lief. Dort stand ein Mann, der eine Hecke stutzte. Luke ging auf ihn zu und stellte eine Frage an ihn, wobei er sich bemühte, seine Stimme zu beherrschen.

«Zwei Damen? Ja. Vor einer Weile; ich aß gerade mein Mittagbrot unter der Hecke; sie werden mich wohl kaum bemerkt haben.»

«Welchen Weg sind sie gegangen?»

Er bemühte sich verzweifelt, seiner Stimme einen normalen Ton zu geben, trotzdem weiteten sich die Augen des andern, als er langsam erwiderte:

«Über die Felder… Dort hinüber, weiter weiß ich nicht.»

Luke dankte ihm und begann zu laufen. Sein Gefühl der Dringlichkeit hatte sich verstärkt. Er musste sie erreichen – er musste! Vielleicht war er total verrückt. Aller Wahrscheinlichkeit nach machten sie nur eben einen freundschaftlichen Spaziergang, aber etwas in ihm trieb ihn an. Schneller, schneller…

Er schritt über die zwei Felder und blieb zögernd auf einem Landweg stehen. Wie nun weiter?

Und dann hörte er den Ruf – schwach, weit entfernt, aber nicht zu verkennen…

«Luke, Hilfe!» und wieder: «Luke…»

Sofort stürzte er sich in das Gehölz und rannte in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Jetzt war noch etwas anderes zu hören – Ringen – Keuchen – ein halberstickter Schrei…

Er brach gerade rechtzeitig durch die Büsche, um die Hände einer Irrsinnigen vom Hals ihres Opfers zu reißen und die sich heftig Sträubende und mit Schaum vor dem Mund Fluchende festzuhalten, bis sie endlich mit einem krampfhaften Zucken in seinem Griff erstarrte.

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