5

Mr Wake murmelte noch ein paar Namen vor sich hin. «Wollen mal sehen – die arme Mrs Rose und der alte Bell, und das Kind von den Elkins, dann Harry Carter – sie gehören nicht alle zu meiner Gemeinde, wissen Sie. Mrs Rose und Carter waren Dissenter. Dann hat die Kälte im März den armen alten Ben Stanbury hinweggerafft – zweiundneunzig war er alt.»

«Amy Gibbs starb im April», sagte Bridget.

«Ja, armes Mädchen, ein schlimmer Missgriff war das!»

Luke schaute auf und sah, dass Bridget ihn beobachtete; sie senkte rasch die Augen. Er dachte etwas ärgerlich:

Da ist etwas, was ich noch herausbekommen muss, etwas, das diese Amy Gibbs betrifft.

Als sie sich dem Pfarrer empfohlen hatten und wieder draußen waren, sagte Luke:

«Wer und was war eigentlich Amy Gibbs?»

Bridget antwortete nicht gleich. Dann sagte sie, und Luke merkte den leichten Zwang in ihrer Stimme:

«Amy war eines der unfähigsten Hausmädchen, die ich je gekannt habe.»

«Wurde sie deshalb entlassen?»

«Nein. Sie blieb länger aus, als erlaubt – mit einem jungen Mann. Gordon hat sehr moralische und altmodische Ansichten. Seiner Ansicht nach findet Sünde nicht vor elf Uhr abends statt, aber dann hat sie freie Bahn. Also kündigte er dem Mädchen, und es wurde frech!»

Luke fragte:

«Ein hübsches Mädchen?»

«Sehr hübsch.»

«Das ist die, die irrtümlich Hutfärbemittel statt Hustensaft einnahm?»

«Ja.»

«Eine Dummheit, so etwas zu tun, nicht?» meinte Luke.

«Sehr dumm.»

«War sie dumm?»

«Nein, sie war ein recht intelligentes Mädel.»

Luke warf einen verstohlenen Blick auf Bridget. Sie war ihm ein Rätsel. Sie antwortete in ruhigem Ton, ohne besonderen Nachdruck, ja fast desinteressiert. Aber hinter dem, was sie sagte, lag etwas, davon war er überzeugt, was sie nicht in Worte fasste.

In dem Augenblick blieb Bridget stehen, um mit einem hochgewachsenen Herrn zu sprechen, der seinen Hut zog und sie mit munterer Herzlichkeit begrüßte.

Nach ein paar Worten stellte sie Luke vor.

«Dies ist mein Vetter, Mr Fitzwilliam, der zur Zeit bei uns wohnt. Er ist hergekommen, um ein Buch zu schreiben. Mr Abbot.»

Luke betrachtete Mr Abbot mit Interesse – es war der Rechtsanwalt, der Tommy Pierce beschäftigt hatte.

Mr Abbot entsprach nicht dem Klischee des Rechtsanwalts, er war weder mager noch hager, noch schmallippig. Er war ein großer Mann mit einer herzlichen, jovial-überschwänglichen Art. Kleine Falten nisteten in seinen Augenwinkeln, und die Augen selbst sahen schärfer, als man beim ersten flüchtigen Blick vermutete.

«Ein Buch schreiben Sie, wie? Roman?»

«Über Volkssagen», sagte Bridget.

«Da sind Sie ja am richtigen Ort», nickte der Anwalt. «Höchst interessante Gegend hier.»

«Das hat man mir schon zu verstehen gegeben», sagte Luke. «Ich denke, auch Sie könnten mir da vielleicht ein wenig helfen, Ihnen müssen doch öfter merkwürdige alte Urkunden unterkommen – oder interessante alte Bräuche.»

«Nun, ich weiß nicht recht – mag sein – mag sein…»

«Gibt es hier viel Gespensterglauben?» fragte Luke.

«Das kann ich wirklich nicht sagen…»

«Keine Häuser, in denen es spukt?»

«Nein – ich weiß nichts von Derartigem.»

«Da gibt es doch den Kinderaberglauben», sagte Luke. «Wenn ein männliches Kind stirbt – eines gewaltsamen Todes –, so geht es angeblich um. Ein Mädchen nicht – sehr interessant ist das.»

«Sehr», bestätigte Mr Abbot. «Das habe ich noch nie gehört.» Da Luke es eben erst erfunden hatte, war das kaum überraschend.

«Da war ein Junge hier – Tommy Sowieso –, hat auch mal in Ihrer Kanzlei gearbeitet. Ich habe Gründe anzunehmen, dass man glaubt, er geht um.»

Mr Abbots rotes Gesicht färbte sich noch lebhafter. «Tommy Pierce? Ein nichtsnutziger, schnüffelnder, naseweiser Schlingel.»

«Geister scheinen immer boshaft zu sein. Brave, gehorsame Bürger belästigen kaum diese Welt, wenn sie sie einmal verlassen haben.»

«Wer hat ihn gesehen – was ist das für eine Geschichte?»

«Diese Dinge sind schwer festzustellen», sagte Luke. «Die Leute reden nicht offen heraus, es liegt sozusagen in der Luft.»

«Ja – ja, vermutlich.»

Luke wechselte geschickt das Thema.

«Der Richtige, an den man sich da wenden muss, ist der Arzt im Ort. Der hört bei den armen Leuten, die er behandelt, eine Menge. Alle Arten von Aberglauben und Zauber – Liebestränke und so was.»

«Da müssen Sie sich an Dr. Thomas wenden. Guter Kerl, Thomas, durchaus moderner Mensch. Nicht wie der arme, alte Humbleby.»

«Der war ein wenig reaktionär, nicht?»

«Furchtbar dickköpfig – klammerte sich an seine alten Ideen.»

«Sie hatten einen richtigen Krach mit ihm wegen der Wasserversorgung, nicht?» fragte Bridget.

Wieder breitete sich eine dunkle Röte über Abbots Gesicht. «Humbleby stand dem Fortschritt glatt entgegen», sagte er scharf. «Er sträubte sich gegen den Plan; wurde auch ziemlich grob, war nicht wählerisch in seinen Ausdrücken. Ich hätte ihn direkt verklagen können wegen der Dinge, die er mir sagte.»

Bridget murmelte: «Aber Anwälte bemühen nie das Gericht, was? Dazu sind sie zu klug.»

Abbot lachte unmäßig, sein Ärger verflog ebenso rasch, wie er gekommen war.

«Sehr gut, Miss Bridget! Und Sie haben nicht ganz unrecht. Wir, die dabei sind, wissen zuviel vom Gericht, ha, ha! Doch ich muss nun weiter. Besuchen Sie mich, wenn Sie glauben, ich kann Ihnen irgendwie helfen, Mr – äh – »

«Fitzwilliam», sagte Luke. «Danke, ich werde darauf zurückkommen.»

Als sie weitergingen, sagte Bridget:

«Ihre Methode ist, etwas zu behaupten und zu sehen, was es bewirkt.»

«Meine Methode», sagte Luke, «ist, mich nicht streng an die Wahrheit zu halten, meinen Sie das?»

«Genau.»

Ein wenig beunruhigt, zögerte er, was er als nächstes sagen sollte. Doch da hörte er schon Bridgets Stimme:

«Wenn Sie mehr über Amy Gibbs wissen wollen, kann ich Sie zu jemandem bringen, der Ihnen helfen könnte.»

«Zu wem?»

«Miss Waynflete, Amy arbeitete zuletzt für sie. Dort starb sie auch.»

«Ah – ja? – » Er war ein wenig verblüfft. «Ja, danke schön.»

«Sie wohnt gleich hier.»

Sie gingen über den Dorfplatz. Bridget deutete mit dem Kopf in die Richtung eines großen alten Hauses und sagte: «Das ist Wych Hall, jetzt eine Bibliothek.»

Neben dem großen stand ein kleines Gebäude, das dagegen wie ein Puppenhaus aussah. Seine Stufen waren blendend weiß, der Türklopfer glänzte, und die Gardinen waren schmuck und sauber.

Bridget stieß die Vorgartentür auf und näherte sich den Stufen; da öffnete sich die Haustür, und eine ältliche Dame kam heraus.

Sie entspricht, dachte Luke, vollkommen dem Bild der alten Jungfer vom Lande.

Ihre magere Gestalt steckte in einem Kostüm aus Tweed, zur grauen Seidenbluse trug sie eine einfache Brosche. Ihr Filzhut saß gerade auf dem wohlgeformten Kopf. Sie hatte ein freundliches Gesicht, und die Augen blickten entschieden intelligent durch den Kneifer. Sie erinnerte Luke an eine jener flinken schwarzen Ziegen, die man in Griechenland viel sieht; ihre Augen zeigten denselben leicht fragenden, erstaunten Blick.

«Guten Morgen, Miss Waynflete», sagte Bridget. «Das ist Mr Fitzwilliam.» Luke verbeugte sich. «Er schreibt ein Buch – über Todesfälle und Dorfbräuche und ähnliche Grauslichkeiten.»

«Ach nein», meinte Miss Waynflete, «wie interessant!» Und sie lächelte ihn freundlich aufmunternd an.

Sie erinnerte ihn an Miss Pinkerton.

«Ich dachte», fuhr Bridget fort, und wieder bemerkte er jenen unnatürlichen Ton in ihrer Stimme – «dass Sie ihm etwas über Amy erzählen könnten.»

«Oh», sagte Miss Waynflete, «über Amy. Ja. Über Amy Gibbs.»

Er bemerkte etwas Neues in ihrem Gesichtsausdruck, sie schien ihn nachdenklich-abschätzend zu betrachten. Dann, als habe sie einen Entschluss gefasst, ging sie ins Haus zurück.

«Kommen Sie doch herein», forderte sie auf. «Ich kann auch später ausgehen. Nein, nein», als Antwort auf einen Einwand von Luke. «Ich hatte wirklich nichts Dringendes vor, nur ganz unwichtige Besorgungen.»

Das kleine Wohnzimmer war sauber und gemütlich und roch schwach nach verbranntem Lavendel. Auf dem Kaminsims standen einige Meißner Porzellanschäfer und -schäferinnen und lächelten süß. Gerahmte Aquarelle und Stickmuster hingen an der Wand. Mehrere Fotografien, offenbar von Neffen und Nichten, standen da und einige gute Möbelstücke, jedoch auch ein scheußliches und ziemlich unbequemes Sofa aus der Zeit der Queen Victoria.

Miss Waynflete bat ihre Besucher, Platz zu nehmen. Auf einem Stuhl mit geschnitzten Armlehnen sehr aufrecht dasitzend, studierte sie ihren Gast ein paar Augenblicke, dann senkte sie scheinbar befriedigt die Augenlider und sagte:

«Sie wollen etwas über das arme Mädchen, die Amy, wissen? Die ganze Sache hat mich sehr bekümmert. So ein tragischer Irrtum!»

«War nicht die Rede von – Selbstmord?» fragte Luke. Miss Waynflete schüttelte den Kopf.

«Nein, nein, das kann ich nicht einen Augenblick glauben. Amy war gar nicht von dieser Art.»

«Von welcher Art war sie denn?» fragte Luke geradeheraus. «Ich würde gern Ihre Ansicht über sie hören.»

Miss Waynflete hielt mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg: «Nun, sie war erstens absolut kein gutes Hausmädchen, doch ist man heutzutage ja froh, überhaupt jemanden zu bekommen. Sie war sehr nachlässig in der Arbeit und wollte immer ausgehen – freilich, sie war jung, und die Mädchen sind heute nun mal so, sie scheinen nicht zu begreifen, dass ihre Zeit ihren Dienstherren gehört.»

Luke sah, wie es sich ziemte, verständnisvoll drein, und Miss Waynflete fuhr fort, ihre Ansichten zu entwickeln. «Sie war nicht die Art Mädchen, die mir sympathisch ist – hatte eine so dreiste Art –, obwohl ich natürlich jetzt, wo sie tot ist, nicht viel sagen möchte. Man fühlt sich so unchristlich – obwohl ich eigentlich nicht finde, dass das ein Grund ist, die Wahrheit zu verschweigen.»

Luke nickte. Ihm wurde klar, dass Miss Waynflete sich dadurch von Miss Pinkerton unterschied, dass sie logischer dachte.

«Sie liebte es, bewundert zu werden», fuhr Miss Waynflete fort, «und neigte dazu, sich sehr viel einzubilden. Mr Ellsworthy – er hat den neuen Antiquitätenladen, ist aber wirklich ein Gentleman – malt ein wenig und hat ein paar Skizzen von ihrem Kopf gemacht – und ich glaube, wissen Sie, das hat ihr Rosinen in den Kopf gesetzt. Sie begann Streit mit dem jungen Mann, Jim Harvey, mit dem sie verlobt war. Er ist Mechaniker in der Garage hier und hatte sie sehr gern.»

Miss Waynflete machte eine Pause und fuhr dann fort:

«Ich werde diese schreckliche Nacht nie vergessen. Amy war nicht ganz wohl – sie hatte einen garstigen Husten, war überhaupt erkältet (diese neumodischen billigen Seidenstrümpfe und die Schuhe mit Sohlen wie Papier, da muss man sich ja erkälten!), und sie war auch am Nachmittag beim Doktor gewesen.»

Luke fragte rasch dazwischen:

«Bei Dr. Humbleby oder Dr. Thomas?»

«Dr. Thomas. Und er gab ihr eine Flasche mit Hustensaft, die sie mitbrachte, etwas ganz Harmloses. Sie ging frühzeitig zu Bett, und es muss ungefähr ein Uhr nachts gewesen sein, als der Lärm begann – eine Art schrecklicher, erstickter Schrei. Ich stand auf und ging zu ihrer Tür, aber die war von innen versperrt. Ich rief ihren Namen, bekam jedoch keine Antwort. Die Köchin war mit mir, und wir waren beide fürchterlich aufgeregt. Dann gingen wir zur Haustür, und glücklicherweise kam gerade Reed (unser Polizist) vorbei, und wir hielten ihn an. Er ging hinten um das Haus herum, und es gelang ihm, auf das Dach des Nebengebäudes zu klettern, und da ihr Fenster offen war, kam er ganz leicht hinein und sperrte die Tür auf. Armes Ding, es war schrecklich! Man konnte gar nichts für sie tun, und sie starb nach ein paar Stunden im Krankenhaus.»

«Und es war – Hutfarbe?»

«Ja. Kleesäurevergiftung nannten sie es. Die Flasche hatte ungefähr die gleiche Größe wie die mit dem Hustensaft. Letztere stand auf dem Waschtisch und die Hutfarbe neben dem Bett. Sie muss im Dunkeln die falsche Flasche erwischt und neben sich gestellt haben für den Fall, dass sie sich schlecht fühlte. Das wurde bei der gerichtlichen Untersuchung angenommen.»

Miss Waynflete hielt inne. Ihre klugen Ziegenaugen sahen ihn an, und es war ihm, als läge eine besondere Bedeutsamkeit in ihrem Blick. Er hatte das Gefühl, dass sie einen Teil der Geschichte verschwiegen hatte – und das noch stärkere Gefühl, dass sie aus irgendeinem Grund wünschte, dass er das wisse.

Es entstand ein Schweigen – ein langes, etwas schwieriges Schweigen. Luke kam sich vor wie ein Schauspieler, der sein Stichwort nicht kennt. «Und Sie halten es nicht für Selbstmord?» vergewisserte er sich schließlich noch mal.

Miss Waynflete erwiderte rasch:

«Bestimmt nicht. Wenn das Mädchen beschlossen hätte, sich umzubringen, hätte sie wahrscheinlich etwas dafür gekauft. Das hier war eine alte Flasche, die sie seit Jahren gehabt haben muss. Und überhaupt war sie, wie ich schon sagte, nicht so eine Art Mädchen.»

«Also denken Sie – was?» fragte Luke geradeheraus.

«Ich denke, dass es ein großes Malheur war.»

Sie schloss die Lippen und sah ihn ernst an.

Als Luke eben fühlte, dass er unbedingt versuchen müsse, etwas zu sagen, was von ihm erwartet wurde, kam eine Ablenkung; es wurde an der Tür gekratzt, und ein klägliches Miau ertönte.

Miss Waynflete sprang auf und öffnete die Tür, woraufhin ein prachtvoller orangefarbener Angorakater hereinspazierte. Er hielt inne, sah den Besuch missbilligend an und sprang auf die Lehne von Miss Waynfletes Stuhl.

Sie sprach zärtlich zu ihm.

«Ja, Wonky Pooh – wo war denn mein Wonky Pooh den ganzen Morgen?»

Der Name weckte eine Erinnerung in Luke; wo hatte er nur von einem Angorakater gehört, der Wonky Pooh hieß? Er sagte:

«Das ist aber ein besonders schöner Kater. Haben Sie ihn schon lange?»

Miss Waynflete schüttelte den Kopf.

«O nein, er gehörte einer alten Freundin von mir, Miss Pinkerton. Sie wurde von einem dieser schrecklichen Autos überfahren, und ich konnte Wonky Pooh natürlich nicht Fremden überlassen, das hätte Lavinia fürchterlich gekränkt; sie hatte ihn geradezu angebetet – er ist aber wirklich sehr schön, nicht?»

Luke beeilte sich, seiner Bewunderung nochmals Ausdruck zu verleihen.

Miss Waynflete sagte: «Geben Sie acht auf seine Ohren, damit hat er in letzter Zeit Probleme.»

Luke streichelte das Tier vorsichtig.

Bridget erhob sich.

«Wir müssen gehen.»

Miss Waynflete schüttelte Luke die Hand.

«Vielleicht», sagte sie, «werde ich Sie schon bald Wiedersehen.»

Luke meinte freundlich: «Ja, gewiss, ich hoffe es.»

Er fand, dass sie verwirrt und ein wenig enttäuscht aussah. Ihr Blick flog zu Bridget – ein rascher Blick mit der Andeutung einer Frage. Luke fühlte, dass zwischen den beiden Frauen ein Einverständnis herrschte, von dem er ausgeschlossen war. Es ärgerte ihn, und er nahm sich vor, der Sache bald auf den Grund zu kommen.

Miss Waynflete ging mit ihnen hinaus. Luke blieb einen Augenblick auf der obersten Stufe stehen und betrachtete beifällig Dorfplatz und Ententeich.

«Wunderbar unverdorben, dieser Ort», sagte er.

Miss Waynfletes Gesicht erhellte sich.

«Ja, wirklich», sagte sie. «Es ist hier noch gerade so, wie in meiner Kindheit. Wir lebten hier im Herrenhaus, in Wych Hall, wissen Sie. Doch als es an meinen Bruder fiel, hatte er keine Lust, da zu wohnen – konnte es sich auch nicht leisten, und es wurde zum Verkauf angeboten. Zum Glück erwarb Lord Whitfield den Besitz und rettete ihn so vor irgendwelchen Spekulanten. Er machte das Haus zu einer Bibliothek und einem Museum – es ist so gut wie unberührt geblieben. Ich arbeite dort zweimal in der Woche als Bibliothekarin – natürlich unbezahlt –, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, welche Freude es mir bereitet, in dem alten Haus zu sein und zu wissen, dass es nicht zerstört wird. Und es bildet wirklich einen passenden Rahmen – Sie müssen unser kleines Museum einmal besuchen, Mr Fitzwilliam. Es enthält einige ganz interessante Ausstellungsstücke.»

«Ich werde es bestimmt nicht versäumen, Miss Waynflete.»

«Lord Whitfield ist ein großer Wohltäter für Wychwood», sagte Miss Waynflete. «Doch leider gibt es auch Leute, die undankbar sind.»

Sie presste die Lippen aufeinander. Luke stellte diskret keine weiteren Fragen und verabschiedete sich nochmals.

Als sie vor der Gartentür waren, sagte Bridget:

«Wollen Sie weitere Forschungen betreiben, oder sollen wir den Fluss entlang nach Hause gehen? Es ist ein hübscher Spaziergang.»

Luke antwortete prompt. Er hatte keine Lust auf weitere Nachforschungen, wenn Bridget Conway danebenstand und zuhörte. Er sagte:

«Auf zum Fluss.»

Sie gingen die Hauptstraße entlang. Eines der letzten Häuser trug ein Schild, auf dem in Altgold-Buchstaben das Wort «Antiquitäten» zu lesen war. Luke blieb stehen und schaute durch eines der Fenster in die kühle Tiefe des Ladens.

«Da ist eine hübsche alte Porzellanschüssel drin», bemerkte er. «Das wäre etwas für eine meiner Tanten. Was man wohl dafür verlangt?»

«Sollen wir hineingehen und fragen?»

«Wenn Sie nichts dagegen haben? Ich stöbere so gern in Antiquitätenläden herum. Manchmal erwischt man etwas preiswert.»

«Ich bezweifle, dass Ihnen das hier gelingen wird», bemerkte Bridget trocken. «Ellsworthy kennt den Wert seiner Sachen ziemlich genau, möchte ich behaupten.»

Die Tür war offen. Im Vorraum standen Stühle und Bänke und Anrichtetische mit Porzellan und Zinn darauf; die Türen zu zwei Zimmern voller Waren standen rechts und links offen.

Luke trat in das Zimmer zur Linken und nahm die Porzellanschüssel in die Hand. In dem Augenblick kam eine dunkle Gestalt aus dem Hintergrund, die dort an einem Schreibpult gesessen hatte.

«Ah, liebe Miss Conway, welche Freude, Sie hier zu sehen.»

«Guten Morgen, Mr Ellsworthy.»

Mr Ellsworthy war ein höchst eleganter junger Mann in einem rötlich braunen Anzug. Er hatte ein schmales, blasses Gesicht mit einem femininen Mund, langes, schwarzes Künstlerhaar und einen tänzelnden Gang.

Luke wurde vorgestellt, und Mr Ellsworthy übertrug sofort seine Aufmerksamkeit auf ihn.

«Echte alte englische Ware – entzückend, nicht? Ich liebe meine Stücke, verkaufe sie ungern. Es war immer mein Traum, auf dem Lande zu leben und einen kleinen Laden zu haben. Wundervoller Ort, Wychwood – es hat Atmosphäre, wenn Sie verstehen, was ich meine.»

«Das künstlerische Temperament», murmelte Bridget.

«Bitte nicht diesen schrecklichen Ausdruck, Miss Conway! Nein – nein, ich flehe Sie an! Reden Sie mir nicht von Künstlertum. Ich bin ein Händler, einfach nur ein Händler.»

«Aber Sie sind eigentlich Künstler, nicht?» fragte Luke. «Ich meine, Sie malen, nicht?»

«Also wer hat Ihnen denn das gesagt?» rief Mr Ellsworthy, die Hände zusammenschlagend. «Dieser Ort ist wirklich großartig – man kann einfach kein Geheimnis wahren!»

«Miss Waynflete sagte uns, dass Sie mehrere Skizzen von einem Mädchen gemacht hätten – von Amy Gibbs.»

«Ach, Amy», sagte Mr Ellsworthy. Er trat einen Schritt zurück, wodurch ein Bierkrug ins Wanken geriet. Er hielt ihn sorgfältig fest, dann sagte er: «Ja? Ach ja, freilich.»

Er schien etwas aus dem Gleichgewicht gebracht.

«Sie war ein hübsches Mädchen», meinte Bridget.

Mr Ellsworthy hatte seine Haltung wiedergewonnen.

«Oh, finden Sie?» fragte er. «Sehr gewöhnlich, fand ich immer. Wenn Sie sich für dieses Porzellan interessieren», fuhr er, zu Luke gewendet, fort, «ich habe ein Paar Vögel daraus – entzückende Figuren.»

Luke heuchelte Interesse für die Vögel und fragte dann nach dem Preis der Schüssel. Ellsworthy nannte eine Summe. «Danke», sagte Luke, «ich glaube doch, ich werde Sie nicht berauben.»

«Ich fühle mich immer erleichtert», behauptete Ellsworthy, «wenn ich einen Verkauf nicht abschließe. Dumm von mir, nicht? Warten Sie mal, ich gebe sie Ihnen um eine Guinee billiger. Sie haben Sinn für die Sachen, das sehe ich – das macht einen großen Unterschied. Und schließlich ist das hier ja ein Laden!»

«Nein, danke», erwiderte Luke.

Mr Ellsworthy begleitete sie bis zur Tür und winkte ihnen nach – unangenehme Hände, fand Luke, ihre Färbung war weniger weiß als grünlich.

«Seltsamer Zeitgenosse, dieser Mr Ellsworthy», bemerkte er, als er und Bridget außer Hörweite waren.

«Ich glaube, er befasst sich mit Schwarzer Magie. Vielleicht nicht bis zur schwarzen Messe, aber so etwas Ähnliches; der Ruf des Ortes ist da günstig.»

Luke sagte etwas ungeschickt: «Du lieber Gott – da ist er ja vermutlich der Mensch, den ich suche. Ich hätte mit ihm über die Sache reden sollen.»

«Glauben Sie?» fragte Bridget. «Er weiß eine Menge darüber.»

Luke entgegnete etwas verlegen:

«Ich werde ihn ein andermal aufsuchen.»

Bridget antwortete nicht. Sie waren nun außerhalb der Stadt und schlugen einen Pfad ein, der sie bald zum Fluss führte. Dort kamen sie an einem kleinen Mann mit steifem Schnurrbart und vorstehenden Augen vorbei. Er hatte drei Bulldoggen bei sich, die er abwechselnd anschrie.

Er zog den Hut vor Bridget, wobei er Luke mit offenbar verzehrender Neugier anstarrte, und ging weiter.

«Major Horton und seine Bulldoggen?» zitierte Luke. «Ganz richtig.»

«Haben wir heute Vormittag nicht tatsächlich jedermann von Bedeutung in Wychwood gesehen?»

«Eigentlich ja.»

«Ich fühle mich hier etwas seltsam», sagte Luke. «Ich vermute, ein Fremder in so einem englischen Dorf fällt ziemlich auf», fügte er kläglich hinzu, während er sich an Jimmy Lorrimers Bemerkungen erinnerte.

«Major Horton verbirgt seine Neugierde nie gut», beruhigte Bridget ihn. «Er hat Sie wirklich und unglaublich angestarrt.»

«Er ist ein Mann, den man überall als Major erkennen würde», meinte Luke bissig.

Bridget sagte plötzlich: «Wollen wir uns nicht hier am Ufer ein wenig hinsetzen? Wir haben noch eine Menge Zeit.» Sie setzten sich auf einen gefällten Baum, der recht bequem war. Bridget fuhr fort:

«Ja, Major Horton ist sehr militärisch – seine Manieren erinnern an ein Offizierskasino. Man würde kaum glauben, dass er bis vor einem Jahr der größte Pantoffelheld der Welt war!»

«Was, dieser Mann?»

«Ja. Er hatte die unangenehmste Frau, die ich je gekannt habe, zur Gattin. Sie hatte auch das Geld und unterließ nie, das öffentlich hervorzuheben.»

«Armer Teufel – Horton, meine ich.»

«Er benahm sich sehr nett zu ihr – war immer ganz Offizier und Gentleman. Dabei musste man sich wundern, dass er nicht mit der Hacke auf sie losging.»

«Sie scheint nicht beliebt gewesen zu sein.»

«Niemand mochte sie. Sie wies Gordon zurecht und begönnerte mich und machte sich überall unbeliebt, wohin sie ging.»

«Jedoch eine gütige Vorsehung hat sie der Erde entrückt, denke ich?»

«Ja, vor ungefähr einem Jahr. Akute Gastritis. Sie bereitete ihrem Gatten, Dr. Thomas und zwei Pflegerinnen die reine Hölle – aber schließlich ist sie doch gestorben! Die Bulldoggen waren gleich munterer.»

«Intelligente Viecher!»

Ein Schweigen entstand. Bridget rupfte müßig das lange Gras aus. Luke schaute, ohne etwas zu sehen, mit gerunzelten Brauen auf das gegenüberliegende Ufer. Wieder wurde ihm das Phantastische seiner Mission bewusst. Was war Tatsache – wieviel war Einbildung? War es nicht schlecht für einen, wenn man jeden Menschen, den man kennenlernte, als möglichen Mörder betrachtete? Dieser Standpunkt hatte etwas Erniedrigendes.

Verdammt noch mal, dachte Luke, ich war wirklich zu lange ein Polizeimann!

Er wurde mit einem Ruck aus seinen Grübeleien gerissen; Bridgets kühle, klare Stimme sagte:

«Mr Fitzwilliam, warum sind Sie eigentlich hergekommen?»

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