19

Sir William Ossington, den Kumpanen früherer Tage als Billy Bones bekannt, starrte seinen Freund ungläubig an. «Hast du nicht genug Verbrechen draußen in Mayang gehabt?» fragte er kläglich. «Musst du nach Hause kommen und hier unsere Arbeit verrichten?»

«Verbrechen in Mayang wird nicht im großen Stil begangen», sagte Luke. «Mit was ich hier zu tun habe, ist ein Mann, der mindestens ein halbes Dutzend Morde begangen hat – und auf den nicht die Spur eines Verdachts gefallen ist!»

Sir William seufzte.

«Kommt schon vor. Was ist seine Spezialität – Gattinnen?»

«Nein, so einer ist er nicht. Vorläufig denkt er noch nicht, dass er der liebe Gott ist – aber bald wird er soweit sein.»

«Verrückt?»

«Oh, zweifellos, würde ich sagen.»

«Ah! Aber wahrscheinlich ist er nicht gesetzmäßig verrückt; das ist ein Unterschied, weißt du.»

«Ich möchte behaupten, dass er Art und Folgen seiner Handlungen erkennt», sagte Luke.

«Genau», bestätigte Billy Bones.

«Streiten wir nicht über juristische Feinheiten; so weit sind wir noch lange nicht, vielleicht kommen wir nie dahin. Was ich von dir haben will, alter Junge, sind ein paar Tatsachen. Am Derbytag zwischen fünf und sechs Uhr nachmittags fand ein Unfall statt, eine alte Dame wurde in Whitehall überfahren, und das Auto hielt nicht. Sie hieß Lavinia Pinkerton. Ich möchte, dass du mir alle Einzelheiten darüber heraussuchen lässt.»

Sir William seufzte.

«Das werden wir schnell haben. In zwanzig Minuten ist das geschehen.»

Er hielt Wort. In noch kürzerer Zeit sprach Luke mit dem Polizeibeamten, der die Sache behandelt hatte.

«Ja, Sir, ich erinnere mich an die Einzelheiten; ich habe sie größtenteils hier aufgeschrieben.» Er wies auf den Bogen, den Luke studierte. «Eine Leichenschau wurde abgehalten – Mr Satcherverell war der Coroner. Tadel für den Autolenker.»

«Haben Sie ihn je erwischt?»

«Nein, Sir.»

«Was für ein Wagen war es?»

«Es scheint ziemlich sicher, dass es ein Rolls war – ein großer Wagen, von einem Chauffeur gelenkt, darüber sind sich alle Zeugen einig. Einen Rolls kennen die meisten Leute vom Ansehen.»

«Die Nummer haben Sie nicht erfahren?»

«Nein, leider dachte niemand daran, sie sich zu merken. Es war wohl die Nummer FZX 4498 notiert worden, aber das war eine falsche, eine Frau wollte sie gesehen haben und erwähnte sie einer andern gegenüber, die sie mir sagte. Ich weiß nicht, ob die zweite falsch verstanden hat, aber jedenfalls war es nicht die richtige.»

Luke fragte scharf: «Wieso wussten Sie, dass es nicht die richtige war?»

«FZX 4498 ist die Nummer von Lord Whitfields Auto. Dieses Auto stand jedoch zur fraglichen Zeit vor Boomington House, und der Chauffeur trank Tee. Er hatte ein perfektes Alibi – und das Auto verließ seinen Platz nicht bis 6 Uhr 30, als Seine Lordschaft herauskam.»

«Ich verstehe», sagte Luke.

«Es ist immer so, Sir», seufzte der Mann, «die Hälfte der Zeugen ist verschwunden, bevor ein Polizist hinkommt und sich Notizen machen kann.»

Sir William nickte.

«Wir nahmen an, dass es wahrscheinlich eine ähnliche Nummer wie FZX 4498 war – eine Nummer, die wahrscheinlich auch mit zwei Vierern begann. Wir taten unser Bestes, konnten aber den Wagen nicht finden. Wir gingen verschiedenen Nummern nach, aber alle konnten sich befriedigend ausweisen.»

Sir William schaute Luke fragend an.

Dieser schüttelte den Kopf.

Sir William sagte:

«Danke, Bonner, das genügt.»

Als der Mann gegangen war, schaute Billy Bones seinen Freund forschend an.

«Um was handelt es sich eigentlich, Fitz?»

Luke seufzte.

«Es stimmt alles. Lavinia Pinkerton kam nach London, um den gescheiten Leuten in Scotland Yard alles über den bösen Mörder zu erzählen. Ich weiß nicht, ob ihr sie angehört hättet – wahrscheinlich nicht…»

«Vielleicht doch», widersprach Sir William. «Manches erreicht uns auch auf diesem Wege, durch Hörensagen und Klatsch – wir vernachlässigen all das nicht, versichere ich dir.»

«Das hat sich der Mörder wohl auch gedacht; er wollte nichts riskieren. Er erledigte Lavinia Pinkerton, und obwohl eine Frau scharfsichtig genug war, seine Nummer zu erspähen, glaubte ihr niemand.»

Billy Bones sprang von seinem Stuhl auf.

«Du meinst doch nicht – »

«Doch, ich meine. Ich halte jede Wette, dass es Whitfield war, der sie überfuhr. Wie er es zuwege gebracht hat, weiß ich nicht. Der Chauffeur saß bei seinem Tee. Irgendwie, vermute ich, hat er den Wagen fortgebracht und Chauffeurrock und -kappe angelegt. Aber getan hat er es, Billy!»

«Unmöglich!»

«Mein lieber Junge, er hat gestern abend vor mir damit so gut wie geprahlt!»

«Er ist also verrückt?»

«Verrückt ist er schon, aber dabei ein schlauer Teufel. Du wirst sehr vorsichtig vorgehen müssen. Lass ihn nicht wissen, dass wir ihn in Verdacht haben.»

Billy Bones murmelte: «Unglaublich…»

Luke sagte: «Aber wahr!»

Er legte die Hand auf die Schulter des Freundes.

«Hör mal, Billy, alter Junge, wir müssen das genau durchsprechen. Hier sind die Tatsachen.»

Die beiden Männer redeten lang und ernsthaft miteinander. Am folgenden Morgen kehrte Luke nach Wychwood zurück. Er hätte schon am Abend vorher zurückfahren können, aber angesichts der Umstände hatte er eine starke Abneigung dagegen, unter Lord Whitfields Dach zu schlafen und seine Gastfreundschaft in Anspruch zu nehmen.

Auf der Fahrt durch Wychwood hielt er seinen Wagen vor Miss Waynfletes Häuschen an. Das Mädchen, das ihm die Tür öffnete, schaute ihn höchst erstaunt an, doch führte sie ihn in das kleine Esszimmer, wo Miss Waynflete beim Frühstück saß.

Sie erhob sich überrascht, um ihn zu begrüßen.

Er verlor keine Zeit.

«Ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie zu dieser Stunde überfalle.»

Er sah sich um. Das Mädchen hatte das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich zugemacht.

«Ich möchte eine Frage an Sie stellen, Miss Waynflete, die etwas persönlicher Natur ist, aber ich glaube, Sie werden mir das verzeihen.»

«Bitte fragen Sie mich, was Sie wollen. Ich bin ganz sicher, Sie haben einen guten Grund dazu.»

«Danke.»

Er machte eine Pause. Dann sagte er:

«Ich möchte genau wissen, warum Sie damals vor Jahren Ihre Verlobung mit Lord Whitfield gelöst haben.»

Das hatte sie nicht erwartet. Das Blut stieg ihr in die Wangen, und sie drückte die Hand auf die Brust.

«Hat er Ihnen etwas darüber gesagt?»

Luke erwiderte: «Er sagte mir, es war etwas mit einem Vogel – einem Vogel, dem der Hals umgedreht wurde…»

«Das sagte er?» Ihre Stimme klang verwundert: «Er gab es zu? Das ist merkwürdig.»

«Wollen Sie es mir sagen? Bitte!»

«Ja, ich will es Ihnen sagen. Aber ich bitte Sie, nie mit ihm über die Sache zu sprechen. Es ist alles vorbei – vergangen und erledigt – ich möchte nicht, dass es wieder – ausgegraben wird.»

Sie sah ihn bittend an.

Luke nickte.

«Es ist nur zu meiner persönlichen Befriedigung», sagte er. «Ich werde nichts weitersagen, was Sie mir erzählen.»

«Danke.» Sie hatte ihre Ruhe wiedergefunden, ihre Stimme klang ganz fest, als sie fortfuhr: «Es war so. Ich hatte einen kleinen Kanarienvogel – ich hatte ihn sehr gern – und – trieb es vielleicht etwas kindisch mit ihm – junge Mädchen waren damals so, so übertrieben mit ihren Lieblingen. Ich verstehe, dass das einen Mann irritieren musste.»

«Ja», sagte Luke ermunternd, als sie zögerte.

«Gordon war eifersüchtig auf den Vogel; eines Tages sagte er ganz verdrießlich: ‹Ich glaube, du ziehst den Vogel mir vor!› Und ich, in etwas albern-mädchenhafter Weise, lachte, und während ich ihn auf dem Finger hielt, sagte ich ungefähr; (Natürlich liebe ich dich, kleines Vögelchen, mehr als den großen dummen Jungen! Natürlich!) Da – oh, es war schrecklich – riss Gordon mir den Vogel weg und drehte ihm den Hals um! Es war so ein Schreck – ich werde es nie vergessen!»

Ihr Gesicht war jetzt totenblass.

«Und so lösten Sie Ihre Verlobung auf?» sagte Luke.

«Ja. Ich konnte danach nicht mehr dasselbe für ihn empfinden. Wissen Sie, Mr Fitzwilliam – » Sie zögerte. «Es war nicht allein die Tat – das hätte in einem Anfall von Eifersucht und Zorn geschehen können –, es war das schreckliche Gefühl, das ich hatte, dass er es mit Genuss getan hatte – das war es, was mich erschreckte!»

«So lange her», murmelte Luke. «Sogar schon damals…»

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm.

«Mr Fitzwilliam – »

Er erwiderte die erschrockene Frage ihrer Augen mit einem ernsten, festen Blick.

«Es ist Lord Whitfield, der alle diese Morde begangen hat!» sagte er. «Sie haben es die ganze Zeit gewusst, nicht wahr!»

Sie schüttelte energisch den Kopf.

«Nicht gewusst! Wenn ich es gewusst hätte, dann – dann hätte ich natürlich gesprochen – nein, es war nur eine Furcht.»

«Und doch gaben Sie mir nie einen Wink?»

Sie faltete die Hände in jäher Qual.

«Wie hätte ich das können? Wie denn? Ich habe ihn doch einmal sehr gern gehabt…»

«Ja», sagte Luke sanft. «Ich verstehe.»

Sie wandte sich ab, suchte in ihrer Handtasche herum und drückte schließlich ein kleines spitzenbesetztes Tüchlein an die Augen. Dann wandte sie sich wieder um, trockenen Auges, gefasst und würdevoll.

«Ich bin so froh», sagte sie, «dass Bridget ihre Verlobung aufgelöst hat. Sie wird Sie heiraten, nicht wahr?»

«Ja.»

«Das ist auch viel passender», meinte Miss Waynflete billigend.

Luke konnte nicht umhin, ein wenig zu lächeln.

Aber Miss Waynfletes Gesicht wurde ernst und besorgt. Sie beugte sich vor und legte wieder ihre Hand auf seinen Arm. «Aber seien Sie sehr vorsichtig. Sie müssen beide sehr achtgeben.»

«Sie meinen – mit Lord Whitfield?»

«Ja. Es wäre besser, es ihm nicht zu sagen.»

Luke runzelte die Stirn.

«Das, glaube ich, würde keinem von uns beiden passen.»

«Ach, was tut das? Sie scheinen nicht zu begreifen, dass er verrückt ist – verrückt! Er wird es sich nicht gefallen lassen – nicht einen Augenblick! Wenn ihr etwas geschieht – »

«Nichts wird ihr geschehen!»

«Ja, ich weiß – aber machen Sie sich doch klar, dass Sie ihm nicht gewachsen sind! Er ist so entsetzlich schlau! Bringen Sie sie gleich fort – es ist die einzige Hoffnung! Veranlassen Sie sie zu verreisen – ins Ausland! Sie sollten beide ins Ausland fahren!»

Luke sagte langsam:

«Vielleicht wäre es gut, wenn sie führe. Ich werde bleiben.»

«Das habe ich befürchtet. Aber jedenfalls bringen Sie sie fort. Sofort, hören Sie?»

Luke nickte langsam.

«Ich glaube, Sie haben recht», sagte er.

«Ich weiß, dass ich recht habe! Bringen Sie sie fort – bevor es zu spät ist!»

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