9.

Es war überraschend leicht, die Etage zu erreichen, in der Ennarts Gemach lag. Sie begegneten ein paar Menschen auf dem Weg nach unten, aber niemand nahm Notiz von ihnen. Vielleicht war es die Gegenwart der Errish, die ihn schützte, vielleicht war es auch einfach so, daß kaum jemand ihn kannte; er hatte sein Gemach ja nur ein einziges Mal verlassen, um zu Ennart zu gehen. Der Lärm und die Schreie nahmen zu, je näher sie dem Hof kamen, und als Skar im Vorüberhasten einen Blick aus dem Fenster warf, sah er, daß sich der Bereich vor dem Tor in einen Hexenkessel verwandelt hatte: Menschen und Tiere rannten scheinbar kopf- und ziellos durcheinander, und an mehreren Stellen war Feuer ausgebrochen. Der mechanische Herzschlag des Turmes klang jetzt anders; unregelmäßiger und mühsamer, manchmal unterbrochen von einem düsteren, mahlenden Knirschen und Poltern oder dem Grollen weit entfernter, aber mächtiger Explosionen. Der Ssirhaa mußte viel mehr Teil dieser uralten Maschinerie gewesen sein, als Skar bisher angenommen hatte. Es war sein Geist gewesen, der sie zum Leben erweckt hatte. Und sie starb mit ihm.

»Bei allen Göttern«, flüsterte Anschi. »Was geschieht hier?«

»Diese verdammten Narren«, murmelte Skar. Plötzlich empfand er nichts als Haß auf den Toten. »Sie haben dieses... dieses Ding zum Leben erweckt und wußten nicht einmal, was sie taten! Es wird sie alle vernichten. Und uns dazu.«

Sie eilten weiter. Es wurde wärmer, sehr schnell und auf sehr unangenehme Art. Die Luft, die ihnen entgegenschlug, roch nach Feuer, und sie hörten das Prasseln der Flammen, noch ehe sie den Feuerschein sahen. Skar blieb abermals stehen. Er wußte nicht genau, wo sie sich befanden. Anschi hatte ihn auf einem anderen Weg heruntergeführt als Ennart gestern. Aber er fühlte, daß es jetzt nicht mehr sehr weit sein konnte.

»Wo?« fragte er einfach.

Anschi deutete nach vorn und machte gleichzeitig eine Bewegung nach rechts. »Der dritte Gang. Aber du -«

»Du wartest hier auf mich«, unterbrach sie Skar. »Ich gehe allein.«

»Warten?« Anschi lachte unecht und schüttelte heftig den Kopf. »Ich werde ganz bestimmt nicht allein hier in diesem Turm zurückbleiben.«

Skar wollte einfach losgehen, aber Anschi hielt ihn am Arm zurück. Er schüttelte ihre Hand ab, aber er hatte die Hartnäckigkeit der Errish unterschätzt. Mit zwei raschen Schritten trat sie an ihm vorbei und verstellte ihm den Weg.

»Es wird dich töten«, sagte sie.

»Das wird es auch tun, wenn du dabei bist.« Er wollte Anschi einfach beiseiteschieben, aber sie klammerte sich mit erstaunlicher Kraft an seinen Arm, so daß er wohl oder übel abermals stehenbleiben mußte.

»Sei vernünftig«, sagte er. »Ich habe dich nicht mitgenommen, damit du dich umbringst, sondern nur, um mir den Weg zu zeigen.«

»Du findest ohne mich nicht zurück«, behauptete Anschi. Sie machte eine Geste in die Richtung, aus der der Feuerschein kam. Es war spürbar wärmer geworden. Die Luft wurde stickig, und in das Prasseln der Flammen mischten sich Schreie. Sonderbarerweise sahen sie noch immer keinen Menschen. »Es ist zu gefährlich, den Aufzug zu benutzen. Aber es gibt eine Treppe. Ich kann sie dir zeigen.«

Skar resignierte. Er spürte, wie wenig Sinn es hatte, weiter auf Anschi einzureden. Und zugleich war er fast erleichtert bei dem Gedanken, nicht allein gehen zu müssen. »Also gut«, sagte er. »Aber bleib immer dicht bei mir. Und ...« Er zögerte. »Falls mir etwas zustößt, und du davonkommst«, fuhr er fort, ohne die Errish dabei anzusehen, »dann versuche dich zu Del durchzuschlagen. Er ist vielleicht der letzte, der euch noch retten kann, wenn er erfährt, was hier passiert ist.« Er ging weiter, ehe Anschi auch nur Gelegenheit zu einem weiteren Wort fand.

Es wurde immer heißer. In der Luft schienen unsichtbare Flammen zu sein, so daß selbst das Atmen zur Qual wurde, und der Boden unter ihren Füßen glühte. Manchmal durchlief ein Zittern die metallenen Platten.

Dann fanden sie den ersten Toten.

Es war ein Mann aus Ians Volk, ein Zauberpriester aus dem Süden, aber Skar erkannte ihn nur am Schnitt seiner Kleidung. Sein Körper war verbrannt. Skar blieb stehen, starrte erschüttert auf den schwarz gewordenen Leichnam herab und streckte die Hand nach ihm aus, wagte es aber nicht, ihn zu berühren. Ein Gefühl eisigen Entsetzens breitete sich in ihm aus. Er hatte plötzlich das Gefühl, zu wissen, wieso ihnen bisher niemand begegnet war.

»Ihr Götter!« stöhnte Anschi. »Was -«

»Vielleicht nur ein Unfall«, unterbrach sie Skar. Die Lüge klang selbst in seinen eigenen Ohren dünn, aber er fuhr trotzdem mit einer weit ausholenden Geste fort: »Dieser ganze Trümmerhaufen kann jeden Moment in sich zusammenbrechen.« Das Sprechen bereitete ihm Mühe, und es war ganz und gar nicht nur die Hitze, die ihm die Kehle zuschnürte.

»Ein Grund mehr, sich zu beeilen«, sagte Anschi unsicher. Sie machte einen Schritt, blieb stehen, bückte sich mit sichtlichem Widerwillen und zog das Schwert des Toten aus seinem Gürtel. »Vielleicht können wir das Schlimmste noch verhindern.« Skar sah auf den Leichnam des Zauberpriesters herab und fragte sich, was in aller Welt Anschi hier noch verhindern wollte. Aber er sagte kein Wort, sondern folgte der Errish, als sie weiterging.

Den zusammengebrochenen Teil des Ganges zu passieren, erwies sich fast als unmöglich, denn die Wände glühten, und die Luft, die ihnen entgegenfauchte, war heiß wie der Atem eines Drachen. Nach einem Dutzend Schritte fanden sie den zweiten Toten. Er war auf die gleiche gräßliche Weise ums Leben gekommen wie der erste. Skar zwang sich, ihn nicht anzusehen, aber er bemerkte dennoch, daß der Teil seiner sonderbaren Rüstung, der aus Metall bestand, nicht einfach verkohlt war. Er war geschmolzen. Skar unterdrückte ein Husten, wandte sich angeekelt ab und ging rasch weiter.

Ohne Anschis Führung wäre er verloren gewesen, denn er war viel zu aufgeregt, um sich noch auf den richtigen Weg zu besinnen. Aber Anschi eilte mit weit ausgreifenden Schritten vor ihm her, eine gehetzte Gestalt, die im unheimlichen roten Glühen des Feuers selbst zu flackern schien wie ein blutiges Schemen. Sie fanden keine Leichen mehr, und Skars Furcht begann sich schon ein bißchen zu legen, als er weit vor Anschi ein grelles Licht gewahrte; Feuerschein, aber viel heller als das wabernde Licht, das sie umgab.

Die Errish ging langsamer. Der Gestank von brennendem Fleisch schlug ihnen entgegen, als sie sich der Kammer des Ssirhaa näherten, und Skar wußte schon, was sie erwartete, ehe er es sah.

Was er nicht wußte war, wie schlimm es sein würde.

Die Männer mußten sich vor dem unheimlichen Angreifer hierher zurückgezogen haben, und ihre Stellung und zerbrochene, nutzlose Waffen bewiesen, wie verbissen sie ihr Leben verteidigt hatten. Ennarts Zimmer war ein Chaos; die wenigen Möbel verbrannt und zu Asche zerfallen. In die Wände waren die gezackten schwarzen Brandspuren von Scannern eingegraben, mit denen die Verteidiger sich gewehrt haben mußten, gegen ein Wesen, das nicht zu töten war, ganz einfach, weil es nicht lebte. Eines der Fenster war getroffen worden und zu einer bizarren Struktur aus trüb gewordenem Glas zerlaufen.

Und doch hatte das Entsetzen seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Anschi deutete mit der Spitze ihres Schwertes auf den Eingang, vor dem sich die Männer zu ihrem letzten Gefecht versammelt hatten, und Skar schloß für einen Moment die Augen, sammelte jedes bißchen Kraft, das noch in ihm war, um sich gegen den letzten, allergrößten Schrecken zu wappnen.

Und trotzdem schrie er auf, als er hinter der Errish in den Tempelraum trat.

Die Kammer war so zerstört, wie es ein von Menschenhand geschaffener Raum nur sein konnte. Boden, Decke und Wände waren geborsten; handbreite Spalten und ein Spinnennetz feinerer Sprünge und Risse hatte den massiven Fels wie eine Kuppel aus Glas bersten lassen, und in der Luft hing noch immer ein Hauch der ungeheuren Hitze, die den schwarzen Basalt der Wände gesprengt hatte. Die kunstvollen Bilder und Schriftzeichen waren zerstört, und die Statue des Daij-Djan von ihrem Sockel gestürzt und wie von Hammerschlägen zermalmt. Aber von alledem sah Skar kaum etwas. Sein Blick hing wie gebannt an dem schwarzen Altarstein in der Mitte der Kuppel. Er war zerborsten, der meterhohe Metallzylinder, der daraufgestanden hatte, umgestürzt.

Skars Blick saugte sich daran fest. Sein Herz schien auszusetzen. Für Augenblicke weigerte sich sein Verstand einfach, zu glauben, was seine Augen sahen. Was er längst wußte.

Das pulsierende Purpurlicht war erloschen. Auf dem Grund des umgestürzten Zylinders lagen glitzernde Splitter, manche fein wie gemahlenes Glas, manche groß und scharfzackig wie Dolche. Der Blutkristall war zerbrochen.

Das Gefängnis war leer! Der Dämon war frei!!

Skar trat mit zitternden Händen und Knien näher an den zerborstenen Altar heran. Was er für einen massiven Steinquader gehalten hatte, war nur eine dünne Platte gewesen, unter der ein gewaltiges, halbrundes Loch in der Erde gähnte, ein Schacht, der tief in die Erde hineinführte und der aus dem gewachsenen Felsen herausgeschmolzen war. Flüssiges Gestein war wie Wachs an seinen Rändern heruntergelaufen und zu bizarren Formen erstarrt, und die Hitze war selbst jetzt noch so groß, daß es Skar nicht möglich war, sich ihm weiter als auf fünf, sechs Schritte zu nähern. Skar versuchte vergeblich, sich die Gewalten vorzustellen, die fähig waren, so etwas anzurichten.

»Mein Gott!« flüsterte Anschi hinter ihm. Ihre Stimme zitterte. Sie klang, als würde sie gleich brechen. »Es ... es ist frei! Diese Wahnsinnigen haben es entkommen lassen!«

»Ja«, sagte Skar leise. »Und es ist meine Schuld. Ich habe Ennart gezeigt, was es wirklich ist, Anschi.«

»Red keinen Unsinn«, schnappte Anschi, eine Spur zu laut und eine Spur zu heftig, um wirklich überzeugend zu klingen. »Wenn es überhaupt irgend jemandes Schuld ist, dann höchstens die jener Narren selbst! Und sie haben dafür bezahlt.« Sie deutete mit der Spitze ihres Schwertes auf eine reglose Gestalt, die kaum einen Schritt vor Skar auf dem Boden lag, ohne daß er sie bisher auch nur bemerkt hätte.

Widerstrebend senkte er den Blick, sah einen Moment auf das geschwärzte Etwas herab, das einmal ein Mensch gewesen war, und schloß stöhnend die Augen.

Der Zauberpriester war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, als wäre das, was den Felsen geschmolzen und aus seinem Altar gebrochen war, direkt über ihn hinweggewalzt. Skar erkannte ihn überhaupt nur an einem Fetzen seines schwarzen Gewandes, der als einziges nicht zu schwarzer Schlacke zusammengeschmort war. Er, und (und das war vielleicht das Entsetzlichste überhaupt) seine Hände.

Sie waren vollkommen unversehrt, und sie umklammerten noch immer die Waffe, mit der er sich vergeblich gegen seinen Mörder zu wehren versucht hatte. Ob der Mann noch begriffen haben mochte, wie gräßlich der Irrtum war, dem er erlag? Skar wußte es nicht, aber allein dieser Gedanke reichte aus, die Erinnerung an das in ihm aufsteigen zu lassen, was er gespürt hatte, als er das erste Mal hier stand. Selbst bei der bloßen Erinnerung an die Kälte und Fremdartigkeit dieses unendlich alten, unendlich bösen Ortes durchfuhr ihn ein eisiger Schauer.

Anschi berührte ihn an der Schulter und deutete auf einen Punkt hinter ihm. Skar wandte sich mühsam um und sah erst jetzt, daß auch die jenseitige Wand des Tempels verschwunden war, niedergebrochen, zerschmolzen und wie von der Faust eines Gottes zu Staub zerschlagen, als wäre das Ungeheuer einfach weitergerannt, nachdem es den Zauberpriester und seine Kameraden draußen in Ennarts Kammer getötet hatte. Dahinter loderte rotes Licht, in dem Staub tanzte, und verschwommen die Wände und Nischen eines weiteren Ganges sichtbar waren. Sie bestanden aus Stein und führten in sanfter Neigung abwärts. Der Tempel mußte größer gewesen sein, als selbst Ennart geahnt hatte.

Ohne daß einer von ihnen auch nur ein Wort sprach, wandten sie sich um und verließen die Kammer auf diesem Wege. Sie mußten aufpassen, denn der Fels war auch hier noch immer so heiß, daß sie sich mit Sicherheit schwere Verbrennungen zugefügt hätten, hätten sie ihn auch nur flüchtig berührt, und kaum hatte Skar sich hinter Anschi durch das runde Loch hindurchgebückt, da blieb die Errish auch schon wieder stehen und stieß abermals erschrocken die Luft aus.

Vor ihnen war die Spur des Dämons.

Aber es waren nicht die Fußabdrücke eines lebenden Wesens, ganz gleich welches. Es war eine Spur aus Feuer. Eine Reihe kleiner, in regelmäßigen Abständen verlaufender Tümpel aus Flammen, wo der Boden zu weißlodernder Lava geschmolzen war unter der Glut dessen, was über ihn hinwegschritt! Schnurgerade zog sie sich vor Anschi und Skar dahin und verschwand in schwer zu schätzender Entfernung hinter einer Biegung des Ganges.

Skars Hände begannen zu zittern. Er hatte das Gefühl, daß ihn von einer Sekunde zur anderen alle Kraft verließ, jedes bißchen Mut, das er jemals besessen hatte. Sie wollten dem Etwas folgen, das diese Fußabdrücke hinterlassen hatte?! dachte er hysterisch. Lächerlich! Das war ... einfach lächerlich!

Dann dachte er an den toten Zauberpriester hinter ihnen, an den geschmolzenen Fels und die entsetzliche innere Kälte, die er in der Nähe des Ungeheuers gespürt hatte, und an die ahnungslose Welt mit ihren ahnungslosen Menschen, die über ihnen war, und plötzlich kam ihm seine Angst schäbig und feige vor. Er wußte nicht, ob es überhaupt jemanden gab, der in der Lage war, den Dämon aufzuhalten, und schon gar nicht, ob er dieser Jemand war, aber wenn es auch nur den Hauch einer Chance gab, daß er es war, dann mußte er es versuchen.

»Wohin mag dieser Gang führen?« fragte Anschi. Sie flüsterte nur, aber die Wände warfen ihre Worte als tausendfach gebrochenes, verzerrtes Echo zurück, als wäre da außer ihnen und dem Feuer noch etwas, das sie auffing und wiederholte.

Skar zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Und ich glaube, auch Ennart hätte es nicht gewußt.« Vielleicht hatten nicht einmal die, die diesen Turm gebaut hatten, etwas von der Existenz dieses Ganges geahnt.

Langsam folgten sie der Spur des Ungeheuers. Skar fragte sich vergeblich, wie sie den Dämon aufhalten wollten, sollte es ihnen wirklich gelingen, ihn einzuholen und zu stellen, aber er zögerte nicht einmal im Schritt, während er langsam vor Anschi herging. Der Tunnel zog sich scheinbar endlos dahin, und es zeigte sich, daß sie sich tatsächlich in einem Teil der Katakomben befanden, der zu dem unterirdischen Tempel gehörte; auch hier waren die Wände mit Bildern und Schriftzeichen übersät, deren bloßes Betrachten ihm Unbehagen bereitete. In unregelmäßigen Abständen waren Nischen in den schwarzen Fels eingelassen, manche leer, andere halb eingestürzt und mit Schutt und Trümmern gefüllt, in wieder anderen standen wuchtige, meterhohe Marmorsäulen, die kleine, bizarr anmutende Statuen trugen, Viele davon ähnelten Menschen oder Tiergestalten, andere trugen schreckliche Kreaturen, die Skar nur flüchtig betrachtete, ehe er entsetzt und angewidert wegsah. Er versuchte sich vergeblich einzureden, daß es sich nur um bloße Phantasiegeschöpfe handeln konnte.

Wie schon beim ersten Mal, als er mit Ennart hier unten gewesen war, kam sein Zeitgefühl durcheinander. Er konnte nicht mehr sagen, ob sie seit zehn Minuten oder seit zehn Stunden durch die von rotem Licht erfüllten Gänge liefen, als der Stollen plötzlich vor ihnen endete. Es gab keine Abzweigungen oder Türen, sondern nur eine glatte Wand aus glasiertem schwarzem Stein. Die feurige Spur des Dämons endete vor einem ausgezackten, doppelt mannshohen Loch im Fels, dessen Ränder hier und da noch immer in düsterem Rot glühten. Sie mußten ihm jetzt sehr nahe sein.

Anschi blieb stehen. »Vorsichtig jetzt«, flüsterte sie. »Er kann nicht mehr weit sein. Ich ... spüre etwas.«

Skar nickte. Seine Linke glitt zum Gürtel und tastete hilfesuchend nach dem Schwert, obwohl er wußte, wie wenig ihm die Waffe nutzen würde, gegen die Kreatur, die Ennart erweckt hatte. Er fühlte, daß Anschi recht hatte, denn er spürte dasselbe wie sie: Die Nähe des Dämons.

Es war das gleiche Gefühl grauenerregender Kälte und entsetzlicher Bosheit, das er gestern gehabt hatte, als er den Kristall betrachtete; das Gefühl, etwas ungeheuer Altem und unglaublich Gnadenlosem gegenüberzustehen, einem Etwas, dessen bloße Nähe ausreichte, ihn sich klein und hilflos wie einen Wurm fühlen zu lassen, gegen das selbst das Etwas in ihm klein und lächerlich war. Er hatte Angst. Als er weiterging, rührte sich Anschi nicht.

Skar bemerkte ihr Zögern, drehte sich herum und sah sie ernst an. »Wir können nicht mehr zurück«, sagte er einfach. Keine Beschwörungen, keine Bitte. Kein Befehl. Nur diese fünf Worte. Und doch bewirkten sie mehr, als alle Beschwörungen und alles Flehen es gekonnt hätte, denn sie waren die Wahrheit. Sie konnten nicht zurück, selbst wenn sie es gewollt hätten. Wenn sie es auch nur versuchten, das wußte Skar, dann würde der Dämon sie auf der Stelle töten.

Sie gingen weiter. Es erwies sich als fast unmöglich, die Lücke im Felsen zu durchqueren, denn der Stein glühte noch immer, und Skar zog sich ein halbes Dutzend zwar harmloser, aber sehr schmerzhafter Verbrennungen an Armen und Beinen zu, während er mit zusammengebissenen Zähnen hinter Anschi herlief. Er hatte instinktiv erwartet, auf eine Fortsetzung der Katakomben zu stoßen, aber nachdem sie die Felswand durchschritten hatten, fanden sie sich unvermittelt in einem niedrigen, aus grauem Stein gemauerten Gewölbe wieder: älter als der Turm, aber längst nicht so alt wie der Tempel der Alten. Einem Keller, vielleicht sogar einem Verlies, das ganz gewiß nicht Teil des uralten Labyrinths war. Vor ihnen erstreckte sich die flammende Spur des Ungeheuers, aber sie glühte längst nicht mehr so grell wie drüben im Nischengang, und in einiger Entfernung begannen sich die Fußabdrücke sogar zu verlieren; waren keine kochenden Seen aus brennender Lava mehr, sondern nur noch rote, schließlich mattleuchtende Stapfer auf dem feuchten Boden. Sie führten zu einer Treppe, deren Stufen sich in grauer Ungewißheit verloren.

Obwohl sie jetzt nicht mehr mit der Glut der Hölle in den Fels eingebrannt war, verloren sie die Spur des Dämons nicht, denn wo seine Füße den Boden berührt hatten, dampfte er noch: sie folgten der Treppe, die gute zwei Dutzend Stufen weit in die Höhe führte, durchquerten einen weiteren, anscheinend vollkommen leeren Raum und fanden sich plötzlich unter einer niedrigen Kuppel wieder, die sich gänzlich von der unterschied, die sie gerade durchquert hatten. Ihre Wände bestanden aus graubraunem Fels, der aber kaum mehr zu sehen war, denn sie war mit geradezu verschwenderischer Pracht ausgestattet - wohin Skar auch blickte, sah er goldenen und silbernen Zierrat, Schmuck und Teller und Krüge aus edlen Metallen, Kerzenständer und tausend andere Dinge, alle aus den alleredelsten Materialien gefertigt. Hunderte von Kerzen tauchten den Raum in fast taghelles Licht. In der Mitte des kleinen Raumes stand eine Art steinerner Altar, aus einem einzigen, gewaltigen Felsbrocken herausgemeißelt. Aber auch er war kaum als solcher zu erkennen, denn er war über und über mit bestickten Decken und Gold und Silber und allen nur denkbaren Opfergaben übersät. Auf der anderen Seite der Kammer sah Skar die Stufen einer steinernen Treppe, die zu einer nur halb geschlossenen Tür aus mattem Stahl hinaufführten. Dort oben mußte wieder jener Bereich des Turmes beginnen, den Ennart und seine Zauberpriester beherrscht hatten.

Anschi erschrak bis ins Mark, als sie all diese Pracht erblickte. Trotz des unnatürlichen Lichtes, das dieses Meer von Kerzen schuf, sah Skar, wie sie erbleichte. Ihre Augen wurden dunkel vor Furcht.

»Was hast du, Anschi?« fragte er alarmiert. »Du kennst diesen Raum also doch?«

Anschi nickte. Die Bewegung wirkte so abgehackt, als koste sie ihr unendliche Kraft.

»Der... Gebetsraum«, stammelte sie. »Das hier ist... der Gebetsraum der Margoi. Hierhin zog sie sich zurück, um zu meditieren und... mit den Göttern zu sprechen. Und zu den Drachen!«

Skar sah die Errish verständnislos an.

»Den Drachen?«

»Ja, begreifst du denn immer noch nicht?« Plötzlich sprang sie auf Skar zu, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn wild. »Er will zu ihnen!« schrie sie. »Er will sie, nicht uns!« Ihre Worte trafen Skar wie ein Schlag ins Gesicht. Er hatte niemals darüber nachgedacht, und im Grunde war es ihm sogar herzlich egal, woher die Macht der Margoi kam, aber wenn Anschis Worte der Wahrheit entsprachen, dann...

Ja, dachte er schaudernd, dann konnte das durchaus das Ende der Welt sein.

Sie konnten die Zauberpriester besiegen. Sie konnten die Quorrl schlagen, und sie konnten vielleicht sogar die Ssirhaa besiegen, aber die Drachen ...

Skar weigerte sich einfach, den Gedanken zu Ende zu denken. Sie konnten Krieg gegen denkende Wesen führen und ihn vielleicht gewinnen, auch wenn sie gegen Zauberei und uralte Magie antreten mußten. Die Drachen würden wie eine neue Sintflut aus Feuer und Tod über Enwor hereinbrechen und sie einfach davonfegen.

Verzweifelt rannten sie los, die ausgetretenen Stufen hinauf, einen weiteren, von zahllosen Kerzen erhellten Gang entlang, dann wieder eine Treppe... das stählerne Labyrinth des Turmes erwies sich dem des Dämons als beinahe ebenbürtig, nicht in seiner Größe, wohl aber in seiner Kompliziertheit. Hätten sie nicht ab und zu eine dampfende Stelle auf dem Boden, ein Stück verschmorten Teppichs oder einen Hauch von Hitze und Schwefelgestanks gespürt, sie hätten die Spur des Ungeheuers zweifellos binnen weniger Augenblicke verloren. Aber auch so irrten sie mehr als zehn Minuten durch das Gewirr von Treppen, Gängen, Katakomben und Kellern, und Anschis Verzweiflung stieg im gleichen Maße, in dem Skars Mut sank. Abermals fragte er sich, wie um alles in der Welt sie das Ungeheuer aufhalten wollten, selbst wenn es ihnen wirklich gelang, es einzuholen, und abermals fand er keine Antwort. Die Macht seines Dunklen Bruders würde ihm nicht helfen. Sie reichte nicht aus.

Dann stürmten sie durch eine schmale Tür - und fanden sich unvermittelt in einer gewaltigen, rechteckigen Halle aus schwarzem Metall wieder. Skar blieb abrupt stehen und sah sich um. Er hatte dieses ungeheuerliche Bauwerk bisher nur von außen gesehen und aus der verzerrenden Perspektive seines Fensters heraus, aber jetzt, als er in ihm stand, unter dem titanischen Dach, das sich wie ein stählerner Himmel über ihnen spannte, kam es ihm noch viel, viel größer vor. Er fühlte sich erschüttert, allein durch den bloßen Anblick, winzig und hilflos und schwach. Sie wollten gegen ein Volk kämpfen, das dies hier erschaffen hatte? Lächerlich.

Sie waren nicht allein. Die Katastrophe hatte Ians Brüder in Scharen hierhergetrieben; es mußten Hunderte sein, die kopflos durcheinanderrannten. Aber auch ebenso viele, die auf den metallenen Fliesen auf die Knie gefallen waren und... beteten? dachte Skar verblüfft. Nein, das war es nicht. Sie hockten da, nach vorne gebeugt und zum Teil mit erhobenen Händen, aber ihre Gesichter waren starr, wie in Trance versunken. Es war etwas Ähnliches wie das, was die Mädchen getan hatten, in jener schrecklichen Nacht an der Küste. Sie versuchten das Ungeheuer zu bannen, dachte er. Aber er wußte auch, daß sie es nicht schaffen würden. Es war leichter, ein Feuer zu legen, als es zu löschen.

Plötzlich fuhr Anschi zusammen, prallte zurück und zerrte ihn hastig in den Schatten der Tür. »Ian!« flüsterte sie.

Skar sah verwirrt in die Richtung, in die ihr ausgestreckter Arm deutete - und sog ebenfalls erschrocken die Luft ein. Zwischen den Zauberpriestern bewegte sich eine hochgewachsene, schlanke Gestalt mit schütterem hellem Haar.

»Wie, zum Teufel, ist er so schnell da rausgekommen?« flüsterte Anschi verstört.

Vielleicht ist er es gar nicht, dachte Skar. Aufmerksam musterte er den Zauberer. Es war Ian. Sein Gesicht war unverkennbar, seine Bewegungen, seine Art, die Worte mit kleinen, befehlenden Gesten zu unterstreichen - es gab keinen Zweifel. Und doch war es unmöglich ...

Er signalisierte der Errish mit Gesten, weiterzugehen. Schnell, aber ohne zu rennen, bewegten sie sich durch die Halle, wobei ihnen der Umstand zugute kam, daß die Spur des Dämons dicht an der Rückwand entlangführte und unter den Zauberpriestern eine solche Verwirrung herrschte, daß niemand von ihnen Notiz zu nehmen schien.

Trotzdem ertappte sich Skar ein paarmal dabei, wie er über die Schulter zu Ian zurücksah. Wenn schon nicht die anderen, so würde er sie ganz bestimmt erkennen. Skar verstand ohnehin nicht, warum er nicht längst Alarm ausgelöst und zumindest einen Teil seiner Männer zur Jagd auf die entflohenen Gefangenen abgestellt hatte.

Anschi blieb plötzlich stehen. »Er will nicht zu ...«, flüsterte sie. Sonderbarerweise klang ihre Stimme ganz und gar nicht erleichtert, sondern eher noch entsetzter. »Er will... großer Gott, ich glaube, er will...«

Skar erfuhr nicht, wohin der Dämon Anschis Meinung nach gegangen war. Die Errish schrie auf, riß ihr Schwert in die Höhe und rannte los, wobei es ihr völlig gleich zu sein schien, ob Skar ihr folgte oder nicht - ebenso, wie es sie nicht zu kümmern schien, daß Ians Kopf mit einem Ruck in die Höhe flog und eine Mischung aus Schrecken und jäh aufflammendem Zorn auf seinen Zügen erschien.

Skar beobachtete den Zauberpriester einen Herzschlag lang, ehe er Anschi folgte. Ian fuhr in die Höhe, wie von der Tarantel gestochen, machte aber keinen Versuch, Anschi und ihm zu folgen, sondern wirbelte im Gegenteil auf der Stelle herum und rannte auf den Ausgang zu. Er hatte aus seinem ersten Zusammentreffen mit ihnen gelernt, dachte Skar bedrückt. Aber er würde wiederkommen, in wenigen Augenblicken. Und wahrscheinlich würde er eine ganze Armee mitbringen.

Er zögerte jetzt nicht länger, sondern jagte hinter Anschi her, so schnell er nur konnte. Trotzdem hatte die Errish die Halle fast durchquert, bis es Skar gelang, sie einzuholen. Eine weitere, sehr schmale Seitentür tauchte vor ihnen auf. Anschi machte sich nicht die Mühe, den Riegel zu öffnen, sondern rammte sie einfach mit der Schulter auf und hetzte weiter, ohne auch nur im Schritt innezuhalten. Skar war jetzt sicher, daß es ganz und gar nicht das erste Mal war, daß die junge Errish sich in diesem Turm aufhielt.

Es ging wieder in die Tiefe. Ein Dutzend Stufen führte zu einem kleinen, vollkommen leeren Gewölbekeller herab, dann durch einen neuerlichen Gang, und schließlich befanden sie sich wieder in einem Keller, wo Anschi stehenblieb und sich gehetzt umsah. Der Raum war rund und hatte eine kuppelförmige Decke, und er war leer bis auf eine sonderbare Anordnung in seiner Mitte, deren Bedeutung Skar im ersten Moment nicht klar wurde: Es war ein Kreis aus silbernen, halb mannshohen Kerzenständern, in dessen Zentrum sich ein tonnenschwerer Block aus schwarzem Basalt erhob, so sorgsam poliert, daß seine Oberfläche wie Perlmutt schimmerte. Auf diesem Block stand eine Schale aus strahlend weißem Marmor, in der eine Kugel von der Größe eines Kinderkopfes lag. Sie bestand aus Bronze und war ebenso sorgsam poliert wie der Altarstein. Das Licht der Kerzen spiegelte sich wie der Schein zahlloser winziger Sterne auf ihrer Oberfläche und ließ Skar blinzeln.

»Was ist das?« fragte Skar. Nervös sah er zur Tür. Sie hatten bestenfalls noch Minuten, bis Ian mit seinen Männern hier auftauchen würde. Und der Raum hatte keinen zweiten Ausgang! »Der Nabel der Welt«, antwortete Anschi ernsthaft. »Wenn er ihn zerstört...« Sie sprach nicht weiter, aber das war auch nicht nötig. Skar starrte die so harmlos aussehende Kugel in ihrer Marmorschale an und fragte sich verzweifelt, ob Anschi die Wahrheit gesprochen hatte, oder ob diese Relique nur ein weiteres, von Menschen geschaffenes Symbol war. Aber irgendwie hatte er gar keine große Lust, es herauszufinden...

»Er ist hier«, keuchte Anschi. »Ich spüre es.«

Skar wollte antworten, aber in diesem Moment hörte er ein Geräusch hinter sich, fuhr herum - und erstarrte.

Vor ihnen stand der Dämon.

Anschi hatte recht gehabt. Er war hier, und er hatte auf sie gewartet.

Ein Gigant, mehr als zweieinhalb Meter hoch, mit der Gestalt eines Menschen und einem häßlichen, in zwei absurd großen Hörnern endendem Schädel. Skar sah keine Spur des berüchtigten Klumpfußes, auch keinen peitschenden Schwanz oder Flügel, nichts von all den Scheußlichkeiten, mit denen die Menschen die Satansgestalt im nachhinein ausgestattet hatten, aber was er sah, das war entsetzlicher als alles, was er je erblickt hatte.

Der Dämon hatte keinen wirklichen Körper, sondern schien nur aus einer Masse tobender, höllisch heißer Funken zu bestehen, eine kochende Wolke aus flammender Bewegung, die Hitze und Furcht verströmte wie ein Vulkan Lava und Asche. Obwohl er in der brodelnden Funkenmasse seines Gesichtes weder Mund noch Augen ausmachen konnte, spürte er den Blick des Entsetzlichen wie eine weißglühende Hand. Das Ungeheuer starrte ihn an. Und es war ein Blick, der bis in die verborgendsten Tiefen seiner Seele hinabreichte.

Dann bewegte sich das Ungeheuer. Seine Hand streckte sich aus, hinterließ eine rauchende Spur auf dem schwarzen Basalt des Steinaltars und streifte die Bronzekugel.

Ein ungeheures Dröhnen ließ den Boden erzittern. Staub und kleine Steine regneten von der Decke, die silbernen Kerzenhalter tanzten, und über ihren Köpfen erscholl ein Krachen und Bersten und Poltern, als stürze der gesamte Turm zusammen. Der Boden zuckte wie ein lebendes Wesen, das sich in Krämpfen wand. Wieder war es Anschi, die ihre Erstarrung als erste überwand. Plötzlich schrie sie auf, so gellend und schrill, als hätte man ihr einen weißglühenden Dolch in den Leib gestoßen, riß ihr Schwert mit beiden Händen in die Höhe und sprang mit einem gewaltigen Satz vor, wobei sie zwei der Kerzenständer umwarf. Noch ehe Skar wirklich begriff, was sie tat, flankte sie über den Altarstein hinweg, stand plötzlich unmittelbar vor dem Dämon und schlug mit aller Gewalt zu. Ihre Klinge schnitt pfeifend durch die Luft, traf den Feuerkörper des Entsetzlichen und glitt durch ihn hindurch, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten.

Dann schlug der Dämon zu. Es war nur seine ungeheure Größe, die die Bewegung langsam erscheinen ließ; in Wirklichkeit griff seine Flammenklaue in Gedankenschnelle nach Anschis Schwert und entrang ihr die Waffe. Die Klinge flammte in greller Weißglut auf. Geschmolzenes Metall tropfte zu Boden, und Anschi torkelte mit einem gurgelnden Laut zurück. Das Ungeheuer hatte sie nur gestreift, aber dort, wo seine Finger den bestickten schwarzen Mantel berührt hatten, war das Leinen zu Asche zerfallen. Anschi schrie vor Schmerz, brach in die Knie und krümmte sich. Ihr Gesicht war eine Grimasse aus Pein und Furcht, als sich der Dämon mit einer fast gemächlichen, aber unglaublich kraftvollen Bewegung umwandte und auf sie zustapfte.

Skar schrie entsetzt auf, als er sah, wie sich die Flammenhände des Entsetzlichen nach der knieenden Errish ausstreckten. Er dachte nicht mehr, und er hatte auch keine Angst mehr. Er sah nur die grauenhaften Hände des Ungeheuers sich Anschis Gesicht nähern, und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er noch einmal das Bild des verbrannten Zauberpriesters zu sehen. »NEIN!« schrie er mit überschnappender Stimme. »Tu es nicht! Laß sie! NIMM MICH!«

Und sprang.

Sein Satz war wesentlich weniger elegant als der Anschis, aber ebenso kraftvoll. Mit einem einzigen, verzweifelten Schritt durchquerte er den durchbrochenen Kreis, den die Kerzenhalter bildeten, und warf sich mit weit ausgebreiteten Armen zwischen Anschi und das Ungeheuer.

Und lernte die Hölle kennen.

Das Ungeheuer füllte die Welt vor ihm aus, machte sie zu einem Chaos aus durcheinanderwirbelnden Funken und Glut und Hitze, Hitze, Hitze... Er wollte schreien, aber die Laute wurden zu flüssigem Feuer in seiner Kehle. Lava floß durch seine Adern, und jeder einzelne Nerv in seinem Körper schien in weißer Glut aufzuflammen. Der Funkenleib des Ungeheuers hüllte ihn ein, umschloß ihn wie ein Mantel aus tanzender Glut, durchdrang seinen Körper - und zog sich zurück.

Im ersten Moment begriff Skar es gar nicht. Wie Anschi war er auf die Knie herabgefallen und wimmerte vor Schmerz und Angst, die linke Hand auf den Boden gestützt, der glühend heiß geworden war, die andere in einer abwehrenden Geste erhoben. Irgendwie begriff er, daß er noch lebte, und er wunderte sich auch darüber, aber das stärkste Gefühl in ihm war die Angst, ein Entsetzen, das tiefer war als alles, was er sich vorgestellt hatte, ein ungeheures Grauen, und es war nicht die Angst vor dem Tod oder dem Schmerz, der ihm vorausgehen mochte, sondern nur die Angst vor ihm, dem Ding vor ihm, das so entsetzlich fremd war, so anders als alles, daß Panik die einzig mögliche Reaktion auf sein Dasein war. Plötzlich begriff er, warum die Menschen die Dämonen gefürchtet hatten, wenn es wirklich ein Dämon war, dem er gegenüberstand: es war nicht die Angst vor dem, was sie tun konnten, nicht die Angst vor dem Tod und der Verheerung, die sie brachten, sondern die bloße Angst vor ihrem Dasein. Sie waren Teil einer anderen, entsetzlichen Welt, die zu fremd und bizarr war, als daß ein Mensch sie ertragen konnte. Aber wieso lebte er dann noch?

Stöhnend hob Skar die Hand, wischte sich die Tränen aus den Augen und sah auf. Der Dämon war fort.

Wo er gestanden hatte, rauchte der Boden, und in der Luft hing noch sein Schwefelgestank und ein Hauch entsetzlicher Hitze, aber der tobende Funkenleib war verschwunden, so spurlos, als wäre er niemals dagewesen. Sie hatten gewonnen. Die Erkenntnis sickerte nur langsam in sein Bewußtsein, als wäre der Gedanke einfach zu bizarr, um ihn zu akzeptieren. Sie hatten gewonnen. Sie hatten den Dämon vertrieben!

»Wir ... wir haben es geschafft, Anschi«, stammelte er ungläubig. »Es ist fort!« Aber war es das wirklich? Oder hatte es statt der Errish nur ein anderes, viel lohnenderes Opfer gefunden, das - Skar weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Es war nicht in ihm. Es war fort, irgendwo, vielleicht zurückgeschreckt vor dem Etwas, das es in seiner Seele entdeckt haben mochte, vielleicht einfach nur weg. Es mußte einfach so sein.

»Es ist fort, Anschi«, sagte er noch einmal, fast als wäre es nötig, es laut auszusprechen, um es zur Wahrheit werden zu lassen. Ein leises Stöhnen antwortete ihm. Skar zuckte zusammen, fuhr herum und hob erschrocken die Hand vor den Mund, als er Anschi erblickte.

Die Errish war vollends zu Boden gestürzt. Ihr Gesicht war verzerrt, und ihr verbrannter Mantel färbte sich allmählich dunkel und rot.

»Du bist verletzt!« keuchte Skar. Hastig beugte er sich vor und wollte Anschi in die Höhe ziehen, aber die Errish schob seine Hand beiseite.

»Es... geht schon«, stöhnte sie. Ihr Gesicht war grau vor Schmerz. »Es tut weh, aber... ich werde es überleben.« Sie sah Skar an, und ein neuer, nicht zu deutender Ausdruck trat in ihre Augen. »Du ... bist wahnsinnig«, murmelte sie. »Um ein Haar hätte er dich ... umgebracht!«

»So wie dich«, antwortete Skar ruhig.

»Das war etwas anderes«, widersprach Anschi. »Ich ... großer Gott, du... du hast ihn besiegt! Wie hast du das gemacht?« Skar zuckte verwirrt die Achseln. »Ich weiß es nicht«, sagte er, und das war die Wahrheit. Er hatte es einfach getan. Und er hatte gewußt, daß er ihm nichts antun würde. Wenigstens jetzt nicht.

»Aber ich glaube, du bist mir ein paar Antworten schuldig«, sagte er. »Was ist das hier alles? Dieser Turm, dieser Raum, dieses ...« Er deutete hilflos auf die Marmorschale. Wie hatte Anschi sie genannt? Den Nabel der Welt?

»Du kennst das alles hier«, behauptete er.

Anschi schüttelte ein paarmal den Kopf, dann stemmte sie sich mühsam in die Höhe, wobei sie sich mit der linken Hand auf den Altarstein abstützte. Aber sie stand aus eigener Kraft. Ihre Verletzung schien tatsächlich nicht so schlimm zu sein, wie Skar im ersten Augenblick angenommen hatte. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte sie ernst.

Skar nickte. »Dazu sind Freunde da, oder? Aber das ist keine Antwort auf meine Fragen.«

»Ich weiß«, sagte Anschi. »Später, Skar. Nicht jetzt.« Sie deutete zur Tür. »Sie werden gleich hier sein.«

»Jetzt«, beharrte Skar. Anschi hatte recht, hundertmal recht. Ian hatte sie und die Errish erkannt, und er war gewiß nicht davongestürzt, um vor ihnen zu fliehen. Jeder Augenblick, den sie hier unten verbrachten, konnte über ihr Leben entscheiden. Aber er kannte Anschi mittlerweile viel zu gut, um nicht zu wissen, daß sie ihm niemals antworten würde, wenn nicht jetzt und hier. Mit einer zornigen Bewegung riß er sie zurück, als sie aufstehen und an ihm vorbeigehen wollte.

»Jetzt!« sagte er noch einmal. »Was ist hier los? Was bedeutet dieser Turm? Dieses... Wesen?«

Anschi riß sich los, machte aber keinen weiteren Versuch, die Kammer zu verlassen. Statt dessen tat sie etwas, was Skar im ersten Augenblick verblüffte: Sie bückte sich nach den umgeworfenen Kerzenständern, stellte sie wieder auf und zündete sorgfältig die erloschenen Kerzen wieder an.

»Was es ist?« Sie zuckte mit den Schultern, ohne ihn anzusehen. »Ich weiß es nicht, Skar. Ich bin nicht die Margoi, sondern nur eine kleine Schülerin. Ich war nicht einmal besonders weit, als es geschah.«

»Aber du warst schon einmal hier.«

»Sicher. Dies ist der Turm der Drachen. Der Ort, an dem wir ihnen am nächsten sein können. Wir alle kommen hierher, früher oder später.«

»Auch...«

Er sprach nicht weiter, aber Anschi erriet seine Frage. Sie drehte sich jetzt doch zu ihm herum.

»Auch Kiina?« Sie schüttelte den Kopf, als er nickte, und lächelte traurig. »Nein. Ich weiß, daß dir viel an dem Mädchen liegt. Du liebst sie, nicht wahr?«

Skar nickte.

»Aber sie war niemals hier. Sie wußte von der Existenz dieses Ortes, aber für sie war er nur eine Ruine. Ein leeres Schloß, in das sich die Margoi zurückzog, um zu meditieren. Sie ist keine von uns.«

»Sie ist die Tochter eurer Königin!«

»Sie ist ein Bastard«, antwortete Anschi, aber sie tat es mit einem Lächeln, das aus dem Begriff eher eine Liebkosung als ein Schimpfwort machte. »Ein Kind, das nie geboren werden durfte. Vielleicht hast du recht, und es ist etwas Besonderes an ihr, aber es ist nicht unsere Macht, die sie geerbt hat.«

»Sie hat einen Drachen geritten, als ich sie das erste Mal sah.« Anschi machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist leicht, Satai. Jeder kann es lernen, selbst du. Aber einen Drachen zu reiten und ihn zu beherrschen ist nicht dasselbe. Sie wußte nichts von diesem Ort und seiner wirklichen Bedeutung.« Sie schloß die Augen, stützte sich schwer auf den Rand der weißen Marmorschale und streckte die Hände aus, bis ihre gespreizten Finger wenige Millimeter über der Oberfläche der polierten Bronzekugel verharrten. Aus irgendeinem Grund wagte sie es nicht, sie zu berühren.

»Und was ist ihre wahre Bedeutung?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Anschi. »Niemand wußte es, bisher. Nicht einmal die Margoi. Ein Ort großer Macht. Der Ort, an dem es uns am leichtesten fiel, unsere Gedanken mit denen der Drachen zu verschmelzen. Ein magischer Ort. Glaubten wir.«

»Und jetzt glaubst du das nicht mehr?«

Anschi öffnete die Augen. Sie hatte sich weit genug in der Gewalt, sogar zu lächeln, aber ihr Blick war wie ein stummer Schrei. »Ich ... ich weiß nicht mehr, was ich noch glauben kann«, flüsterte sie. »Ich dachte, es wäre so. Wir... wir alle dachten, es wäre unsere Kraft, die die Drachen lenkt. Vielleicht war es nur dieser Turm. Diese ... Maschinen.«

Skar begriff, was sie meinte. Und im gleichen Moment begriff er auch den Schmerz, den er in ihren Augen las. Vielleicht hatte sie recht, und was die Errish über fünfzigtausend Generationen hinweg für eine magische Begabung gehalten hatten, war nichts weiter als das Wirken der gleichen Kraft gewesen, die sich Ennart zunutze gemacht hatte, um die Gedanken der Menschen mit Haß zu vergiften. Wenn es so war, dann mußte für Anschi eine Welt zusammenbrechen, in diesem Moment.

Plötzlich lachte sie, leise und bitter und so lange, bis ihr Lachen in ein halblautes Schluchzen überging. Skar wollte zu ihr gehen und sie tröstend an der Schulter berühren, aber Anschi wich vor seiner Berührung zurück.

»Es ist alles gelogen, Skar. Die Geschichte dieser ganzen Welt ist auf Lügen aufgebaut, und sie besteht aus nichts als Lügen. Vielleicht ist es richtig, wenn sie untergeht.«

»Aber nicht so«, widersprach Skar. »Wenn dieses ...« Er suchte nach Worten, fand keine und machte eine hilflose Handbewegung. »Wenn dieses Etwas hier gewinnt, Anschi, dann wird hinterher niemand mehr da sein, um die Wahrheit zu sagen.«

»Welche Wahrheit?« Anschis Augen flammten zornig. »Daß wir den Quorrl ihre Welt gestohlen haben? Daß unsere Macht nichts anderes ist als die schäbigen Trümmer ihrer Zivilisation?«

»Und wenn? Es ist eine Million Jahre her, Anschi. Wir sind längst nicht mehr die, die wir einst waren. So wenig wie die Quorrl. Titch hat das erkannt. Und du kannst es auch. Vielleicht ist alles wahr, was Ennart erzählt hat, und ja, verdammt, vielleicht sind die Errish keine Zauberinnen, sondern nur Frauen, die gelernt haben, die alten Kräfte zu nutzen. Und? Das ist für mich nur ein Grund mehr, diese verdammten Ssirhaa zu besiegen! Laß diese Welt zum Teufel gehen! Wir bauen eine neue auf!« Zu seiner Überraschung lächelte Anschi. »Jetzt klingst du wie Ennart, weißt du das?«

»Vielleicht ist Größenwahn ansteckend«, sagte Skar lächelnd. Aber er wußte sehr wohl, daß Anschi recht hatte. Vielleicht war dies einer der Gründe gewesen, aus denen es ihm so schwergefallen war, den Ssirhaa zu hassen oder auch nur zu verachten. Im Grunde verfolgten sie die gleichen Ziele. Skar hatte Enwor niemals geliebt. Es war seine Heimat, aber es war keine Welt, die man lieben konnte, sondern nur hassen, und allenfalls fürchten. Aber er hatte sie niemals zerstören wollen, nur verändern. »Komm«, sagte er mit einer Geste zur Tür. »Vielleicht holen wir Titch und Kiina noch ein.«

Der Weg zurück zur Kammer der Daktylen glich einem Alptraum. Es war nicht so, daß sie angegriffen oder verfolgt wurden, aber das Innere des Turms war ein einziges Chaos. Das gigantische Gebäude starb, aber es war kein leichter Tod, und mit jedem Schritt hatte Skar mehr das Gefühl, sich im Leib eines riesigen, lebenden Wesens zu befinden, das sich in Todeskrämpfen wand. Überall war Feuer ausgebrochen. Ein paar Korridore, durch die Anschi ihn führte, waren zusammengestürzt oder glühten wie das Innere eines gigantischen Ofens, und mehr als einmal stießen sie auf die Leichen von Zauberpriestern, manche in ihre unheimlichen schwarzen Rüstungen gehüllt, ohne daß sie ihnen hätten Schutz bieten können. Sie brauchten fast fünfmal so lange, um den Weg zurück zu bewältigen, und aus Skars Vermutung wurde beinahe Gewißheit. Ennart hatte den Turm aus einem Schlaf geweckt, der ihn eine Million Jahre lang vor dem Verfall bewahrt hatte, aber er hatte ihn damit auch umgebracht; vielleicht, ohne es selbst auch nur zu ahnen. Vielleicht würde es Ian und seinen Brüdern sogar gelingen, den endgültigen Zusammenbruch noch einmal abzuwenden, aber die unheimliche Macht, die dieser Turm einst besessen hatte, war vergangen. Endgültig.

Als sie die letzte Treppe hinaufstürmten und sich der Halle mit den Daktylen näherten, stießen sie auf einen weiteren toten Zauberpriester. Aber der Mann war nicht verbrannt oder von einem niederstürzenden Trümmerstück erschlagen worden - jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Skar blieb stehen, betrachtete den Toten einen Moment lang alarmiert und sah Anschi fragend an. Sie deutete seinen Blick richtig und nickte. »Ich bin nicht die einzige Errish, die nicht mehr unter Ennarts Einfluß steht«, sagte sie.

Skar schwieg. Er empfand keinerlei Triumph beim Anblick des Toten. Der Sieg bereitete ihm schon lange keine Zufriedenheit mehr. Nicht einmal mehr Erleichterung. Jeder Tote in diesem Kampf war ein Toter zuviel, denn er stärkte nur ihre wahren Feinde. Trotzdem zog er sein Schwert und bedeutete Anschi mit Gesten, zurückzubleiben, als sie sich der Tür näherten.

Die Halle hatte sich verändert. Vor der offenen nördlichen Wand zogen dichte Rauchschwaden vorbei, und der Himmel über dem Turm glühte rot im Widerschein der Flammen, die in seinem Hof tobten. Der Teil der gegenüberliegenden Wand, den Skar sehen konnte, war von rechteckigen roten Feuernestern übersät; Fenstern, hinter denen Flammen loderten. Skar fragte sich, was in einem Gebäude, das ganz und gar aus Stahl bestand, brennen konnte, aber er fand keine Antwort.

Nur noch drei der großen Drachenvögel hielten sich in der Kammer auf. Direkt hinter der Tür lagen die Leichen eines halben Dutzend Zauberpriester, niedergestreckt von Scannerschüssen oder Messerstichen, und unter ihnen gewahrte Skar auch die reglose Gestalt einer Errish. Zwei weitere Schwestern Anschis standen hoch aufgerichtet hinter den Toten. Die Waffen in ihren Händen waren drohend auf Skar gerichtet.

Anschi stieß einen abgehackten, befehlenden Laut aus, schob Skar einfach beiseite und lief zu den Errish hinüber. Die Waffen der beiden Mädchen blieben unverrückbar auf Skar gerichtet, während Anschi mit hastiger, schneller Stimme und in einem unverständlichen Dialekt auf sie einredete, aber er konnte sehen, wie sich das Mißtrauen in ihrem Blick legte und vorsichtiger Erleichterung Platz machte.

»Wo sind die anderen?« fragte er, als Anschi zu ihm zurückkam.

»Fort«, antwortete die Errish. »Zusammen mit Kiina und dem Quorrl. Diese drei haben auf uns gewartet.«

»Woher wußten sie, wo wir waren?«

»Von Kiina«, antwortete Anschi mit einem raschen, fast mütterlichen Lächeln. »Hast du wirklich geglaubt, daß sie ohne dich geht? Sie hat der Daktyle einfach befohlen, den Quorrl abzuwerfen, und dann so lange auf ihn eingeschlagen, bis er aufgegeben hat.«

Trotz des Ernstes ihrer Lage mußte Skar lächeln. Er hätte sich denken können, daß Kiina sich nicht befehlen lassen würde, was sie zu tun hatte. Schon gar nicht von ihm.

»So brauchen wir sie wenigstens nicht zu suchen«, fuhr Anschi fort. »Sie sind in einer Höhle in den Bergen, die ich kenne.« Sie machte eine fragende Geste auf die Daktylen. »Willst du mit mir reiten?«

Skar warf einen mißtrauischen Blick auf die riesigen Flugreptilien. Er war schon mehrmals auf einer Daktyle geritten, aber es war ein Erlebnis, das jedesmal gleich unangenehm war. Ein Flug in fünftausend Fuß Höhe, noch dazu auf dem Rücken einer Bestie, die wenig Hemmungen hatte, eine kleine Pause einzulegen, um ihren Reiter zu verspeisen, war etwas, woran er sich nie gewöhnen würde.

»Sicher«, sagte er. »Wir -«

Der Rest seiner Antwort ging in einem zornigen Schrei unter, der von der Tür her erscholl. Skar sah erschrocken auf und gewahrte eine große, in mattes Schwarz gekleidete Gestalt mit schütterem blonden Haar, und hinter ihr die Schatten von zwei, drei weiteren Männern.

Ian brüllte wie von Sinnen, als er Anschi und ihn gewahrte, und riß sein Schwert in die Höhe.

»Nicht, Ian!« schrie Skar. »Laß dir erklären -«

Aber der Zauberpriester hörte seine Worte gar nicht. Mit einem zornigen Schrei sprang er auf ihn zu, hob sein Schwert und ließ die Klinge mit aller Gewalt niedersausen.

Und plötzlich ging alles so schnell, daß es Skar hinterher wie ein Alptraum vorkam: Er sah das gewaltige Schwert des Zauberpriesters auf sich herabfahren, und er begriff zweierlei gleichzeitig: daß er viel zu langsam war, um dem Schlag noch ausweichen zu können, und daß ihn der Hieb vom Kopf bis zum Gürtel spalten mußte, denn der Zauberpriester schlug mit jener übermenschlichen Gewalt zu, die nur absoluter Zorn oder reine Todesangst bewirken konnte.

Und im gleichen Bruchteil einer Sekunde fühlte er sich an der Schulter gepackt und herumgerissen. Er wußte, was Anschi tat, aber er war unfähig, darauf zu reagieren.

Die Errish warf sich mit weit ausgebreiteten Armen zwischen ihn und Ian und fing den Schwertstreich mit ihrem eigenen Leben ab.

Skar vergaß das Geräusch nie mehr, mit dem Ians Schwert ihre Brust durchbohrte. Anschi keuchte, umklammerte mit beiden Händen die Klinge des anderen, stand einen Moment vollkommen reglos und brach dann ohne einen Laut in die Knie.

Irgend etwas in Skar zerbrach. Er spürte, wie sich Hände nach ihm ausstreckten und ihn zu halten versuchten, sehr viele, sehr starke Hände, aber er schüttelte sie einfach ab. Ein Faustschlag traf seinen Nacken. Er spürte ihn nicht einmal. Mit einem Satz war er bei Ian und schlug ihm die gefalteten Fäuste in den Leib. Der Zauberpriester gurgelte, krümmte sich vor Schmerz und kippte lautlos zur Seite, als Skars Handkante seinen Hals traf. Sein Schwert fiel mit einem hellen Scheppern zu Boden und rutschte davon.

Fast im gleichen Moment flammte der Scanner einer der beiden Errish auf und verwandelte den Mann unter der Tür in ein zerberstendes Schemen aus Licht und Hitze.

Skar ließ den beiden anderen keine Chance. Mit einer wütenden Bewegung zerrte er Ian wieder in die Höhe, warf ihn gegen einen der Krieger und schlug ihn vollends nieder, ehe dieser noch begriff, was geschah. Der andere versuchte seine Waffe zu ziehen, aber seine Bewegung war viel zu langsam; Skar packte seinen Arm, verdrehte ihn und schlug dem Mann die Handkante in den Nacken, als er sich vor Schmerz krümmte. Dann war er wieder über Ian, riß ihn ein zweites Mal in die Höhe und schmetterte ihn gegen die Wand. Seine Faust traf Ians Gesicht mit der Kraft eines Hammerschlages und brach etwas darin. Blut schoß aus Ians Nase und Mund. Ian keuchte vor Schmerz, versuchte die Hände zu heben und gleichzeitig nach ihm zu treten, aber Skar bemerkte beides kaum. So, wie er vor Augenblicken unfähig gewesen war, sich zu bewegen, konnte er plötzlich nicht mehr aufhören. Es war wie der Einfluß seines Dunklen Bruders, der ihn zwang, zu kämpfen und zu töten, bis nichts mehr zu bekämpfen und zu töten da war, und gleichzeitig war es schlimmer, ein Blutrausch, der ihn packte, eine völlig neue, schreckliche Art von Haß, der aus ihm selbst kam, nicht aus den flüsternden fremden Gedanken des Turmes.

Wahrscheinlich hätte Skar Ian getötet, hätte er in diesem Moment nicht ein qualvolles Stöhnen hinter sich gehört.

Er fuhr herum, sah, wie sich Anschi mit schmerzverzerrtem Gesicht aufzurichten versuchte, und war mit einem Satz bei ihr. Hinter ihm brach Ian vollends zusammen und blieb wimmernd liegen, und eine der beiden Errish kniete neben Anschi nieder und streckte die Arme nach ihr aus. Skar schlug ihre Hand beiseite und fing Anschi auf, als sie nach vorne kippte.

»Anschi!« schrie er. »Du -«

Er sprach nicht weiter, als er die entsetzliche Wunde sah, die in Anschis Brust klaffte. Plötzlich wußte er, daß sie sterben würde. Jetzt.

»Verschwinde, Skar«, flüsterte Anschi mit brechender Stimme. »Sie ... kommen zurück. Sie werden dich töten, wenn sie dich finden.«

Vorsichtig kniete Skar vollends neben ihr nieder, nahm sie sanft in die Arme und sah ihr ins Gesicht. Aller Schmerz war mit einem Male aus Anschis Zügen verschwunden, und alles, was er noch in ihren Augen las, war ein Ausdruck tiefen, verzeihenden Friedens. Er wollte schreien, aber er konnte es nicht. Er war dem Tod so oft begegnet, aber er war ihm nie so ungerecht, so ... überflüssig vorgekommen wie jetzt.

»Da ist noch etwas, Skar«, begann Anschi.

»Nicht«, sagte er. »Sprich nicht. Wir bringen dich weg hier. Du schaffst es.« Er sah auf, blickte die beiden jungen Errish neben sich fast flehend an, aber die Antwort, auf die er wartete, kam nicht. Nach einer Sekunde sahen sie beide weg.

»Der... Ring«, flüsterte Anschi. »Ennarts ... Sklavenring. Er hat... die Wahrheit gesagt.«

Es dauerte einen Moment, bis Skar überhaupt begriff, wovon sie sprach. Dann hob er den linken Arm und betrachtete das schmale silbrige Band, das sich um sein Gelenk spannte. Er hatte sich bereits so an sein Dasein gewöhnt, daß er es schon gar nicht mehr bewußt zur Kenntnis nahm.

»Ich wollte es dir... später... sagen«, fuhr Anschi fort. Das Sprechen fiel ihr immer schwerer. Ein dünner Blutfaden lief aus ihrem Mundwinkel und das Kinn hinab. Skar streckte behutsam die Hand aus und wischte ihn fort.

»Er... schützt dich, so lange... du ihn... trägst«, stöhnte Anschi. »Aber das Gift ist noch... noch immer in deinem... Körper. Du wirst... sterben, wenn du ... ihn entfernst...«

»Ich weiß«, sagte Skar.

Anschi schüttelte schwach den Kopf. »Nein, du weißt... nichts. Du stirbst auch, wenn... du ihn trägst. Geh zu... den Quorrl. Geh dorthin, wo... wo Miri war. Das Wasser der Quorrl... kann dich ... retten.«

Skar legte sanft die Hand auf ihre Lippen, aber Anschi schob sie beiseite. Ihre Augen begannen zu brechen. »Siehst du, Satai«, flüsterte sie. »Du hast mir... das Leben ... gerettet. Aber jetzt habe ich ... meine Schulden ... bezahlt.«

Das waren ihre letzten Worte, ehe sie in Skars Armen starb.

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